günter grass -unordentliche erinnerungen gegen die ordnung der geschichte

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Bernd Hüppauf/Klaus Vieweg (Hg), Skepsis und literarische Imagination. München (Wilhelm Fink) 2003, S. 233-255. Günter Grass - Unordentliche Erinnerungen gegen die Ordnung der Geschichte Bernd Hüppauf Das moderne Ich ist der Ort der Erfahrung von Welt und ebenso des Zweifels an der Existenz der Welt, der sich nicht beruhigen läßt. Welt kann ohne das Subjekt als einem Teil von ihr nicht vorgestellt werden. Aussagen über die Welt setzen eine Position in ihr voraus. Die philosophische Skepsis der Neuzeit geht davon aus, daß alles, was wir über die Welt wissen können, aus der sinnlichen Wahrnehmung und damit aus einer Interaktion von Ich und Welt folgt. Dieses Wissen läßt sich nur verstehen, insoweit die Arbeit des Subjekts an seiner Konstruktion berücksichtigt, also das Ich als ein unlösbarer Teil dieser Konstruktion eingeschlossen ist. Radikale epistemologische Skepsis macht jedoch zugleich eine Position des Außen notwendig. Nur soweit der Beobachter seine Position als getrennt von der beobachteten Welt definieren kann, läßt sich der radikale Zweifel an der Existenz der Wirklichkeit denken, ohne daß sich das Ich selbst auslöscht. Das epistemologische Problem der Skepsis ist daher das der Perspektive, aus der Aussagen über die Welt gemacht werden können. In jedem Versuch, ein objektives Bild der Welt zu entwickeln, indem das Subjekt aus sich heraustritt und seine ortsgebundene Position verläßt, bleibt notwendig stets ein Rest des partikularen Subjekts erhalten. Es muß bei aller denkbaren Distanz zu ihr an der Konstruktion eines Bildes von Welt als ihr Teil beteiligt und in ihr anwesend bleiben. Damit ist der Zweifel an der Objektivität nie zu beheben. Aus der Sicht der Skepsis destruiert die Idee der objektiven Erkenntnis sich selbst. Sie verlangt eine Konzeption von Welt, in der die Subjektivität negiert wird, um das Ideal der Objektivität zu erzielen. Zugleich darf jedoch das Subjekt nicht ausgeschaltet werden, sondern muß als Bedingung ihrer Möglichkeit in der Konzeption von Welt erhalten bleiben. Die aus dieser Gleichzeitigkeit der sich ausschliessenden Positionen folgende Unschärfe und innere Widersprüchlichkeit sind keine fehlerhafte Methode des Zugangs zur Welt, die sich korrigieren ließe. Sie sind für die Erkenntnis von Welt konstitutiv. Sobald mit den Systemen der Metaphysik Begiffe wie Gott, Seele und Unsterblichkeit aus dem Erkenntnisprozeß ausgeschlossen werden, wird diese Unbestimmtheit zum unvermeidbaren Element im Verständnis des Wissens von Welt, das nicht zu überwinden ist. Dieser Widerspruch ist für die Skepsis als Epistemologie unaufhebbar. Das skeptische Denken hat zum Ende der Metaphysik und ihrer Folgesysteme wesentlich beigetragen, und es ist vom Zusammenbruch der Systeme und des Glaubens selbst betroffen. Die Erosion von Systemen, deren Kritik die Skepsis über lange Zeiträume hinweg ihr Dasein vedankte, mußte sie im Innersten verwandeln. Seit ihrer Wiederkehr in der frühen Neuzeit war die Skepsis unlösbar mit dem Ideal der Moderne und ihrem Programm der Rationalisierung durch Entmythologisierung verknüpft. Mit David Humes kritischem Sensualismus begann diese Allianz. Seine Widerlegung der Metaphysik und Abwehr des Traditionalismus, der theologischen

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Bernd Hüppauf/Klaus Vieweg (Hg), Skepsis und literarische Imagination. München (Wilhelm Fink) 2003, S. 233-255.

Günter Grass - Unordentliche Erinnerungen gegen die Ordnung der Geschichte

Bernd Hüppauf

Das moderne Ich ist der Ort der Erfahrung von Welt und ebenso des Zweifels an der Existenz der Welt, der sich nicht beruhigen läßt. Welt kann ohne das Subjekt als einem Teil von ihr nicht vorgestellt werden. Aussagen über die Welt setzen eine Position in ihr voraus. Die philosophische Skepsis der Neuzeit geht davon aus, daß alles, was wir über die Welt wissen können, aus der sinnlichen Wahrnehmung und damit aus einer Interaktion von Ich und Welt folgt. Dieses Wissen läßt sich nur verstehen, insoweit die Arbeit des Subjekts an seiner Konstruktion berücksichtigt, also das Ich als ein unlösbarer Teil dieser Konstruktion eingeschlossen ist. Radikale epistemologische Skepsis macht jedoch zugleich eine Position des Außen notwendig. Nur soweit der Beobachter seine Position als getrennt von der beobachteten Welt definieren kann, läßt sich der radikale Zweifel an der Existenz der Wirklichkeit denken, ohne daß sich das Ich selbst auslöscht. Das epistemologische Problem der Skepsis ist daher das der Perspektive, aus der Aussagen über die Welt gemacht werden können.

In jedem Versuch, ein objektives Bild der Welt zu entwickeln, indem das Subjekt aus sich heraustritt und seine ortsgebundene Position verläßt, bleibt notwendig stets ein Rest des partikularen Subjekts erhalten. Es muß bei aller denkbaren Distanz zu ihr an der Konstruktion eines Bildes von Welt als ihr Teil beteiligt und in ihr anwesend bleiben. Damit ist der Zweifel an der Objektivität nie zu beheben. Aus der Sicht der Skepsis destruiert die Idee der objektiven Erkenntnis sich selbst. Sie verlangt eine Konzeption von Welt, in der die Subjektivität negiert wird, um das Ideal der Objektivität zu erzielen. Zugleich darf jedoch das Subjekt nicht ausgeschaltet werden, sondern muß als Bedingung ihrer Möglichkeit in der Konzeption von Welt erhalten bleiben. Die aus dieser Gleichzeitigkeit der sich ausschliessenden Positionen folgende Unschärfe und innere Widersprüchlichkeit sind keine fehlerhafte Methode des Zugangs zur Welt, die sich korrigieren ließe. Sie sind für die Erkenntnis von Welt konstitutiv. Sobald mit den Systemen der Metaphysik Begiffe wie Gott, Seele und Unsterblichkeit aus dem Erkenntnisprozeß ausgeschlossen werden, wird diese Unbestimmtheit zum unvermeidbaren Element im Verständnis des Wissens von Welt, das nicht zu überwinden ist. Dieser Widerspruch ist für die Skepsis als Epistemologie unaufhebbar. Das skeptische Denken hat zum Ende der Metaphysik und ihrer Folgesysteme wesentlich beigetragen, und es ist vom Zusammenbruch der Systeme und des Glaubens selbst betroffen. Die Erosion von Systemen, deren Kritik die Skepsis über lange Zeiträume hinweg ihr Dasein vedankte, mußte sie im Innersten verwandeln.

Seit ihrer Wiederkehr in der frühen Neuzeit war die Skepsis unlösbar mit dem Ideal der Moderne und ihrem Programm der Rationalisierung durch Entmythologisierung verknüpft. Mit David Humes kritischem Sensualismus begann diese Allianz. Seine Widerlegung der Metaphysik und Abwehr des Traditionalismus, der theologischen

Dogmatik und der a-priori Argumente und sein Kampf gegen alle Formen des Irrationalismus versetzen ihn in eine zentrale Position der frühen Aufklärung. Sein distanzierter Umgang mit Religion, der den Glauben aus dem Bereich der Philosopie verbannt, machte seine Skepsis zum Vorläufer der Aufklärer des kommenden Jahrhunderts und ihrem Ziel, das Denken endgültig von Vorurteil und (Aber-)glauben zu befreien, widerspruchsfrei zu machen und damit zum Ideal des autonomen Subjekts beizutragen. Der skeptische Zweifel an der Tradition hatte unausgesprochen Anteil am Ideal einer Wirklichkeit, die nach dem Modell des Newtonischen Kosmos aufgebaut wäre und in der Sprache der Mathematik restlos durchschaubar gemacht werden könnte. Unerachtet des Gegensatzes zwischen der sensualistischen und der rationalistischen Definition von Erkenntnis teilten die Aufklärungsphilosophen des 18. Jahrhunderts das Ziel, die Metaphysik dem methodischen Zweifel der Skepsis auszusetzen und nur bestehen zu lassen, was sich, wie Kant formulierte, vor dem Gerichtshof der Vernunft begründen ließ. In dieser Gerichtsverhandlung spielte die Skepsis als skeptische Methode des Denkens, wie Kant sie forderte, eine entscheidende Rolle, aber auch der Skeptizismus, der an der Möglichkeit von wahrer Erkenntnis grundsätzlich zweifelt, wirkte als Provokation und Katalysator eines Denkens, das am Ideal widerspruchsfreier und gültiger Erkenntnis festhielt.1

In der Krise der Aufklärung zu Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Skepsis vom Zweifel an sich selbst erfaßt, der am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Umkehr der Richtung führte. Eine Umwertung des Nicht-Rationalen verwandelte das skeptische Denken grundlegend.2 Skepsis ist unter den Bedingungen der Post-Moderne anders als in der Periode seit ihrer Wiederkehr zu Beginn der Neuzeit. Ihr Bild vom Subjekt und der Perspektive, aus der Aussagen über die Welt gemacht werden können, verkehrte sich. Die Skepsis nach Nietzsche löste sich von den Idealen der modernen Aufklärung und richtete den Zweifel auf das Ideal, einen konsistenten Begriff von Welt mit der Konstruktion eines identischen Ichs zu verbinden. Nietzsche verstand seine eigene Philosophie als Skepsis und verschrie zugleich die Skepsis, da ihre Repräsentanten vom Haß aufs Leben geleitet seien. Blutsaugende Spinnen sah er in den Philosophen der Nachfolge des Sextus Empiricus. Diese Ambivalenz im Urteil über die Skepsis reflektiert die beiden Seiten der Skepsis zum Zeitpunkt ihrer Umkehrung. Sobald die Philosophie das Ideal der wahren Erkenntnis in Frage stellte, Wahrheit als eine Konstruktion mit dem Ziel der Existenzsicherung relativierte und die höchsten Werte als illusionistische Sprachspiele, in denen Macht und praktische Mittel im Kampf ums Überleben sich verhüllten, denunzierte, verlor der skeptische Zweifel an philosophischen Systemen und metaphysischen Setzungen sein Objekt und damit sich selbst. In einer Philosophie, die Wahrheit nicht als gefunden, sondern als konstruiert, und Werte als vereinbart und nicht als (von Gott) gegeben definiert, verliert die Skepsis den Boden. Mit der Krise der Moderne wurde die Position der Skepsis gegenüber der Philosophie gegenstandslos. Ihr

1 Vgl. etwa die Diskussion der Skepsis in Christoph Wild, Philosophische Skepsis. Königstein 1980.2 Die ersten Anfänge dieser Veränderung der Skepsis lassen sich auf Friedrich Schlegels Projekt einer Ästhetisierung der Skepsis zurückverfolgen, das in Nietzsches schwankender Haltung zur Skepsis aufgenommen und vollendet wird. Vgl. Klaus Vieweg, Philosophie des Remis. Der junge Hegel und das 'Gespenst des Skeptizismus'. München 1999; Bernd Hüppauf, Literatur nach der Skepsis, In: Cultura tedesca, hg. Marino Freschi, Mai 1998, S. 181-207.

Zweifel verlor seine Brisanz als Provokation des philosophischen Denkens in dem Maß, wie sie in dies Denken aufgenommen wurde.

Was unter den Bedingungen der späten Moderne sich dem skeptischen Zweifel aussetzen mußte, waren der Optimismus und das Vertrauen auf die Rationalität und den Fortschritt in der Erkenntnis von Wirklichkeit, das die Skepsis geteilt hatte und nun als einen nicht zu rechtfertigenden Glauben entlarvte. Die Skepsis verbündete sich in der Krise des Vernunftdenkens mit der Kritik der Vernunft. Die klassische Idee der Objektivität wurde überführt in die der Pluralität diverser Perspektiven. Deren Beziehung zur Wahrheit und zum Subjekt kann nicht aus einer objektiven Position befragt werden. Das Bild aus der Perspektive der jeweiligen Facette ist in sich gerechtfertigt und übersteigt grundsätzlich seine epistemologische Grundlegung, so daß es gegen Zweifel nie zu immunisieren ist. Stets muß damit gerechnet werden, daß Wissen auf eine Weise konstruiert wird, daß es auch unwahr ist, insoweit es keiner Wirklichkeit außerhalb seiner selbst korrespondiert. Der Zweifel löste sich ab von den Idealen der Aufklärung und entstand aufs Neue in einem Denken der Erkenntnis, in dem das Ich zersetzt wurde und zu einem Bild vom Menschen als einem Produkt nicht zu beherrschender Zwänge führte. Sigmund Freuds resignative und pessimistische Kulturtheorie und nicht sein therapeutischer Optimismus sowie die Philosophie der Gegenaufklärung lieferten von nun an den Rahmen für die radikale Skepsis. In dieser Theorie der Erkenntnis wird der radikale Zweifel der klassischen Skepsis überschritten.

Wachsendes Verstehen der Wirklichkeit als dem Objekt der Wissenschaften führt nicht zu einer wachsenden Vertrautheit, sondern muß eine wachsende Unsicherheit zur Folge haben, sobald das Ich, als ein zweifelndes Ich, sich als Teil der Welt versteht und die Doppelperspektive von Erkennen und Zweifeln nicht verdeckt. Sobald die Kluft zwischen den Inhalten des Wissens und deren epistemologischer Grundlage als unüberbrückbar anerkannt wird, ist das Vertrauen auf Wissen grundsätzlich erschüttert. Diese Erschütterung läßt sich nur in einem willentlichen Akt des Agnostizismus beruhigen, an dem die Skepsis nur um den Preis der Selbstaufgabe teilnehmen könnte. Die Skepsis richtet sich gegen solche Akte der Verleugnung, und damit verbündet sie sich mit dem Denken einer notwendigen Unbestimmtheit aller Aussagen über die Welt. Sie zersetzt alle Formen der Abwehr und des Nicht-Wahrhaben-Wollens von Unbestimmtheit, so wie sie in Zeitaltern religiöser oder philosophischer Systeme gegen Glauben und Dogmatik streitet. Die Verleugnung läßt sich nicht durch eine Reflexion auf die Inhalte des Wissens verhüten. Von der erkenntnistheoretischen Frage nach der Definition von Wissen ist keine Antwort auf die Frage nach der Meta-Ebene zu erwarten. Sie richtet sich auf die Konstruktion von Wissen und damit auf die Bedeutung der Konstitution von Subjektivität und deren Beziehung zur Wirklichkeit. Das Problem einer skeptischen Epistemologie bleibt die ungeklärte Frage nach dem Ich als Ursprung und als Instanz der Rechtfertigung des Wissens. Der nicht zur Ruhe kommende Zweifel der Skepsis muß die Frage nach dem Ich als dem Verhältnis zwischen Ich und seinem Zugang zur Welt, deren Existenz stets erst zu rechtfertigen ist, ins Zentrum stellen.

Die Reaktion der Skepsis auf das Dilemma entwickelte sich in zwei Formen. Sie setzte das Subjekt absolut, und sie arbeitete an seiner vollständigen Auflösung. Fällt das

Denken des radikalen Zweifels an der Möglichkeit von wahrer Erkenntnis auf das Subjekt als einzig sicherem Grund zurück, wird Objektivität paradoxerweise an eine nicht zu befragende Autorität gebunden. Descartes philosophischer Zweifel oder Montaignes literarische Skepsis eines Essayismus haben zur Folge, daß die einzig begründbare Form der Objektivität auf radikale Subjektivität zurückgeführt wird - Descartes einsamer Platz neben dem Feuer und Montaignes Isolation im Turm sind der räumlich-körperliche Ausdruck des Ichs als der letzten Grundlage von Wissen.3 Die absolute Autorität des Ichs setzt der unabschließbaren Bewegung ein Ende und eskamotiert den Zweifel. Dies Ende gilt für Descartes methodischen Zweifel. Er ist vom Ideal geleitet, die Sicherheit einer Perspektive von außen zu gewinnen. Es gilt aber nicht in dieser Weise für den Essayismus Montaignes.

Die Außenperspektive einer essentiellen Subjektivität konnte unter den Bedingungen des kritischen Denkens der Neuzeit nicht mehr als eine Hilfskonstruktion sein, um die Kluft zwischen dem Wissen von Welt und dem Zweifel an seiner Begründbarkeit zu überbrücken. Trotz ihres Erfolgs in den Wissenschaften ließ sich der Zweifel der Skepsis nicht auf Dauer beruhigen und hatte die Konsequenz einer vollkommenen Zersetzung der Begriffe vom Ich und wahren Wissen. Es ließe sich von einer ästhetischen Skepsis und einer skeptischen Ästhetik der Moderne sprechen, deren Anfänge auf die Romantik zurückzuführen wären und in der die Unterschiede zwischen den Diskursen von Philosophie und Wissenschaften einerseits und der Kunst andererseits aufgelöst werden.4 Seit der Zeit ist die Skepsis eher eine literarische Denkweise als eine philosophische, und soweit sie sich philosophisch versteht, kann sie die Abgrenzung zum Literarischen nicht mehr festlegen. Unter den europäischen Literaturen ist die Geschichte der deutschen Literatur für diesen Auflösungsprozeß besonders bedeutsam geworden. So gering ihr Beitrag zum Zweifel der klassischen Skepsis war, so innovativ wurde das Konzept, das man nach Friedrich Schlegel Transzendentalpoesie nennen könnte, für die Radikalisierung der Skepsis in den totalen Perspektivismus.

Diese der Absolutsetzung des Subjekts entgegengesetzte Reaktion, also die Arbeit an der Auflösung des Ichs, entwickelte die Skepsis während der Krise der Moderne am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Wenn vom Subjekt nicht loszukommen ist, muß es verändert, zersetzt und der Arbeit an einer Fragmentierung in eine Vielzahl von Facetten ausgesetzt werden. Friedrich Schlegels 'Transzendeltalpoesie' hatte den Weg in diese Richtung eröffnet. In der Lebensphilosopohie entstand eine Theorie vom Zerfall des Ichs, in der das Zweifeln am Subjekt bei Kierkegaard in die Verzweiflung über den Verlust oder bei

3 Die Tendenz der Skepsis zur zur Beliebigkeit bloßer Subjektivität kritisierte bereits Hegel, als "rein negative Haltung," die aufhöre für das Wissen bedeutemd zu sein. Die Aporie der Skepsis, die das Subjekt zur letzten Instanz des Wissens erhebe und damit im Widerspruch zu ihrer Intention den Geltungsanspruch von Wissen vernichte, zeige sich seit ihrem Anfang in der frühen Neuzeit, argumentiert Horkheimer in einer Kritik Montaignes, der das isolierte Subjekt als Voraussetzung der warenproduzierenden Gesellschaft zugleich zum Grund des objektiven Wissens hypostasiere. Max Horkheimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, in: M.H., Kritische Theorie der Gesellschaft Bd II, Frankfurt S. 201-259, zuerst in: ZfS VII, Heft 1/2, S. 1-54.4 Die Bedeutung des Skeptizismus für das Denken des frühen Hegel und die Kontroverse Hegel-Schlegel erörtert kenntnisreich Klaus Vieweg, Philosophie des Remis. Anm. 2.

Nietzsche in die Erwartung des kommenden Überichs überging.5 Die skeptische Erkenntnistheorie deutete den Zerfall nicht als Verlust, sondern als eine Möglichkeit, sich von der unhaltbar gewordenen Perspektive der Subjektivität frei zu machen. Wenn alle Objektivierung nicht dazu führt, das Subjekt restlos zu überwinden und eine Perspektive von außen nicht zu gewinnen ist, wird die Fragmentierung des Ichs in der Welt zur Alternative, die nicht gegen die Einsicht verstößt, daß die Wirklichkeit stets eine Konstruktion ist, die das Subjekt notwendig in sich enthält und damit diese Konstruktion des Selbst als Bedingung dessen, was Erkenntnis und Erinnerung ermöglicht, nie hinter sich lassen kann. Das skeptische Denken führt in die Gleichzeitigkeit der Positionen, daß es das konsistente Ich nicht gebe und daß von der Konstruktion eines Ichs nicht loszukommen sei. Unschärfe und Unentscheidbarkeit mußten an die Stelle des Ideals des widerspruchsfreien, subjektzentrierten Wissens treten.6

Sobald diese Widersprüchlichkeit auf die Ebene der Theoriebildung gehoben wurde, war das Ende der großen Theorientwürfe unabwendbar, so daß Lyotard mit seiner zusammenfassenden Formel von der "Skepsis gegenüber den Metaerzählungen" einen Nerv der Postmoderne-Diskussion treffen konnte.7 Der Zerfall von Marxismus und Psychoanalyse führte gleichermaßen zum Zweifel an der Möglichkeit einer Korrespondenz von Theorie und Wirklichkeit. Hatte der Anfang der modernen Skepsis darin bestanden, alles, was herkömmlicherweise über die Erfahrung von Welt und deren Intersubjektivität angenommen wird, in Frage zu stellen, so nahm die Skepsis der Postmoderne diesen Zweifel auf, aber ging einen Schritt weiter: sie verwandte den Zweifel an Theorien in eine Theorie der Welt als Täuschung.

5 Kierkegaard war einer der ersten Denker der 'neuen Skepsis', die sich aus den Bindungen der Warenproduktion löste. Er schrieb über die Auflösung des Ichs in eine dezentrierte Vielfalt, die er mit Schrecken wahrnahm. Er fragte, ob es etwas "Entsetzlicheres" gäbe als die Beobachtung, "daß Dein Wesen sich in eine Vielfalt auflöste, daß Du wirklich zu mehreren, daß Du gleich jenen unglücklichen Dämonischen eine Legion würdest und Du solchermaßen das Innerste, das Heiligste in einem Menschen verloren hättest, die bindende Macht der Persönlichkeit?" Sören Kierkegaard, Entweder-Oder. München 1975, 708. Der Zweifel erfaßt das Denken und das Denken gehe in Verzweiflung über, sobald es über sich selbst nachdenkt und über das Selbstbewußtsein den ganzen Menschen erfaßt: "Verzweiflung ist eben ein Ausdruck für die ganze Persönlichkeit, Zweifel nur für den Gedanken... Zweifel liegt daher in der Differenz, Verzweiflung im Absoluten." Ebda. S. 770.6 Kritiker sprechen gern von der alles zersetzenden Säure der Skepsis. Nietzsche, im Widerspruch zu seiner eigenen Position, polemisierte, daß die zersetzende Skepsis die Kraft zum Handeln nehme. Diese Skepsis wird seit kurzem mit der Dekonstruktion identifiziert. Für Harold Bloom ist die Literatur durch das Gegenteil der herkömmlichen Bestimmungen ausgezeichnet, da sie für den skeptischen Blick keine Gegenwart, Einheit, Form oder Bedeutung habe. "Presence is faith, unity is a mistake or even a lie, form is a metaphor, and meaning is an arbitrary and even repetitious metaphysics." (Harold Bloom, Kabbalah and Criticism, New York, 1975, S. 122.) Goodheart faßt zusammen: "Deconstructive skepticism... holds the view that the language of written discourse is inherently unreliable, that no matter how hard a text may try to sustain the illusion of unity, coherence, meaning, truth... the text is incorrigibly prone to disunity, incoherence, meaninglessness, and error. For such skeptics 'reading' becomes a deconstruction, a process of discovering the sources of error in a text." Seine Intention ist es, "the corrosive acid of dogmatic skepticism" mit einem mimetischen Literaturbegriff zu bekämpfen. (Eugene Goodheart, The Skeptic Disposition. Deconstruction, Ideology and Other Matters. Princeton University Press 1991, S. 9 und S. 14) Kritiker der Dekonstruktion betonen die referentielle Dimension von Sprache, die im dekonstruktivistischen Lesen ignoriert werde. Vgl. u.a. Gerald Graff, Literature against itself, Chicago 1979, Eugene Goodheart u.a.7 Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 11986, S. 14.

Die Wendung der Skepsis im frühen 20. Jahrhundert hatte die Neigung gezeigt, die Frage nach dem Wissen von Welt als die Frage nach Anwesenheit zu stellen, und die Postmoderne stellte sie auf eine Weise, daß sie nicht durch Abwesenheit, sondern nur durch die Anwesenheit von Nichts beantwortet werden konnte. Es schien die folgerichtige Entwicklung des radikalen Skeptizismus, wie ihn Nietzsche und seine Nachfolger in der deutschen Literatur der zwanziger Jahre entwickelten, zu sein, das Verständnis von Welt als Text durch Derrida, de Man und die Dekonstruktion als die zeitgemäße Fortsetzung der Skepsis zu verstehen, als "eine Version der Skepsis, die den Anspruch des Bewußtseins, es könne über eine Sprache verfügen, die die Welt oder auch nur es selbst repräsentiere, angreift. Die Dekonstruktion argumentiert, daß Signifikate nicht angemessen oder zuverlässig mit Signifikanten verknüpft werden können." Dies Verständnis der Dekonstruktion definiert sie nicht, wie oft argumentiert wird, als "ein klassisches skeptisches Argument im Gewand linguistischer Metaphern,"8 sondern als eine Weiterbildung der Skepsis, die zu einem Bruch mit deren Tradition führte und das Erbe des gegenaufklärerischen Denkens antrat. In diesem Weiterdenken der Skepsis ersetzen linguistische Theorien über den gebrochenen Wirklichkeitsbezug der Sprache den epistemologischen Zweifel an der Begründbarkeit von Aussagen über die Wirklichkeit durch die Negation der grundsätzlichen Möglichkeit von Wahrheit aus Korrespondenz oder Analogie zwischen Welt und Aussagen über sie. Die grundsätzliche Abwesenheit von objektiver Wirklichkeit und stabiler Bedeutung wird stets bereits vorausgesetzt.9 Diese Theorie verfolgt ein Ziel, das von Anfang an festliegt. Sie ist nicht mehr die Theorie des Zweifelns, sondern demonstriert, daß das Denken der Moderne, die instrumentelle Vernunft, der Fortschrittsgedanke und das Freiheitsideal ebenso wie die darauf bezogenen anti-modernen Utopien autoritärer Gesellschaftsplanung ein wahnhaftes Syndrom bilden. Das Zentrum und Eigenbild der Moderne ist als Trug stets aufs neue zu entlaven.

Dieser Schritt führt aus dem unabschließbaren Zweifel an der Möglichkeit von Wahrheit in die Affirmation von Unwahrheit und verstößt damit gegen die Forderung der epoche als Grundsatz der klassischen Skepsis. Die Bedeutung der Täuschung durch Sprache in den Theorien Derridas und de Mans gibt die Forderung, das Urteil in der Schwebe zu halten, auf und steht dem Nihilismus näher als der Skepsis, wie die Formel von der Literatur als "the presence of nothingness" (de Man) demonstriert. Die Überführung der Skepsis in Nihilismus und die totale Destruktion von Wahrheit und Autorität kann als Reaktion auf den Anspruch einer absoluten Autorität des Ichs und als Wiederkehr des Unterdrückten verstanden werden. Sie wird nicht ohne Folgen bleiben. Sollte die Selbstzersetzung der Vernunft mit dem Heraufziehen eines Zeitalter des Terrors

8 Jay Cantor, zitiert nach Michael Fischer, Stanley Cavell and Literary Skepticism, Chicago 1989, S. 7. Das Verständnis der Skepsis als eine "die Erkenntnis leugnende Position" ist nicht neu. In einer fragwürdigen Wendung spricht Stegmüller von einer metaphysischen Skepsis, deren Ziel die "Zerstörung des klassischen Begriffs des perfekten Wissens" sei. Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, Berlin, Heidelberg, New York 1969. S. 43.9 Vgl. Hazard Adams, Philosophy of the Literary Symbolic, Tallahassee 1983; Charles Altieri, Act and Quality, Amherst 1981; M H Abrams, Construing and Deconstructing, in: Morris Eaves und Michael Fischer (Hg.), Romanticism and Contemporary Criticism, Ithaca 1986; Christopher Norris, Deconstruction. Theory and Practice. London, New York 1982.

zusammenfallen, müßten sich die Bedingungen des zweifelnden Denkens erneut verändern. Absolute Autorität könnte als Antwort auf die Folgen der radikalen Destruktion von Autorität und Wahrheit zurückkehren. Das Begehren nach unbeschränkter individueller Freiheit ist begleitet von Terror und trägt den ersten Schritt zur Rückkehr von unbeschränter Autotität in sich. Nicht als Wiederkehr der absoluten Position des einsamen cogito, sondern in der veränderten Gestalt eines Systems aus Terror und Zwangsherrschaft erscheint gegenwärtig die Drohung absoluter Macht am Horizont.

Das Objektivitätsideal ist der Ausdruck des Konflikts. Ein selbstherrliches Ich, das vor den sprachlichen Zusammenhängen seiner Geschichten immer schon fertig ist, steht hinter den Rekonstruktionen von Ereignissen in einer Welt oder von Texten über sie, auf die das Ich einwirkt, als ob es einer fremden Wirklichkeit gegenübertreten könnte. An diesem Ich zeigt sich der Unterschied zwischen der Geschichtsschreibung und der Literatur als einem Medium des kollektiven Gedächtnisses, das zugleich sein konstitutives Element ist. Literatur arbeitete seit Valery, Joyce, Musil, Benn oder Döblin an der Auflösung des souveränen Ichs. Benns Zersetzung des identischen Ichs in der Sprache der Medizin, Musils Flirt mit der anthropologischen Theorie der Participation Levy-Bruhls oder Döblins Literarisierung des triebhaft Unbewußten sind Versuche, mit einer Poetik der Skepsis sich dem fragmentierten und unzugänglichen Ich der neuen Skepsis zu nähern. Ingeborg Bachmann spricht in ihren Reflexionen über das moderne Ich in polemischer Absicht einmal vom "Ich der Handelnden, im einfachsten Rollenfach (dem der Geschichte und Zeitgeschichte)" als dem zugänglichsten Ich, das sich in der Memoirenliteratur und der Geschichtsschreibung selbstherrlich auslebe. Es brauche sich nicht auszuweisen, es werde ihm stets Glauben und Gehör geschenkt, allein "weil die Taten oder Untaten des Autors für die Gesellschaft folgenreich waren."10 Dies "niedrigste... und einfachste Rollenfach" könne jedoch von Schriftstellern nicht besetzt werden. Es bleibe der unzeitgemäßen Naivität eines sich selbst undurchsichtigen Ichs vorbehalten. Komplementär mit dem primitiven Ich dieser gedankenlosen und niedrigsten Beziehung zur Vergangenheit in Memoiren entwickelte die Geschichte ein Subjekt, das aus sich selbst heraustritt, um die Vergangenheit aus einer Perspektive zu rekonstruieren, die keinen Ort in der Welt hat.

Da die Aufgabe des Selbst in der in der Welt epistemologisch nicht möglich wäre, ohne zugleich die sprechende Person auszulöschen, muß diese Perspektive von Aussagen über die Welt auf eine andere Weise konstruiert werden. Die abstrakte Konstruktion des körperlosen und sinnenlosen, transzendentalen Ichs vermeidet die Naivität des Ichs als bloßem Zentrum von Aktion und überwindet die Beschränkungen des partikularen und empirischen Ichs. Dies Subjekt wird zu einer welt- und körperlosen Stimme aus dem Nirgendwo, die den Anspruch auf Objektivität erhebt.11 Aber warum sollten Aussagen über die Welt aus dieser Perspektive ohne einen Ort in der Welt weniger zweifelhaft sein als die eines durch seine Körperlichkeit definierten Ichs? Skepsis, die an der Wahrheit von Aussagen zweifelt, sie sich auf die sinnliche Wahrnehmung berufen, muß ebenso die

10 Ingeorg Bachmann, Frankfurter Vorlesungen. Probleme zeitgenössischer Dichtung. III Das schreibende Ich. In: I.B., Werke Bd. 4, hg. von Christine Kochel u.a., München 1978, S. 220.11 Diesen Nirgend-Ort arbeitet heraus: Thomas Nagel, The View from Nowhere, Oxford 1986.

Wahrheit dieser distanzierten Welt einer rationalistischen Konstruktion bezweifeln. Wenn, wie die Skepsis annimmt, die Frage nach der Wahrheit dieses Wissen nicht beantwortet werden kann, wird es wichtig zu fragen, wie wir uns in der Welt verhalten, wenn wir nach Wissen über sie streben: auf welche Weise könnte die Interaktion zwischen Ich und Welt verändert und von den Zwängen des Identischen gelöst werden? Als Konsequenz des Zweifels an der vereinheitlichenden Rationalität kann dann das Nicht-Rationale zur bewußten Wahl werden. Mit einer Wahl des Nicht-Rationalen sind die Grenzen der Epistemologie zur Agnostik überschritten.

Versuche, dem unlösbaren epistemologischen Problem zu entkommen, führen den Diskurs der Philosophie an seine Grenze und über sich hinaus in die Literatur. Eine wesentliche Affinität zwischen Literatur und Skepsis entsteht in der an sich selbst zweifelnden Moderne daraus, daß die Uneindeutigkeit der Sprache der Literatur eine Befreiung vom Zwang zur Widerspruchsfreiheit und Einheit des philosophischen Diskurses verspricht. Die imaginierte Welt der fiktionalen Texte entlastet von der Notwendigkeit zur Eindeutigkeit. Sie schafft Bedingungen, um das Ideal der Skepsis einer schwebenden Balance in den Aussagen über Welt aufrecht zu erhalten. Das skeptische Denken in der Philosopie überschreitet leicht die Grenze zu einer Ästhetik der Skepsis, in der die sich ausschließenden Positionen in einer Struktur der Gleichzeitigkeit zusammengeführt werden. Die Mittel der literarischen Sprache schaffen einen Raum, in dem das skeptische Zweifeln in die unscharfen und gleitenden Möglichkeiten des Literarischen übergeht. Die Aporien der philosophischen Skepsis werden in Kreativität des Fiktionalen überführt, sobald sie im Vielen und in sich Widersprüchlichen aufgehen dürfen. Der literarische Text erfindet eine Struktur, die das Subjekt in sich einschließt in dem Sinn, daß es in einer symbolischen Welt erscheint, die es hat und über die es Kontrolle hat, und die dennoch nicht mit der Subjektivität zusammenfällt noch an die Perspektive eines spezifischen Ichs gebunden ist. Fiktionale Texte entwickeln sprachliche Strukturen, die den Erzähler zum Subjekt machen und ihn zugleich im Text auflösen. Sie entsubjektivieren diese Stelle im Text, indem sie sie in das Bild einer Welt stellen, die der Erzähler herstellt und der Leser im Lesen imaginiert, die aber nicht mit der Partikularität eines empirischen Subjekts identisch ist. Die Konstruktion einer relationalen und nicht-identischen Position als Teil dessen, was das Verständnis von Ich und Welt erst ermöglicht, überführt Subjektivität in eine Bewegung. Das Ich dieser Literatur entsteht in Strategien, die eine gleichzeitige Gültigkeit des sich Ausschließenden im Text herstellen. Der fiktionale Text ermöglicht die Konstruktion eines Ichs, das mit Autorität von den Dingen und Verhältnissen der Welt spricht, und dessen Perspektive zugleich nicht souverän ist, sondern mit der von Beobachtern am Rand mit gelockerten oder gestörten Bindungen zu dieser Welt zusmmenfällt. Ihre Beziehungslosigkeit befreit sie von den Zwängen der regelhaften Wirklichkeit als System, ohne daß ihre Perspektive dadurch den Anspruch auf (eine) Wahrheit einbüßen müßte. Aus dieser Spannung zwischen Wissen und Nicht-Wissen - das eine eigene Form der Einsicht bedeutet - entsteht ein gleitendes Feld von Bedeutungen im Text, in das die Imagination des Lesers auf eine Weise eindringen kann, die ihn stets mehr wissen läßt als ihm mitgeteilt wird, und die doch vom beständigen Zweifel an der Zuverlässigkeit dieses Wissens begleitet wird.

Der Blick auf die literarische Praxis von Autoren, die sich als Skeptiker verstanden und den skeptischen Blick auf die Idee der Moderne richteten, aber gegenüber der aufgeklärten Skepsis in der Tradition von Hume zunehmend indifferenter und schließlich feindselig wurden, ist aufschlußreich. Diese Autoren verbanden den Zweifel der erkenntnistheoretischen Skepsis, den Döblin einmal als den Kampfruf "Los von der Metaphysik!" bezeichnete, mit dem poetischen Imperativ "Los vom Vernunftideal der Aufklärung!" Die neue Spannung zwischen der tradierten Affinität von Skepsis und Aufklärung einerseits und ihrer Nähe zur Kritik der Subjektivität nach Kierkegaard und Nietzsche andererseits trug zur Kreativität und Innovation der literarischen Skepsis nach der Jahrhundertwende entscheidend bei. Bedeutende Autoren des frühen 20. Jahrhunderts waren in die skeptische Zersetzung des Subjekts und seiner Logik und der Konsistenz der narrativen Ordnung verwickelt. Sie arbeiteten daran, den Blick auf Geschichte und Gesellschaft als einem regelhaften System und das Vertrauen auf die Rationalität der eigenen Zivilisation zu zersetzen und diese Zersetzung in eine Befreiung des Ichs von den Zwängen der Systeme zu transformieren. "Ich bin des Ichs so müde," schrieb Benn: "Den Ich-Zerfall, den süßen, tiefersehnten, den gibst Du mir..."12 Ihre Opposition zur Ästhetik Kants und Hegels und zum Ideal der Klassik ließ sie nach anderen Vorbildern suchen, Hamann, Herder, Schopenhauer oder Nietzsche, Barock und Romantik wurden neu bewertet. Die Entdeckung der 'primitiven' Kunst Afrikas und Ozeaniens förderte das Unbehagen am Ich und ein grundlegendes Mißtrauen am Ich als dem Ort der Erfahrung von Welt. Wenige Autoren bezogen sich explizit auf die Skepsis. Aber die Verbindung ist nicht schwer zu finden. Der Zweifel am Ideal der Vernunft und der Rationalisierung des Lebens wurde zum treibenden Element in der literarischen Welt der Moderne, die ihre post-moderne Überwindung seit der Zeit stets in sich trug. Die Spannung zwischen den Idealen der Vernunft und dem skeptischen Zweifel läßt sich in den Werken von Autoren erkennen, die zur Moderne zählen und zugleich diese Moderne zersetzen, ohne jedoch zum Nihilismus oder zur revolutionären 'Lösung' der Konflikte der Moderne zu neigen.13

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Das Werk von Grass läßt sich als ein Produkt des ungelösten Widerspruchs zwischen der Perspektive einer vernunftgeleiteten Theorie aus der Position im Nirgendwo und der Suche nach einer poetischen Praxis der Subjektivität in der Welt der Wörter und Relationen lesen. Dieser Widerspruch hat das Werk von Grass in eine Aporie geführt, aber diese Aporie wurde zur Quelle von Kreativität, die in ungeklärter Opposition zum Vernunftideal auf eine Literatur des Nicht-Rationalen und der Phantastik setzt. Seine Beschwörung der Ideale der Aufklärung widerspricht seiner poetischen Praxis, die aus einer skeptischen Resignation entsteht. Rationalität und ihre gleichzeitige Selbstaufhebung im skeptischen Zweifel sowie die innere Spannung der neuen Skepsis sind konstitutiv für die poetische Praxis von Grass. Freiheit als Folge der vernünftigen 12 Gottfried Benn, Cocain, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, hg.v. Bruno Hillebrand, Frankfurt 1982, S. 108.13 In der englischen und französischen L:iteratur sind die Autoren einer durch Skepsis unterwanderten Moderne seltener. Zu diesen Autoren gehören in der deutschen Literatur der Moderne Musil, Benn, Döblin, Handke oder Grass.

Organisation der Gesellschaft versteht er als philosophisches Ideal und politisches Ziel. Zugleich aber praktiziert er eine Poetik, die das Ideal negiert und die Umkehr des politischen Ziels erfordert, aber dennoch am Ideal der Freiheit festhält. Diese Freiheit ist jedoch auf fundamental andere Weise definiert. Es ist die Freiheit des Subjekts, der Spontaneität und ungehemmten Verwirklichung des Trieblebens.

Seine politischen Ansichten nehmen den Kern des Aufklärugsdenkens auf. Man dürfe nicht vergessen, betont Grass wiederholt, daß gesellschaftliche Strukturen und Institutionen die Produkte menschlichen Handelns sind. Denn nur dann lasse sich die Einsicht in die "Veränderbarkeit der Verhältnisse" gewinnen, und daß sie verändert werden müssen, gehört zu den Grundüberzeugungen von Grass als Autor von Reden, Essays und politischen Manifesten. In der Tradition von Hobbes und den französichen Materialisten des 18. Jahrhunderts versteht er den Menschen als das Prudukt der sozialen Verhältnisse und seine Irrationalität als die Folge von Unwissen und Vorurteilen, die von Herrschern und Priestern verbreitet werden, um herrschen zu können. Aufklären bedeutet, die Augen zu öffnen und damit den Verblendungszusammenhang zu sprengen, so daß ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung möglich wird.. Vom Zwang der Natur und ihrer Ungerechtigkeiten sowie von Unwissenheit befreit, werde der einzelne in einer Gelschaft der Freiheit und Gleichheit leben. Er teilt diese Überzeugung mit der politischen und philosophischen Tradition der europäischen Aufklärung. Er bezieht sich wiederholt auf die Universalität dieser Ideale. Ein System geschichtlicher Gesetze könne bestimmt und verifiziert werden. Dieser rationalen Struktur zum Durchbruch zu verhelfen, würde zum Ende politischer Unmündigkeit und sozialer Ungleichheit führen. Es gibt zahlreiche Texte von Grass, die das Ideal der durchsichtig und vernünftig geplanten Gesellschaft von gleichen und mündigen Bürgern verfolgen.

Er spricht häufig von der Aufklärung als dem Boden seines Selbstverständnisses. "Ich komme aus der europäischen Aufklärung, und ich glaube, daß Literatur, lebende Literatur, und die muß nicht trocken sein, im Sinn der Aufklärung wirken kann." Literatur und Kunst können nur gerechtfertigt werden, argumentiert er mit Überzeugung, durch einen Beitrag zum historischen Projekt der vernünftigen Gesellschaft souveräner Bürger. Die Literatur der Moderne habe sich aus den religiösen und politischen Bindungen ihrer Herkunft befreit und verhalte sich nun "infragestellend, kritisierend, skeptisch, kritisch, zweifelnd..."14 Sie sei nur durch ihren anhaltenden Beitrag zum geschichtlichen Prozeß der Emanzipation zu rechtfertigen. Als ein Mittel im historischen Kampf um die Mündigkeit des einzelnen und der Konstruktion einer gerechten und nach den Prinzipien der Vernunft organisierten Gesellschaft dürfe sich Literatur ihrem politischen Auftrag nicht entziehen. Das politische Bekenntnis führte ihn auf die Suche nach politischen Verbündeten, ließ ihn in die SPD eintreten, bei den neuen Wählerinitiativen der sechziger Jahre mitwirken und Wahlreden für Willy Brandt halten. In diesen Jahren verstand er Geschichte als das Produkt der Handlungen einzelner. Er betont, daß der einzelne für die Geschichte eine Verantwortung trage, und sich der Verantwortung für sein Tun und Unterlassen nicht entziehen dürfe. Gesellschaftlicher Wandel, argumentierte er in Reden und Essays, brauche Erziehung und Aufklärung. Er berief sich gern auf Heinrich Heine, dessen Werk er als die Fusion von Literatur und 14 Günter Grass, Werkausgabe in zehn Bänden, Bd. X, Darmstadt 1987, S. 172.

Journalismus interpretierte. Er pries Heine als Muster des Schriftstellers mit einem öffentlichen Bildungsauftrag. Er machte zu dieser Zeit prononcierte Aussagen über die Verbindung von Ethik und Ästhetik. Heine und der frühe Hauptmann dienten ihm als Beispiele für die ethische Verpflichtung der Literatur. Der Widerspruch von Ethik und Politik müsse ausgeglichen werden, und der literarische Intellektuelle könne an der Überwindung der modernen Trennung von Politik und Kunstpraxis mitarbeiten: "Für mich kann politische Arbeit nur dann realisierbar sein, wenn sie dies Ziel, die Identität von politischer Macht und Moral gleichzeitig anstrebt. Wenn das nicht der Fall ist..., kann ich nur kritische Distanz dazu nehmen, aber nicht mehr mitmachen."15 Als Wunschzustand, formuliert er einmal gewagt, müsse der Schriftsteller "die Deckungsgleichheit von moralischem und politischem Anspruch anstreben. Es ist sicher ein Erziehungsziel."16

Um die Literatur an diesem Erziehungsziel zu beteiligen, schuf Grass für sich die Rolle des Trommlers für die Demokratie, eines öffentlichen Sprechers, der seinen selbstgestellten Auftrag aus seiner Interpretation des Intellektuellen der Aufklärung bezog. "Dich sing ich, Demokratie" (1965) war der Titel einer Sammlung seiner Reden, die er aus Anlaß der Wahl von 1961 auf seinen Wahlkampfreisen gemacht hatte. Grass focht einen Kampf an zwei Fronten, einen gegen die Kontinuitäten der deutschen Gesellschaft, noch immer geprägt durch Traditionalismus und Autoritätsgläubigkeit der provinziellen Enge der Adenauer-Jahre, und einen anderen gegen die Ideologie der Revolution. Am geschichtlichen Optimismus eines radikalen Umbruchs der modernen Gesellschaft durch Revolution zweifelte Grass seit je. Die Idee einer kommunistischen Organisation des gesellschaftlichen Lebens hielt seinem aufgeklärt skeptischen Blick stand. In diesem Kontext stand sein umstrittenes Drama "Die Plebejer proben den Aufstand", in dem er Brechts Position im Juni-Aufstand in der DDR angreift. "Der Chef" ist mit der Position des kalten Meisterdenkers, der von außen blickt und als ein General der Revolution gegenüber den Interessen der Menschen unempfindlich ist, identifiziert. Grass stilisiert diesen Chef als das Gegenmodell zu seiner eigenen Position. Er spricht aus der Perspektive gemäßigter Vernunft in der Nachfolge Bernsteins zu einer Zeit, als unter den Intellektuellen der Bundesrepublik revolutionäre Gesellschaftstheorien verbreitet und die Position des demokratischen Revisionismus unbeliebt war. In diesem Sinn konnten seine Reden und Essays als ein Beitrag zu einer alternativen Geschichte der Gegenwart gelesen werden. An diesem Leitfaden orientieren sich häufig auch Interpretationen seiner literarischen Texte. Das ist ein Mißverständnis. Seine eigenen Kommentare haben diese Lesart unterstützt. Interpreten haben seit dem Erscheinen der "Blechtrommel" die Geschichten seiner Prosa als Facetten einer oppositionellen Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert interpretiert. Im Gegensatz zur dominanten Geschichtsschreibung der Jahre nach 1945, in der sich die personale Kontinuität des Fachs in einer Kontinuität der Methoden und Inhalte spiegelte, schrieb Grass, so ließ sich sagen, an einer Geschichte aus der Perspektive einer aufklärerisch-kritischen Opposition. Sein Engagement für die politischen Gruppierungen der "vaterlandslosen Gesellen", der Sozialdemokratie und Gewerkschaften schien diese Auslegung seiner fiktionalen Prosa zu rechtfertigen. An dieser Interpretation sind Zweifel angebracht.15 Grass, Bd.X, S. 154.16 Grass, Bd X, S. 154.

So klar er seine politische Poetik in Essays, Reden und Interviews vertritt, so deutlich steht sie im Widerspruch zu seiner praktizierten Poetik. Er sprach einmal von der "notwendigen Distanz zur Zeit" als der Bedingung für die literarische Narration der Gegenwart.17 Grass literarisches Werk läßt sich mit seiner Definition von Literatur als einem Motor des sozialen Wandels nicht versöhnen. Wer verstehen will, wie die Welt wurde, wie sie in Grass Prosa ist, muß sich von den Begriffen der Sozialtheorien und ihren rationalen Konstruktionen lösen. Die Abwesenheit systematischer Konstruktionen zeichnet sein Bild der Welt aus. Versuche, sie zu finden, führen nach Grass entweder in Glauben oder in die Literatur von Ideologien, gegen die er sich wiederholt ausgesprochen hat. Durch ihre Freiheit im Umgang mit der Sprache als einem gleitenden Feld von unscharfen Bezeichnungen kann Literatur das Bild einer Welt erfinden, in dem die Illusionen der Vernunft vermieden und als Illusionen der Aufklrung sichtbar gemacht werden können. "Die Rättin" führe das "Scheitern der Aufklärung... von dem großen Ziel zum Beispiel der Erziehung des Menschengeschlechts" vor, meinte Grass einmal mit kryptischem Bezug auf Schillers Ästhetik. Es werde deutlich, "daß die Menschen trotz aller Einsicht in ihr katastrophales Tun nicht in der Lage sind, von diesem Weg abzulassen. Sie stellen sich mit Sachzwängen zu, sie erschaffen nämlich genau aus diesem Fatalismus... so unumstößliche Dinge... lauter irrationale Geschichten... Das ist für mich die Sackgasse der europäischen Aufklärung."18 Diese Sackgasse, in die ein Fatalismus, der sich nicht besiegen lasse, die moderne Zivilisation unweigerlich führe, verfolgt er bis in die späte Novelle "Im Krebsgang".

Dieser Kampf gegen Systeme und Sachzwänge ist oft mit Theorielosigkeit gleichgesetzt worden. Das Bild von Menschen und Welt in seiner Prosa stellt Leben über Theorie, das Konkrete über das Abstrakte, die Assoziation über den logischen Begriff. Er ist ein eingefleischter Skeptiker, soweit es um den Zweifel an der höchsten menschlichen Fähigkeit, dem Denken in abstrakten Begriffen geht. Sein Zweifel am Denken geht leicht in Agnostizismus über. Seine Texte assoziieren rationales Kalkül und System mit einer gnostischen Verachtung der Sinne und einer angstgetriebenen Abwehr der Hand im Namen des Kopfes. In dieser Poetik liegt der Grund für seine Theorieferne, der die Kritik zutreffend und zugleich irrelevant macht. In seinen Romanen erhält die literarische Sprache eine Verbindung des Lebens in der Gegenwart mit den Anfängen in den Trieben und Leidenschaften des nicht-rationalen Unterfutters, wie im "Treffen in Telgte" einmal die nicht sichtbare Wirklichkeit der Gegenwart genannt wird.19 Eine Literatur, die das Leben an seiner scheinbar geklärten und geordneten Oberfläche sucht, ist nicht nur falsch, sondern liefert einen Beitrag zum vorauseilenden Tod, denn sie nimmt den Tod durchs System bereits im Leben beständig vorweg.

Wenn Grass von seiner Resignation spricht, benennt er einen zentralen Topos der Skepsis. "Es ist eine Enttäuschung über die Möglichkeiten der Vernunft."20 Er spricht von

17 Grass, Bd X, S. 168.18 Grass, Bd X, S. S. 348.19 Das Treffen in Telgte. Eine Erzählung. Werkausgabe in zehn Bänden, Bd. VI, Darmstadt und Neuwied 1987.20 Grass, Bd X, S. 140.

seiner Resignation beim Blick auf die Gegenwart: Resignation sei der eigenen Gegenwart gegenüber angemessen. "Ohne Resignation gibt es gar keine Erkenntnis... Ich konnte aus meiner Generationserfahrung zum Studentenprotest nur die Position einnehmen, die ich in 'Örtlich betäubt' und im 'Tagebuch einer Schnecke' eingenommen habe, und das war eine skeptische Position, die bei aller Sympathie zu diesen Bemühungen schon im Moment der Euphorie den resignativen Rückfall sah und vorwegnahm."21 Das Ende des gesellschaftlichen Optimismus, der vom Glauben an die Kraft theoretischer Modelle und ökonomischer Umwälzungen ausging und dessen falschem Idealismus Grass stets mit einer gewisen Skepsis gegenüberstand, ist eine Befreiung von den Illusionen, ihren Slogans, die von Anfang an ohne Bedeutung waren, und ihrer abstrakten Sprache, die das System an die Stelle des Lebens rückte. Die Ideale, von denen er in Reden und Essays spricht, gewinnen einen falschen Klang, und dem Unechten der Teorie setzt er eine Sprache der Konketheit und ohne teoretische Systematik antgegen.

Grass spricht aber auch von einem geradezu verzweifelten Verlangen nach Vernunft. Die Gegenwart scheine sich auf die Katastrophe zuzubewegen, während sie weiterhin in der Sprache der Vernunft über sich selbst rede. Trotz der demonstrierten Vernunft seien die Konsequenzen der Gegenwart zutiefst irrational. "Das ist der Punkt, der einem, Enttäuschung ist nicht das Wort, Verzweiflung nahelegen kann; denn ich weiß keinen Weg aus dieser Sache. Es gibt Trends, die sehen Sie bis in die Literatur hinein, wo es Hinwendungen zu irrationalem Verhalten gibt, und das wird auch sicher zu hervorragenden Literaturergebnissen führen, das Irrationale hat die Sprache noch immer beflügelt; aber erklärend, aufklärend wird das nicht mehr wirken."22 Wenn, wie Grass beständig betont und in seinen Romanen ausführt, die Gegenwart den Zusammenbruch der Aufklärung erlebt und das Irrationale so mächtig ist, wie seine Romane es schildern, ist sein Wort "Resignation" nicht eine milde, sondern unangemessene Bezeichnung. Ein aufgeklärter Skeptiker müßte durch den Gedanken, daß Sisyphos die repräsentative Figur der Gegenwart sei, zur Verzweiflung getrieben werden.

In einer Formel, die an die Kritik der instrumentellen Vernunft Adornos, Horkheimers und Marcuses anklingt, spricht Grass von der Perversion der Aufklärung als einer "Verkürzung des Vernunftbegriffs auf das Technische." Es sind weniger seine politischen Schriften als seine Kommentare zur Literatur, die deutlich machen, daß Grass Aufklärungskritik der Kritischen Theorie viele Anstöße verdankt. Er spricht von der Verkehrung der Vernunft in technisch- instrumentelle Mittel in Sinn von Herbert Marcuse als einem gesellschaftlichen Irrationalismus. Er wird zum Vernunftkritiker und interpretiert die Geschichte der Vernunft als Beitrag zum Unterdrückungssystem der Interessen der einzelnen. Aus dieser Perspektive kann nicht die Befreiung von den Autoritäten Staat und Kirche, die im Zentrum des Aufklärungsprogramms stand, weiterhin als Ziel gelten, sondern es muß an der Befreiung von Phantasie und Traum gearbeitet werden, um die Systeme der Repression zu sprengen. Um die in ihnen produzierte Angst zu überwinden, war der didaktische Versuch der Aufklärer ungeeignet.

21 Grass, Bd X, S. 167f.22 Grass, Bd X, S. 141.

Die Tabuisierung des Sinnlichen sei seit je sein Thema gewesen, sagte er 1975, und so schreibt er Geschichten, die über eine Befreiung des Sinnlich-Erotischen eine Selbsterfahrung erstrebt, die einen kathartischen Effekt hat. "Das Ausleben der Sinne hat bei mir immer eine Rolle gespielt.... Ich möchte auf sinnliche Weise aufklären..."23 Nur das unterdrückte Sinnenleben führe zu Explosionen des Irrationalismus. Mit einem offensichtlichen Blick auf den Nationalsozialismus spricht er den Gedanken aus, daß eine Kultur der Repression zu kollektiven Akten irrationaler Handlungen führe. Das Nicht-Rationale braucht einen Ort in der Gesellschaft, um sie vor dessen destruktivem Potential zu schützen. Mit Marcuse vermutet er, es komme "dann nicht zu den Stauungen, ...diesen plötzlichen Ausbrüchen von Irrationalismus, die wir erlebt haben."24 Die Charaktere in Grass Geschichten bestätigen die skeptische Ansicht vom Menschen. Sie rebellieren gegen die die Abstrahierung und die symbolische Gewalt, die in der philosophischen Entwirklichung von Welt in der platonischen Tradition liegt.

Gegen die tötliche Abstraktion versucht Grass, die "Macht der Träume" zu aktivieren. Aus dem radikalen Zweifel an der Rationalität entwickelt er eine Poetik, in der Träume, Tagträume und Phantasien die Kluft zwischen Literatur und Leben überwinden sollen. Einen Irrationalismus der literarischen Imagination unterscheidet diese Poetik von dem Irrationalismus der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie trennt das Dunkle der Träume und P:hantasien von einem Irrationalismus der gefährlichen Ausbrüche destruktiver Gewalt. Auch zur Irrationalität und Ekstase religiöser Bewegungen hält sie Distanz. Sie versteht das Irrationale in der Literatur als die Grundlage für Kreativität und Innovation, die aus der literarischen in gesellschaftliche Imagination transformiert werden könne. Im Unterschied zum Erziehungsziel seiner politischen Schriften ist diese Kreativität keinen politisch definierten Zwecken verpflichtet, denen die Imagination folgen müßte. Politisch und gesellschaftlich definierte Zwecke sind in diesem Bild von Literatur und Kunst unerheblich. Sie sind in dieser ästhetischen Theorie nicht an außerliterarische Ziele wie Tugend oder Wahrheit gebunden. Allein die Beobachtung, daß in unserer Vorstellung phantastische Welten existieren, ist ausreichend, um die rastlose Arbeit des kreativen Geistes, sich beständig neue Welten auszudenken, vom gesellschaftlichen Normierungsdruck zu befreien. Sie sind auf eine politische oder ethische Rechtfertigung nicht angewiesen. Dem verengten Bild von Leben und Glück der rationalisierten Gesellschaft stellt er den Irrationalismus einer unberechenbaren Welt der Imagination entgegen, die von Außenseitern erdacht und gelebt wird.25

Leidenschaften und Emotionen können nicht vom Verstand kontrolliert und den Zielen der Vernunft unterstellt werden. Grass Personen werden motiviert von Sexualität, Haß, Hunger, Sadismus. Sie sind Wesen einer sinnlich-emotionalen Welt der nicht zu domestizierenden Triebe. Sie lieben, hassen, saufen, streiten, töten, weil ihre Natur sie treibt, sie können nicht anders. Seine Menschen ziehen regelloses, wildes und gewalttätiges Leben vor da es ihnen die Freiheit gibt, aus sich selbst heraus zu handeln. Aus der so verstandenen freiheit bezioehen sie ihr Glück. Diese fiktiven Charaktere

23 Grass, Bd X, S. 172, 190.24 Grass, Bd X, S. 112.25 Diese Verachtung der Gegenwart als einer Welt der Philister ist der anti-modernen Philosophie Heideggers ebenso verpflichtet wie der Vernunftkritik der Kritischen Theorie.

folgen ihrer anthropologischen Bestimmung. In diesen Romanen ist das wahre Ich identisch mit Handeln, und Handeln ist notwendig destruktiv und verworren in einer triebgesteuerten Welt. Kein symbolisches System ist in der Lage, dies Bild des Lebens zu repräsentieren, und alle Versuche einer systematischen Darstellung zerfallen beim Versuch, Leben zu zeigen - nicht über Leben zu sprechen. Der Geist ist stets rein, denn er berührt nichts. Diese Reinheit ist die Folge der Ferne und tötlich. Leben entsteht durch Spontaneität und Triebhaftigkeit und kann nicht in Theorien und systematischen Repräsentationen sichtbar gemacht werden. Die Romane führen dieses Leben nicht mit einer didaktischen Absicht vor. Es ist nur Lesern verständlich, die bereit sind, von iunnen zu sehen, sich in sich hineinzubegeben, selbst vergleichbare Erfahrungen zu machen, die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis zu machen, von der Hamann einmal sprach.

Dieser Kampf gegen das Ich als Bastion der Vernunft ist eine Kampfansage des radikalen Skeptikers Grass gegen Günter Grass, den Autor von Reden und politischen Essays, in denen die Literatur aus einer Theorie politischer und ethischer Zwecke gerechtfertigt wird. In einem Interview faßte Gertrud Cepl-Kaufmann die widersprüchliche Position von Grass zusammen: "... im literarischen Werk ist das Ergebnis oder der Endzustand resignativ, im Gegensatz dazu existiert eine progressive Zielrichtung in Ihren politischen Arbeiten."26 Grass widersprach dieser Einschätzung nicht. Wenn er das Irrationale mit literarischer Kreativität assoziiert und es mit der Sprache der Aufklärung kontrastiert, spricht er von einem Bruch in seinem eigenen Werk. Er spricht von der Notwendigkeit, dem realistischen Wirklichkeitsbegriff zu mißtrauen. Er sei reduziert und müsse durch das "Einbeziehen des Unterbewußten, der Phantasie, des Traumhaften... lauter Dinge, die oft genug diffamiert werden als angeblich nicht real..." erweitert werden.27 "Wenn wir denken, wenn wir träumen, schweifen wir ab... alles ist bunt gemischt... Für mich ist das, was isoliert von der Wirklichkeit immer als 'Phantasie' bezeichnet wird, ein Teil der Wirklichkeit."28

Die Vernunft ist nicht in der Lage, den Sinnen die Existenz einer wirklichen Welt zu belegen. Sie ist ein Instrument der Emotionen und wird von eigennützigen Motiven gelenkt, wie die französischen Moralisten argumentierten. Den Anspruch der Metaphysik, daß das Denken einen a-priorischen Zugang zur Wahrheit habe, zerstörten die Sensualisten, und darin folgt ihnen Grass. In seiner poetischen Welt ist alles Wissen auf sinnliche Wahrnehmung zurückzuführen. Sobald der epistemologische Boden allen Wissens durch Sinnesdaten abgesteckt wird, ist der skeptische Zweifel am Generellen nicht abzuwenden. Was wirklich ist, ist individuell. Das Universale steht unter dem grundsätzlichen Ideologieverdacht falscher Abstraktion. Nur eine Wirklichkeit, die aus spezifischen Eigenschaften konstruiert ist und deren Zusammenhang durch die Besonderheit ihrer Elemente, nicht aber durch einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit konstituiert ist, ist vor den Gefahren ideologischer Abstraktionen sicher. Dieser Tradition einer Poetik des Konkreten folgend, ist Grass Position dezidiert anti-hegelianisch. Seine Prosa entsteht aus einer Opposition zum System, das nichts erkläre, sondern notwendig mißrepräsentiere. Der Streit unter den Dichtern im "Treffen von Telgte" macht sichtbar,

26 Grass, Bd X, S. 120.27 Grass, Bd X, S. 181, auch 261.28 Grass, Bd X, S. 256.

in welchem Maß das Denken in Systemen als Zwangsjacke der Imagination und Gefängnis der Sinne wirkt. Das Allgemeine ist das Falsche und lebensverneinend. Ideologien erzwingen eine Konformität, die im Tod endet. Seine Zurückweisung des Systems hat ihren Ursprung in der Intention der Skepsis, alle Systeme auf ihre inneren Widerspüche hin zu befragen und auseiander zu sprengen. Seine Geschichten demonstrieren, daß Denksysteme illusionäre Strukturen errichten mit dem Ziel, die verletzte Seele vor der Wirklichkeit abzuschirmen. Sie zeigen Geschichte nicht als einen vernünftigen Prozeß, sondern einen wilden Ozean in ständiger Bewegung. Sie hat keine erkennbare Ordnung oder Richtung, keinen Zweck, und ihre amorphen Bewegungen bedeuten nichts. Bedeutung gewinnt sie durch die Geschichten, in denen sie post festum erzählt wird.

Grass beruft sich wiederholt auf Georg Büchner, dessen poetisch-politisches Programm er als eine romantische Opposition gegen die politischen Verhältnisse versteht. Sein frühes Werk entwirft ein Bild der Bürger als Philister, deren Perversionen der vernünftigen Gesellschaft zu den verkümmerten Formen des Daseins in der Gegenwart geführt habe. Die Ideologie der Kleinbürger und die utilitaristischen Definitionen von Zwecken setzt er dem Blick des Skeptikers aus. Er macht die Ausschlüsse und falschen Sicherheiten dieser engen Welt drastisch sichtbar. Er analysiert sie nicht, sondern führt sie in der Tradition der romantischer Kritik am Bürger durch den Habitus der Philister und in poetischer Sprache vor.

"Ich erinnere mich" überschreibt der späte Grass eine kurze Reflexion über sein Verhältnis zur Zeitgeschichte. Wer ist dieses auf sich selbst zurückgebogene reflexive Ich der Erinnerung? Die Erwartung einer Konsistenz der Perspektive des Historikers ist solchen Texten gegenüber unangemessen. Der Satz ist mißverstanden, sobald er als die Beschreibung einer bewußten Handlung des sich erinnernden Subjekts gelesen wird. Grass spricht von einem zwanghaften Erinnern, das sich das Subjekt unterwirft und zum Schreiben aus Obsession führe. Den Anspruch der Zeitgeschichte auf ein sich selbst durchsichtiges Subjekt als dem Ursprung eines objektiven Bildes teilt diese Erinnerung nicht. Ganz im Gegenteil: sie lebt aus derselben Verachtung des "einfachsten Rollenfachs," dem der Geschichte und Zeitgeschichte als dem zugänglichsten Ich, von der Bachmann mit Verachtung spricht. Das Erinnern als ein unbeherrschbarer und geradezu zwanghafter Reflex überwältigt das Ich und setzt das Ideal einer objektiven Rekonstruktion der Vergangenheit außer Kraft. Der Satz könnte als das Leitmotiv seines gesamten fiktionalen Werkes gelten - aber nur in dem Maß, wie die Kluft zwischen Erinnerung und Geschichte in ihm nicht verdeckt wird. Wer das Subjekt des Satzes ist, wird nicht geklärt: "...oder ich werde erinnert durch etwas, das mir quersteht, seinen Geruch hinterlassen hat oder in verjährten Briefen darauf wartet, erinnert zu werden... Dazu Träume, in denen wir uns als Fremde begegnen, unfaßbar, endloser Deutungen bedürftig."29 Die fiktionalen Texte verbieten, das sprechende Ich mit der Konstruktion des Ichs der Geschichtsschreibung zu identifizieren. Die Welt seiner Texte ist auf eine Weise konstruiert, daß der Erzähler auf sie einwirkt und sie beherrscht, zugleich aber durch sie determiniert und zu einem Außenseiter gemacht wird. Die Perspektive eines

29 Günter Grass, Ich erinnere mich. FAZ 4. Oktober 2000.

distanzierten Beobachters und Kommentators, der Aussagen über die Welt macht, geht nahtlos in die eines Betroffenen, der in sie hineingehört und ihr ausgeliefert ist, über.

Der Erzähler kann sich spalten, spricht von sich als "jemand, der nicht ich" ist30 oder löst sich in viele auf, ohne die Autorität zum Sprechen zu verlieren. Das literarische Werk lebt aus dem Widerspruch zur Außenperspektive. Es macht den Versuch, einen Standpunkt zu gewinnen, der jenseits der Rationalisierungsprozesse liegt, ohne die Binnenperspektive der Erfahrung der Betroffenen aufzugeben. Es ist eine Perspektive der Unbestimmtheit, die es ermöglicht, Gegensätze zu kombinieren, die Moderne als Zeit der Rationalisierung zu denken und zugleich das Handeln von einzelnen und Kollektiven aus Irrationalität zu sehen. Die innere Inkonsistenz der Perspektive ermöglicht es, einen distanzierten Blick auf die Vergangenheit zu richten und zugleich mit den Augen von vielen Betroffenen im Inneren zu sehen, so daß die Zusammenhänge der traditionellen Sicht zerfallen. Die Logik und Konsequenz systematischer und methodischer Beschreibungen lösen sich in dem Maß auf, wie der Blick der Betroffenen eine Mikroperspektive einführt. Es ist die Perspektive derer, die sich innen befinden, ohne aber als Subjekte bewußt handeln zu können (oder zu wollen). Grass' Texte erinnern sich an die Vergangenheit aus den Blickwinkeln heterogener Konstellationen, von Jugendlichen, ethnischen Minderheiten, Zirkusartisten, Zwergen, geistig Gestörten und anderen Außenseitern, die aus dem Selbstverständnis der Moderne ausgegrenzt und stets marginalisiert werden. Ihr Verhältnis zu Normen der Standardisierung, zur Zeitökonomie und Produktivität entspricht nicht den Anforderungen der Rationalisierung von Systemen. Ihre Welt unterscheidet sich von der der Mehrheit. Ihr Blickwinkel auf Dinge und Verhältnisse entspricht nicht der Sicht der Handelnden und ist ebensowenig identisch mit der von Opfern. Sie stehen in jeder Hinsicht zwischen den Linien und verwischen klare Oppositionen. Sie schaffen einen Blick, der nicht einem konsistenten Subjekt korrespondiert, sondern in seiner Auflösung zu einer Polyperspektive der Vielen zerfällt, eine Perspektive der nach-modernen Skepsis in der ästhetisch konstruierten Welt der Imagination. In Bezug auf die spezifisch deutschen Verhältnisse verweigert diese Perspektive eine Identifikation mit dem Zentrum, mit den deutschen Tätern vor 1945 und nach der totalen Niederlage, als sie schnell von einer Rolle in die andere schlüpften und sich als Opfer der ungerechten Geschichte interpretierten. Sie löst die Opposition von Tätern und Opfern auf, indem sie gleitende und unscharf definierte Gruppen konstruiert.

An der Sprache zeigt sich, wie diese Poetik einen Ausweg aus der "Sackgasse", in die der gescheiterte "Fortschrittsoptimismus der europäischen Aufklärung" geführt habe, durch die Wiederentdeckung des Nicht-Rationalen sucht. Eine Sprache der Leidenschaften und Entdeckung der Welt aus ihren Träumen und Unwirklichkeiten stemmt sich gegen die fortschreitende Rationalisierung durch Begrifflichkeit. Kritik an seinen Geschichten hat oft die Sprache angegriffen, insbesondere in seinen Darstellungen abstoßender und ekelerregender Details. Er hat den Vorwurf, "unästhetische Widerwärtigkeiten" zu beschreiben, zurückgewiesen. Diese Differenz ist nicht eine Frage des Geschmacks. Es geht dieser Ästhetik darum, eine Sprache zu entwickeln, die Politik der Sinne ermöglicht. Eine Abtreibungsszene in "Hundejahre" ist oft als Beleg für die These einer Sprache des Ekels herangezogen worden. Grass besteht auf einer anderen Lesart: das Kind habe zwei 30 Im ersten Satz von "Im Krebsgang", Göttingen 2002.

Väter: ein Sergeant und ein Luftwaffenhelfer namens Störtebecker, und beide seien die Produkte einer Sprache, die auf Heidegger zurückgehe. Auf die für die Szene konstitutive Heideggersprache komme es an. Ihr gegenüber seien die Inhalte bloßes Epiphänomen. Nicht die Bedeutungslosigkeit von Inhalten steht hinter dieser Umkehrung, sondern eine Theorie der Sprache, die nicht als bloßes Mittel von Kommunikation verstanden werden kann, sondern die Inhalte in sich enthalte und Bedeutung schaffe. Für die beiden Reden, die der Ritterkreuzträger in "Katz und Maus" hält, habe er fünfzig "von diesen schrecklichen Pabelheften" gelesen. Nicht das Ideal einer dokumentarischen Exaktheit, sondern eine Theorie von Sprache als materialer Wirklichkeit steht hinter dieser Schreibpraxis. Die Vorbilder seines Sprachverständnisses sind James Joyce, Lawrence Sterne, Jean Paul, Grimmelshausen und, immer wieder kommt er auf ihn zurück, Georg Büchner.

Diese Sprache ist konkret, aber nicht archaisierend. Sie vermeidet die Naivität und Pseudo-Primitivität der Antizivilisations-Literatur. Seine Orte sind nicht die Städte, sondern Land, Kleinstadt, Provinz. Aber die Sprache dieser Orte dient nicht der Stilisierung einer Gemeinschaft des verlorenen Glücks. Ihre Sprache ist nicht die einer vormodernen Idylle. Es ist eine Sprache der konkreten Substantive und kräftigen Attribute, eine Sprache der Sinnlichkeit. Der Geschmack von Kartoffeln und Heringen, der Geruch von Erde und Feuer hängt an seinem Vokabular. Es sucht die Nähe zu den Dingen und ihren sinnlichen Eigenschaften. Aus dem skeptischen Zweifel an der Wahrheit des Abstrakten, nicht aber aus einer Idealisierung von Heimat auf dem Land und im Dorf, bezieht diese Sprache ihre Kraft. Die Rückkehr der Orte und Dinge aus ihrer Verbannung ins Allgemeine der Abstraktion verdankt sich nicht einem anti-modernen Affekt. Ihre Befreiung aus dem Obskuren folgt dem Verdacht, in der Helligkeit der Begriffe und Abstraktionen verberge sich eine Finsternis, die der Moderne gefährlich werde und den Weg in die Katastrophe weise.

Das Ostpreußische als Sprache von "Vertriebenen" und einer Minderheit im Westen dient dazu, dies Ziel zu verfolgen. Es ist nicht als exotische Sprache zu verstehen, und seine Texte schaffen nicht ein Mausoleum für diese ausgestorbene Sprache. Sie dienst vielmehr dazu, eine Perspektive des Ostens im Westen als eine des Dazugehörens und der gleichzeitigen Fremde zu entwickeln, um daraus den imaginierten Raum des kulturellen Selbst neu zu entwerfen. Die Kombination der Sprache des (verlorenen) Ostens mit der von Kleinbürgern ermöglicht es, die Kultur der Deutschen von innen darzustellen und zugleich den distanzierten Abstand einer Außenperspektive zu einzunehmen. Seine Sprache ist Hochdeutsch und ihr Verständnis erfordert die Kenntnis des regelgerechten Deutsch. Sie ist aber zugleich auch Nicht-Deutsch, nicht die Sprache des Dudens und der lesenden Elite, sondern eine Provokation. Sie unterminiert die Identität des sprechenden und lesenden Ichs, indem sie eine Zwischenstellung der Zugehörigkeit und der Fremdheit entwickelt. Die Abwertung des Ostens und der Vertriebenen aus dem Osten nach 1945 wird hier umgekehrt und die unklar undefierte Position des Außen zum Rahmen der Geschichten. Grass Sprache ist nicht Hochdeutsch mit eingestreutem Dialekt, sondern eine literarisch konstruierte Kunstsprache, in der auch das Hochdeutsch nie es selbst, sondern stets mit Un-Sprachen kontaminiert ist. Über das Lesen dieser Sprache wird nicht die bruchlose Identifikation mit der eigenen Kultur angestoßen, sondern sie wird

zum Medium einer neuen Nähe aus Distanz. Diese Sprache soll nicht konservieren und kann nicht gesprochen werden. Sie gehört vielmehr allein in einen textuellen Zusammenhang, der sich an instablile oder noch zu findende Identitäten wendet. Die Opposition von deutsch und nicht-deutsch, etwa polnisch oder kaschubisch, ebenso wie die zwischen uns und den anderen, den Zwergen, Krüppeln und Verrückten, wird durch diese Sprache aufgehoben. Die kulturelle Landschaft des Ichs wird auf diese Weise neu entworfen.

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Zu einer Zeit, als die Konfrontation Sarte - Camus mehr als zwei literarische Programme bezeichnete, nahm er uneingeschränkt für Camus und dessen pessimistische Anthropologie Stellung. "Die Camusche Position ist mir wieder aktuell geworden. Sisyphus ist wieder aktuell."31 Der Albtraum von Sisyphos kann zum Mythos der Skepsis werden, sobald Sisyphos, wie Camus die antike Erzählung liest, Schicksal aus dem Terror der Teleologie löst und den Stein und die anhaltende Bewegung um ihrer selbst willen liebt. Es ist nicht die Absurdität in der unabschließbaren Wiederholung im Schicksal, die Grass faszinierte, sondern die "Absage an jedes geschlossene ideologische System, das... glauben machen will, wir erreichten etwas, einen Zustand, wo der Stein oben liegen bleibt, wo endlich diese ersehnte Position erreicht ist." Diese Absage führte Camus zu der Bemerkung, Sisyphus sei ein glücklicher Mensch. Auch für Grass ist er glücklich, da er von der Verpflichtung, ein Ziel zu erreichen oder etwas zu produzieren und zu hinterlassen, befreit ist. Er ist nicht in einer der Geschichten gefangen, die die Geschichte für größer als das Leben erklären. Die Arbeit am Stein macht ihn frei von der Last der Geschichtsmetaphysik. Die Idee einer letzten Bestimmung und eines Ziels im Leben und in der Geschichte wird vor diesem Leben absurd. Wenn Sisyphos auch nicht zur Norm erhoben werden kann, so führt das extreme Beispiel von Sinnlosigkeit doch zur Befreiung vom Gedanken einer objektiven Welt, zu deren Konstruktion das Subjekt nicht selbst gehört.

Dies Bild von Geschichte und Gesellschaft scheint eng mit dem Existenzialismus der fünfziger Jahre und der Philosophie des Absurden verbunden zu sein. Aber die Unterschiede sind gravierend. Grass vermeidet die Sprache des Absurden. Seine Skepsis immunisiert ihn gegenüber der Verführung von Nihilismus. Sie trennt sein Werk von einem Bild der Geschichte als umgekehrter Theodizee. Die Schärfe und Leidenschaft der negativen Theologie, mit der Nietzsche oder Dostojewski ihre Interpretation des Lebens als bedeutungs- und zwecklosen Gang durchs Nichts entwarfen, liegt jenseits des Rahmens von Grass skeptischem Weltentwurf. Ironische Distanz und Sprachspiele bewahren ihn vor dem Abgrund des totalen Sinnverlusts.

In einer Variation des Sisyphos-Gedankens einer Geschichte ohne zielgerichtete Bewegung entwickelte Grass das Bild der Schnecke.32 Im 'Schneckentagebuch' habe er das Geschichtsbild der Teleologie mit anderen Argumenten geleugnet: "Schnecken

31 Grass, Bd X, S. 278.32 Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Werkausgabe in zehn Bänden, Bd. IV, Darmstadt und Neuwied 1987.

kommen nie an. Wenn man will, ist das die härtere und, wie ich meine, auch genauere Sicht auf unsere menschliche Existenz."33 Die Schnecke ist ambivalent konnotiert. Sie ist nackt und verletzlich, mit einem fragilen Haus, das sie selbst baut und beständig erneuert, in das sie in Zeiten der Gefahr sich zurückzieht, ohne daß es jedoch einen wirklichen Schutz vor den lebensbedrohlichen Gefahren ihrer Umgebung böte. Auf der anderen Seite steht sie für Ausdauer und Hartnäckigkeit und den Erfolg der Langsamkeit. Denn sie lebt nun auf dem Planeten seit langer Zeit, länger als der Mensch und mag den Menschen wohl auch überleben. Grass macht sie zum Symbol für den Kompromiß, die Entscheidungslosigkeit der Skepsis. Sie ist sein Bild einer Bewegung, die sich der Wahrnehmung entzieht. Sie kommt nie an. Aber sie bewegt sich doch vorwärts. Die Hoffnung, den Gang der Geschichte durch die revolutionäre Tat zu verändern, Chairman Maos Vision vom großen Sprung nach vorn, komme ihm vor, schreibt Grass, wie der Versuch, eine springende Schnecke zu schaffen. Im Unterschied dazu komme es darauf an, eine Position der reduzierten Erwartungen zu denken, eine Position der Skepsis ohne Verzweiflung. Er habe mit der Schnecke ein "Gegengift" gegen die falschen Erwartungen gespritzt. "Denn es ist eine Schnecke, die den Fortschritt bebildert: So langsam geht es, so beharrlich geht es... Und doch ist dieser Verlust an Zukunft... von großem Gewicht..."34

Er macht die Schnecke zum Symbol der neuen Skepsis. Aus der Außenperspektive beobachtet, bewegt sich die Schnecke nicht. Aber dem nahen Blick scheint sie nicht zu bleiben, wo sie ist. Die Skepsis hat keine Hoffnung, ein Ziel erreichen oder auch nur benennen zu können. Für sie bewegt sich die Welt und steht zugleich still, alles unverändert lassend. Es ist die Doppelperspektive des Skeptikers Grass, aus der beide Ansichten gleich berechtigt sind. Das Verstehen der Wirklichkeit aus dem Bild der Schnecke führt zu einer Ambivalenz aus Optimismus und Resignation. Verborgen in der Langsamkeit scheint die Beständigkeit der Bewegung nach vorn zu führen, während gleichzeitig der Blick auf die Schnecke den Gedanken des totalen Stillstands in einer unaufhörlichen Bewegung von Sisyphos nahelegt.

Das Bild der Schnecke ist ein schwacher Versuch, einen Mythos der Verzweiflung in eine banale Geschichte des schleichenden Fortschritts zu verwandeln. Das Bild der Schnecke gibt vor, eine Welt, die der radikale Zweifel als bodenlos und ohne Sinn enhüllt, wiederzugeben, und zugleich eine Bestätigung von Hoffnung zu bewahren. In diesem Bild stoßen zwei unversöhnliche Positionen aufeinander, aber sie streiten nicht. Die epistemologische Aporie der Skepsis wiederholt sich im Versuch ihrer Konkretion durch eine dingliche Bildsprache für das Ganze des Daseins. Der Gedanke der Unentscheidbarkeit kommt an seine Grenze. Entweder bewegt sich die Schnecke, und es gibt einen Fortschritt, oder die Bewegung ist eine Täuschung der Sinne, und es gibt keine Geschichte. Die langsame Schnecke ist ein metaphorischer Nebel, der die Opposition verschleiert.

Sobald Geschichten in kontingenten Konstruktionen der Regellosigkeit restlos aufgehen, wird die Rechtlosigkeit einer freigesetzten Triebwelt unvermeidbar. Die Teilung des 33 Grass, Bd X, S. 280.34 Grass, Bd X, S. 278.

Irrationalen in zwei, in Kreativität und Destruktion, ist eine Illusion. Das Irrationale, aus der Unterdrückung befreit, handelt irrational, ohne sich in die Grenzen kultureller Produktivität einengen zu lassen. Die Unterscheidung der zwei Formen von Irrationalität ist nicht aufrecht zu halten. Diese Konsequenz erschien bereits in der Literatur des Skeptizismus nach dem Ersten Weltkrieg, etwa in Benns Frühwerk oder im Wallenstein-Roman von Grass 'Lehrer' Alfred Döblin. Wenn es keine Geschichte, keinen Zweck im Leben und keine begründete Autorität gibt, wie diese Literarur nahelegt, gibt es auch keine Autorität, die Ausbrüche von destruktiver Irrationalität, Anarchie und Gewalt verhinderte. Grass Romane vermeiden diese Konsequenz. Seine Charaktere werden von Leidenschaften und irrationalen Begierden getrieben. Ihrer Natur ist der moralische Imperativ fremd, und sie läßt sich ihm nicht unterstellen. Wenn dies die anthropologische Konstruktion des Menschen ist, kann aber die Frage, wie Chaos und destruktive Anarchie zu verhindern und Ordnung herzustellen sei, nicht vermieden werden. Die Antwort kann nicht in der Langsamkeit der unschuldigen Schnecke zu finden sein. Ihr Bild holt die Tradition einer Unentscheidbarkeit des skeptischen Denkens heran, das sich den verstörenden Einsichten des radikalen Zweifels an der Vernunft verweigert und Verzweiflung nicht kennen will.

Die Frage führt zurück zum Verhältnis von Innen- und Außenperspektiven. Im literarischen Werk von Grass wirkt die Aporie, die auch die Postmoderne durchzieht. Sein Selbstverständnis ist von der aufklärerischen Moderne geprägt und vom Bedürfnis bestimmt, den Gedanken eines Fortschritts der Zivilisation nicht aufzugeben, sich nicht in die Arme einer romantischen Reaktion zu werfen. So erhebt er die langsame Vorwärtsbewegung der Schnecke zum Symbol. Der Fortschritt ist eine Schnecke, und aus der Schnecke wird Literatur. Aber zugleich macht der Zweifel am Fortschritt eine Auflösung des beobachtenden Ichs notwendig. Aus dieser Position ist keine Bewegung zu erkennen, vielmehr bloße Variation. Die veräderungslose Natur des Menschen, das nicht zu zivilisierende Anarchische verlangt nach einer Autorität, und zwar nach einer Autorität, die von außen kommt und sich vor keinem Gerichtshof zu verantworten hat, eine absolute Autorität. Die nicht zu kontrollierende Macht des Irrationalen vorausgesetzt, muß diese Autorität mit einer gleichwertigen Macht ausgestattet sein, mit einer Souveränität, die Furcht und Schrecken verbreitet, so daß jeder Zweifel an ihr im Keim erstickt wird. Der Freiheitt als Zügellosigekeit des Triebhaften kann nur eine ebenso zügellose Macht entgegenwirken. Ausbrüchen des Irrationalen, Terror und Bürgerkrieg, der Stasis, vor der sich Antike fürchtete, ist nur eine Schrecken verbreitende Macht jenseits der rationalen Legitimation gewachsen.

Die Umkehr des radikalen Zweifels, wie Kierkegaard und Nietzsche sie einleiteten, schuf einen anderen Gegner als die falschen Bilder und sucht nicht länger nach Waffen gegen das Unwahre. Im Gegenteil: Die uneingeschränkte Freiheit der Literatur, eine Welt der Mythen herzustellen, die der Frage nach Wahrheit nicht unterworfen werden, war in Nietzsches Vision der Zukunft der einzige Ausweg aus einer von der sterilen Rationalität erstickten Gegenwart. In der Welt eines mit Mythen umstellten Horizonts hat der skeptische Zweifel keinen Ort mehr. Wem es vor der Rückkehr einer archaischen Welt der Mythen bangt - und das politische und essayistische Werk von Grass ist der Ausdruck solcher Furcht - muß sich mit der Konsequenz abfinden, daß nur der Zwang durch den

Schrecken einer Macht ohne Verantwortung das Heraufziehen eines Zeitalters terroristischer Gewalt verhindern kann. Das ist die paradoxe Konsequenz einer Skepsis, die sich mit der Gegenaufklärung liiert und mit ihrem radikalen Zweifel das Vernunftideal der Zivilisierung destruiert. Die Implikationen für eine Literatur der Skepsis wären dann die Alternativen einer Poetik der Verzweiflung und einer Poetik der vor-rationalen Autorität. In einer starken Definition des Erhabenen korrespondierte diese Literatur nach dem Ende des Schönheits- und Wahrheitsideals der schreckenerregenden Macht im kommenden Zeitalter des Terrors. Der mit ihm heraufziehenden neuen Ärmlichkeit des Daseins entspräche eine Literatur des archaischen Schreckens.