„eine neue Ära“, „blutiges zwielicht“, „liebesspiele in den tagen der grossen ordnung“
TRANSCRIPT
EDITORIAL
Er schrieb uber .das Land, an dem er litt, weil es ihn ausgren
zen wollte, politisch, wegen w1dersetzl1chen Charakters,
moralisch wegen Liebe zum gleichen Geschlecht, und eben
uberhoupt, weil er schrieb und zeichnete, was die Behorde
lieber beschlagnahmte und 1n Akten verschloss, als es der
Öffentlichkeit preiszugeben · - so sagte es Gerhard Wolf 1n
seiner Laudatio auf den Le1pz1ger Dichter Andreas Re,monn,
mit dem Axel Helb1g 1m neuen OSTRAGEHEGE ein ousfuhrl1-
ches Gesprach fuhrt {.Aus dem Bewusstsein der Sterblich
keit seine Kraft ziehen"). Die Redok11on grotul1er1 Andreas
Reimonn zum 70 Geburtstag, den er om 11 November
begehen wird und widmet dem Dichter gemeinsam mit dem
Sochs1schen Literoturrol eine Festlesung am 30 November
im Dresdner Landhaus (siehe Anzeige S 44)
Politische Zusammenhange stehen auch im Mittelpunkt
der Erzahlvngen von Jorge Sogostume. Der seit Jahr
zehnten in den USA lebende argentinische Sch11ftsteller
sch11eb uber die Verhongung der Militordiktotur 1n Argen
tinien vor 40 Jahren, die er damals, als Siebzehn1ohriger,
miterlebte Utz Rochowski hat diese oft besturzenden Texte
fur OSTRAGEHEGE aus dem Englischen uberselzl
Und noch ein dntter Beitrag kreist um diktolonsche Themen
Luko Tuvolus Erzohlung ,Passieren" entwickelt anhand einer
w1llkurlichen Grenzzrehung ein mehr und mehr surreol1sh
sches Szenario, das immer groteskere Formen annimmt und
kollabiert
M11 Birgit Kre1pe, Jone Kenyon, Kerry Shown Keys, Ul1ono
Wolf und Gregor Kunz geben starke Dichter mit ihren Texten
dem Heft seinen Klang Insgesamt kommen 16 lyrische Stim
men 1m neuen OST RAGE HEGE zu Wort
Dokumenhert wird die Vergabe des Chom1sso-Pre,ses 2016
an Ul1ono Wolf .Ihre Gedichte", sogt der Loudotor Michael
Braun, .sind keine Gebilde, 1n denen Sprache selbstverstönd
lich zur Verfugung steht und geschme1d1g als Vehikel genutzt
und dienstbar gemocht wird Ihre Gedichte entstehen ,m
Gegenteil aus einer Unsicherheit, aus einer Storung der
Sprochgew1sshe1t, aus einem fundamentalen Sprachzweifel
Der Storfoll in der Rede, das Steipern in eine Fremdheit 1st die
Urszene dieser Dichtung·
In der Logebesprechung stellt Bertram Reinecke den Dichter
Alexander Koppe vor Auch Koppes Gedichte speisen sich
aus Sprachzweifel und Fremdheitsempf1ndungen „ Der unge
wohnte Eindruck seiner Texte kommt eher von der unerwarte
ten Mischung der Verfahren, Vokabulare, B,ldspender, dem
oft plötzlichen Auftreten von Ouerstöndigem 1n einer bereits
durchschaut geglaubten Logik der Worter Dies ist etwas,
was viele gepflegte Leser stört." { Bertram Reineckel
Kunstlerisch eingefasst wird das neue Heft von dem in Cos
wig bei Dresden lebenden Maler Michael Horwoth, der uns
.B,ldwo rte vom Licht' (Jörd1s Lodemonnl bringt
- Die Redaktion
-OST GEHEGE
Zeitschrift für
LITERATUR, KUNST Nr.8 1 Heft lll/2016 HERAUSGEBER literor1$che Areno e V, Dresden c/o Axel Helb,g B1rkenstroße 16 01328 Dresden Telefon 10351) 269 13 26 E-mo1 ostrogehege-redok11on@webde www ostro · gehege de
OSHAGEHEGE e•sche,nl v,er1el1öh,l,ch O,e obgeol'\lckten Beitroge spiegeln ruch1 die An Sichten der ~edakreure D ,e Rech1sc.hre bung folg1 1ewe,ls den Ongino en Zur M1f0rbe1t wird einge oden. 1edoch können unverlon91 eingesandte Manuskripte nicnt zuruckge~nde, werden Zusendungen moglic.hM ols AoK!ruc::k oder per E-Mo,I Der Umfang der Texte soll 10 Se,1en n1c::h1 ubersch1e,1en
REDAK110N Axel Helb,g (Dresden) Ulf G,oßmonn (D,esdenl A,on Koben (D,e,den) Redol:.1 onsass,sienz Moieosz Moledo (Hannover) E eo'\oro Gehnsc::h (Dresden) Potnd W Iden ID,esdenl
BIIDlEDAK110N GESTALTUNG und SATZ And•eo; Be,e, ID,esdenl
BEIRAT Peter Gehnsc::h (D,esdeo und Lw6wek. Slqsh Vors,lzende, de, l 1eror1schen Arena e V) An1on·n 801010 (Zlif'I ul'ld Prag) Dr Weine, Bor meyer (Dresden) HubettusGiebe 1Dre5-den) Dr Uwe G,un ng !Neumo,k/Sochsen) P,of Dr Jöm Peter H,ekel IDresdenl M1eczyslowOrsk1 (W,oc•ow) Hans Jurgen Sorlen !Dresden) Prd Dr Wo1te1 Schmitz (Oresdeol Jooch,m Wonhe, (Bed n)
DRUCK lößn,12.Druck GmbH Rodebevl
BANKVERBINDUNG l,re,onsche A,eno IBAN DE43 8505 0300 3200 0262 26 SWIFT· BIC OSDDDE81XXX
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1SSN 0947-1286
ERSCHEINUNGSlAG 5 9 2016
OSTRAGEHEGE w ,d gefo,dendu,ch
da, SACHSISCHE SlAATSMtNISTERIUM DES INNE RN
Landeshauptstadt ~III Dresden IIIlJ
Amt fur Kvltur vnd Den<molschu1z
Inhalt
Birgit Kreipe
Jördis Lademann
Jane Kenyan
Kerry Shaw n Keys
Axel Helbig
Grego r Kunz
Jorge Sagas tume
Uljano Wol f
Michael Braun
Bertram Reinecke
Alexander Koppe
Alexander Koppe
Luko Tuvolu
Sergej Tenjatnikow
Wolfram Malte Fues
Svenja Herrmann
Matth ias Engels
Max imilian Zander
2 0$TRAGEHEGE 81 .111/2016
LYRIK
über die alpen (Sechs Gedichte) ....................................... . L
BILDINDI KUNST
Bildworte vom Licht - Zur Malere i Michael Horwo ths 7
LYRIK
Im Zwist mit de r Schwermut (Vier Ged ichte) ......... .................................................. ..... 15
Reservierung Pro re nota (Fünf Gedichte) ........................................................................ 19
INTIRYIIW
Aus dem Bewusstsein der Sterblichkeit seine Kraft ziehen - Gespröch mit
Andreas Reimann im Leipziger Cafe Grundmann am 28 . Apri l 2016 ........ ..... ......... 23
LYRIK
Argo nauten ( Drei Gedichte) ............................ .................. . . . . . ......................... 34
PROSA
Eine neue Ära ........................................... .. ........................................................... 37
ADILB1RT 0 YON °CHAMISS0°PRIIS 2016
Doppelgeherrede / Kalle Küche (Gedich te) ................................ .. . ... .... 41
Das Wort ist immer vie lfach. Laudatio auf Uljona Wolf ...................... . ............. 43
LAGHHPRICHUNG 57 - ALIXANDIR KAPPi
Reservat w ie Reservoir (Über Alexander Kappe)
Lichtung des Herzens und Baum {Acht Gedichte)
.................... ......... ......... 45
................. ... .............................. 47
Im Nahkampf mit der W irklichtkeit (Poetologische Not iz) ........................................... 52
PROSA
Passieren ............................... ................................................................................... 54
LYRIK
Im Gedenken an J. A. T. (Zwei Gedichte)
Der Grass -Schrift-Steller erzählt
Little Odessa
nocturne
Herbstgedicht ...
.................................................. 57
........................................................... 58
.... 60
........... .... 60
.. .... 61
Rainer Wed ler
Heike Olschonsky
das ist de ine Groß tante
Verruf (Vier Gedichte) ..................... .
RIZINSIONIN
,,d,e kuchenreste einer höuserze le" (Zu Christoph Wenzel)
,,Am Riss durch den alten Asphalt" (Zu Wolfram Malte Fues)
Nichts mit Kleinmut (Zu lstv6n Kemeny) ........................ ..
.61
.62
... 63
.... 64
. ....... 65
Patrick Wilden
Thomas Ernest
Zsuzsonna Gohse
Reiner Neubert
Heinz We ,ßflog
Volker Strebei
Uwe Salzbrenner
Geheimn isvolle Spiele (Zu Jiri Grusa) ............................................................. ....... 65
Bestürzendes Protokoll eines Ungarn-Besuches [Zu Michael Wüstefeld) ................. 66
So einloch ist dos! [Zu Isaak Babel) ................................................................................. 67
Bill für uns ... bitt für uns. Expeditionen zur Kunst (Zu Ingrid Mylo /Felix Hofmann) ... 68
ZU DIN AUTORIN
... ............................................................. 70
ZU DIN ABBILDUNGEN
Malere i von M icha el Horwath:
»Chinokotzen«2015 [Ausschnitt), Öl auf Hartfaser, 42x90 cm ................... . . ..... Ul+4
»Erzählender« 2016, Öl auf Hartfaser, 90x62 cm ......................................... . . ....... U2
»Stürzende« 2014, Öl auf Hartfaser, 81 x60 cm .................. .. . .............. U3
•Mann mit Lamm« 2014, Öl auf Hartfaser, 80x60 cm .......... ................... ................. .................................................... 9
»David und Bathseba« 2015 , Öl auf Hartfaser, 80 x 85 cm ............................................ ............... ............... ................. l 0
»Harlekin« 2012, Öl auf Hartfaser, 85 x 80 cm .. . ............................................................................................... 11
»Prophet« 2014 , Öl auf Hartfaser, 89x63 cm....................... ................... .................... . .......................................... 12
»Das Paar« 2015 , Öl auf Hartfaser, 60x81 cm ................................................. . . ........................ 13 0
»Brücke« 2015, Öl auf Hartfaser, 55 x 100 cm .. .. ............................................................................................... 13 u
»Regenschirm« 2015, Öl auf Hartfaser, 95 x60 cm .............. . . ................ ......................................... 14
FOTOGRAFIE von DIETER RAMKE [Leipzig):
„Portrait ANDREAS REIMANN" ......................... .................................................................................................................. 22
OSl"-GE:HEGE: !11-IU/i016 3
PROSA~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~-
JoRGE SAGASTuM E
EINE NEUE ÄRA
EGAL, \V/AS DU SAGST,
DU KÖNNTEST VERSCHWINDEN
FÜR WOLFGANG MÜLLER
Buenos Aires, die Endsiebziger. Abends um zehn war
Sperrstunde in jenen Tagen. Mein Freund Alejandro und ich hatten gerade unser letztes Glas Portwein oder einen Scotch im Cafe des Bahnhofs genommen, gingen hinaus und winkten einander zu, als wir unseren jeweiligen Heimweg nahmen. Ich ging zu Fuß, weil ab zehn Uhr alle öffentlichen Verkehrsmittel ihren Betrieb
eingestellt hatten. Nach kaum drei Straßen stoppte ein Polizeitransporter und der Fahrer stieg aus. Der gestylte Offizier kam auf mich zu und verlangte meine ID -Card.
Ich hatte nichts zu verbergen, aber ich log und sagte, ich hätte meine Brieftasche zu Hause vergessen. »So«, erwiderte er, »Junge, das tut mir leid, du wirst die Nacht in einer Zelle verbringen müssen, bis zum Ende der Sperrstunde, und während du dort wartest, werden wir eine Hintergrund-Überprüfung machen.« Ich hatte schon von diesen Überprüfungen gehört.
Als die Hintertür des Wagens sich öffnete, leuchteten viele verstohlene Blicke im Inneren des dunklen Ge häuses und begrüßten mich. Mehrere verschiedene Gerüche, männliche und anderer Art, erreichten mich aus allen vier Ecken des engen und stickigen Ortes. Ich
konnte keines der Gesichter erkennen, aber man konnte aller Atem riechen. Niemand sprach, und ich war verwundert, dass dort, unter diesen Leuten, jemand war, den ich kannte, aber der dichte Vorhang der Dunkelheit trennte mich von jedermann und hinderte mich, mehr zu sehen als deren Silhouetten. Jemanden zu kennen, dachte ich, würde mich ein bisschen ruhiger werden lassen. In Momenten wie diesen, vielleicht im Irrtum, mit
einem Blick in die Vergangenheit und einem Abtasten der Zukunft, erlaubte ich mir im Licht dieses Gefühls ein dumpfes Schluchzen - eine weibliche Hand berühr te mich und ihre Finger umgriffen die meinen. Es war das erste Mal, dass ich verhaftet wurde und im Kopf eines jugendlichen waren dies eigentlich gefährliche Kriminelle, die mich ins Gefängnis begleiteten, aber ich fühlte nichts in dieser Weise, und im späteren Verlauf
meines Lebens begann ich zu verstehen, dass vermutlich keiner der Passagiere in diesem Kleinbus weder krimi nell noch gefährlich war.
Auf der Polizeistation wurden wir angewiesen, einer nach dem anderen vom Kleinbus herunterzukommen
und jedem von uns wurde eine Kapuze über den Kopf gestülpt. Wir verschwanden. Wir konnten nicht mehr sehen oder gesehen, sprechen oder gehört werden. Und wurden jeder in Einzelzellen gesteckt, wo wir nebenein-
OSTAACfHEGt 81 - 111/20 16 3 7
ander in einer Reihe waneten, in der Gesellschaft von
niemand, aber jetzt ohne Kapuzen.
Während die Stunden dahingingen, dröhnte perma
nent laute Musik und erfüllte jeden Zentimeter meiner
Zelle. Ich hatte vorher von diesem »Überprüfungs« -Ver
fahren schon gehört, es hätte den alleinigen Zweck, die
Zungen derer zu lösen, die verhört wurden. Ich erschrak
entsetzlich und etwas flüssig Warmes begann mein lin
kes Bein hinunterzulaufen. Ich fühlte mich nicht be
schämt. Die Furcht, der nächste Gefangene zu sein un
ter dem hellen Licht des Verhörraumes, war viel größer
als jeglicher Sinn für Würde und Scham.
Hinnahme, hatten sie mir gesagt, sei der Anfang sich
mit der eigenen Gegenwart abzufinden; und über mich
kam Gelassenheit, und ich bedauerte, meine Großeltern
heute früh nicht engherziger umarmt und geküsst zu haben. Ich vermisste sie schmerzlich.
Plötzlich wurde eine Tür geöffnet und durch den lau
ten Klang des gerade gespielten »Libertango« hörte ich
einen eindringlichen Schrei. Danach völlige Stille. Der
Schrei war verschwunden. Der Offizier, schloss die Tür,
und hinter ihm war derselbe Mann, der mich nach mei
ner ID-Card auf der Straße gefragt hatte. Ein Gefühl
der Hoffnung kam über mich. Als er an meiner Zelle
vorbeiging, hielt ich ihn auf: »Wissen Sie was, Chef?«,
sagte ich, »vorhin war ich so erschrocken, als Sie mich
nach der Identifikation fragten, dass ich Sie anlog. Ich
habe meine ID-Card. Hier ist sie.« Und ich langte sie
ihm hin. Er schaute auf die Karte, richtete die Augen
auf mich, sein Gesichtsausdruck bekam beinahe etwas
Menschliches. Er schloss die Zelle auf, schnappte mich
am Arm, zog mich unsanft heraus und führte mich hin
weg, während er mit seiner offenen Hand gegen meinen
Hinterkopf schlug und schrie: »Komm her, du dummer
Junge, ich fahre dich selbst nach Hause, bevor die Musik
wieder anfängt. Komm, du dummer Junge.«
BLUTIGES ZWIELICHT
Zu einem Zeitpunkt des Schlitterns über den eisigen See
des Lebens, ununterbrochen und mehr oder weniger
frei, tut sich plötzlich ein Abgrund auf, eine Versenkung
erscheint und man wird verschluckt von einer auf dem
Kopf stehenden Welt, in der alles neu und unsicher ist;
sogar schön, in krankhafter Weise.
Buenos Aires, 1978, Winter, kurz nach zwei Uhr nachts.
Eine krachend brechende Eingangstür. Einige Sekunden
vergehen, bevor mein Onkel sein Denken wiederfindet,
genug Zeit, um die Nachttischlampe anzuzünden und
vierzehn uniformierte Männer zu zählen, die um das
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Bett herum stehen mit Maschinenpistolen und nach
meiner Cousine Celeste fragen. Fünf Sekunden später
wiederholen sie beinahe einstimmig: »Wo ist Celeste?«
Es scheint meinem Onkel, als sei eine Stunde vergan
gen; er antwortet, sie sei ausgegangen mit ihrem Freund.
Die Männer glauben den Worten des Onkels nicht und
sie werfen ihn und seine Frau aus dem Bett, legen ein
Plastikseil fest um ihre Handgelenke, kleben Pflaster
auf ihre Münder und führen sie vom Schlafzimmer in
die Bibliothek.
Mein Onkel sitzt auf dem Boden, daneben meine Tan
te. Sie können weder sprechen noch sich bewegen. Al
les was sie können, ist Denken, und mein Onkel denkt
an Celeste und ist erleichten, dass sie nicht da ist. An
sonsten würde er sie vielleicht nie wiedersehen, er weiß
dies sehr gut. Menschen verschwinden in diesem Land.
Dann denkt er an seinen Sohn, der noch in seinem Zim
mer schläft, aber er ist deswegen nicht beunruhigt. Das
ist kein Grund zu verzweifeln, denkt er. Das Leben lehr
te ihn, sich dem Schicksal zu fügen.
Schließlich schaut er seiner Frau in die Augen und
mittels einer Sprache, die nur sie beide verstehen, sagen
sie einander: »Lass uns die Augen schließen und träu
men.«
Stunden vergehen und das Morgenlicht sickert durch
die Jalousien und legt sich auf das große Meerwasser
aquarium, vordem ein wunderschönes Becken, jetzt mit
trübem und aufgewühltem Wasser und umgedrehten
Korallensteinen, beweist die Anwesenheit von jemand,
der darin nach etwas suchte. Der Blick meines Onkels
tastet langsam den Raum ab und findet meinen kleinen
Cousin Federico ebenfalls festgebunden neben sich und
seiner Frau, unerklärlicherweise beruhigt ihn dies. Er
fährt fort, weiterhin die Dinge abzutasten: aufgeschlitz
te Kissen, die Bücher, entrissen aus der vorher fein
säuberlich aufgereihten Linie in den Regalen der Bib
liothek, sind jetzt auf dem Boden verstreut, der Inhalt
der Schubkästen liegt verstreut überall auf dem Teppich
umher, und drei leere Flaschen Whisky stehen auf dem
Couchtisch; er zählt vierzehn Gläser. Und er versteht
nicht, wie er während all diesem hat schlafen können,
aber ist froh, dass er es getan hat, und hofft das auch für seine Frau und seinen Sohn.
Plötzlich erscheinen die Triple A Männer im Raum und
sagen: »Richte Celeste aus, dass wir sie finden.« Sie ver
abschieden sich. Nach ein paar Minuten liegt der unver
wechselbare Geruch von Gas in der Luft. Mein Onkel
schaut in die Richtung seiner Frau und des Sohnes und
bemerkt, dass sie noch schlafen. Zum ersten Mal ist er
erschrocken, Schweißtropfen fallen auf seine Augen
und beginnen wie ein schwerer Vorhang seine Vision
zu verwischen, sein Puls rast und er denkt blitzschnell
nach, beschließt, sich zur Seite fallen zu lassen, um mei
ne Tante zu wecken, aber ebenso schnell erkennt er, dass
es besser sei, im Schlaf zu sterben, der es ihnen möglich
macht, in ihren Träumen fortzuleben.
Er schließt seine Augen, und im Gegensatz zu dem,
was über einen sterbenden Menschen gesagt wird, läuft
sein Leben vor ihm nicht ab wie ein Film. Es ist nichts
mehr in seinem Kopf und friedvoll gibt er sich dem Ge
ruch des Gases hin, der ihn nicht mehr beunruhigt, und
beginnt sich schläfrig zu fühlen.
Sein Zustand des freien Falls auf die andere Seite wird
unterbrochen von der Stimme eines der uniformierten
Männer, der zurückgekommen ist. Nachdem er mei
nen kleinen Cousin losgeschnitten hat, ruft er ihm zu:
»Mach schnell, du hast nur eine sehr kurze Zeit um ab
zuhauen!« Nur Gott allein weiß, warum dieser Mann
das Gas nicht selbst einfach abdrehte, es wäre schneller
und leicht gewesen. Mit gleicher Eile, wie er ins Zimmer
gekommen war, verließ er es hinter dem dicken Samt
vorhang, der die Bibliothek vom Wohnzimmer trennt .
Federico verstand nicht, was passiert war, bis seine
Augen denen seines Vaters begegneten; dann rannte er
in die Küche. Als alle von den Seilen befreit sind, verliert
keiner eine Träne, noch scheinen sie aufgeregt. Zwar
sind sie frei von dem Band, das ihre Lippen versiegelte,
aber sie bringen kein Wort hervor.
Schweigend ziehen sie sich an und sitzen in der Küche,
um zu frühstücken. Mit weit geöffneten Augen und ei
nem Gesicht weißer noch als ein Blatt Papier kommt
Celeste herein und setzt sich zu ihnen. Sie weiß, dass
Fragen zur Situation hier zu Hause unnötig sind und
womöglich auch unwillkommen; sie war in dieser Zeit
mit ein paar ihrer Freunde unterwegs gewesen. Ihr ist
klar, dass gerade ein Überfall stattgefunden hat.
In diesen Jahren ging jeder Bürger Argentiniens
mindestens einmal durch diese Torturen, entweder er
selbst oder ein Freund oder ein Verwandter.
Celeste kennt ihren Vater allzu gut und zeigt keinerlei
Abwehr, als ihr Vater sie in das Aut0 setzt und zur nächs
ten Polizeistation bringt. Gemeinsam, in Schweigen,
gehen sie zum Auskunftsschalter und mein Onkel wen
det sich an den diensthabenden Offizier: »Letzte Nacht
schenkte uns die Triple A einen Besuch. Sie waren auf
der Suche nach meiner Tochter; hier ist sie. Wenn sie un
schuldig ist, nehme ich sie wieder mit nach Hause, ist sie
schuldig, bleibt sie bei Ihnen.« Celestes Gelassenheit ist
unverständlich und fast unwirklich. Sie werden in einen
kleinen Raum geführt, sie nehmen ihnen die Fingerab-
P a OIA
drücke ab und beha lten ihre ID -Karten ein. Während
sechs Stunden sitzen Vater und Tochter sich gegenüber
an einem Tisch, Gesicht zu Gesicht. Ihre Augen treffen
sich, sie reden kein Wort. Worte haben keine Bedeutung in Momenten wie diesen.
Schließlich werden sie entlassen und als sie zurückfah
ren, berührt die Sonne gerade den Horizont. Die Däm
merungsstunde in Buenos Aires während der Winter
zeit ist immer erhebend, aber an diesem Tag erscheint
der Himmel wie ein blutiger aufgeschlitzter Bauch, die
Färbung des blauen Himmelsgewölbes voller Bäche rau
chenden Blutes.
Sie betreten diese neue Welt, die einmal ihr Zuhause
war: alle Lichter sind aus, aber die untergehende Son
ne überflute t die durchwühlten Räume und färbt jedes
Möbelstück rot. Mein Onkel durchquert den großen
Park und tritt, dort weit hinter seinem Haus, in seine
Fabrik ein; das blutrote Abendlicht ergießt sich über die
vor kurzem zerstörten Maschinen, die ein Omen seines
eigenen Schicksa ls sind.
Auch er,Jahre später, würde zusammenbrechen, wie sei
ne ganze Welt in dieser Winternacht: Zyanid war seine
Wahl.
»Alte Dinge, traurige Dinge, verblasste Dinge, die
Dinge ohne Stimme oder Farbe, wissen die Geheim
nisse der Tot-Zeiten, von Menschenleben, die niemand
mehr erinnert«, schreibt Jose Asunci6n Silva. Und wäh
rend ich diese Worte schreibe in einer Sprache, die nicht
die meine ist, verblasst eine Schwarz -Weiß-Fotografie
von meinem Onke l, die auf meinem Schreibtisch liegt,
stehend auf dem Deck seines Fischerboots, einen gro
ßen Mahi-Mahi haltend.
Selbst die mutigsten Männer wanken im Angesicht
eines blutigen Sonnenuntergangs. Aber ich erinnere
mich an ihn lebendig.
LIEBESSPIELE IN DEN TAGEN
DER GROSSEN ORDNUNG
EI Tigre, Buenos Aires, 1977. Ich traf sie an einem sehr
frühen Mo rgen im Zug von Belgrano nach El Tigre, wo
ich während der Schulsommerpause auf einer Werft
arbeitete. Sie war älter als ich. Sie sagte, sie mochte es,
früh aufzustehen und nach El Tigre zu gehen, um die
Inselbewohner in ihren Booten ankommen zu sehen,
die ihre Produkte verkauften; sie sagte, sie liebe es, die
verschiedenen Farben des frischen Obstes und Gemü
ses anzuschauen, die auf den kleinen Booten angeboten
werden; sie sagte, sie mag es, auf einer Bank zu sitzen
und zu lesen, während diese so von der ihren unter-
OSTltAGEH(G( 81- 111/2010 39
schiedliche Welt, vor ihren Augen ausgebreitet liegt. Sie lebte in einer sehr noblen Gegend des alten Belgrano und ihr Vater war ein Armeegeneral. Ihr Haar war
dunkelbraun, ihre Haut sehr hell, ihre Nase schmal und zart, ihre Augen tiefblau - und sie hieß Bettina - ihren Nachnamen habe ich nie kennengelernt.
Im Laufe der Zeit sahen wir uns morgens im Zug
ziemlich oft; sie musste eigentlich nicht so früh aufstehen, aber sie tat es, um mit mir im Zug zusammenzu treffen, das nahm ich als ermunterndes Zeichen.
Wir sprachen über Bücher und Sport, über Filme und übers Reisen, zum letzteren wusste sie sehr viel, und ich wusste nichts, denn es war in dieser Zeit schwie
rig, das Land zu verlassen. Wir sprachen nie über Politik und über Liebe. Aber die Zeit kam natürlich, und ohne Worte nötig zu haben, um uns unter einer Brücke wiederzufinden.
Das war die Zeit der Großen Ordnung. Nichts blieb unbemerkt von den Kerlen der Macht. Ich war minderjährig und ein gemeldeter Einwohner von Buenos Aires,
diese beiden Dinge allein schlossen es aus, ein Zimmer zu nehmen .
An diesem Tag trug sie ein weißes Kleid, das ihre schöne, schlanke Figur betonte . Mehr getraute ich mich nicht zu bemerken. Es scheint, wenn ein Mann eine Frau wirk
lich liebt, dann ist es ein Sakrileg, an ihren Körper zu denken, ein Gedanke, der alles verdirbt. Und schon, wir
fanden eine verborgene Ecke unter dieser Brücke, unter der wir uns zum ersten Mal küssten und unsere zittern den Hände den Körper des anderen erreichten.
Aber Liebende scheitern, wenn es darauf ankommt. Die Handflächen schwitzen, Mund und Zunge sind trocken und die Hände sind ungeschickt geworden. Alles, was schiefgehen kann, wird schiefgehen, wenn es darauf ankommt . Einmal habe ich gelesen, dass sich »die Lei
denschaft irgendwo zwischen Angst und Sex« befände. Jetzt, im Rückblick, weiß ich, wieviel Wahrheit in diesen Zeilen liegt, aber dama ls war ich zu jung, um Leidenschaft zu verstehen.
Und wir hatten Gründe zur Furcht . Es waren die Tage
der Großen Ordnung, und so ordentlich war unser Land, dass wir leicht zu entdecken waren (oder ein »Patriot« half diesen Jungs, uns zu entdecken).
Sechs Männer in Arbeitskleidung des Militärs halfen unseren ungeschickten Händen und beendeten unsere
Aufgabe des Ausziehens. Noch völlig nackt fesselten sie mich, während zwei Mann Bettina gegen einen Felsen drückten, zwei andere drückten ihre Beine auseinander. Ich schrie um Hilfe aber begriff schnell, dass das zwecklos war. Bettina schluchzte verzweifelt und einer
der Soldaten ohrfeigte sie; ein zweiter schob den Lauf
40 OSTRAGEHEG{ 81-111/20 1&
PI OI A
seiner Maschinenpisto le in ihre trockene Scheide und bewegte ihn langsam aus und ein. Bald riss ihre Jungfernhaut und Blut befleckte ihre Beine, das weiße Kleid verschonend. Ich fühlte mich machtlos und außer mir, und sah mit Entsetzen, wie die Tiere in den Uniformen
der Großen Ordnung lachten und ihre erigierten Glieder hielten in der Erwartung, an der Reihe zu sein.
Ich rief: »Sie ist die Tochter eines Armeegenerals.« Sie
hörten sofort auf, einer durchsuchte ihre Handtasche und bestätigte, dass ich die Wahrheit sagte. Sie halfen Bettina, sich anzuziehen und begleiteten sie weg von mir. Sie sah mich unter Tränen schweigend an.
Ich wurde nackt zurückgelassen, mit auf dem Rü
cken gefesselten Händen. Und ich weinte auch, lange Zeit, bis ein vertrauter Geruch die Luft durchdrang und ich zitterte: Es war das Aroma von Ordnung, das zurückkam, diesmal für mich ...
Ich sah Bettina persönlich nie wieder, aber von Zeit zu
Zeit sollte ich ihr trauriges Lächeln auf einem Zeitungsfoto sehen, posierend mit ihrem Vater zu gewissen Anlässen.
Ich verlor meine Unschuld in einer sehr schmerzli chen Weise, nicht mit jemandem, den ich mochte, nicht unter einer Brücke und auf dem jungfräulichen Tep
pichboden eines nagelneuen weißen Schiffes, das noch nie gesegelt war.
(}1us dem amerikanischen Englisch von Utz Rachowski und Michael Rittersan [Gettysburg, Pennsylvaniaj)