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Fragestellungen an Theorie und Empirie der Frühpädagogik auf dem Hintergrund von Alltagsbeobachtungen im Feld im letzten Jahrzehnt Ute Müller-Giebeler Einleitung Im Folgenden werden aus der Sicht einer Person, die Veränderungen in der Praxis der Frühpädagogik in den letzten 10 Jahren in der Rolle einer Akteurin in den Jugend- hilfe- und Familienbildungsstrukturen einer westdeutschen Kommune miterlebt hat, einige Beobachtungen aus der Praxis geschildert, insbesondere von solchen die in der konkreten Praxis von ihr selbst und den Beteiligten durchaus als „problematische Si- tuationen“ wahrgenommen wurden. Es soll durch einen Einstieg in eine Sichtung von Empirie und Theorie der Frühpädagogik geprüft werden, ob diese Problemanzeigen dort Resonanz finden und ob es im Diskurs praxisrelevante Reflexionen zu diesen Problemstellungen gibt. Beobachtungen in der Praxis Diskussionen mit Erzieher_innen Die ersten beiden Beobachtungen stammen aus dem Zusammenhang von im Rahmen der Qualifizierung von Erzieher_innen für die Unterdreijährigen-Betreuung durchge- führten Fortbildungen. In einer solchen zum Thema „Kommunikation über Bedürfnisse, Konflikte und Werte mit Kindern“ nach dem Modell von Thomas Gordon unter Berück- sichtigung der Ergebnisse der Bindungsforschung und der Forschung zu feinfühligem Erzieher_innenverhalten entrang sich einer der Teilnehmerinnen der Stoßseufzer „Feinfühliges Verhalten, prozessorientiert Arbeiten, auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen – das ist utopisch! Die größeren Kinder zerre ich doch nur noch herum, heute KonLab, morgen Entenland-Zahlenland, dazwischen Agil und Griffbereit“ ... Ich kann nicht „prozessorientiert“ arbeiten, ich muss das alles durchführen und dokumentieren, angesichts unserer Personalknappheit, unseres Krankenstandes und der Fülle der sonstigen Aufgaben sind meine eigenen Zeitfenster für die Vorberei- tung, Durchführung und Nachbereitung all dieser Bildungsangebote eh total knapp, ich muss die Kinder dazu nötigen, im Notfall zwingen ... Im Übrigen müsste ich für die Durchführung vieler meiner neuen Aufgaben gründlicher geschult werden, was aber noch mehr Zeit kosten würde.“

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Fragestellungen an Theorie und Empirie der Frühpädagogik auf dem Hintergrund von Alltagsbeobachtungen im Feld im letzten Jahrzehnt

Ute Müller-Giebeler

Einleitung

Im Folgenden werden aus der Sicht einer Person, die Veränderungen in der Praxis der Frühpädagogik in den letzten 10 Jahren in der Rolle einer Akteurin in den Jugend-hilfe- und Familienbildungsstrukturen einer westdeutschen Kommune miterlebt hat, einige Beobachtungen aus der Praxis geschildert, insbesondere von solchen die in der konkreten Praxis von ihr selbst und den Beteiligten durchaus als „problematische Si-tuationen“ wahrgenommen wurden. Es soll durch einen Einstieg in eine Sichtung von Empirie und Theorie der Frühpädagogik geprüft werden, ob diese Problemanzeigen dort Resonanz finden und ob es im Diskurs praxisrelevante Reflexionen zu diesen Problemstellungen gibt.

Beobachtungen in der Praxis

Diskussionen mit Erzieher_innen

Die ersten beiden Beobachtungen stammen aus dem Zusammenhang von im Rahmen der Qualifizierung von Erzieher_innen für die Unterdreijährigen-Betreuung durchge-führten Fortbildungen. In einer solchen zum Thema „Kommunikation über Bedürfnisse, Konflikte und Werte mit Kindern“ nach dem Modell von Thomas Gordon unter Berück-sichtigung der Ergebnisse der Bindungsforschung und der Forschung zu feinfühligem Erzieher_innenverhalten entrang sich einer der Teilnehmerinnen der Stoßseufzer

„Feinfühliges Verhalten, prozessorientiert Arbeiten, auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen – das ist utopisch! Die größeren Kinder zerre ich doch nur noch herum, heute KonLab, morgen Entenland-Zahlenland, dazwischen Agil und Griffbereit“ ... Ich kann nicht „prozessorientiert“ arbeiten, ich muss das alles durchführen und dokumentieren, angesichts unserer Personalknappheit, unseres Krankenstandes und der Fülle der sonstigen Aufgaben sind meine eigenen Zeitfenster für die Vorberei-tung, Durchführung und Nachbereitung all dieser Bildungsangebote eh total knapp, ich muss die Kinder dazu nötigen, im Notfall zwingen ... Im Übrigen müsste ich für die Durchführung vieler meiner neuen Aufgaben gründlicher geschult werden, was aber noch mehr Zeit kosten würde.“

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Später entfaltete sich eine intensive Diskussion über die Arbeitsüberlastungssituation in den Einrichtungen und über die Frage, welches Modelllernen Erzieher_innen, die ihre eigenen Gefühle von Überforderung und Erschöpfung ständig übergehen müssen, bei ihren Anbefohlenen eigentlich anstoßen und inwieweit eine Person, die, typisch für Burnout-gefährdete Berufsgruppen, eigene Bedürfnisse nicht mehr spürt und annimmt, die Bedürfnisse anderer Personen spüren und akzeptieren kann. Diese letzte Diskussion entfaltete sich aus unterschiedlichen Anlässen in vielen Fortbildungsgruppen. Die zwei-te Beobachtung: In Fortbildungen, in denen aus didaktischen Gründen Untergruppen mit jüngeren, neu im Beruf stehenden Fachkräften gebildet wurden, beklagten diese wiederholt, dass sie die feinfühlige, Bedürfnisse der Kinder akzeptierende Haltung, die sie in der Ausbildung gelernt hätten, in der Praxis aus anderen Gründen als dem der Zeitknappheit nicht umsetzen könnten: Nämlich deshalb, weil in einigen Einrichtungen andere Verhaltensroutinen herrschten, die eher auf Anpassung der Kinder an Regeln hi-nausliefen („... ich nenne meine Einrichtung die „Setz-Dich-richtig-hin-Kita“ ...“) und deren Übernahme erfahrenere Kolleg_innen von den „Neuen“ erwarteten. Dokumente wie die Bildungsvereinbarung des Landes Nordrheinwestfalen „lägen zwar in der Ein-richtung herum“, genau wie das vorher die Dokumente aus dem Situationsansatz getan hätten, würden aber genauso wenig rezipiert. Von den erfahreneren Kolleg_innen wür-de lediglich bedauert, dass die Bildungsvereinbarungen weniger Freiraum ließen, die eigenen Routinen fortzuführen, als das der Situationsansatz getan hätte. Die erfahrenen Kräfte würden so zwar unter dem Druck der Beschlüsse von Land und Kommune, KJA und Abteilungsleitung pädagogische Konzepte umsetzen, sich aber nicht grundsätzlich damit auseinandersetzen.

Gespräche mit Einrichtungsleitungen

Eine weitere Beobachtung entstammt regelmäßigen Planungsgesprächen einer Pro-jektkoordinatorin aus der Familienbildung mit Kitaleitungen im Rahmen der Koope-ration zwischen Familienbildung und Kitas auf der Grundlage des Landesprogrammes Familienzentren in NRW. Sehr häufig begann ein solches Gespräch damit, dass die Einrichtungsleitung zunächst mal um die Möglichkeit bat, ihrer Frustration über ihre Arbeitssituation Ausdruck zu verleihen – die externe Projektkoordinatorin schien dafür wohl eine geeignete Gesprächspartnerin, den Mitarbeiter_innen und den eigenen Vorge-setzten gegenüber musste man wohl eher Stärke zeigen, Supervision wurde vom Träger, der Kommune, nicht finanziert. In einer Einrichtung in einem Stadtteil mit besonderem Erneuerungsbedarf etwa häuften sich die Probleme, mit denen sich die Leitung zur glei-chen Zeit konfrontiert sah, an einem Tag z.B. so: • Massive Veränderung des Stadtteils durch Vermietung der nichtrenovierten maroden

Sozialwohnungen im Viertel durch ein großes internationalen Immobilienunterneh-men an Migrant_innenfamilien mit westafrikanischem Hintergrund, die die Hälfte

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der Elternschaft der Kita stellen (Sprachbarrieren, geschlechtsspezifische Akzep-tanzprobleme für die Leitung)

• Anstieg der Zahl als „verhaltensauffällig“ deklarierter Kinder ohne die Möglichkeit der Bewilligung einer 1:1-Betreuung

• Neuerliche Umstellung der Arbeit der Einrichtung wieder weg vom offenen Ansatz auf Gruppenarbeit, Neueingewöhnung der Kinder, Reorganisation

• Aufbau der Unterdreijährigen-Betreuung in der Einrichtung inklusive baulicher Umbaumaßnahmen

• Verordnete Teilnahme am Programm „Flexible sozialraumorientierte Familienbil-dung in Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf“ und am „Landesprogramm Familienzentren“ inklusive der Absolvierung eines aufwändigen Zertifizierungsver-fahrens

• Umsetzung einer Fülle gerade in der Stadt kursierender Förderprogramme und früh-pädagogischer Bildungskonzepte, auf deren Durchführung bildungsnahe Eltern aus den Einfamilienhäusern, die mit dem restlichen Stadtteil unverbunden am Rande der Siedlung ebenfalls vorhanden waren, drängten, zugleich mit dem Wunsch nach längeren Öffnungszeiten, da in dieser Elterngruppe in der Regel beide Eltern berufs-tätig waren, bzw. immer kürzere Elternzeiten genommen wurden.

• Qualifikation der Mitarbeiter_innen für die U3-Betreuung, für die Arbeit mit den Beobachtungsbögen und für diverse Frühdiagnostiken und Prophylaxe-Programme

• Schlechter Personalschlüssel aufgrund einer ungünstigen Situation im Zusammen-hang mit den im Kinderbildungsgesetz des Landes NRW festgelegten Pauschalen (das KiBiZ wird von Einrichtungsleiterinnen in NRW häufig als Spargesetz be-wertet)

• Hoher Krankenstand im Team, Klagen der Mitarbeiter_innen über Überforderung und Überlastung, Konflikte und Mobbing im Team, hohe Erwartung an die Leitung, Abhilfe zu schaffen, Ohnmachtsgefühle derselben

Austausch mit Referentinnen aus Eltern-Kind-Gruppenarbeit und Elterntrainings

Die nächste Beobachtung verdankt sich Schulungen und kollegialen Beratungen mit Leiter_innen von Eltern-Kind-Gruppen für die ersten Lebensjahre sowie Elternkom-petenztrainings. und Die Gruppenleiter_innen berichteten, dass sich für ihre Wahrneh-mung in den letzten Jahren eine Einstellungsveränderung bei den Eltern zeigt. Die Teil-nehmer_innen dieser Elterngruppen kamen im Gegensatz zu denen in den Sozialräumen eher aus der bildungsnahen Mittelschicht. Sie sind zunehmend besorgt, ob ihr Kind sich richtig entwickelt und ob sie es ausreichend fördern. Die Nachfrage nach der Vorverle-gung früher Förderungsangebote (z.B. Musikerziehung bereits ins 2. Lebensjahr) steigt. Die Erwartung der Eltern an kognitive Förderangebote in Kitas steige, die Referent_in-nen berichten, dass Eltern mit ausreichendem Einkommen die Anmeldung ihrer Kinder in den ersten privatwirtschaftlich betriebenen Kitas der Region erwägen, die mit Eng-

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lisch- und Französisch-Unterricht und akademisch qualifiziertem Personal (!) werben und etwa 800 € Gebühr im Monat kosten. Zugleich hätten die Eltern hohe Erwartungen an die frühe Selbstständigkeit und Mithilfe von Kindern in der Familie. So wurde von einer Diskussion berichtet, ob ein Zweijähriger nicht schon ohne Aufforderung seinen Teller in die Spülmaschine stellen könne. Die Situation in den Familien ändere sich dahingehend, dass beide Eltern frühzeitig wieder arbeiteten und die Erwartung an die Kinder, so die Wahrnehmung der Gruppenleiterinnen, dabei nicht allzu sehr zu stören, früh in einem durchrationalisierten Familienalltag mit zu funktionieren, sei hoch.

Gespräche mit Fortbildungsanbietern

Eine letzte Beobachtung soll berichtet werden aus Gesprächen einer freiberuflichen Re-ferentin mit Leitungen von Trägern und Anbietern von Fortbildungen von Erzieher_in-nen. Es ging darum, dem Jugendamt Fortbildungen zum Thema „Kita als Bildungsort – die Bedeutung dialogisch entwickelnder Interaktionsprozesse“ anzubieten. Die Trä-gervertreterinnen waren an dem Konzept interessiert, brachten aber zum Beispiel fol-genden Einwand vor:

„Wir können den Erzieher_innen nicht noch ein zusätzliches Fortbildungsthema präsentieren. Sie sind erstens sowieso schon total überfordert mit den aktuellen Um-strukturierungen, Neukonzeptionierungen, gesetzlichen Veränderungen, Dokumen-tationsanforderungen, Abrechnungserfordernissen, Zertifizierungsanforderungen, Umbaumaßnahmen und bereits laufenden Fortbildungsprogrammen. Außerdem, und das erscheint uns noch gravierender, fühlen sie sich durch die reine Quantität der Themen, zu denen sie plötzlich nachgeschult werden sollen, in ihrer bisherigen Arbeit und Kompetenz stark entwertet und sind nicht mehr bereit, sich von einer weiteren Expertin belehren zu lassen, sich erzählen zu lassen, dass sie – mit ihrer langjährigen Praxiserfahrung – bisher nicht wussten, wie man bildungs- und ent-wicklungsfördernd mit Kindern umgeht.“

Bündelung dieser Beobachtungen im frühpädagogischen Alltag zu Fragestellungen an den Diskurs

Die Praktikerin wendet sich nun unter dem Eindruck dieser von ihren Teilnehmer_innen als problematisch wahrgenommenen Situationen dem Fachdiskurs zu: Finden sich in Theorie und Forschung Belege dafür, dass diese Beobachtungen nicht untypische Einzel-fälle betreffen, sondern tatsächlich Ausdruck von Entwicklungen und Problemstellungen in Pädagogik und Gesellschaft sind? Die Fragen sind im Einzelnen: Bestätigt die For-schung, dass sich der Alltag in den Kitas durch eine Veränderung der Zeitstruktur (we-niger Freispiel, mehr angeleitete, unterrichtsähnliche Aktivitäten) und durch eine Ver-mehrung von instruktivem statt responsivem Verhalten der Erzieher_innen gegenüber den Kindern kennzeichnet? Sind die neuen frühpädagogischen Konzepte tatsächlich ins-

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truktionspädagogische Konzepte, die die jahrelang an Fach- und Hochschulen gelehrte (Stichwort: Situationsansatz) Kind-, Bedürfnis- und Prozessorientierung in der Arbeit in Frage stellen? Wurde der an den Schulen gelehrte und in der Jugendhilfe beschlossene Situationsansatz aber vorher überhaupt umgesetzt? War das Verhalten der Erzieher_in-nen auf der Grundlage des Situationsansatzes tatsächlich responsiver? Oder war es aus anderen Gründen (professionelle Routinen, institutionelle Traditionen) genauso instruk-tiv wie es jetzt aus Gründen der Wissensvermittlung ist? Hat sich die Arbeitssituation der Erzieher_innen verändert? Sind die Anforderungen gestiegen, sind gar Überforderungen durch einen sehr hohen Veränderungsdruck (Strukturen, Konzepte, Programme, Verfah-ren) und massive Arbeitsverdichtung zu beobachten? Gibt es ein „Angriff der Expert_innen auf die Kita“ und eine Infragestellung der Kompetenz von Erzieher_innen? Hat sich die Umwelt der Einrichtungen verändert? Haben die Einrichtungen mehr soziale Verwerfungen in ihren Vierteln zu verarbeiten? Hat die Elternschaft sich in ihren Erwar-tungen und ihrem Verhalten verändert? Wird die Arbeit in den Einrichtungen durch neue Steuerungs- und Finanzierungsmodelle in den Kommunen unter dem Strich schlechter finanziert? Und schließlich: Sollte der Diskurs bestimmte Tendenzen und Problematiken identifiziert haben, findet sich dort auch „das Rettende“, werden diese Probleme reflek-tiert? Gibt es handlungsorientierende Anregungen?

Thematisiert der Diskurs die beobachteten Probleme?

Einigen Fragen aus der Fülle der hier aufgeworfenen soll in der Folge nachgegangen werden:

Ist Instruktion in der Frühpädagogik das Gebot der Stunde?

In Bezug auf die aktuelle Reform der Kitaerziehung werden wesentlich der Selbst-bildungsansatz und der Ko-konstruktive Ansatz. folgende frühpädagogische Ansätze markiert und diskutiert. Vertreter des Selbstbildungsansatzes werfen Vertretern des ko-konstruktiven Ansatzes ein „Bildungsverständnis, das vorwiegend durch den Erwerb von Kompetenzen in institutionalisierten und systematisch strukturierten Lernarrange-ments – also ... Instruktionsvorstellungen geprägt ist“ (Schäfer o.J.) – vor. Diesen An-sätzen wird ein eklatanter Widerspruch zwischen der Errichtung pädagogischer Ideale in theoretischen Bekenntnissen zum Individuum, zur Differenz, zur Postmoderne und zum Konstruktivismus, zur Selbsttätigkeit des Kindes einerseits und der praktischen Umsetzung dieser Vorschläge etwa im bayerischen Bildungsplan in Form trivialer Ins-truktionspädagogik, in der kindliche Tätigkeit den Vorschlägen der Erwachsenenwelt anverwandelt wird andererseits vorgeworfen (a.a.O, S. 6). In inklusionspädagogischen Schriften wird besorgt angemerkt, dass der ko-konstruktive Ansatz frühkindliche Ent-wicklung als Affektentwicklung aus dem Auge verliert zugunsten adultomorphistischer Konzepte rein kognitiver Aneignungsprozesse (Gerspach & Naumann 2010). Im An-

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Notiz
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schluss an eine Kritik der Verschulung von frühkindlichen Bildungsprozessen werden methodisch didaktische Vorschläge entwickelt, die die Didaktik der Bildungsbereiche nur nachrangig thematisieren und vor allem auf eine Pädagogik-Didaktik des Modells, des indirekten Handelns, des Dialogs und schließlich der Bildungsbereiche setzen (Liegle 2008), bzw. es wird anstelle von nach kognitiven Themen strukturierter Bil-dungspläne eine neue Reflektion der Frühpädagogik als einer Pädagogik der Selbstbil-dung in Verständigung, der Bildung der Sinnlichkeit, des Spiels und der pädagogischen Beziehung gefordert (Gerspach & Naumann 2010). Vermittelnde Positionen beschrei-ben als günstige Interaktionsform für kognitives Lernen das sustained shared thinking (Siraj-Blatchford et al. 2002, referiert nach König 2006) dass sich auf reziproke Hand-lungsformen stützt und als „bewusst dialogisch entwickelnde Denkprozesse“ (König 2007, S. 15) übersetzt und weiterentwickelt wird. Es gehe um die Herstellung einer ent-wicklungsfördernden „sensiblen Interaktionskultur“ (König 2006, S. 129), in der es für die Erzieher_innen darum geht, die bisherigen Freispielanteile nicht mit schulförmigen Pflichtveranstaltungen zu füllen, sondern in diesen Zeiten prozess- und kindorientiert in eine von emotionaler Annahme getragene stärkere Responsivität (Stremmel & Fu 1993, referiert nach König 2006) zu treten, sich in die peerinteraktion involvieren (Wilcox-Herzog & Ward 2004, referiert nach König 2006) zu lassen, teachable moments (Hyun & Marschall 2003, referiert nach König 2006) zu erfassen und mit Hilfe eigener Fähig-keiten zu sustained shared thinking und zu scaffoldingprozessen (Wood et al 1976) auf der Grundlage einer noch auszuarbeitenden Handlungsdidaktik jungen Kindern kompe-tent bei der Aneignung von Welt zur Seite zu stehen. Es gäbe Belege dafür, dass direkte Instruktion den Lernprozess von Kindern behindert, Ängste bei ihnen auslöst und das Selbstbewusstsein einschränkt (Sylva & Nabuco 1996, referiert nach König 2006). Ver-treter des ko-konstruktiven Ansatzes kritisieren, wie der Selbstbildungsansatz Chancen, frühkindliche Lernpotentiale durch altersgerechte Bildungsangebote zu entfalten, sys-tematisch verpasst (Fthenakis u.a. 2007), und beschreibt es als Verantwortung qualifi-zierter pädagogischer Arbeit, Kinder in ihrer Auseinandersetzung mit der Welt und mit dem Hineinwachsen in die konkrete Gesellschaft und Kultur, in der sie leben, und das sei eben die Postmoderne und die Wissensgesellschaft, nicht alleine zu lassen, ihnen in den für die Entwicklung der als Voraussetzungen und Grundlagen für die Schulfähigkeit erforderlichen Schlüsselqualifikationen, lernmethodischen Kompetenzen und metakog-nitiven Fähigkeiten entscheidenden frühkindlichen Phasen, Unterstützung und ja, auch Anstoß und Anleitung anzubieten (Kunze & Gisbert 2007). Die höhere Aktivierung von Kindern in direktiven Interaktionen gegenüber denen im Rahmen eines rein responsi-ven Erzieher_innenverhaltens wird als Beleg für die höhere Effektivität eines moderat lenkenden Interaktionsverhaltens gewertet. (Mahoney & Wheeden 1999, referiert nach König 2006). Von anderen wird noch mal besonders das Bedürfnis nach sicherer Bin-dung als das kindliches Grundbedürfnis und Voraussetzung für die Bewältigung aller altersgemäßen Entwicklungsaufgaben beschrieben (Becker-Stoll 2008). Der Situations-ansatz wird gewürdigt, aber wenn nicht als überholt, dann als erneuerungs- und weiter-entwicklungsbedürftig beschrieben (Kunze & Gisbert 2007, S. 36ff).

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Notiz
beschreiben

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Hat sich der Alltag in den Kitas verändert?

Tatsächlich wurde bereits eine Fülle von konkreten neuen frühpädagogischen Konzep-ten entwickelt, Veränderungen auf den Weg gebracht, und in die frühpädagogische Pra-xis implementiert oder dieser angeboten und mit den frühpädagogischen Einrichtungen realisiert, top down – gebremst natürlich durch die kommunal und subsidiär organisierte Anbieter- und Trägerlandschaft in der Frühpädagogik – in Form von Bundes- und Lan-desgesetzen, Projektprogrammen und Bildungsplänen bzw. – mehr auf Augenhöhe wie z.B. in NRW – durch den Abschluss von Bildungsvereinbarungen, bottom up durch die Eigeninitiative von Kitaträgern, Bildungsträgern, Themenanwälten und Forschungs-gruppen1, die sich je für ihre Einrichtungen / Themen den Herausforderungen des neuen Bildungsanspruches an die Elementarpädagogik stellten.

Hat sich das Verhalten von Erzieher_innen in Richtung Instruktion verändert? (Wurde der nichtinstruktive Situationsansatz umgesetzt?)

Die Erziehungsstilforschung in den Siebzigern hat auf der Grundlage von Ratings an-hand der Dimensionen Autonomie/Kontrolle und Emotionale Wärme/Kälte das Sozial-klima in den Einrichtungen als von Restriktion und Unfreundlichkeit geprägt kritisiert (vgl. Tausch & Tausch 1991). In der aktuellen Erforschung der allgemeinen Kinder-gartenpraxis wurde erhoben, welchen Anteil von der Erzieherin bewusst geplante Inter-aktionen, Übergangssituationen und Freispiel im Kindergartenalltag einnehmen (Tietze u.a. 1998). Der Anteil bewusst geplanter Interaktionen wurde dabei mit 13% gemessen, der des Freispiels mit 58%. Die in Bezug auf den schmalen Anteil Erzieherin-Kind-Interaktion am Tagesablauf in der Kita erhobene Qualität dieser Interaktionen wird als durch Anweisungen und Informationen dominiert beschrieben (a.a.O.) und als aus der Sicht der Kinder völlig selbstverständlich durch die Ezieher_innen dominiert (Roux 2002). Die Interaktionsforschung verweist des Weiteren darauf, dass der Zusammen-hang zwischen Konzepten, Programmen und Curricula zu Einstellungen und Überzeu-gungen der Erzieherinnen zwar hoch, zum tatsächlich beobachtbaren Erzieher_innen-verhalten aber schwach ist und nimmt dagegen einen Faktor wie den Ausbildungsgrad der Erzieherinnen als wesentlich für qualitative Merkmale der Interaktion in den Blick.

1 Um aus der Fülle nur die zu nennen, die die Autorin in den letzten Jahren selbst beobachtet hat: Implementierung von KonLab (Penner), Entenland-Zahlenland (Preiss), diversen Sprachförder-programmen für Kinder mit Migrationshintergrund (Rucksack, Griffbereit der RAA), diversen Bewegungs- und Ernährungskonzepten, diverse Angebote der frühen Musikpädagogik, Selbstbe-wusstseinstrainings, Gestaltung der Übergänge (z.B. Kitastart der Landesarbeitsgemeinschaften der Familienbildung in NRW, PEKiP (Koch) und Emmi-Pickler-Gruppen in Kitas im Rahmen von Familienzentren usw., Modellprojekte wie INFANS etc. gar nicht zu nennen

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Gibt es einen „Angriff der Expert_innen“ auf die Kita?

Spätestens seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird – nach der Bildungsdebatte und den darauf folgenden Bildungsreformen in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts – eine neue lebhafte Debatte um Bildung und Erziehung in der Kindheit geführt, in der Früh-, Schul- und allgemeinen Pädagogik, aber durchaus auch in der Öffentlichkeit, in der Politik und im Feuilleton. Ausgelöst durch den Schock über die Ergebnisse der PISA-Studie (OECD 2001) mit ihren schlechten Ergebnissen für das Lese – und Textverständ-nis, aber auch für die Problemlöse- und Sozialkompetenz deutscher Sekundarschüler und -schülerinnen im internationalen Vergleich, die Erkenntnisse über die weiterhin stark stratifizierende Wirkung des deutschen Schul- und Bildungssystems, das Bildungschan-cen nach Schichtzugehörigkeit und Migrationsstatus zuteilt, die Ausrufung der Bundes-republik zur Bildungsrepublik und Wissensgesellschaft im Konkurrenzkampf um inter-nationale Investoren im globalisierten Kapitalismus, die Publizierung neuerer Ergebnis-se der Neurowissenschaften (z.B. Spitzer 2002) mit ihren Beschreibung phänomenaler und sich bereits vor Schuleintritt unwiederbringlich wieder schließende “Fenster“ in der Gehirnentwicklung für die Entwicklung sprachlicher und mathematischer „Vorläufer-fähigkeiten“ (z.B. Knievel, Daseking, Petermann 2010), geriet, obwohl vergleichende Studien über die Qualität der pädagogischen Arbeiten in Kindergarten (Tietze 1998) und Grundschule (IGLU) zu durchaus besseren Ergebnissen als die Evaluierung der Sekun-darstufe gekommen sind, auch und besonders die Elementar-/Vorschul-/Frühpädagogik in den Focus. Der Ruf nach der Aufwertung, Höherqualifizierung und Akademisierung (Moss 2004) des Erzieher_innenberufes erklang auf diesem Hintergrund, und die Ent-wicklung und Einführung von Studiengängen Bildung und Erziehung in der (frühen) Kindheit an Fach- und pädagogischen Hochschulen, gar die Neugründung entsprechen-der Fachhochschulen erfolgte auf dem Fuße, der Umbau der Hochschullandschaft im Zuge des Bologna-Prozesses, der auch ein Produkt unter anderem der neuen Bildungs-debatte war und mit dem Bachelorabschluss einen Abschluss bereitstellte, der außer der internationalen Durchlässigkeit von tertiärer Bildung den Praxisbezug in anwendungs-orientierten Fächern erhöhen sollte, bzw. die Hochschulbildung generell in Richtung einer stärkeren Anwendungs- und Verwertungslogik veränderte, spielte einer solchen Entwicklung zu.

Sind Erzieher_innen überfordert?

Auch die von der Praktikerin zusammengetragenen Beobachtungen über die Belastungs-situation der Erzieherinnen erfahren durchaus Aufnahme in die Diskussion – die Über-lastung der Erzieherinnen und die Notwendigkeit einer Veränderung dieser Situation als Grundvoraussetzung für die Umsetzung anspruchsvoller elementarpädagogischer Re-formen in der Praxis wird thematisiert und eine Verbesserung der Rahmenbedingungen gefordert (Bruendel & Hurrelmann 2012). Das Burnout-Risiko wird für Erzieherinnen wie für die meisten sozialen und pädagogischen Berufe als erhöht beschrieben (Rudow

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2004). Gewerkschaftliche Stellungnahmen weisen explizit auf die Erhöhung der Be-lastung für Kitaerzieher_innen durch die Bildungspläne der Länder und den erhöhten Fortbildungsbedarf in den letzten Jahren hin2.

Hat sich die Umwelt der Einrichtungen verändert?

Auf diesen letzten Fragenkreis lässt sich hier aus Zeit- und Platzgründen nur ganz knapp und eklektizistisch eingehen:

Hat die Elternschaft sich in ihren Erwartungen und ihrem Verhalten verändert? Die von den Praktikerin bei den Eltern aufgrund der gesellschaftlichen Veränderungen konstatierte Angst, die möglicherweise dazu führt, Kinder möglichst frühzeitig fit für die globalisierte Konkurrenz um Arbeitsplätze machen zu wollen, taucht in der Fürspra-che für eine affektfreundliche Erziehung beispielsweise mit dem Argument auf, dass nicht nur Eltern, sondern die gesamte frühpädagogische Diskussion von verdrängten und projizierten Ängsten der erwachsenen Gesellschaftsmitglieder in Bezug auf ihre eigene Existenz unter Flexibilitäts-, Mobilitäts- und Konkurrenzdruck bei Rückbau der sozialen Systeme geprägt ist und das sie ihre eigene Reaktion – zugunsten besserer Funktionsfähigkeit die eigenen Gefühle nicht mehr zu fühlen – in die Überformung und Ignoranz gegenüber widerspenstigen kindlichen Gefühlen und Affektentwicklungspro-zessen umsetzen (Gerspacher & Naumann 2010).

Wird die Arbeit in den Einrichtungen durch neue Steuerungs- und Finanzie-rungsmodelle in den Kommunen unter dem Strich schlechter finanziert? Die Frage ob die neuen Kindertagesstätten-Gesetze mit ihren kindbezogenen Pauscha-len die Finanzierung der Einrichtungen verschlechtern, wird in den Ländern intensiv diskutiert. Für die soziale Arbeit im Ganzen wird gefragt, wie sich Steuerungskriterien unter den Bedingungen der Ökonomisierung verändern (Deller 2012). Die Systemtheo-rie vermutet für das soziale System, dass sich systemspezifische Leitdifferenzen und gesellschaftliche Funktionen unter dem Druck von Mittelverknappung im Kontext von Sozialabbau und New Public Management möglicherweise unter der Hand von denen, die für Erziehung gelten (vermittelbar/nicht vermittelbar, Förderung, Integration) in die des ökonomischen bzw. des administrativen Systems verwandeln (bezahlbar/nicht be-zahlbar, durchsetzbar, nicht durchsetzbar) oder zumindest das System seine System-grenzen restitutiert (Lenzen 1999), das heißt, das im Erziehungssystem Selektion als Funktion an die Stelle von Förderung und Sozialisation tritt, wie die Systemtheorie es als häufig vorkommende Handlings-Strategie funktionaler Teilsysteme unter der Bedin-gung von Mittelknappheit beschreibt.

2 http://www.tvbvideo.de/video/iLyROoafJvYq.html, Zugriff am 17.06.2013.

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Haben die Einrichtungen mehr soziale Verwerfungen in ihren Vierteln zu verarbeiten?

Auf die weiteren Fragestellungen nach Veränderung der Umwelt der Kitas kann hier aus Platzgründen nicht mehr ausführlich eingegangen werden. Lässt sich eine höhere Zahl als „verhaltensauffällig“ deklarierter Kinder bestätigen? Ist dies auch eine Auswirkun-gen sozialer Veränderungen? Wie wirken sich Veränderungen in Stadtvierteln auf die Kitas aus? Das sind Fragen, auf die hin der Diskurs noch gesichtet werden müsste.

Gibt der Diskurs Handlungsanregungen?

Es konnte hier nicht in Bezug auf alle Beobachtungen den empirischen und theoreti-schen Zusammenhängen, in denen sie möglicherweise aufgegriffen werden, ausführlich nachgegangen werden. Einige der zusammengetragenen Einzelbeobachtungen finden aber in der Diskussion Resonanz und sind insofern möglicherweise als relevante Beob-achtungen qualifiziert. Vieles wird in spezifischen Diskursen thematisiert und entspre-chend – auch in Bezug auf mögliche Handlungsspielräume – reflektiert. Zumindest wer-den Forderungen nach Veränderung oder der Modifikation von Veränderungsprozessen gestellt. So wird, wie dargestellt, je nach bildungstheoretischer und -politischer Position „mehr instruktive Pädagogik“ – oder zumindest die Aufgabe „des heutigen Status eines eher informellen Lernumfeldes“ und stattdessen der Aufbau von „Strukturen … die ef-fizientes Lernen ermöglichen“ (Kunze & Gisbert 2007, S. 23) in der Kita entweder begrüßt oder kritisiert, es wird Entlastung und mehr Anerkennung für Erzieher_innen gefordert, in der Fortbildungslandschaft werden Konzepte, die die vorhandenen Kom-petenzen von Fachkräften nicht entwerten, sondern anerkennen und als Ressource in den Reformprozesses integrieren, entwickelt (DJI 2011), Konzepte von Kitas als Orte von Elternarbeit und sozialräumlicher Arbeit in den Stadtvierteln werden entwickelt und umgesetzt (z.B. das an die early excellence-center angelehnte Familienzentren-Konzept des entsprechenden Landesprogrammes in NRW), die Notwendigkeit fachlicher Steue-rungskriterien trotz knapper Kassen und Ökonomisierung des Sozialen wird deutlich gemacht (Wohlfahrt, o.J.).

Weiterführende Überlegungen: Könnte anders handeln zunächst mal anders denken bedeuten?

Was bisher noch nicht deutlich wurde ist, ob es einen theoretischen Ansatz gibt, in des-sen Kontext die Einzelbeobachtungen als Teil eines Gesamtbildes erscheinen würden. Eine vielversprechende Denk- und Forschungsrichtung scheint hierzu die neue sozial-wissenschaftliche Kindheitsforschung (Honig 1999) zu sein, die Kindheit als gesell-schaftlich hervorgebrachten Teil einer generationalen Ordnung und als konstitutiv für

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die Sozialstruktur der sich wandelnden modernen arbeitsteiligen kapitalistischen Ge-sellschaft, als für die Formierung und den Wandel gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsprozesse genauso grundlegende Kategorie wie Schichtzugehörigkeit und geschlechtsspezifische Arbeitsteilung (Alanen 2005) theoretisch fasst und als mit diesen genauso eng verwoben (Bühler-Niederberger 20122, S. 199ff). Auf der Grundlage die-ses Ansatzes erscheint es möglich, die Veränderungen in Kitas als Veränderungen von Kitas als Form der Institutionalisierung der generationalen Ordnung in ihrem aktuellen Wandel im Kontext veränderter gesellschaftlicher Produktionsformen (Ausbeutung von Humankapital3 im Kontext deregulierter Märkte), veränderter Reproduktionsformen (Veränderung der geschlechtlichen Arbeitsteilung, Ende der male breadwinner family, Honig 2001), veränderter Integrationsformen (Individualisierung, Entsolidarisierung der Lebenswelt, Gaitanides 2000) und sozialpolitischer Weichenstellungen (vom Welfare zum Workfare-Staat – Wohlfahrt 0.J., Neoliberalisierung und Privatisierung von Dienst-leistungen) zu beschreiben und aktuelle Situationen in Kitas, auch auf dem Hintergrund der historischen Beschreibung der Veränderung von Sozialisationsprozessen mit Elias, Aries und Foucault als Zeichen für einen Wandel, einen Übergang (Beck 1994, Bühler-Niederberger 2011, S. 218) von der noch Kollektive kennenden Disziplinar- zur hoch-gradig individualisierten Leistungsgesellschaft (Ehrenberg 2008), zur „Müdigkeitsge-sellschaft“ (totale Selbstverantwortung / -verwirklichung4 und das Scheitern daran, Han 2013) zu lesen. Schlecht bezahlte, nicht ausreichend oder einseitig qualifizierte, über-forderte Erzieher_innen, mit in den Strukturen des New Public Management unlösbaren (Gaitanides 2000, S. 129) Organisationsaufgaben in unterfinanzierten Einrichtungen in Stadtteilen im sozialen Umbruch alleingelassene Kitaleiter_innen, pädagogische und bildungspolitische Diskurse im Widerstreit zwischen politisch-pragmatischer Affirma-tion im Dienste der postmodernen Wissensgesellschaft und Ringen um Bildung und Entwicklung als Eigensinn und in kritischer Transformation gesellschaftlicher Ansprü-che mit ihren Auswirkungen auf die Verdichtung der Arbeit in den Kitas im Kontext eines auf stärkere Anwendungs- und Verwertungslogik im Sinne der Nutzung von Hu-manressourcen ausgerichteten Umbaus des europäischen Hochschul- (Masschelein & Simon 2012), Bildungs-, Ausbildungs- und Weiterbildungsraums, Eltern in Panik um

3 Vgl. z.B. Kunze & Gisbert 2007, S. 25: „Der Wissenseinsatz leistet schon heute einen Beitrag zum gesellschaftliche Wertschöpfungsprozess, der nach Miegel (2001), bezogen auf die ganze Volkswirtschaft, höher liegt als der Einsatz jeder anderen Ressource. Seiner Kalkulation folgend könnte schon heute in Ländern wie Deutschland ein Drittel der Arbeitnehmerschaft schlagartig freigesetzt werden, wenn alle derzeit vorliegenden Wissens- und Erkenntnisstände produktiv ge-nutzt würden. Im Zusammenhang mit der Wissensgesellschaft erscheint Miegel deshalb der „Be-griff der gesellschaftlichen Revolution nicht zu hoch gegriffen“ (S. 210). Die Besonderheit dieser neue Ressource liegt darin begründet, dass Wissen eine vom Menschen geschaffenen Ressource darstellt: „Der Mensch greift also – metaphorisch gesprochen – nicht in seine Umwelt ein, son-dern in sich selbst. Er selbst ist der Rohstoff, der wertschöpfend verarbeitet wird“ (Miegel, 2001, S. 208).“

4 Wirklich im Dienste des Subjekts? Wer bekommt den Mehrwert der aufgrund der Imagination von „Selbstentfaltung“ gesteigerten Produktivität?

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die eigene gesellschaftliche Anschlussfähigkeit und die ihrer Kinder und in tendenziel-ler Überforderung angesichts der Notwendigkeit der gleichzeitigen Bewältigung von Beruf und Familie unter Bedingungen von Individualisierung und Entsolidarisierung – das sind Beobachtungen, die in einer solchen Analyse ihren Platz und ihre Bedeu-tung bekämen. Auf dieser Grundlage könnte dann auch die Reflexion der aufgeführten Beobachtungen und der dahinterstehenden Problematiken sowie die Diskussion über Handlungsspielräume substanziell geführt werden. Das erste, was Praktiker_innen im Umgang mit den thematisierten Problemen anders machen könnten, wäre dann mög-licherweise anders denken – die Kita begreifen als Ort, in dem Bruchlinien einer Fülle gesellschaftlicher, sozialer, politischer Veränderungsprozesse sich kreuzen, und die Fra-ge nach ihrer eigene Position und Funktion in dieser Struktur im Kontext dieser Verän-derungsprozesse stellen. Die Veränderung der generationalen Ordnung, die Erosion der Erziehungskindheit (Honig 1999, S. 143ff) zeigt schillernde Facetten. Hengst (2003) trägt vor, wie die Durchdringung der modernen Kinderkultur mit Markt- und Konsum-prinzipien die Unterscheidung Kind-Erwachsener auflöst. Die Frage ist, ob dies tatsäch-lich zur politischen Partizipation der Kinder beiträgt – oder sie vielmehr in dem Sin-ne Erwachsenen gleichstellt, dass sie wie diese verfügbarer werden als Humankapital. Honig diskutiert diese Ambivalenz des Akteurs-Begriffes (Honig 2001, S. 119) in der Kindheitsforschung.5 Jedenfalls: Sollte die gesellschaftliche Entwicklung tatsächlich, wie Honig postuliert, zu jener Erosion der Erziehungskindheit führen, wäre der „Angriff der Expert_innen“ auf die Kita und der Versuch, über Bildungspläne und Ko-Konstruk-tion die Kita als Ort der Zurichtung des Individuums für die individualisierte postmo-derne Leistungsgesellschaft zu installieren, aber wohl als letzter Versuch, Heranwach-sende mit Hilfe eines schon überholten Verfahrens der Disziplinierung/Scolarisierung zum Zwecke der Produktivitätssteigerung zu überwältigen, anzusehen. Honigs Emp-fehlungen für pädagogisches Handeln in Kitas (Honig 2001, S. 123ff) laufen auf diesem Hintergrund auf eine Abkehr von Instruktion, auf eine Pädagogik der Perspektivenüber-nahme, der Schaffung von Gelegenheiten und kommunikativen Prozessen für Chancen von Individuierung in ihrer nichtnormierbaren und nicht berechenbaren Besonderheit hinaus, auf einen Qualitätsbegriff für die Arbeit in Kitas, der das Kriterium beschreibt, „das den Selbstbildungsaspekt der neuen Rolle des Kindes ausdrückt (a.a.O., S. 123)“, Selbstbildung in einer flexibilisierten generationalen Ordnung.

5 Mit Habermas (1987) könnte man vielleicht fragen: Ist die Modernisierung der Kindheit, die Veränderung der generationalen Ordnung ein Ergebnis des fortlaufenden Reflexivwerdens der lebensweltlichen Strukturkomponente Person oder ein Teil der Rationalisierung des Wirtschafts-systems im Zuge der Produktivitätssteigerung? Ist sie Teil einer neuen Form zweckrationaler „Kolonisierung der Lebenswelt“ oder Ausdruck wertrationaler Weiterentwicklung derselben?

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