gegen die geschichte: zum diskurs der verspätung in den biografien der ‘letzten kommunisten’...

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20 JAHRE MAUERFALL

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20 JAHRE MAUERFALL

Herausgegeben von

Arno Gimber und Luis Martínez-Falero Galindo

Editorial Board

María Goicoechea de Jorge (Universidad Complutense de Madrid)Brigitte Jirku (Universitat de València)Georg Pichler (Universidad de Alcalá de Henares)María José Vega Ramos (Universitat Autònoma de Barcelona)Juan Felipe Villar Dégano (Universidad Complutense de Madrid)

P E R S P E K T I V E N D E R G E R M A N I S T I K U N D KO M PA R AT I S T I K I N S PA N I E N

PERSPECTIVAS DE LA GERMANÍSTICA Y LA LITERATURA COMPARADA EN ESPAÑA

PETER LANGBern � Berlin � Bruxelles � Frankfurt am Main � New York � Oxford � Wien

P E R S P E K T I V E N D E R G E R M A N I S T I K U N D KO M PA R AT I S T I K I N S PA N I E N

PERSPECTIVAS DE LA GERMANÍSTICA Y LA LITERATURA COMPARADA EN ESPAÑA

PETER LANGBern � Berlin � Bruxelles � Frankfurt am Main � New York � Oxford � Wien

20 JAHRE MAUERFALL

MARTA FERNÁNDEZ BUENO UNDTORBEN LOHMÜLLER (HRSG.)

DISKURSE, RÜCKBAUTEN, PERSPEKTIVEN

ISSN 1664-0381 ISBN 978-3-0343-0427-6

© Peter Lang AG, Internationaler Verlag der Wissenschaften, Bern 2012Hochfeldstrasse 32, CH-3012 Bern, [email protected], www.peterlang.com

Alle Rechte vorbehalten.Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzesist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das giltLQVEHVRQGHUH�I�U�9HUYLHOIlOWLJXQJHQ��hEHUVHW]XQJHQ��0LNURYHU¿OPXQJHQ�XQGdie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Switzerland

%LEOLRJUD¿VFKH�,QIRUPDWLRQ�GHU�'HXWVFKHQ�1DWLRQDOELEOLRWKHNDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen1DWLRQDOELEOLRJUD¿H��GHWDLOOLHUWH�ELEOLRJUD¿VFKH�'DWHQ�VLQG�LP�,QWHUQHW��EHU�‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

Esta publicación ha sido subvencionada por el Ministerio de Ciencia eInnovación, Dirección General de Investigación y Gestión del Plan NacionalI+D+i (Acción Complementaria FFI2009-06709-E)

Gegen die Geschichte? Zum Diskurs der Verspätung in den Biografien der „letzten Kommunisten“ Ronald M. Schernikau und Gisela Elsner

TORBEN LOHMÜLLER

„N’être pas républicain à vingt ans est preuve d’un manque de cœur; l’être après trente ans est preuve d’un manque de tête.“ Dieser dem französischen Politiker François Guizot (1787–1874) zugeschriebene1 Ausspruch wurde viele Male variiert, wobei mit dem Ende des neun-zehnten Jahrhunderts der Sozialismus und Kommunismus den Platz der unsteten Gesinnung einnahmen. Zum Ausdruck kommt hier eine an die Individualbiografie angebundene Zuschreibung einer politi-schen Entwicklung, die von einem vornehmlich gefühlsmäßig moti-vierten Einsatz für die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlich-keit unter den Menschen zur gereiften Einsicht in die Unmöglichkeit ihrer Realisierung und die weise Akzeptanz der realpolitischen Not-wendigkeiten führt. Insbesondere in nachrevolutionären Zeiten über-lagern sich hier die Entwicklungsrichtung des Einzelnen und der Ge-sellschaft insgesamt, wenn es nämlich darum geht, die stürmerisch drängenden Impulse der revolutionären Jugend zu mäßigen und in eine moderatere, schlimmstenfalls restaurative Politik zu überführen, zu denken wäre hier beispielsweise an die Entwicklungen nach der französischen Revolution, aber auch an die nach der so genannten 68er-Generation in Westeuropa und den Vereinigten Staaten.

Mit der durch das Jahr 1989 markierten Auflösung des Staats-kommunismus nach sowjetischem Muster hat sich dieses generatio-nelle Modell überlebt. Die Trennlinie verläuft nun nicht mehr dyna-

1 vgl. Shapiro, Fred R. (2005). The Yale Book of Quotations. New Haven: Yale

University Press. 327.

260 Torben Lohmüller

misch zwischen jung und alt, sondern zwischen jenen, die die Zeiten-

wende als solche akzeptieren und begrüßen und den ewig Gestrigen,

die das triumphale Ende der Geschichte nicht wahrhaben wollen.

Selbst eine Anpassung von Guizots Zitat auf die Nachwendezeiten à la

„Wer vor 1989 kein Kommunist war, hat kein Herz, wer nach 1989

noch Kommunist ist, keinen Verstand“ funktioniert schon allein des-

halb nicht, weil das im kollektiven Gedächtnis durch den Mauerfall

markierte Jahr 1989 mittlerweile selbst insofern als ein revolutionäres

wahrgenommen wird, als dass mit ihm eine neue unhintergehbare

Zeitrechnung begonnen hat, nach der sich die Verhältnisse neu geord-

net haben und der Identifikation mit dem Kommunismus weder Herz

noch Verstand zugestanden wird. Wer nach 1989 noch am Kommu-

nismus festhält, fällt diskursiv und auch ganz buchstäblich aus der

Geschichte in einen ortlosen Raum.

Nachvollziehen lässt sich dies an zwei Schriftstellerbiografien,

die in den Diskursen über die Wendezeit der letzten Jahre eine emble-

matische Funktion erhalten haben, die über die Singularität des Ein-

zelschicksals hinausweist. Dabei sind die verhandelten Lebensläufe

durchaus eher außergewöhnlich als typisch. Auf der einen Seite Ro-

nald M. Schernikau, der schwule Jungschriftsteller aus Lehrte, der mit

kommunistischer Gesinnung in den achtziger Jahren überzeugt ist, nur

in der DDR als Schriftsteller überleben zu können; auf der anderen

Seite die zornige Kapitalismuskritikerin aus gutem Hause, Gisela Els-

ner, die mit ihren späten Romanen nicht mehr an die Anfangserfolge

aus den sechziger Jahren anschließen konnte. Für beide war der 9.

November 1989 anders als für viele kein Freudentag. Die Wiederver-

einigung bedeutet für sie den katastrophalen Triumph des Kapitalis-

mus über die Menschlichkeit. Die biografischen Darstellungen ihrer

Leben, Matthias Frings Buch Der letzte Kommunist2 und Oskar

Roehlers Film Die Unberührbare, laden nicht ein zur Identifikation

mit ihren Protagonisten, doch sie liefern ein handhabbares Bild der

letzten Kommunisten aus dem Westen und die Gewissheit, dass es mit

ihresgleichen nun endgültig vorbei ist. Charakteristisch an beiden

Lebensberichten ist der Anachronismus ihrer Figuren im Moment des

2 Frings, Matthias (2009). Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ro-

nald M. Schernikau. Berlin: Aufbau.

Gegen die Geschichte 261

Mauerfalls. Beide haben, so die implizite These ihrer Biografen, den

gesellschaftlich längst vollzogenen Entwicklungsschritt von Herz zu

Kopf, von kommunistischem Idealismus zu realpolitischer Einsicht in

die Notwendigkeit der liberalen Demokratie nicht mitvollzogen und

sind damit aus dem historischen Takt gefallen. Der diskursive Um-

gang mit dieser Taktlosigkeit und den aus ihr resultierenden Disso-

nanzen sind Gegenstand der folgenden Untersuchung.

Ronald M. Schernikaus Zug gen Osten

„Ein Mann gegen die Geschichte. Herbst 1989. Tausende Ostdeutsche

strömen gen Westen. Nur einer geht den entgegengesetzten Weg. Der

Schriftsteller Ronald M. Schernikau ist der letzte Westdeutsche, der

DDR-Bürger wird.“ Mit diesem Klappentext erschien im zwanzigsten

Jahr des Mauerfalls Matthias Frings’ über den Freund aus Kreuzberger

Tagen geschrieben Biografie Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau. Das geflügelte Wort von der Strafe

des Lebens für die Zuspätgekommenen, mit dem der letzte Parteisekre-

tärs der KPdSU im Herbst 1989 die DDR-Führung vor den Konsequen-

zen ihrer dogmatischen Politik warnte, scheint hier exemplarisch bestä-

tigt. Nach langwierigen bürokratischen Verhandlungen zog Schernikau

am 1. September 1989 von Kreuzberg nach Berlin-Hellersdorf, sein

DDR-Pass trägt als Ausstellungsdatum den 7. November 1989. In die-

ser Form zugespitzt mag man sich fragen, ob diese Lebensbeschrei-

bung der historischen Tragödie oder doch nur der viel zitierten Ironie

der Geschichte zuzuordnen ist. Ein Großteil der Rezensenten des

Buchs optiert für ersteres, so nennt es Susanne Messmer in der taz

„eine Geschichte des grandiosen Scheiterns“3, während Philip

Oehmke im Spiegel von einer „deutsch-deutschen Tragödie“ spricht

und dazu rät, „das ästhetische Werk von der politischen Ausrichtung

abzukoppeln.“4

3 Messmer, Susanne (20.02.2009). „Schöner Untergeher“. die tageszeitung.

4 Oehmke, Philipp (02.03.2009). „Zwischen den Welten“. Der Spiegel

262 Torben Lohmüller

Was der zitierte Klappentext und auch der Titel mit seiner An-

spielung an die letzten Überlebenden eines durch den Kolonialismus

ausgerotteten Indianerstammes verdunkeln, ist die praktische und

politische Intelligenz Schernikaus, der der Biograf, wie auch Jörg

Sundermeier in der Frankfurter Rundschau5 bemerkt, nicht immer

gerecht wird. Schernikau mag die DDR und ihren staatlich regulierten

Literaturbetrieb idealisiert haben, als er sich jedoch Mitte der achtzi-

ger Jahren dazu entschließt, die Kreuzberger Szene in Richtung Leip-

zig zu verlassen, um dort am Johannes R. Becher-Institut Literatur zu

studieren, hat dies durchaus auch pragmatische Gründe. Mit dem Sti-

pendium des Instituts konnte er sich nach Jahren finanzieller Unsi-

cherheit endlich auf das Schreiben konzentrieren.

Es gab aber auch andere, persönlichere Gründe, die Schernikau in

die DDR zogen. Er wurde ein Jahr vor dem Bau der Berliner Mauer,

den er später einmal als große militärische Leistung bezeichnete6, in

Magdeburg geboren. Die ersten sechs Lebensjahre verbringt er dort

mit seiner Mutter Ellen, bis diese sich 1966 – nicht aus politischen

Gründen, wie Schernikau selbst immer wieder betonte – entschließt,

dem Kindsvater in den Westen zu folgen. Der Grenzübertritt gelingt

im Kofferraum eines Fluchthelfers, doch als Mutter und Sohn in Han-

nover ankommen, hat der Vater bereits eine neue Familie gegründet.

Dazu Frings:

Warum tut er ihr das an? [...] Warum? Da steht sie in der Fremde, hat nichts,

noch nicht einmal Unterwäsche zum Wechseln und keinen Schimmer, was wer-

den soll. Ellen will nach Hause. Unsichtbar müsste man sein, noch einmal flugs

über die Grenze zurück in die Heimat. Es ist Wochenende, niemand würde etwas

bemerken. Sie hätte ihr Leben zurück. Sie würde am Montagmorgen auf der Ar-

beit erscheinen, als sei nichts gewesen. Aber es geht nicht. Nichts geht, nichts.7

Eine Schlüsselszene, auf die der Biograf immer wieder Bezug nimmt,

um die Sehnsucht des jungen Schriftstellers nach dem Mutterland

DDR zu erklären. Ellen Schernikau, besorgt darüber, dass der Sohn

die DDR vergessen könnte, schaut mit ihm DDR-Fernsehen, gibt ihm

5 Sundermeier, Jörg (27.02.2009). Rezension in der Frankfurter Rundschau.

6 Schernikau, Ronald M. (10.07.2010) „Proust-Fragebogen“. Abgedruckt in Junge Welt.

7 Frings, Matthias. Der letzte Kommunist, 173.

Gegen die Geschichte 263

DDR-Literatur zu lesen und „jedes Jahr am 7. Oktober, dem Geburts-tag der DDR, macht sie einen Broiler.“8 Der bereits in Good-bye Lenin komödiantisch verwertete ostalgische Kitsch wirkt wie immer anrüh-rend, das unzeitgemäße Festhalten an einer Kleinbürgerlichkeit, über die sich der überlegen weltgewandte Westen mit gönnerhafter Herab-lassung belustigt. Dieser Herablassung begegnet Frings jedoch durch-aus mit Ironie. In einem Gespräch mit der Mutter einer Bekannten erfährt Ellen, diese mache jetzt Yoga: „Ellen kennt das nicht, fragt nach. ‚Ach so, Gymnastik‘, sagt sie dann, und die Miene der Mutter gefriert.“9

Bereits als Jugendlicher ist Schernikau Außenseiter. Selbstbe-wusst steht er in der niedersächsischen Provinz zu seiner Homosexua-lität, den heute kaum mehr verständliche Skandal, den dies auslöst, verarbeitet er in seiner Kleinstadtnovelle (1980), mit der er gerade 19jährig seinen ersten – und eigentlich auch letzten – literarischen Erfolg feiert. Nach dem Abitur zieht er zunächst nach West-Berlin und wird Teil der heute legendären Tunten-Szene um das Kreuzberger SchwuZ. Schwulenbewegt und mit kommunistischer Gesinnung ver-sucht er an den frühen literarischen Erfolg anzuknüpfen. Vergeblich, wie sich bald zeigt. Als ihm 1986 am Johannes R. Becher-Institut Studienplatz und Stipendium gewährt werden, zieht er als West-Deutscher nach Leipzig. Seine Erfahrungen fasst er einige Jahre später mit Reflexionen über die deutsch-deutschen Verhältnisse angereichert unter dem Titel die tage in l. darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur zu-sammen. Als das Buch 1989 im Hamburger konkret-Verlag erscheint, will es niemand mehr lesen. „[B]emerkenswert schlechtes Timing“10 nennt dies Frings und führt damit das biografische Leitmotiv des Zu-spätkommens fort. Die Schernikau’sche Unzeitgemäßheit verdichtet er schließlich in einer Szene, in der sich die Freunde des Autors im Dezember 1989 in dessen neubezogener Hellersdorfer Wohnung ein-finden, um im Radio der DDR seine Lesung von die tage in l. zu ver-folgen.

8 ebd. 241. 9 ebd. 174. 10 ebd. 443.

264 Torben Lohmüller

Typisch DDR: Sein Hellersdorfer Wohnblock stand zwar seit mehr als einem Jahr, aber die Bürgersteige waren noch nicht fertig. Also wateten seine West- und Ostberliner Freunde durch den Matsch, um die Sendung mit ihm zu hören. [...] Die Radiosendung war zwar nur ein kleiner Triumph im großen Desaster, aber immerhin hatte die DDR sein Buch in letzter Minute honoriert. Ronald gab sich charmant, witzig, aufgeregt und aufgedreht. So hatte es eigentlich sein sol-len: Schernikau in seinem Land, im Kreis seiner Freunde, und dazu als ein Künstler, der öffentlich wahrgenommen wird.11

In letzter Minute, sozusagen kurz vor ihrem Ableben, verschafft die DDR einem Schriftsteller, dessen Werk sie nicht drucken wollte, öf-fentlich Gehör. Die tragische Komik der Szene, wenn man sie denn als solche beschreiben will, ergibt sich aus der Kollision zweier Wahrnehmungen. Wo sich Schernikau über seine Neubauwohnung und offiziell kulturpolitische Anerkennung freut, sieht Frings nur eine deprimierende Platte und die letzten Atemzüge eines maroden Staates, dem in seinem Ableben auch kein Ronald M. Schernikau mehr etwas anhaben kann.

Wie luzide der Schriftsteller dennoch die Zeichen seiner Zeit er-kannte, zeigt seine Rede vor dem Kongress der Schriftsteller der DDR im März 1990:

Die spätkapitalistische Ökonomie braucht für ihre Existenz keine Rechtfertigung mehr. Ihre Mechanismen setzen sich durch, ob wir wollen oder nicht. Wie ana-chronistisch wirkt ein Zentralkomitee gegen die Weltbank, wie einzig sinnvoll aber auch. Schalck-Golodkowski war der letzte Internationalist, sein Ende ist das Ende der Parteibüros im Westen, das Ende der kommunistischen Verlage dort, das Ende des Ortes, an dem ich früher mich befand. Dies ist ein Schmerz, vor dem kalt zu bleiben Sie ein gewisses Recht besitzen; ich will Sie nur auf ihn aufmerksam machen.12

Mit der DDR verschwindet für Schernikau und die kommunistischen Infrastrukturen im Westen ein Referenzpunkt, der die eigene Existenz legitimierte. Für den Schriftsteller hat dies nachhaltige Konsequenzen. Seinem Credo „Das Einzige, das mich interessiert bei der Arbeit, ist:

11 ebd. 445. 12 Schernikau, Ronald M. (1990). Rede auf dem letzten Schriftstellerkongress der

DDR. http://www.schernikau.net/*/essays/schriftstellerkongress/ (Abgerufen am: 20.11.2010)

Gegen die Geschichte 265

Etwas loben können. Ich hasse Negation“13 ist die Grundlage entzo-gen, was bleibt, ist die Kritik am Bestehenden, die Adorno als die einzig mögliche Haltung des Lebens im Falschen gelten lassen wollte. Dass Schernikau in seinen Beobachtungen dieses Lebens keineswegs rückwärtsgewandt, sondern beinahe prophetisch war, zeigt sich bei-spielsweise, wenn er sich in die tage in l. darüber wundert, dass die Feinschmeckerabteilung des Berliner Kaufhaus des Westens keine DDR-Cola im Angebot hat:

nicht nur die massen von ddrexlern würden sie kaufen; vor allem die leute, die ihr leben mit der suche nach dem neuen verbringen, nach dem schrillen und ab-gefahrenen. klubkola trinken wäre dann das endgültige zeichen von antikommu-nismus. und es wird, wir alle wissen es?, so weit kommen.14

Dass Mitte der neunziger Jahre in den Clubs in Prenzlauer Berg tat-sächlich Club Cola und Vita Cola zum Szenegetränk avancierten, erlebte Schernikau nicht mehr. Er starb 1991 an den Folgen seiner HIV-Infektion.

Die Unberührbare oder No Place to Go

Die Schernikau so verhasste Negativität ist eines der eindrücklichsten Merkmale der Prosa von Gisela Elsner. In Romanen wie Die Riesen-zwerge (1964) oder Der Nachwuchs (1968) sezierte sie die Eingewei-de einer kleinbürgerlich faschistoiden Gesellschaft. Dennoch bewun-derte Schernikau die 23 Jahre ältere Elsner und suchte ihre Freundschaft. Sie wollte ihn gar als Nachlassverwalter ihrer Werke einsetzen – leider auch das zur Unzeit, da er noch ein Jahr vor ihr starb. Im Dezember 1989 schrieb sie ihm nach Berlin: „Der Bananismus, der in der DDR ausgebrochen ist, beweist mir, daß die

13 ebd. 14 Schernikau, Ronald M. (2001). die tage in l. darüber, daß die ddr und die brd

sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur. Hamburg: konkret literatur verlag, 100.

266 Torben Lohmüller

Deutschen bei der Menschwerdung des Affen mitten in der Entwick-lung steckengeblieben sind.“15 Im September hatte sie sich entschlos-sen, der „Provinzmetropole München“ den Rücken zu kehren und nach West-Berlin zu gehen, als wenige Monate später die Mauer fällt, zog es sie in den anderen Teil der Stadt.

In diesen ersten Wochen nach dem Mauerfall spielt Oskar Roehlers Film Die Unberührbare (2000), mit dem er zunächst die deutschen und dann später die internationalen Kinos eroberte. 2001 mit dem Bundesfilmpreis in Gold ausgezeichnet und von der Kritik als „das großartigste Frauenporträt, das dem deutschen Film in den letzten zehn Jahren gelungen ist“16 gefeiert, beschreibt der Film die letzten Lebensmonate einer in die Jahre gekommenen kommunistischen Schriftstellerin aus dem Westen, die von der rapiden Auflösung der DDR tief getroffen keinen Platz mehr für sich und ihre Überzeugun-gen findet. Kette rauchend und sich offenbar ausschließlich von Alko-hol und Tabletten ernährend irrt die Protagonistin durch das sich wie-dervereinigende Deutschland und steht fassungslos vor der unbeküm-merten Freude, mit der einstige Freunde in der DDR die Zeitenwende feiern. Ihren Münchner Luxusbungalow muss sie aus finanziellen Gründen – ihre Bücher verkaufen sich mehr als schlecht – verlassen. Der Marzahner Plattenbauwohnung, die ihr daraufhin von ihrem Ost-Berliner Verlag angeboten wird, entflieht sie entsetzt über den klein-bürgerlichen Mief. Sie ist, daran lässt der Film keinen Zweifel, eben doch noch die Tochter aus dem höheren Wirtschaftwunderhause, des-sen Welt und ideologische Grundlagen sie in ihren Büchern mit er-barmungsloser Schärfe kritisiert hat. Couture-Kleider, extravagante Schminke und eine pompöse Kleopatraperücke markieren einen Wi-derspruch zu den leninistischen Parolen, die sie zuweilen von sich gibt. Als ihr auch das letzte Geld ausgeht, kehrt die verlorene Tochter in das Nürnberger Haus ihrer gealterten Eltern zurück, um sich unter den hämischen Kommentaren ihrer Mutter ein weiteres Mal aushelfen zu lassen. Ein zufälliges Treffen mit ihrem Ex-Mann endet in einer Nacht voller Alkohol, verzweifeltem Sex und gegenseitigen Vorwür-

15 Elsner, Gisela (1989). Brief an Ronald M. Schernikau vom 30.12.1989. „Ich bin

umgezogen. Ronald M. Schernikau wird 50.“ Junge Welt vom 10.07.2010. 16 Weingarten, Susanne (17.04. 2000). „Die große Hasserin“. Der Spiegel, 240.

Gegen die Geschichte 267

fen. Als die Protagonistin am Ende nach München zurückkehrt, ver-sagt ihr der so lange geschundene Körper. Nachdem sie mit einer Überdosis Barbiturate ins Krankenhaus eingeliefert wird, diagnosti-ziert man dort ein Raucherbein. Der darauffolgende Entzug in der psychiatrischen Abteilung der Klinik bildet den Schlusspunkt in die-sem Stationendrama: Noch eine letzte, heimlich auf der Toilette ge-rauchte Zigarette, dann fällt sie aus dem geöffneten Fenster ins Licht.

Oskar Roehler nennt seine Figur Hanna Flanders. Unverkennbar trägt sie jedoch die Züge seiner Mutter Gisela Elsner, die ihn nach der Scheidung von Klaus Roehler als Kleinkind beim Vater zurückgelas-sen hatte. Auf die biografischen Anteile in seinem Film befragt, ant-wortete der Regisseur:

Ich habe mich davon sehr weit entfernt. Mein Film ist eher ein Gleichnis. In ihm tauchen Figuren auf, die den Weg der Gisela Elsner irgendwann einmal gekreuzt haben. Die Begegnungen mit diesen Leuten erlauben mir und damit auch dem Publikum, Rückschlüsse auf den Kern ihrer Persönlichkeit zu ziehen. Das wirk-liche Leben der Gisela Elsner am Ende ihres Lebens sah wesentlich anders aus ... düsterer, so daß ich darüber keinen Film drehen könnte.17

Mittlerweile scheint die durch Hannelore Elsner (eine Verwandtschaft zur Autorin besteht übrigens nicht) im Film so beeindruckend inter-pretierte Rolle der Hanna Flanders die allgemeine Wahrnehmung der Autorin Gisela Elsner völlig überlagert zu haben. So unterscheidet Reinhard Baumgart im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Briefwechsel18 zwischen Klaus Roehler und Gisela Elsner zunächst noch zwischen Filmfigur und Autorin: „Gisela Elsner, die Zweiund-fünfzigjährige, das war in der Darstellung Hannelore Elsners eine fassungslos durchs Jahr 1989, den Rausch der deutschen Einheit ir-rende Frau, halb Vamp, halb düsteres Schneewittchen“19, nur um we-nige Seiten später die eine doch für die andere stehen zu lassen: „In Oskar Roehlers Film entdecken wir sie [Gisela Elsner] dann wieder in

17 Interview mit Oskar Roehler. http://www.hannelore-elsner-fanpage.de/die-

unberuehrbare/interv.htm (Zugriff 20.11.2010) 18 Baumgart, Reinhard (Hrsg.) (2001). Wespen im Schnee. 99 Briefe und ein Tage-

buch. Berlin: Aufbau. 19 ebd. 7.

268 Torben Lohmüller

ihrem Endzustand, fast zugefroren, aber immer noch frierend.“20 Tat-sächlich ist heute „das kosmetische Maskengesicht“21 der Schauspiele-rin Elsner stärker im kollektiven Gedächtnis verankert als das literari-sche Werk der Autorin Elsner. Gerade einmal acht literaturwissen-schaftliche Arbeiten über Gisela Elsner, drei davon von Christine Künzel22, verzeichnet die Bibliografie der deutschen Sprach- und Lite-raturwissenschaft für die Jahre 2000–2009. Unter dem in gleicherma-ßen ironischen wie kritischen Bezug auf Mathias Frings’ Schernikau-Biografie23 betitelten Band Die letzte Kommunistin24 (2009) versam-melt Künzel Texte über Gisela Elsner, die versuchen, die Autorin in ihr literaturgeschichtliches Recht zu setzen.

Tatsächlich sind die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zwi-schen Hanna Flanders und Gisela Elsner nicht von der Hand zu wei-sen, die Verzweiflung über das Ende der DDR25, die Alkohol- und 20 ebd. 15. 21 ebd. 7. 22 vgl. Künzel, Christine (2007). „Eine ‚schreibende Kleopatra‘: Autorschaft und

Maskerade bei Gisela Elsner“. Künzel, Christine und Jörg Schönert (Hrsg.) (2007). Autorinszenierungen. Würzburg: Könighausen & Neumann, 177–190. Künzel, Christine (2005). „Gisela Elsner, Die Riesenzwerge (1964)“. Benthien, Claudia und Inge Stephan (2005). Meisterwerke deutschsprachiger Schriftstelle-rinnen. Köln: Böhlau, 93–109. Künzel, Christine (2009). „Leben und Sterben in der ‚Wirtschaftswunder-Plunderwelt‘: Wirtschafts- und Kapitalismuskritik bei Gisela Elsner“. Hempel, Dirk und Christine Künzel (Hrsg.) (2009). „Denn wo-von lebt der Mensch?“: Literatur und Wirtschaft, Frankfurt a/M u. a: Peter Lang, 169–192.

23 Christine Künzel weist in ihrem jüngsten Sammelband zu Elsner darauf hin: „Den ‚letzten Kommunisten‘ Schernikau und die ‚letzte Kommunistin‘ Elsner verband eine langjährige literarische und politische Freundschaft – davon zeugt nicht zuletzt ein umfangreicher Briefwechsel von 1980 bis zum Tod Schernikaus im Jahr 1991. Umso beschämender ist die Tatsache, dass die enge Verbindung zwischen beiden Autoren in der Schernikau-Biografie von Matthias Frings kleingeredet wird.“ Künzel, Christine (2009). „Einmal im Abseits, immer im Abseits?“ Künzel, Christine (Hrsg.) (2009). Die letzte Kommunistin. Texte zu Gisela Elsner. Hamburg: konkret literatur verlag, 13.

24 ebd. 25 Am 31.7.1990 schreibt Gisela Elsner an Werner Preuß: „die Sache ist die, dass

ich seit der Öffnung der Mauer unter dem Einfluss eines schweren Schocks ste-he. Ich könnte sagen, dass ich jenseits der Verzweiflung angelangt bin. Die Ver-einigung Deutschlands halte ich für das Entsetzlichste, was ich mir derzeit vor-

Gegen die Geschichte 269

Tablettensucht, die vielen Zigaretten und der Sturz aus dem Klinik-fenster entstammen ebenso der Biografie der Autorin wie der miss-glückte Versuch, nach der Maueröffnung in Berlin Marzahn eine neue Heimat zu finden. Wie also verstehen wir die uns auf der Leinwand in düsterem Schwarzweiß präsentierte Odyssee einer Frau, für die es kei-nen Ort mehr zu geben scheint? Steht Hanna Flanders für mehr als eine individuelle Psychobiografie26 im Angesicht historischer Umbrüche?

Die Unberührbare ist keine Abrechnung des Sohnes mit der Mut-ter. Wie Oskar Roehler und andere, die Gisela Elsner in ihren letzten Jahren erlebt haben, andeuten, ist ihr Ende weitaus weniger würdevoll gewesen als das fiktionalisierte der Hanna Flanders.27 In überdetermi-nierte, an den film noir28 angelehnte Bilder gesetzt, weist das Portrait der verzweifelten Schriftstellerin über das Einzelschicksal hinaus und wird eher als zu dem von Roehler als solches bezeichneten Gleichnis zu einer Pathografie einer gescheiterten Idee. Nicht als Marx’sches Gespenst, sondern eher als Zombie des Kommunismus irrt Hanna Flanders durch das Wiedervereinigungsdeutschland, von der Ge-schichte bereits für überwunden erklärt, merkt sie erst gegen Schluss, dass sie als Untote unter den Lebenden weilt.

Bereits zu Beginn des Films begegnen wir ihr dem Tode näher als dem Leben. Während des Vorspanns, noch bevor wir die ersten Bilder sehen, hören wir Fernsehberichte über die Ereignisse rund um die Öffnung der Berliner Mauer: Jubelnde Mengen, freudige Reden auf Kundgebungen, kurze Gesprächsfetzen, in denen Menschen ihre Freude über die Ereignisse kaum in Wort zu bringen vermögen. Dann die erste Einstellung: der Blick in einen Flaschenhals. Eine männliche

stellen kann. [...] Ich habe mein ganzes Leben lang vergeblich gekämpft. Ich wünschte, ich wäre vor der Öffnung der Mauer gestorben.“ Zitiert in ebd. 18.

26 Reinhard Baumgart verweist in Wespen im Schnee auf mögliche physische Gründe „ihrer psychischen Verstörtheit und Gestörtheit, ihrer gefährlich ver-sponnenen Traumwelt, ihrer um sich wütenden Destruktionsenergie.“ 15.

27 Dazu Susanne Weingarten: „Der Film ‚Die Unberührbare‘ geht gnädiger mit Gisela Elsner um, als es die Wirklichkeit getan hat. Er raubt ihr nicht die Würde, zeigt nicht, wie sie tagelang in ihren Exkrementen vor sich hin dämmerte.“ Weingarten, Susanne. Die große Hasserin, 240.

28 vgl. Frey, Matthias (2006). „No(i)r Place to Go: Spatial Anxiety and Sartorial Intertextuality in Die Unberührbare“. Cinema Journal 45. Nr. 5, 64–80.

270 Torben Lohmüller

Stimme am Telefon fragt: „Was machst du?“ Eine Frau antwortet:

„Ich sitz da. Hab das Arsen in der Hand“. Die nächste Einstellung

zeigt die Protagonistin am Telefon, ungeschminkt, mit wirren Haaren,

eine Zigarette in der Hand. Ihrem Gesprächspartner kündigt sie an:

„Ich bring mich jetzt um. Ich leg auf.“ Dem anderen, ein im Verlauf

des Films immer wieder als rettender Engel auftretender Freund na-

mens Ronald (Schernikau?), gelingt es, sie diesmal noch von ihrem

Vorhaben abzubringen. Er überredet sie, noch eine weitere Zigarette

zu rauchen. Dann sehen wir seine Silhouette in einem abgedunkelten

Raum, in dem wie bei Hanna ein Fernseher den Wiedervereinigungs-

trubel überträgt. Mittlerweile mit zwei Zigaretten in der Hand fragt

Hanna, wie man denn angesichts des für sie unverständlichen Verrats

einfach so weiterleben könne. Schweigen, dann endlich lässt sie sich

überreden, das Arsen auf den Tisch zu stellen.

Matthias Frey sieht den Kontrast zwischen dem über das Fernse-

hen mediatisierten Jubel und Hannas Verzweiflung als tonangebend

für den gesamten Film: „TV functions as an indicator that Hanna is

out of step with public sentiment in Germany.“ 29 Hanna, so ließe sich

diese Beobachtung noch weiter zuspitzen, befindet sich nicht nur au-

ßerhalb des emotionalen Gleichschritts der deutschen Öffentlichkeit,

sie ist, will man denn das Fernsehen als Medium der historischen Er-

eignisse sehen, aus der Geschichte gefallen. Diese Geschichte bleibt

ungreifbar. Die Fernsehbilder im Hintergrund sind verschwommen.

Von den Berichten hören wir nur Gesprächsfetzen, deren Aufdring-

lichkeit noch dadurch verstärkt wird, dass auch das Umschalten zwi-

schen Programmen immer wieder nur Versionen desselben liefert.

Diese amorphe und gleichzeitig unentrinnbare Präsenz des Gesche-

hens steht in scharfem Kontrast zu Hannas prekärer Körperlichkeit,

die sie in ihrer Vereinzelung nicht mehr Teil einer Gemeinschaft wer-

den lässt. Die hieraus entstehende Spannung, ihre scheiternden Versu-

che, sexuell, politisch oder rein freundschaftlich Kontakt herzustellen

zu anderen Menschen, werden sie bis zum Ende des Film vernichtet

haben. Auch wenn der Selbstmord30 zu Beginn noch aufgeschoben ist

29 ebd. 68.

30 Zum Motiv des Selbstmords in der sogenannten „Wendeliteratur“ siehe den

Beitrag von Frank Thomas Grub in diesem Band.

Gegen die Geschichte 271

– ironischerweise fragt Ronald sie, ob das Arsen noch gut ist – ist sie zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Leben geschieden.

Neben den politischen Ereignissen belasten sie, wie bereits er-wähnt, ganz konkret finanzielle Probleme. Ihr Verlag hat ihre Bücher aus dem Programm genommen. Niemand will in diesem Moment mehr ihre kapitalismuskritische Literatur lesen. So hofft sie auf künst-lerisches Asyl in der sich gerade auflösenden DDR. Sie sucht einen alten Geliebten in einem Ost-Berliner Verlag auf, der ihr in früheren Zeiten seine Wohnung angeboten hatte. Doch natürlich ist jetzt alles anders. Der Geliebte ist neu liiert, die Wohnung damit besetzt und im Verlag feiert man mit Sekt die Öffnung der Mauer. Ein jüngerer Ver-lagsmitarbeiter taumelt auf sie zu und pöbelt sie an:

Du bist doch die Flanders. Ich kenn dich doch. Du bist doch diese verwöhnte Kuh aus dem Westen, oder? Die außer ein paar Champagner-Partys in Moskau nichts, aber auch gar nichts von unserer politischen Wirklichkeit verstanden hat. Die auch nur deshalb an die DDR geglaubt hat, weil sie das einzige Land war, das ihren geistigen Dünnschiss gedruckt hat.

Den hier in krassen Worten formulierten Konflikt zwischen Gesin-nung, eigener und fremder Realität spielt der Film auf verschiedenen Ebenen aus. Hanna, die selbsterklärte Leninistin, erwirbt noch vor ihrer Abreise aus München einen teuren Mantel von Dior, der wie auch ihre restlichen an Schnitte der sechziger Jahre angelehnten Cou-ture-Kleider nicht nur anachronistisch mit den sie umgebenden Men-schen kontrastiert, sondern vor allem den Widerspruch zwischen ideo-logischem Anspruch und bourgeoiser Wirklichkeit der „Salon-Kommunistin“ Flanders permanent vor Augen führt. Doch verkennt sie aus Sicht des unfreundlichen Verlagmitarbeiters nicht nur ihre eigene Realität, sondern – und für den Film noch entscheidender – die Wirklichkeit des von ihr in diesem Moment als letzte Rettung ideali-sierten Landes.31 31 Von dem Moment einer solchen Verkennung in der Biografie Gisela Elsners

berichtet Chris Hirte, die Mitte der achtziger Jahre Elsners Publikationen in der DDR betreute. In einem öffentlichen Bühnengespräch im Palast der Republik, soll Elsner gesagt haben: „In der DDR lebt man fürstlich. Schon zum Frühstück gibt es Kaviar. Dennoch haben meine Begleiter hartnäckig versucht, mir die DDR mieszumachen. Ich lasse mir die DDR aber nicht miesmachen.“ Hirte,

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Mit dieser Wirklichkeit wird sie nun in voller Härte konfrontiert, als sie in eine Autorenwohnung des Verlags ausweichen muss. Eine ihr wohl gesonnene Mitarbeiterin fährt sie in ihrem Wartburg in eine Plattenbausiedlung, wo sie vorübergehend Obdach in einer herunter-gekommenen Einzimmerwohnung im Erdgeschoss findet. Die Wände der dunklen Wohnung sind verschmiert und stockig, die Möbel erin-nern an Sperrmüll und tragen ebenfalls nicht gerade zur Gemütlichkeit bei. Doch Hanna bleibt tapfer, versichert mit eingefrorener Miene, dass sie es dort schon drei Tage wird aushalten können. In der nächs-ten Einstellung gleitet die Kamera an trostlosen, präfabrizierten Hauswänden entlang und blickt schließlich durch das erleuchtete Fenster in Hannas Wohnzimmer. Sie sitzt in einem weißen Kleid ker-zengerade auf dem schmutzigen Sofa und starrt rauchend durchs Fens-ter in die Nacht. Diese Einstellung kontrastiert mit den Bildern vom Anfang des Films. Auch hier lebt Hanna in einer Neubausiedlung, doch genießt sie den Luxus eines großzügigen Bungalows mit breiten Glasfenstern und modernistischen Designermöbeln. Die Deutung die-ser Bilder bleibt ambivalent: Ist die heruntergekommene Wohnung die Konsequenz des Gedankens einer klassenlosen Gesellschaft, die Han-na mit ihren Ansprüchen bislang nicht zu tragen bereit war, d.h. ist dies die Zuspitzung des Konflikts zwischen den politischen Idealen und den persönlichen Ansprüchen einer exzentrischen Frau oder geht es hier doch um das große Ganze: die DDR als Plattenbau?

In der nächsten Einstellung lässt der Film Hanna mit Dior-Mantel und Cleopatraperücke über ein winterliches Brachland laufen. In der Ferne die Silhouetten der Plattenbausiedlung, ein dramatischer Him-mel, ein paar kahle Bäume – trostloser könnte die Welt selbst nach der Apokalypse kaum aussehen. Hanna ist mit ihrem Umzug nicht wie erhofft angekommen. No Place to Go lautet denn auch treffend der Titel, den die angloamerikanischen Verleiher dem Film gegeben ha-ben. Tatsächlich sehen wir von Ost-Berlin wenig mehr als das, wäh-rend sich Hanna in München und West-Berlin vornehmlich durch urbane Landschaften bewegt.

Chris (2009). „Gisela Elsner und die DDR“. Künzel, Christine (Hrsg.) (2009). Die letzte Kommunistin, 110.

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Als sie in einer Kneipe auf einige der Bewohner der Siedlung trifft, scheitert der erhoffte Kontakt zu den Menschen vor Ort. Ein betrunkener Lehrer lobt zunächst ihre Bücher, wird dann aber hand-greiflich und beschimpft sie schließlich auf das Übelste, als sie sich wehrt. Auch bei der freundlichen Familie, die sie einlädt, sich nach einer schlaflosen Nacht bei ihr auszuruhen, kann Hanna nicht hei-misch werden. Dies verhindern deren Freude über die Wiedervereini-gung ebenso wie die selbstgestrickten Micky Maus-Pullover und die kleinbürgerliche Einrichtung der Wohnung. Was sich hier als Gegen-satz zwischen West- und Ostdeutschland präsentiert, ist zunächst einer zwischen unterschiedlichen sozialen und kulturellen Gruppen, die es in der DDR ebenso gegeben hat, wie in der BRD. Wäre Hanna Flanders Schriftstellerin in der DDR gewesen, hätte sie vermutlich wie andere Intellektuelle auch in weniger spießigen Verhältnissen ge-wohnt. Dass es auch in der DDR kleinbürgerliche Lebensverhältnisse und Mentalitäten gab, ist eine ebenso selbstverständliche wie banale Beobachtung, die zur Frage nach dem „Scheitern des Kommunismus“ nichts beiträgt, dennoch, so scheint es, stehen gerade diese Kleinbür-gerlichkeit und der mittlerweile emblematisch gewordene Plattenbau immer wieder im Zentrum insbesondere populärkultureller Auseinan-dersetzungen mit der ostdeutschen Vergangenheit, ganz so, als sei die DDR nicht an ihrer diktatorischen Führung, sondern an ihrem schlech-ten Geschmack zugrunde gegangen.

Nach ihrem fehlgeschlagenen Aufbruch in den Osten kehrt Hanna über Umwege nach München zurück und bemüht sich erneut um ihre alte Wohnung. Mittellos – ihr letztes Geld hat sie für den Umzug aus-gegeben – versucht sie, den teuren Mantel wieder einzulösen, den sie vor ihrer Abreise erworben hat. Erneut schenkt der Film seiner Prota-gonistin nichts: Diesmal ist es der Kapitalismus, der sein unsympathi-sches Gesicht zeigt, als sich die Verkäufer des Luxusgeschäfts leicht angewidert von der Notsituation ihrer Kundin weigern, das Klei-dungsstück zurückzunehmen. So ist nun auch der Weg zurück in die wenigstens komfortable Münchner Bürgerlichkeit verschlossen; sie hat ganz wörtlich No place to go und erleidet einen Zusammenbruch, an dessen Ende ihr nur noch der Sprung aus dem Fenster bleibt.

Zuvor jedoch, während ihres Entzugs in der Klinik, spielt der Film ein letztes Mal die Unzeitigkeit seiner Heldin aus. Schlaflos und

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vom Nikotinentzug geplagt sitzt Hanna auf einer Bank in einer neogo-tischen Halle des Klinikgebäudes. Ihr gegenüber eine Tür, rechts und links daneben ein Kreuz und eine riesige, laut tickende Uhr. Als sie das Geräusch nicht mehr aushält, steht sie auf, durchquert den be-klemmenden Raum und reißt die Uhr von der Wand. Durch den Lärm alarmiert kommt eine Krankenschwester herbeigelaufen und hängt die unversehrte Uhr wieder an ihren Platz. „Sie haben Glück gehabt“, sagt sie zu ihr, „die Uhr hätte auch kaputt gehen können.“ Diese zugegebe-nermaßen etwas platte Metaphorik bringt das Schicksal Hanna Flanders recht gut auf den Punkt. Sie ist zu schwach, den Lauf der Verhältnisse anzuhalten, ihre Zeit ist abgelaufen, während die der anderen von ihr unbeeindruckt weiterläuft. Der unmittelbar auf diese Episode folgende Besuch ihres Freundes Ronald, der gerade auf dem Weg nach Wien ist, um dort die Aufführung eines seiner Stücke zu verhandeln, ist dann auch wenig mehr als ein Abschied. Zwar spricht er ihr Mut zu und verweist auf bessere Zeiten, doch werden diese für sie nicht mehr kommen.

Nach der Geschichte?

Die beiden hier untersuchten biografischen Darstellungen zweier Schriftsteller, die im Moment des Mauerfalls noch an dem Staat DDR festhalten, schreiben sich ein in einen Diskurs, der 1989 als das Jahr feiert, an dem Kommunismus sein Ende fand und der liberal demokra-tischen Kapitalismus nach westlichem Vorbild als Sieger aus dem Kampf der Systeme hervorging. Die Geschichte hatte hier für viele – wenn auch nicht wie Fukuyama so erfolgreich behauptete ihr erfülltes Ende – so doch wenigstens mit dem Westen eine klare Ausrichtung gefunden. Wenn Frings in dem eingangs zitierten Klappentext über Schernikau schreibt, er habe sich angesichts der tausenden von DDR-Bürgern, die in der zweiten Jahreshälfte 1989 gen Westen strömten mit seinem endgültigen Umzug in die DDR gegen die Geschichte gestellt, versteht er letztere wie viele vor allem geopolitisch. Ähnli-ches gilt für Oskar Roehler, wenn er seine Protagonistin in das Nie-

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mandsland der Marzahner Betonwüste schickt und damit das Vorurteil stützt, dass vor den Segen der freien Marktwirtschaft auf dem Territo-rium der DDR keine Landschaften geblüht hätten. Diese zum Klischee herabgedroschenen Verräumlichungen der geschichtlichen Ereignisse um 1989 strukturieren bis heute wesentlich das populäre Verständnis dessen, was gemeinhin als das Ende des Kommunismus gefeiert wird. Dem entsprechen dann auch die Darstellungen derjenigen, die nicht Teil dieser Geschichte sein wollten oder konnten. Waren sie in der BRD als Schwuler oder Frau mit kommunistischer Gesinnung ledig-lich marginalisiert – d. h. wenigstens am Rande der Gesellschaft und als Grenzgänger nach drüben lokalisierbar –, wurden sie mit der Aus-dehnung des Territoriums der BRD bis an die Oder/Neiße-Grenze buchstäblich ortlos. Zum historischen Gleichnis eignen sich die Bio-grafien Schernikaus und Elsners auch nicht zuletzt deshalb, weil beide kurz nach der Vereinigung Deutschlands von der intellektuellen Landkarte verschwunden sind. So hat es auch etwas von – teils viel-leicht sogar melancholischer – Vergewisserung, dass der Kommunis-mus wirklich tot ist, wenn ihre Biografien zum zehnten bzw. zwan-zigsten Jahrestag des Mauerfalls ihre Erfolge feiern. Nicht unwichtig ist hierbei, dass es sich um Kommunisten aus dem Westen handelt und damit wenigstens im Falle von Gisela Elsner auch um eine Repräsen-tantin der westlichen linken Bewegungen, die gemeinhin mit dem Jahr 1968 in Verbindung gebracht werden. Dass mit dem Ende des Staats-sozialismus in Mittel- und Osteuropa auch deren Ende gekommen war, ist eine ebenso weit akzeptierte, wie eigentlich verwunderliche Annahme, bedenkt man die nicht selten überaus kritische Haltung der westlichen Linken gegenüber dem sowjetischen Modell.

Was Jacques Derrida 1993 an Francis Fukuyamas pseudo-hegelia-nischer Geschichtsdialektik kritisierte32, gilt in einem gewissen Maße auch hier: historische Ereignisse wie der Mauerfall, das zeitlich damit koinzidierende Ende zweier Schriftsteller, die sich der großen nationa-len Wiedervereinigungsfeier verweigerten, werden argumentativ als empirische Evidenzen für die Überlegenheit der liberal-marktwirschaft-lichen Demokratie angeführt, damit diese jedoch tatsächlich als er-reichte evolutionäre Vervollkommnung des Politischen und nicht bloß

32 vgl. Derrida, Jacques (1993). Spectres de Marx. Paris: Gallimard, 62.

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als regulative Idee bestehen kann, muss gleichzeitig jene Empirie un-terschlagen werden, die der Vorstellung der realisierten Ideale der Freiheit, Chancengleichheit und gegenseitigen Anerkennung wider-sprechen. Um diese widerspenstige Empirie zu sehen, braucht es nicht den Verweis auf die globale Spaltung zwischen der zahlenmäßigen Minderheit, die den Großteil der materiellen Werte besitzt und in überproportionaler Weise die Ressourcen dieser Erde verbraucht, und jenen Mehrheiten auf der anderen Seite der Zäune, Mauern und Gren-zen, die Europa und die USA vor dem Ansturm der als illegal ge-brandmarkten Massen schützen sollen; auch in Deutschland zweifelt kaum jemand daran, dass sich an den materiellen und lebensweltlichen Unterschieden zwischen ALG 2-Empfängern und den gut ausgebildeten Leistungsträgern der Gesellschaft auf längere Sicht wenig ändern wird.

Ob sich angesichts dieser Situation, wie Alain Badiou mit seiner kommunistischen Hypothese argumentiert, der Kommunismus ge-genwärtig nur in einer Latenzphase befindet33, werden die nächsten Jahre zeigen. Dass die Anliegen von Ronald Schernikau und Gisela Elsner noch eine gewisse Aktualität haben, zeigt neben Dietmar Daths 2009 in der FAZ erschienenen prophetisch klingenden Worten zum Werk Schernikaus („Seine Bücher verweisen auf ihn; nicht rückwärts-gewandt – sie weisen voraus. Schernikau ist unterwegs zu uns“34) eine weitere Autorin, der als sie 1969 ihre ersten Werke präsentierte von einem anonym gebliebenen Gutachter des Rowohlt-Verlages attestiert wurde:

Originell an ihrem kosmischen Sex ist allein, dass sie das Wort ‚ficken‘ ganz bedenkenlos hinschreibt – das ist einer so jungen Autorin gewiss zugute zu hal-ten. Aber im übrigen weist ihre Vorliebe für vegetative Monstrositäten, Kanni-balen und Mitesser nur wieder auf den schon bei der Elsner deutlich gewordenen Weiber-Masochismus zurück: Weil sie in der Küche nicht mehr und in der Poli-

33 vgl. Badiou, Alain (2009). Circonstances 5 L’hypothèse communiste. Paris:

Édition Lignes. 34 Dath, Dietmar (12.03.2009). „Feier der Weltzugewandtheit“. Frankfurter Allge-

meine Zeitung.

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tik noch nicht herumwühlen können, wühlen sie in den eigenen Eingeweiden und in denen anderer Leute herum.35

Tatsächlich sind die Ähnlichkeiten in Stil und Themen zwischen Gise-la Elsner und der hier verunglimpften Elfriede Jelinek nicht von der Hand zu weisen. Letztere bezeichnet sich der Elsner denn auch als „sehr nahe“ und schreibt:

in der Verzweiflung über die Verachtung des weiblichen Werks finde ich mich wieder, ein Werk, dem viele männliche Kritiker immer noch (falls sie es über-haupt wahrnehmen) gegenüberstehen wie den Zuckungen eines ihnen fremden Insekts, die sie vielleicht gerne als Ekstase der Lust interpretieren möchten, die in Wirklichkeit aber Todeszuckungen sind...36

Über die Frage, warum das Werk Jelineks heute durchaus wahrge-nommen und sogar mit dem höchsten Literaturpreis ausgezeichnet wurde, während Gisela Elsner weiterhin weitgehend ungelesen bleibt, lässt sich nur spekulieren. Möglich ist, dass eine Autorin wie Jelinek gerade wegen der fehlenden realpolitischen Alternativen tolerierbar geworden ist, in diesem Falle wäre Elsners Unzeitigkeit ironischer-weise keine Verspätung, vielleicht war sie einfach zu früh.

35 Zitiert in auf der Website der Zeitschrift Emma: http://www.emma.de/ressorts/

artikel/20-und-21-jh-deutschspr/gisela-elsner/ (Abgerufen am: 20.11.2010). 36 Jelinek, Elfriede (2009). „Ist die schwarze Köchin da? Ja, ja, ja“. Künzel, Chris-

tine (Hrsg.) (2009). Die letzte Kommunistin. Texte zu Gisela Elsner, 24.