„eine neue Ära“, „blutiges zwielicht“, „liebesspiele in den tagen der grossen ordnung“

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EDITORIAL

Er schrieb uber .das Land, an dem er litt, weil es ihn ausgren­

zen wollte, politisch, wegen w1dersetzl1chen Charakters,

moralisch wegen Liebe zum gleichen Geschlecht, und eben

uberhoupt, weil er schrieb und zeichnete, was die Behorde

lieber beschlagnahmte und 1n Akten verschloss, als es der

Öffentlichkeit preiszugeben · - so sagte es Gerhard Wolf 1n

seiner Laudatio auf den Le1pz1ger Dichter Andreas Re,monn,

mit dem Axel Helb1g 1m neuen OSTRAGEHEGE ein ousfuhrl1-

ches Gesprach fuhrt {.Aus dem Bewusstsein der Sterblich­

keit seine Kraft ziehen"). Die Redok11on grotul1er1 Andreas

Reimonn zum 70 Geburtstag, den er om 11 November

begehen wird und widmet dem Dichter gemeinsam mit dem

Sochs1schen Literoturrol eine Festlesung am 30 November

im Dresdner Landhaus (siehe Anzeige S 44)

Politische Zusammenhange stehen auch im Mittelpunkt

der Erzahlvngen von Jorge Sogostume. Der seit Jahr­

zehnten in den USA lebende argentinische Sch11ftsteller

sch11eb uber die Verhongung der Militordiktotur 1n Argen­

tinien vor 40 Jahren, die er damals, als Siebzehn1ohriger,

miterlebte Utz Rochowski hat diese oft besturzenden Texte

fur OSTRAGEHEGE aus dem Englischen uberselzl

Und noch ein dntter Beitrag kreist um diktolonsche Themen

Luko Tuvolus Erzohlung ,Passieren" entwickelt anhand einer

w1llkurlichen Grenzzrehung ein mehr und mehr surreol1sh­

sches Szenario, das immer groteskere Formen annimmt und

kollabiert

M11 Birgit Kre1pe, Jone Kenyon, Kerry Shown Keys, Ul1ono

Wolf und Gregor Kunz geben starke Dichter mit ihren Texten

dem Heft seinen Klang Insgesamt kommen 16 lyrische Stim­

men 1m neuen OST RAGE HEGE zu Wort

Dokumenhert wird die Vergabe des Chom1sso-Pre,ses 2016

an Ul1ono Wolf .Ihre Gedichte", sogt der Loudotor Michael

Braun, .sind keine Gebilde, 1n denen Sprache selbstverstönd­

lich zur Verfugung steht und geschme1d1g als Vehikel genutzt

und dienstbar gemocht wird Ihre Gedichte entstehen ,m

Gegenteil aus einer Unsicherheit, aus einer Storung der

Sprochgew1sshe1t, aus einem fundamentalen Sprachzweifel

Der Storfoll in der Rede, das Steipern in eine Fremdheit 1st die

Urszene dieser Dichtung·

In der Logebesprechung stellt Bertram Reinecke den Dichter

Alexander Koppe vor Auch Koppes Gedichte speisen sich

aus Sprachzweifel und Fremdheitsempf1ndungen „ Der unge­

wohnte Eindruck seiner Texte kommt eher von der unerwarte­

ten Mischung der Verfahren, Vokabulare, B,ldspender, dem

oft plötzlichen Auftreten von Ouerstöndigem 1n einer bereits

durchschaut geglaubten Logik der Worter Dies ist etwas,

was viele gepflegte Leser stört." { Bertram Reineckel

Kunstlerisch eingefasst wird das neue Heft von dem in Cos­

wig bei Dresden lebenden Maler Michael Horwoth, der uns

.B,ldwo rte vom Licht' (Jörd1s Lodemonnl bringt

- Die Redaktion

-OST GEHEGE

Zeitschrift für

LITERATUR, KUNST Nr.8 1 Heft lll/2016 HERAUSGEBER literor1$che Areno e V, Dresden c/o Axel Helb,g B1rkenstroße 16 01328 Dresden Telefon 10351) 269 13 26 E-mo1 ostrogehege-redok11on@webde www ostro · gehege de

OSHAGEHEGE e•sche,nl v,er1el1öh,l,ch O,e obgeol'\lckten Beitroge spiegeln ruch1 die An Sichten der ~edakreure D ,e Rech1sc.hre bung folg1 1ewe,ls den Ongino en Zur M1f0rbe1t wird einge oden. 1edoch können unverlon91 eingesandte Manuskripte nicnt zuruckge~nde, werden Zusendungen moglic.hM ols AoK!ruc::k oder per E-Mo,I Der Umfang der Texte soll 10 Se,1en n1c::h1 ubersch1e,1en

REDAK110N Axel Helb,g (Dresden) Ulf G,oßmonn (D,esdenl A,on Koben (D,e,den) Redol:.1 onsass,sienz Moieosz Moledo (Hannover) E eo'\oro Gehnsc::h (Dresden) Potnd W Iden ID,esdenl

BIIDlEDAK110N GESTALTUNG und SATZ And•eo; Be,e, ID,esdenl

BEIRAT Peter Gehnsc::h (D,esdeo und Lw6wek. Slqsh Vors,lzende, de, l 1eror1schen Arena e V) An1on·n 801010 (Zlif'I ul'ld Prag) Dr Weine, Bor meyer (Dresden) HubettusGiebe 1Dre5-den) Dr Uwe G,un ng !Neumo,k/Sochsen) P,of Dr Jöm Peter H,ekel IDresdenl M1eczyslowOrsk1 (W,oc•ow) Hans Jurgen Sorlen !Dresden) Prd Dr Wo1te1 Schmitz (Oresdeol Jooch,m Wonhe, (Bed n)

DRUCK lößn,12.Druck GmbH Rodebevl

BANKVERBINDUNG l,re,onsche A,eno IBAN DE43 8505 0300 3200 0262 26 SWIFT· BIC OSDDDE81XXX

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1SSN 0947-1286

ERSCHEINUNGSlAG 5 9 2016

OSTRAGEHEGE w ,d gefo,dendu,ch

da, SACHSISCHE SlAATSMtNISTERIUM DES INNE RN

Landeshauptstadt ~III Dresden IIIlJ

Amt fur Kvltur vnd Den<molschu1z

Inhalt

Birgit Kreipe

Jördis Lademann

Jane Kenyan

Kerry Shaw n Keys

Axel Helbig

Grego r Kunz

Jorge Sagas tume

Uljano Wol f

Michael Braun

Bertram Reinecke

Alexander Koppe

Alexander Koppe

Luko Tuvolu

Sergej Tenjatnikow

Wolfram Malte Fues

Svenja Herrmann

Matth ias Engels

Max imilian Zander

2 0$TRAGEHEGE 81 .111/2016

LYRIK

über die alpen (Sechs Gedichte) ....................................... . L

BILDINDI KUNST

Bildworte vom Licht - Zur Malere i Michael Horwo ths 7

LYRIK

Im Zwist mit de r Schwermut (Vier Ged ichte) ......... .................................................. ..... 15

Reservierung Pro re nota (Fünf Gedichte) ........................................................................ 19

INTIRYIIW

Aus dem Bewusstsein der Sterblichkeit seine Kraft ziehen - Gespröch mit

Andreas Reimann im Leipziger Cafe Grundmann am 28 . Apri l 2016 ........ ..... ......... 23

LYRIK

Argo nauten ( Drei Gedichte) ............................ .................. . . . . . ......................... 34

PROSA

Eine neue Ära ........................................... .. ........................................................... 37

ADILB1RT 0 YON °CHAMISS0°PRIIS 2016

Doppelgeherrede / Kalle Küche (Gedich te) ................................ .. . ... .... 41

Das Wort ist immer vie lfach. Laudatio auf Uljona Wolf ...................... . ............. 43

LAGHHPRICHUNG 57 - ALIXANDIR KAPPi

Reservat w ie Reservoir (Über Alexander Kappe)

Lichtung des Herzens und Baum {Acht Gedichte)

.................... ......... ......... 45

................. ... .............................. 47

Im Nahkampf mit der W irklichtkeit (Poetologische Not iz) ........................................... 52

PROSA

Passieren ............................... ................................................................................... 54

LYRIK

Im Gedenken an J. A. T. (Zwei Gedichte)

Der Grass -Schrift-Steller erzählt

Little Odessa

nocturne

Herbstgedicht ...

.................................................. 57

........................................................... 58

.... 60

........... .... 60

.. .... 61

Rainer Wed ler

Heike Olschonsky

das ist de ine Groß tante

Verruf (Vier Gedichte) ..................... .

RIZINSIONIN

,,d,e kuchenreste einer höuserze le" (Zu Christoph Wenzel)

,,Am Riss durch den alten Asphalt" (Zu Wolfram Malte Fues)

Nichts mit Kleinmut (Zu lstv6n Kemeny) ........................ ..

.61

.62

... 63

.... 64

. ....... 65

Patrick Wilden

Thomas Ernest

Zsuzsonna Gohse

Reiner Neubert

Heinz We ,ßflog

Volker Strebei

Uwe Salzbrenner

Geheimn isvolle Spiele (Zu Jiri Grusa) ............................................................. ....... 65

Bestürzendes Protokoll eines Ungarn-Besuches [Zu Michael Wüstefeld) ................. 66

So einloch ist dos! [Zu Isaak Babel) ................................................................................. 67

Bill für uns ... bitt für uns. Expeditionen zur Kunst (Zu Ingrid Mylo /Felix Hofmann) ... 68

ZU DIN AUTORIN

... ............................................................. 70

ZU DIN ABBILDUNGEN

Malere i von M icha el Horwath:

»Chinokotzen«2015 [Ausschnitt), Öl auf Hartfaser, 42x90 cm ................... . . ..... Ul+4

»Erzählender« 2016, Öl auf Hartfaser, 90x62 cm ......................................... . . ....... U2

»Stürzende« 2014, Öl auf Hartfaser, 81 x60 cm .................. .. . .............. U3

•Mann mit Lamm« 2014, Öl auf Hartfaser, 80x60 cm .......... ................... ................. .................................................... 9

»David und Bathseba« 2015 , Öl auf Hartfaser, 80 x 85 cm ............................................ ............... ............... ................. l 0

»Harlekin« 2012, Öl auf Hartfaser, 85 x 80 cm .. . ............................................................................................... 11

»Prophet« 2014 , Öl auf Hartfaser, 89x63 cm....................... ................... .................... . .......................................... 12

»Das Paar« 2015 , Öl auf Hartfaser, 60x81 cm ................................................. . . ........................ 13 0

»Brücke« 2015, Öl auf Hartfaser, 55 x 100 cm .. .. ............................................................................................... 13 u

»Regenschirm« 2015, Öl auf Hartfaser, 95 x60 cm .............. . . ................ ......................................... 14

FOTOGRAFIE von DIETER RAMKE [Leipzig):

„Portrait ANDREAS REIMANN" ......................... .................................................................................................................. 22

OSl"-GE:HEGE: !11-IU/i016 3

PROSA~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~-

JoRGE SAGASTuM E

EINE NEUE ÄRA

EGAL, \V/AS DU SAGST,

DU KÖNNTEST VERSCHWINDEN

FÜR WOLFGANG MÜLLER

Buenos Aires, die Endsiebziger. Abends um zehn war

Sperrstunde in jenen Tagen. Mein Freund Alejandro und ich hatten gerade unser letztes Glas Portwein oder einen Scotch im Cafe des Bahnhofs genommen, gin­gen hinaus und winkten einander zu, als wir unseren jeweiligen Heimweg nahmen. Ich ging zu Fuß, weil ab zehn Uhr alle öffentlichen Verkehrsmittel ihren Betrieb

eingestellt hatten. Nach kaum drei Straßen stoppte ein Polizeitransporter und der Fahrer stieg aus. Der gestylte Offizier kam auf mich zu und verlangte meine ID -Card.

Ich hatte nichts zu verbergen, aber ich log und sagte, ich hätte meine Brieftasche zu Hause vergessen. »So«, erwiderte er, »Junge, das tut mir leid, du wirst die Nacht in einer Zelle verbringen müssen, bis zum Ende der Sperrstunde, und während du dort wartest, werden wir eine Hintergrund-Überprüfung machen.« Ich hatte schon von diesen Überprüfungen gehört.

Als die Hintertür des Wagens sich öffnete, leuchteten viele verstohlene Blicke im Inneren des dunklen Ge ­häuses und begrüßten mich. Mehrere verschiedene Gerüche, männliche und anderer Art, erreichten mich aus allen vier Ecken des engen und stickigen Ortes. Ich

konnte keines der Gesichter erkennen, aber man konnte aller Atem riechen. Niemand sprach, und ich war ver­wundert, dass dort, unter diesen Leuten, jemand war, den ich kannte, aber der dichte Vorhang der Dunkelheit trennte mich von jedermann und hinderte mich, mehr zu sehen als deren Silhouetten. Jemanden zu kennen, dachte ich, würde mich ein bisschen ruhiger werden las­sen. In Momenten wie diesen, vielleicht im Irrtum, mit

einem Blick in die Vergangenheit und einem Abtasten der Zukunft, erlaubte ich mir im Licht dieses Gefühls ein dumpfes Schluchzen - eine weibliche Hand berühr ­te mich und ihre Finger umgriffen die meinen. Es war das erste Mal, dass ich verhaftet wurde und im Kopf eines jugendlichen waren dies eigentlich gefährliche Kriminelle, die mich ins Gefängnis begleiteten, aber ich fühlte nichts in dieser Weise, und im späteren Verlauf

meines Lebens begann ich zu verstehen, dass vermutlich keiner der Passagiere in diesem Kleinbus weder krimi ­nell noch gefährlich war.

Auf der Polizeistation wurden wir angewiesen, einer nach dem anderen vom Kleinbus herunterzukommen

und jedem von uns wurde eine Kapuze über den Kopf gestülpt. Wir verschwanden. Wir konnten nicht mehr sehen oder gesehen, sprechen oder gehört werden. Und wurden jeder in Einzelzellen gesteckt, wo wir nebenein-

OSTAACfHEGt 81 - 111/20 16 3 7

ander in einer Reihe waneten, in der Gesellschaft von

niemand, aber jetzt ohne Kapuzen.

Während die Stunden dahingingen, dröhnte perma­

nent laute Musik und erfüllte jeden Zentimeter meiner

Zelle. Ich hatte vorher von diesem »Überprüfungs« -Ver­

fahren schon gehört, es hätte den alleinigen Zweck, die

Zungen derer zu lösen, die verhört wurden. Ich erschrak

entsetzlich und etwas flüssig Warmes begann mein lin­

kes Bein hinunterzulaufen. Ich fühlte mich nicht be­

schämt. Die Furcht, der nächste Gefangene zu sein un ­

ter dem hellen Licht des Verhörraumes, war viel größer

als jeglicher Sinn für Würde und Scham.

Hinnahme, hatten sie mir gesagt, sei der Anfang sich

mit der eigenen Gegenwart abzufinden; und über mich

kam Gelassenheit, und ich bedauerte, meine Großeltern

heute früh nicht engherziger umarmt und geküsst zu haben. Ich vermisste sie schmerzlich.

Plötzlich wurde eine Tür geöffnet und durch den lau­

ten Klang des gerade gespielten »Libertango« hörte ich

einen eindringlichen Schrei. Danach völlige Stille. Der

Schrei war verschwunden. Der Offizier, schloss die Tür,

und hinter ihm war derselbe Mann, der mich nach mei­

ner ID-Card auf der Straße gefragt hatte. Ein Gefühl

der Hoffnung kam über mich. Als er an meiner Zelle

vorbeiging, hielt ich ihn auf: »Wissen Sie was, Chef?«,

sagte ich, »vorhin war ich so erschrocken, als Sie mich

nach der Identifikation fragten, dass ich Sie anlog. Ich

habe meine ID-Card. Hier ist sie.« Und ich langte sie

ihm hin. Er schaute auf die Karte, richtete die Augen

auf mich, sein Gesichtsausdruck bekam beinahe etwas

Menschliches. Er schloss die Zelle auf, schnappte mich

am Arm, zog mich unsanft heraus und führte mich hin­

weg, während er mit seiner offenen Hand gegen meinen

Hinterkopf schlug und schrie: »Komm her, du dummer

Junge, ich fahre dich selbst nach Hause, bevor die Musik

wieder anfängt. Komm, du dummer Junge.«

BLUTIGES ZWIELICHT

Zu einem Zeitpunkt des Schlitterns über den eisigen See

des Lebens, ununterbrochen und mehr oder weniger

frei, tut sich plötzlich ein Abgrund auf, eine Versenkung

erscheint und man wird verschluckt von einer auf dem

Kopf stehenden Welt, in der alles neu und unsicher ist;

sogar schön, in krankhafter Weise.

Buenos Aires, 1978, Winter, kurz nach zwei Uhr nachts.

Eine krachend brechende Eingangstür. Einige Sekunden

vergehen, bevor mein Onkel sein Denken wiederfindet,

genug Zeit, um die Nachttischlampe anzuzünden und

vierzehn uniformierte Männer zu zählen, die um das

3 8 OSTRAGEHCaGE 81 - 111/1016

Bett herum stehen mit Maschinenpistolen und nach

meiner Cousine Celeste fragen. Fünf Sekunden später

wiederholen sie beinahe einstimmig: »Wo ist Celeste?«

Es scheint meinem Onkel, als sei eine Stunde vergan ­

gen; er antwortet, sie sei ausgegangen mit ihrem Freund.

Die Männer glauben den Worten des Onkels nicht und

sie werfen ihn und seine Frau aus dem Bett, legen ein

Plastikseil fest um ihre Handgelenke, kleben Pflaster

auf ihre Münder und führen sie vom Schlafzimmer in

die Bibliothek.

Mein Onkel sitzt auf dem Boden, daneben meine Tan ­

te. Sie können weder sprechen noch sich bewegen. Al­

les was sie können, ist Denken, und mein Onkel denkt

an Celeste und ist erleichten, dass sie nicht da ist. An­

sonsten würde er sie vielleicht nie wiedersehen, er weiß

dies sehr gut. Menschen verschwinden in diesem Land.

Dann denkt er an seinen Sohn, der noch in seinem Zim­

mer schläft, aber er ist deswegen nicht beunruhigt. Das

ist kein Grund zu verzweifeln, denkt er. Das Leben lehr­

te ihn, sich dem Schicksal zu fügen.

Schließlich schaut er seiner Frau in die Augen und

mittels einer Sprache, die nur sie beide verstehen, sagen

sie einander: »Lass uns die Augen schließen und träu ­

men.«

Stunden vergehen und das Morgenlicht sickert durch

die Jalousien und legt sich auf das große Meerwasser­

aquarium, vordem ein wunderschönes Becken, jetzt mit

trübem und aufgewühltem Wasser und umgedrehten

Korallensteinen, beweist die Anwesenheit von jemand,

der darin nach etwas suchte. Der Blick meines Onkels

tastet langsam den Raum ab und findet meinen kleinen

Cousin Federico ebenfalls festgebunden neben sich und

seiner Frau, unerklärlicherweise beruhigt ihn dies. Er

fährt fort, weiterhin die Dinge abzutasten: aufgeschlitz­

te Kissen, die Bücher, entrissen aus der vorher fein

säuberlich aufgereihten Linie in den Regalen der Bib­

liothek, sind jetzt auf dem Boden verstreut, der Inhalt

der Schubkästen liegt verstreut überall auf dem Teppich

umher, und drei leere Flaschen Whisky stehen auf dem

Couchtisch; er zählt vierzehn Gläser. Und er versteht

nicht, wie er während all diesem hat schlafen können,

aber ist froh, dass er es getan hat, und hofft das auch für seine Frau und seinen Sohn.

Plötzlich erscheinen die Triple A Männer im Raum und

sagen: »Richte Celeste aus, dass wir sie finden.« Sie ver­

abschieden sich. Nach ein paar Minuten liegt der unver­

wechselbare Geruch von Gas in der Luft. Mein Onkel

schaut in die Richtung seiner Frau und des Sohnes und

bemerkt, dass sie noch schlafen. Zum ersten Mal ist er

erschrocken, Schweißtropfen fallen auf seine Augen

und beginnen wie ein schwerer Vorhang seine Vision

zu verwischen, sein Puls rast und er denkt blitzschnell

nach, beschließt, sich zur Seite fallen zu lassen, um mei­

ne Tante zu wecken, aber ebenso schnell erkennt er, dass

es besser sei, im Schlaf zu sterben, der es ihnen möglich

macht, in ihren Träumen fortzuleben.

Er schließt seine Augen, und im Gegensatz zu dem,

was über einen sterbenden Menschen gesagt wird, läuft

sein Leben vor ihm nicht ab wie ein Film. Es ist nichts

mehr in seinem Kopf und friedvoll gibt er sich dem Ge­

ruch des Gases hin, der ihn nicht mehr beunruhigt, und

beginnt sich schläfrig zu fühlen.

Sein Zustand des freien Falls auf die andere Seite wird

unterbrochen von der Stimme eines der uniformierten

Männer, der zurückgekommen ist. Nachdem er mei­

nen kleinen Cousin losgeschnitten hat, ruft er ihm zu:

»Mach schnell, du hast nur eine sehr kurze Zeit um ab­

zuhauen!« Nur Gott allein weiß, warum dieser Mann

das Gas nicht selbst einfach abdrehte, es wäre schneller

und leicht gewesen. Mit gleicher Eile, wie er ins Zimmer

gekommen war, verließ er es hinter dem dicken Samt­

vorhang, der die Bibliothek vom Wohnzimmer trennt .

Federico verstand nicht, was passiert war, bis seine

Augen denen seines Vaters begegneten; dann rannte er

in die Küche. Als alle von den Seilen befreit sind, verliert

keiner eine Träne, noch scheinen sie aufgeregt. Zwar

sind sie frei von dem Band, das ihre Lippen versiegelte,

aber sie bringen kein Wort hervor.

Schweigend ziehen sie sich an und sitzen in der Küche,

um zu frühstücken. Mit weit geöffneten Augen und ei­

nem Gesicht weißer noch als ein Blatt Papier kommt

Celeste herein und setzt sich zu ihnen. Sie weiß, dass

Fragen zur Situation hier zu Hause unnötig sind und

womöglich auch unwillkommen; sie war in dieser Zeit

mit ein paar ihrer Freunde unterwegs gewesen. Ihr ist

klar, dass gerade ein Überfall stattgefunden hat.

In diesen Jahren ging jeder Bürger Argentiniens

mindestens einmal durch diese Torturen, entweder er

selbst oder ein Freund oder ein Verwandter.

Celeste kennt ihren Vater allzu gut und zeigt keinerlei

Abwehr, als ihr Vater sie in das Aut0 setzt und zur nächs­

ten Polizeistation bringt. Gemeinsam, in Schweigen,

gehen sie zum Auskunftsschalter und mein Onkel wen ­

det sich an den diensthabenden Offizier: »Letzte Nacht

schenkte uns die Triple A einen Besuch. Sie waren auf

der Suche nach meiner Tochter; hier ist sie. Wenn sie un­

schuldig ist, nehme ich sie wieder mit nach Hause, ist sie

schuldig, bleibt sie bei Ihnen.« Celestes Gelassenheit ist

unverständlich und fast unwirklich. Sie werden in einen

kleinen Raum geführt, sie nehmen ihnen die Fingerab-

P a OIA

drücke ab und beha lten ihre ID -Karten ein. Während

sechs Stunden sitzen Vater und Tochter sich gegenüber

an einem Tisch, Gesicht zu Gesicht. Ihre Augen treffen

sich, sie reden kein Wort. Worte haben keine Bedeutung in Momenten wie diesen.

Schließlich werden sie entlassen und als sie zurückfah­

ren, berührt die Sonne gerade den Horizont. Die Däm­

merungsstunde in Buenos Aires während der Winter ­

zeit ist immer erhebend, aber an diesem Tag erscheint

der Himmel wie ein blutiger aufgeschlitzter Bauch, die

Färbung des blauen Himmelsgewölbes voller Bäche rau ­

chenden Blutes.

Sie betreten diese neue Welt, die einmal ihr Zuhause

war: alle Lichter sind aus, aber die untergehende Son­

ne überflute t die durchwühlten Räume und färbt jedes

Möbelstück rot. Mein Onkel durchquert den großen

Park und tritt, dort weit hinter seinem Haus, in seine

Fabrik ein; das blutrote Abendlicht ergießt sich über die

vor kurzem zerstörten Maschinen, die ein Omen seines

eigenen Schicksa ls sind.

Auch er,Jahre später, würde zusammenbrechen, wie sei­

ne ganze Welt in dieser Winternacht: Zyanid war seine

Wahl.

»Alte Dinge, traurige Dinge, verblasste Dinge, die

Dinge ohne Stimme oder Farbe, wissen die Geheim ­

nisse der Tot-Zeiten, von Menschenleben, die niemand

mehr erinnert«, schreibt Jose Asunci6n Silva. Und wäh­

rend ich diese Worte schreibe in einer Sprache, die nicht

die meine ist, verblasst eine Schwarz -Weiß-Fotografie

von meinem Onke l, die auf meinem Schreibtisch liegt,

stehend auf dem Deck seines Fischerboots, einen gro ­

ßen Mahi-Mahi haltend.

Selbst die mutigsten Männer wanken im Angesicht

eines blutigen Sonnenuntergangs. Aber ich erinnere

mich an ihn lebendig.

LIEBESSPIELE IN DEN TAGEN

DER GROSSEN ORDNUNG

EI Tigre, Buenos Aires, 1977. Ich traf sie an einem sehr

frühen Mo rgen im Zug von Belgrano nach El Tigre, wo

ich während der Schulsommerpause auf einer Werft

arbeitete. Sie war älter als ich. Sie sagte, sie mochte es,

früh aufzustehen und nach El Tigre zu gehen, um die

Inselbewohner in ihren Booten ankommen zu sehen,

die ihre Produkte verkauften; sie sagte, sie liebe es, die

verschiedenen Farben des frischen Obstes und Gemü ­

ses anzuschauen, die auf den kleinen Booten angeboten

werden; sie sagte, sie mag es, auf einer Bank zu sitzen

und zu lesen, während diese so von der ihren unter-

OSTltAGEH(G( 81- 111/2010 39

schiedliche Welt, vor ihren Augen ausgebreitet liegt. Sie lebte in einer sehr noblen Gegend des alten Belgra­no und ihr Vater war ein Armeegeneral. Ihr Haar war

dunkelbraun, ihre Haut sehr hell, ihre Nase schmal und zart, ihre Augen tiefblau - und sie hieß Bettina - ihren Nachnamen habe ich nie kennengelernt.

Im Laufe der Zeit sahen wir uns morgens im Zug

ziemlich oft; sie musste eigentlich nicht so früh aufste­hen, aber sie tat es, um mit mir im Zug zusammenzu ­treffen, das nahm ich als ermunterndes Zeichen.

Wir sprachen über Bücher und Sport, über Filme und übers Reisen, zum letzteren wusste sie sehr viel, und ich wusste nichts, denn es war in dieser Zeit schwie­

rig, das Land zu verlassen. Wir sprachen nie über Politik und über Liebe. Aber die Zeit kam natürlich, und ohne Worte nötig zu haben, um uns unter einer Brücke wie­derzufinden.

Das war die Zeit der Großen Ordnung. Nichts blieb unbemerkt von den Kerlen der Macht. Ich war minder­jährig und ein gemeldeter Einwohner von Buenos Aires,

diese beiden Dinge allein schlossen es aus, ein Zimmer zu nehmen .

An diesem Tag trug sie ein weißes Kleid, das ihre schöne, schlanke Figur betonte . Mehr getraute ich mich nicht zu bemerken. Es scheint, wenn ein Mann eine Frau wirk­

lich liebt, dann ist es ein Sakrileg, an ihren Körper zu denken, ein Gedanke, der alles verdirbt. Und schon, wir

fanden eine verborgene Ecke unter dieser Brücke, unter der wir uns zum ersten Mal küssten und unsere zittern ­den Hände den Körper des anderen erreichten.

Aber Liebende scheitern, wenn es darauf ankommt. Die Handflächen schwitzen, Mund und Zunge sind tro­cken und die Hände sind ungeschickt geworden. Alles, was schiefgehen kann, wird schiefgehen, wenn es darauf ankommt . Einmal habe ich gelesen, dass sich »die Lei­

denschaft irgendwo zwischen Angst und Sex« befände. Jetzt, im Rückblick, weiß ich, wieviel Wahrheit in die­sen Zeilen liegt, aber dama ls war ich zu jung, um Lei­denschaft zu verstehen.

Und wir hatten Gründe zur Furcht . Es waren die Tage

der Großen Ordnung, und so ordentlich war unser Land, dass wir leicht zu entdecken waren (oder ein »Patriot« half diesen Jungs, uns zu entdecken).

Sechs Männer in Arbeitskleidung des Militärs halfen unseren ungeschickten Händen und beendeten unsere

Aufgabe des Ausziehens. Noch völlig nackt fesselten sie mich, während zwei Mann Bettina gegen einen Felsen drückten, zwei andere drückten ihre Beine auseinan­der. Ich schrie um Hilfe aber begriff schnell, dass das zwecklos war. Bettina schluchzte verzweifelt und einer

der Soldaten ohrfeigte sie; ein zweiter schob den Lauf

40 OSTRAGEHEG{ 81-111/20 1&

PI OI A

seiner Maschinenpisto le in ihre trockene Scheide und bewegte ihn langsam aus und ein. Bald riss ihre Jung­fernhaut und Blut befleckte ihre Beine, das weiße Kleid verschonend. Ich fühlte mich machtlos und außer mir, und sah mit Entsetzen, wie die Tiere in den Uniformen

der Großen Ordnung lachten und ihre erigierten Glieder hielten in der Erwartung, an der Reihe zu sein.

Ich rief: »Sie ist die Tochter eines Armeegenerals.« Sie

hörten sofort auf, einer durchsuchte ihre Handtasche und bestätigte, dass ich die Wahrheit sagte. Sie halfen Bettina, sich anzuziehen und begleiteten sie weg von mir. Sie sah mich unter Tränen schweigend an.

Ich wurde nackt zurückgelassen, mit auf dem Rü­

cken gefesselten Händen. Und ich weinte auch, lange Zeit, bis ein vertrauter Geruch die Luft durchdrang und ich zitterte: Es war das Aroma von Ordnung, das zu­rückkam, diesmal für mich ...

Ich sah Bettina persönlich nie wieder, aber von Zeit zu

Zeit sollte ich ihr trauriges Lächeln auf einem Zeitungs­foto sehen, posierend mit ihrem Vater zu gewissen An­lässen.

Ich verlor meine Unschuld in einer sehr schmerzli ­chen Weise, nicht mit jemandem, den ich mochte, nicht unter einer Brücke und auf dem jungfräulichen Tep­

pichboden eines nagelneuen weißen Schiffes, das noch nie gesegelt war.

(}1us dem amerikanischen Englisch von Utz Rachowski und Michael Rittersan [Gettysburg, Pennsylvaniaj)