zwischen wunsch und wirklichkeit. prozesse beruflicher orientierung im letzten schuljahr an haupt-,...

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1;- ;. Prof. Dr. Günter Kutscha Uni Duisburg-GH-wereich - --

* ',ma.mmlI Lotharstr. 65 47057 Duisbui - I

Themen

Klaus Birkelbach

Anhand einer Befragung von über 2 000 Haupt-, Real- und Gesamtschülern im Verlauf der 10. Klasse werden As- pekte des Entscheidungsprozesses zwischen der Aufnahme einer Berufsausbildung und einem weiteren Schulbesuch untersucht. Dabei wird gezeigt, wie die schwierige Situation auf dem Ausbildungsstellenmarkt im Schuljahresverlauf zunehmend das Entscheidungsverhalten beeinflusst und viele Jugendliche, die lieber eine Berufsausbildung im dua- len System absolvieren würden, notgedrungen weiter zur Schule gehen. Dies betrifft - wenn auch in unterschiedli- chem Maae - alle aufnehmenden Schulen und bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Motivation der Schülerinnen und Schüler.

1 Fragestellung und Datenbasis

Im Zentrum der nachfolgend berichteten Ergebnisse ste- hen Aspekte beruflicher Orientierungsprozesse von Schü- lerinnen und Schülern am Ende der Sekundarstufe I an Haupt-, Real- und Gesamtschulen. Dabei wird Berufsori- entierung als ein fortwährender Prozess verstanden, der sich in Interaktion der Jugendlichen mit ihren verschiede- nen Umweltebenen entwickelt, und in dessen Verlauf die Schülerinnen und Schüler einerseits ihre Wünsche und In- teressen mit den eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen verknüpfen sowie andererseits beides mit den Anforde- rungen und dem Bedarf der Arbeits- und Berufswelt ab- stimmen müssen. Die folgenden Ausführungen sollen schlaglichtartig einige Facetten der schulischen Berufs- orientierung und des Berufswahlprozesses aus der Sicht der Betroffenen beleuchten. Dabei wird betrachtet, wie sich die Pläne hinsichtlich der Einmündung ins Berufs- leben entwickeln. Ist schon eine Entscheidung gefallen, ob sie weiter zur Schule gehen oder eine Berufsausbil- dung anstreben? Beide Optionen werden anschließend ge- trennt untersucht. Bei der Option ,,Berufsausbildung" wird der Frage nachgegangen, ob es sich um eine schuli- sche oder um eine duale Berufsausbildung handelt und wie die Chancen in dem angestrebten Beruf eingeschätzt werden. Bei der Option ,,Schulec' wird zunächst gefragt, um was für eine Schule es sich handelt. Anschließend wird untersucht, inwieweit der Schulbesuch aus Sicht der Schülerinnen und Schüler nur eine zweite Wahl auf Grund gering angenommener Chancen am Ausbildungsstellen- markt darstellt.

hinreichend vertraut und durch das verwendete Medium zusätzlich motiviert. Darüber hinaus bietet eine Online- Befragung alle Vorteile einer elektronischen Befragung, zu denen U. a. die schnelle Verfügbarkeit der Daten und programmierbare Möglichkeiten, durch Plausibili- tätschecks Fehler in den Daten zu vermeiden, zählen.

2 Was kommt nach der Schule?

Die Schülerinnen und Schüler freuen sich am Ende der Sekundarstufe I ganz überwiegend darauf, durch das Er- lernen eines Berufs und den Eintritt ins Berufsleben ihr Leben selbstständig gestalten zu können. Aber sie wissen auch, dass ihre Chancen auf dem Ausbildungsmarkt nicht günstig sind. Gefragt, was sie voraussichtlich nach dem Abschluss der Schule tun werden, erwartet nur eine Min- derheit, sich dann in einer Berufsausbildung zu befinden, während eine relativ große Gruppe angibt, weiter zur Schule zu gehen (Abb. Vergleichsweise groß ist je- weils die Gruppe, die in ihrem letzten Schuljahr diese Fra- ge noch nicht beantworten kann. Dieser Anteil liegt an

Datenbasis der Analysen ist eine im Verlauf des Schuljah- res 2005106 an Haupt-, Real- oder Gesamtschulen der Stadt Duisburg und der Kreise Wesel und Kleve durchge- führte Befragung, bei der n = 2 165 Schülerinnen und Schüler der Abschlussklassen zum Thema Berufsorien- tierung und Berufswahl interviewt werden konnten.' Um die ~ e l a s t u n ~ für die teilnehmenden Schulen gering zu halten und eine hohe Beteiligung zu erreichen, wurde die Erhebung als ~nline-~efragung-konzipiert, die nach Ab- sprache mit der Schulleitung im Verlauf einer Schulstun- de klassenweise im Computerraum der jeweiligen Schule durchgeführt und von Mitarbeitern der Universität betreut wurde. Die Erfahrungen mit diesem Instrument sind posi- tiv: Die technischen Voraussetzungen sind in den Schulen Abb. I : Was wirst Du voraussichtlich nach dem i. d. R. gegeben, die Jugendlichen sind mit dem Internet Abschluss der 10. Klasse machen?

Hauptschule- (n=803)

Gesamtschule- (n=595)

Realschule - (n=767)

0 20 40 60 80 100

A - Berufsausbildung W C - Etwas anderes B - Schule W D - Kann ich noch nicht sagen

Die berufsbildende Schule (BbSch) 60 (2008) 1 11

Berufliche Orientierung

den Hauptschulen bei 14,6%, bei den Gesamtschulen bei fizite zurückzuführen sein, ist aber vor allem auch ein 13,1% und bei den Realschulen bei 8,6 %. Die Differen- Hinweis auf einen hohen Grad an Flexibilität bei der Be- Zen machen deutlich, dass diese Anteile auch mit den un- rufswahl, denn eine große Mehrheit dieser Gruppe nennt terschiedlichen Chancen der Schülerinnen und Schüler auf die Frage, welche Berufe sie in die „engere Wahl" ge- der drei Schulformen zusammenhängen, und die an nommen haben, zwei oder mehr konkrete Berufswünsche. Haupt- und Gesamtschulen weiter als a n ~ealschulen ver- breitete Unsicherheit widerspiegeln, welche Möglichkei- ten die an der aktuell besuchten Schule erworbene Quali- fikation eröffnen. Unterschiede zwischen den Verteilun- gen bei den verschiedenen Schulformen bleiben auch be- stehen, wenn man den Prozesscharakter der Entscheidung berücksichtigt und den Zeitpunkt der Erhebung im Ver- lauf des Schuljahres kontrolliert. Wie weiter unten noch gezeigt wird (vgl. Abb. J), ergeben sich aber im Verlauf des Prozesses bei den Schülerinnen und Schülern aller drei Schulformen große Verschiebungen zwischen den beiden Hauptalternativen Schule und Berufsausbildung, während der Anteil, der hierzu noch keine Angaben ma- chen kann, erwartungsgemäß zum Ende des Schuljahres sinkt.

3 Berufsausbildung Die Anziehungskraft einer dualen Berufsausbildung ist bei den Jugendlichen an Haupt-, Gesamt- und Realschu- len nach wie vor groß: Rund drei Viertel der Befragten, die davon ausgehen, nach der Schule eine Ausbildung zu absolvieren, streben eine betriebliche Ausbildung an, 11 % wollen eine dreijährige Berufsfachschule oder eine Schule des Gesundheitswesens absolvieren, rund 4 % stre- ben in den öffentlichen Dienst, während gut 9 % erst ganz allgemein angeben können, dass sie eine Berufsausbil- dung absolvieren wollen, ohne dazu genauere Angaben zu machen (Abb. 2). Dies mag teilweise auf Informationsde-

Während sich die Verteilungen zwischen den drei Schul- formen nur geringfügig unterscheiden (ohne Abbildung), ergibt die Differenzierung nach der Herkunftsregion deut- liche Unterschiede zwischen Duisburg auf der einen und den beiden Landkreisen Kleve und Wesel auf der anderen Seite (Abb. 2). In Duisburg liegt der Anteil, der eine be- triebliche Ausbildung anstrebt, deutlich niedriger als in den Kreisen Wesel und Kleve, während in Duisburg mehr Schülerinnen und Schüler eine schulische Berufsausbil- dung oder eine Ausbildung im öffentlichen Dienst ansteu- ern. Diese Daten spiegeln regionale Strukturunterschiede3 wider, an denen sich die Jugendlichen bei ihrer Wahl ori- entieren: Auf der einen Seite bietet die große räumliche Dichte der Stadt Duisburg mit ihren geringen Entfernun- gen ein relativ breites Angebot gut erreichbarer schuli- - scher ~erufsausbildun~smö~lichkeiten, das auch genutzt wird. Auf der anderen Seite gehört die Ruhrgebietsgroß- stadt Duisburg zu den Städten in Nordrhein-Westfalen mit der höchsten Arbeitslosenquote. Die Zahl der sozialversi- cherungspflichtigen Beschäftigten am Arbeitsort ist in Duisburg zwischen 1990 und 2004 um 16,8 % zurückge- gangen, die auf alle zivilen Erwerbspersonen bezogene Arbeitslosenquote lag im September 2005 bei 17,4 %, die Zahl der betrieblichen Ausbildungsstellen ist zwischen den Ausbildungsjahren 2003104 und 2005106 von 2 958 auf 2286 geschrumpft. Im Kreis Wesel, der in Städten wie Moers und Dinslaken eine ähnliche Wirtschaftsstruktur wie Duisburg aufweist, jenseits des unmittelbar angren- zenden Ruhrgebietes, aber im Gegensatz dazu stark Iänd-

Gesamt (n=725)

Duisburg ( ~ 2 2 8 )

Kleve (n=136)

Wesel (n=363)

Männlich (n=425)

Weiblich (n=300)

1 I I I I I

0 20 40 60 80 100

A: In einem Betrieb (duale BA) C: Dreijährige Berufsfachschule 1 D: Sonstiges E: Weiß ich noch nicht B: Irn öffentlichen Dienst Schule des Gesundheitswesens

Abb. 2: Wo wirst Du voraussichtlich eine Berufsausbildung absolvieren?

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Themen -

lich geprägt ist, ist die Zahl der sozialversicherungspflich- tigen Beschäftigten am Arbeitsort zwischen 1990 und 2004 nur geringfügig (-1,9 %) zurückgegangen, während sie im Kreis Kleve sogar um 8,8 % zulegen konnte. Die Daten der für beide Kreise zuständigen Arbeitsagentur Wesel belegen für den gesamten Arbeitsagenturbezirk ei- ne gegenüber Duisburg deutlich niedrigere Arbeitslosen- quote von 9,3 % im September 2005 und einen geringeren Abbau (von 2 983 auf 2 564) betrieblicher Berufsausbil- dungsstellen zwischen den Ausbildungsjahren 2003104 und 2005106. Vor diesem Hintergrund müssen die Jugend- lichen ihre Planungen entwickeln und ihre Entscheidun- gen treffen. Die Unterschiede zwischen den Plänen der Jugendlichen aus Duisburg und den beiden Landkreisen zeigen, dass die wirtschaftlichen und strukturellen Mög- lichkeitsräurne als Vorstellung des Wünschbaren und als Orientierungsrahmen die Entscheidungsprozesse der Ju- gendlichen auf ihrem Weg in einen Beruf prägen.

Die Schülerinnen geben deutlich seltener als ihre männli- chen Mitschüler an, eine betriebliche Ausbildung anzu- streben (Abb. 2). Die Differenz von fast 14 Prozentpunk- ten ist auf die häufigere Wahl schulischer Berufsausbil- dungen der Mädchen und einen höheren Anteil, der sich noch nicht festlegen kann oder will, zurückzuführen. Ge- messen an der Zahl der genannten Berufswünsche sind die Schülerinnen flexibler: Sie haben im Durchschnitt 3,6 Berufe in die engere Wahl einbezogen, während ihre männlichen Mitschüler nur 2,9 Nennungen zu Protokoll geben (ohne Abbildung). Eine zusätzliche Auswertung der konkreten Berufswünsche zeigt allerdings, dass sich die Berufswünsche der Schülerinnen nach wie vor stärker als die der Schüler auf nur relativ wenige berufliche Fel- der beschränken.

4 Erwartung von Problemen auf dem Ausbildungsmarkt

Rund zwei Drittel der Jugendlichen, die eine Berufsaus- bildung absolvieren wollen, haben sich bereits fest für ei- nen bestimmten Beruf entschieden. Davon schaut nur die Hälfte optimistisch in die Zukunft - entweder weil sie be- reits eine Ausbildungsstelle haben oder weil sie keine Schwierigkeiten erwarten, eine zu finden. Ein knappes Drittel rechnet mit Problemen bei der Ausbildungsplatz- suche und eine relativ große Gruppe von 17,4 % ist sich in dieser Frage noch unsicher. Allerdings ist zu erwarten, dass sich im Verlauf des letzten Schuljahres beträchtliche Verschiebungen in der Verteilung ergeben. Vor allem der Anteil, der bereits einen Ausbildungsplatz hat, sollte zum Schuljahresende deutlich zunehmen. Zugleich wird die Einschätzung der Situation mehr und mehr durch die ei- genen Erfahrungen und die der Mitschüler/-innen mit den Bedingungen des Ausbildungsmarktes geprägt. Abb. 4, in der die Verteilungen der Erwartungen differenziert nach dem Erhebungszeitpunkt und der Zahl der Bewerbungen dargestellt werden, bestätigt diese Vermutung.

Unter den Jugendlichen, die eine Berufsausbildung an- streben, sinkt im Schuljahresverlauf der Anteil deutlich, der Schwierigkeiten bei der Lehrstellensuche erwartet oder sich in dieser Frage unsicher ist, während zugleich

Nur Befragte, die eine Ausbildung absolvieren wollen und sich bereits für einen Beruf entschieden haben (n=477)

Abb. 3: Glaubst Du, dass es schwierig wird, eine Ausbil- dung in Deinem Wunschberuf zu bekommen?

der Anteil, dem bereits eine Ausbildungsstelle sicher ist, von unter 10 % auf über 60 % ansteigt. Dieser Zusam- menhang mit dem Erhebungszeitpunkt scheint zu zeigen, dass sich die zu Beginn des Schuljahres noch bestehenden Befürchtungen der Schülerinnen und Schüler im Schul- jahresverlauf zunehmend zerstreuen, weil es den Jugend- lichen gelingt, eine Ausbildungsstelle zu finden. Aller- dings lässt eine solchermaßen isolierte Betrachtung der Gruppe, die angibt, eine Berufsausbildung anzustreben, den komplexen Entscheidungsprozess, in dessen Rahmen die beschriebenen Einschätzungen getroffen werden, au- ßer Acht. Dieser Prozess verläuft nicht linear, sondern die Erfahrungen mit dem Ausbildungsmarkt und die Wissens- bestände über bestehende Optionen, die im Prozessver- lauf gesammelt werden, führen zu einer kontinuierlichen Neubewertung der eigenen Situation und können zur Re- vision von früher getroffenen Entscheidungen fuhren. Kurzum: Wer die Erfahrung macht, dass seine Chancen auf dem Ausbildungsmarkt schlecht sind, der wird sich über kurz oder lang nach anderen Möglichkeiten um- schauen. Wie häufig eine solche Umorientierung anzu- treffen ist, wird unten diskutiert, wenn. die Entscheidung für einen weiteren Schulbesuch als eine subjektiv ,,zweite Wahl" untersucht wird.

Bereits an den nach der Zahl der Bewerbungen differen- zierten Verteilungen wird deutlich, wie sich die Schülerin- nen und Schüler bei der Einschätzung der eigenen Situa- tion und der Chancen auf dem Ausbildungsmarkt an ihren Erfahrungen orientieren. Verglichen mit den Jugendli- chen, die zwar eine Berufsausbildung anstreben, aber noch ohne Bewerbungserfahrung sind, findet sich Pessi- mismus und Unsicherheit in der Gruppe mit bis zu fünf Bewerbungen deutlich seltener. In der dritten Gruppe da- gegen, die bereits die Erfahrung von mehr als fünf (meist erfolglosen) Bewerbungen gemacht hat, nimmt der Pessi- mismus dann wieder zu - offensichtlich nicht grundlos, denn der Anteil, der bereits eine Ausbildungsstelle vor-

Die berufsbildende Schule (BbSch) 60 (2008) 1

Berufliche Orientierung

Erhebung bis Okt. 05 (n=158)

Nov.lDez. 05 (n=204)

! I I

I

Keine Bewerbung (n=130)

bis 5 Bewerbungen (n=173)

Mehr als 5 Bewerbungen (n=157\

A: Ja mf B: Weiß nicht C: Nein ?L D: Habe Ausbildungsplatz I Abb. 4: Schwierigkeiten bei der Aushildungsplatzs~~che (dijjiv~enzierte Da~~stellung).

weisen kann, ist hier geringer als bei den Jugendlichen mit bis zu fünf Bewerbungen. Der Vergleich zwischen den drei Gruppen belegt, wie sich nach einer anfänglich opti- mistischeren Einschätzung als Folge negativer Erfahrun- gen mit dem Ausbilduiigsmarkt die Bewertung der eige- nen Chancen durch die Schülerinnen und Schüler ver- schlechtert.

Auch wenn die Zahl der Bewerbungen mit dem Erhe- bungszeitpunkt korreliert, haben doch beide Variablen in einem hier aus Platzgründen nicht tabellarisch dokumen- tierten multivariaten Modell, in dem zusätzlich die Schul- form, die Region, das Bildungsniveau der Eltern, der Mi- grationshintergrund sowie der Notendurclischnitt in Ma- thematik, Deutsch und Englisch kontrolliert werden. ei- nen eigenständigen Effekt auf die Wahrscheinlichkeit. dass die Frage, ob Schwierigkeiten bei der Lelirstellensu- che erwartet werden, mit „Ja" beantwortet wird, während die Kontrollvariablen ohne signifikanten Einfluss bleiben.

5 Schule oft nur „zweite Wahl"

diesem Grund eine weiterführende Schule besuchen (müssen). Auf der anderen Seite aber kommt es auch sehr häufig vor, dass ein weiterer Schulbesuch aus Sicht der Schülerinnen und Schüler nur eine zweite Wahl darstellt, zu der sie sich gezwungen sehen, weil sie ihre Chancen auf eine eigentlich angestrebte Ausbildungsstelle als sehr gering einschätzen.

Der im Verlauf des letzten Schuljahres zunehmende Ein- fluss der Gelegenheitsstrukturen des Ausbildungsmarktes auf das Entscheidungsverhalten der Jugendlichen wird zusätzlich deutlich, wenn inan sich die Tatsache, dass die Befragungen in den Schulen zu unterschiedlichen Zeit- punkten während des 10. Schuljahres durchgeführt wur- den, zunutze macht, und die Entscheidung zwischen Schule und Berufsausbildung differenziert nach dein Er- hebungszeitpunkt betrachtet und dabei zugleich die Frage beiücksichtigt, ob der Besuch einer Schule aus Sicht der Schüler nur eine Notlösung darstellt (Ahh. 5). Dabei wer- den die Daten als eine Folge von Querschnitten betrachtet, bei denen sich Wandel nicht auf der Individualebene, son- dern in einer Veränderung der Verteilungen zwischen den einzelnen Ei-hebungszeitpunkten zeigt.

Die Entscheidung, weiter zur Schule zu gehen, kann auf Ahb. 5 verdeutlicht die Dynamik des Entscheidungspro- ein höheres Aspirationsniveau, bei dem der angestrebte zesses in1 Verlauf des letzten Schuljahres. Wollten zu Be- Beruf nicht mit dem an1 Ende des Schuljahres erreichten ginn des Schuljahres noch rund 43 % der bis dahin befrag- Abschluss erreichbar ist, hinweisen. Dies ist tatsächlich ten Schülerinnen und Schülei- nach der Schule eine Be- ein häufiges Motiv. Ein Vergleich der konkreten Berufs- rufsausbildung so sinkt diese zahl bis wünsche auf Individualebene zeigt Z. B., dass 7,r> % der März/April auf unter 20 O/o, während der Anteil, der an- Befragten einen akademischen Beruf anstreben und aus gibt, weiter zur Schule zu gehen, von gut 40 % auf nahe-

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Themen

D: Berufsausbildung C: Weiß nichtlSonstiges B: Schule, lieber BA A: Schule

SepJOkt. 05 (n=568) Jan.lFeb. 06 (n=398) Nov.lDez. 05 ( ~ 7 8 8 ) Mrz./Apr. 06 (n=333)

Abb. 5: Umorientierungs- Prozesse im Verlauf des 10. Schuljahres.

zu 75 % der Befragten ansteigt. Gleichzeitig nimmt inner- sinkt unter Hauptschülern der Anteil, der angibt, eine Be- halb dieser Gruppe der Anteil, der lieber eine Berufsaus- rufsausbildung absolvieren zu wollen, um 9 Prozentpunk- bildung absolvieren würde, statt weiter zur Schule zu ge- te, während der Anteil, der weiter zur Schule geht, um 13 hen, von 13,4 % auf 23,4 % zu. Das Übergangspanel des Prozentpunkte an~teigt .~ Je näher der Zeitpunkt des Über- Deutschen Jugendinstituts kommt auf Individualebene zu ganges rückt, umso stärker orientieren sich die Jugendli- ähnlichen Ergebnissen: Im Verlauf von nur drei Monaten chen an ihren zwischenzeitlich gesammelten Erfahrungen

Zahl der Bewerbunaen Keine Bewerbung (n=564)

bis 5 Bewerbungen (n=134) 6 bis 10 Bewerbungen (n=39)

Mehr als 10 Bewerbungen (n=53)

Abaebende Schule Hauptschule (n=256)

Eltern: AbiturIFachabitur (n=237) Eltern: HauptschulelMittlere Reife (n=397)

Kein Migrationshintergrund (n=577) Mit Migrationshintergrund (n=254)

Aufnehmende Schule Weiß noch nicht (n=104)

Berufsgrundschuljahr (inkl. Vorklasse) (n=84) I Einjährige Berufsfachschule (n=52) I

Gym. Oberstufe (n=284) m 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90

Abb. 6: Würdest Du, statt weiter zur Schule zu gehen, lieber eine Berufsausbildung machen?

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- Berufliche Orientierung

mit den Möglichkeiten, Chancen und Restriktionen des Ausbildungsmarktes. Eine solche Entwicklung kann man in allen drei Schulformen beobachten; allerdings ist sie in den Hauptschulen am stärksten ausgeprägt, wo unter den Befragten der letzten Welle nur noch jedelr Siebte angibt, eine Berufsausbildung aufzunehmen, während es an den Realschulen noch rund jedelr Vierte ist (ohne Abbildung).

Die nach der Zahl der Bewerbungen differenzierten Ant- worten auf die Frage, ob die Schülerinnen und Schüler lie- ber eine Berufsausbildung absolvieren würden statt weiter zur Schule zu gehen (Abb. 6), belegt den engen Zusam- menhang zwischen der Einschätzung, am Ausbildungs- markt chancenlos zu sein, und der Neigung, sich als Not- lösung für den Besuch einer Schule zu entscheiden. Je größer die Zahl der (erfolglosen) Bewerbungen, umso eher stellt der Schulbesuch für die Jugendlichen nur eine zweite Wahl dar. Dieser Zusammenhang bleibt auch in multivariaten Analysen ~ t a b i l . ~

ten Zahlen vermuten l a ~ s e n . ~ Sie zeigen aber auch, wie flexibel sich die Jugendlichen den Bedingungen des Aus- bildungsmarktes anpassen, in dem sie die Möglichkeiten des Bildungswesens nutzen.

Dieses rationale Verhalten der Jugendlichen hat Konse- quenzen für die Struktur der Schülerschaft der allgemein- und berufsbildenden Schulen der Sekundarstufe 11, die hier allenfalls kurz angedeutet werden können. Die Schu- len müssen sich vermehrt damit auseinandersetzen, Schü- ler und Schülerinnen mit unterschiedlich ehrgeizigen Plä- nen und Aspirationen in ihren Klassen und Kursen zu in- tegrieren.

Während die einen aus Neigung weiter zur Schule gehen oder weil der Schulbesuch einen notwendigen Schritt in einer ehrgeizigen Lebensplanung darstellt, stellt die Schu- le für andere nur eine Notlösung - eine zweite oder gar dritte Wahl - dai. Um diese Gruppe zu integrieren ist es notwendig, der Schule den demotivierenden Charakter ei-

Über die Hälfte der Hauptschülerlinnen und rund ein Drit- ner Warteschleife oder eines subjektiv unnötigen biogra-

tel der Real- und Gesamtschulabsolventen, die weiter zur phischen Umwegs zu nehmen. Dazu sind allerdings be-

Schule gehen, würde stattdessen lieber in eine Berufsaus- sondere Anstrengungen und Konzepte der Schulen not-

bildung eintreten. Auch hier spiegelt sich die externe wendig, die die Schülerinnen und Schülern in ihrer bio-

Chancenstruktur im Entscheidungsverhalten: Offenbar graphischen Orientierung unterstützen und ihnen die

sehen sich die Hauptschülerlinnen häufiger als die Schü- durch den zusätzlichen Schulbesuch hinzugewonnenen

lerlinnen der beiden anderen Schulformen gezwungen, ih- beruflichen Perspektiven und Chancen aufzuzeigen. Vo-

re ursprünglichen Pläne aufzugeben. raussetzung all dieser Bemühungen allerdings ist, dass solche Perspektiven und Chancen auch tatsächlich gege-

Vergleicht man die Anteile zwischen den aufnehmenden Schulen, dann wird deutlich, dass vor allem das Berufs- grundschuljahr (einschließlich Vorklasse) und einjährige Berufsfachschulen für die Mehrheit der Schüler, die sie benennen, bestenfalls eine zweite Wahl darstellen. Etwas geringer sind die Anteile für die Fachoberschulen und die zweijährigen Berufsfachschulen (wie die Höhere Han- delsschule), aber auch sie werden von über 40 % nur ge- wählt, weil sie nicht damit rechnen, eine Lehrstelle zu fin- den. Lediglich bei den Schülern, die zur Oberstufe des Gymnasiums oder der Gesamtschule wechseln wollen, handelt es sich bei der großen Mehrheit um eine echte Wahl zwischen Alternativen. Aber selbst in dieser Gruppe würden knapp 14 % lieber eine Ausbildung beginnen. Ins- gesamt belegen die Daten, dass ein Schulbesuch nach dem Abschluss der 10. Klasse an Haupt-, Real- und Ge- samtschulen für viele Schüler subjektiv den Charakter ei- ner der Situation am Ausbildungsmarkt geschuldeten Warteschleife hat.

6 Resümee und Konsequenzen

Die Ergebnisse der vorgestellten Analysen verdeutlichen nicht nur den Prozesscharakter der beruflichen Orientie- rung von Schülerinnen und Schülern und zeigen, wie sich während des letzten Schuljahres die Pläne und Entschei- dungen an den zunehmenden Erfahrungen mit den Mög- lichkeiten und Bedingungen der externen Gelegenheits- strukturen des Ausbildungsmarktes ausrichten, während die ursprünglichen Wünsche und Pläne in den Hinter- grund rücken. Die Daten belegen, dass der an den Wün- schen der Betroffenen orientierte Bedarf an Ausbildungs- stellen deutlich höher ist, als die alljährlich veröffentlich-

ben sind.

Anmerkungen:

1 Die Befragung wurde im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten BQF-Projektes „Berufs- wahl und Transfer" von der Universität Duisburg-Essen, Fachgebiet Wirtschaftspädagogik (Prof. Dr. Rolf Dobischat) durchgeführt. Zur Datenerhebung siehe Birkelbach, Klaus: 2006. Erste Ergebnisse ei- ner Befragung von Schülerknen und Schülern der 10. Klassen von Haupt-, Real- und Gesamtschulen in der Region Duisburg, Wesel und Kleve; Duisburg/Essen: Projektbencht.

2 Der Begriff ,,Schule" umfasst hier nicht nur allgemeinbildende Schulen, sondern auch berufsvorbereitende und berufsbildende Schulen, da sich im Vorfeld herausgestellt hatte, dass die Jugend- lichen hierbei noch nicht hinreichend genau zu differenzieren ver- mögen.

3 Vgl. Stender, Axel: 2006. Die Ausbildungssituation am Niederrhein - dargestellt anhand der amtlichen Statistik; Duisburg/Essen: Pro- jektbericht. Zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt: Statistik der Bun- desagentur Wr Arbeit, Eckwerte des Arbeitsmarktes - November 2006 (Duisburg; Wesel); Der Ausbildungsmarkt im September 2006 (Duisburg; Wesel).

4 Reißig, BirgitIGaupp, NoraMofinann-Lun, IreneLex, Tilly: 2006. Schule - und dann? Schwierige Übergänge von der Schule in die Berufsausbildung. Reihe ~is ienschaf t für alle; MünchedHalle: Deutsches Jugendinstitut. (http://dji.de/uebergang/schuleunddann2006.pdf)

Vgl. Birkelbach, Klaus: Schule als Notlösung. Die Entwicklung der Entscheidung zwischen einer Berufsausbildung und einem wei- teren Schulbesuch im Verlauf des letzten Schuljahres der Sekun- darstufe I bei Haupt-, Real- und Gesamtschülem. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, 103 (2007) 2, S. 248-263.

Vgl. hierzu U. a.: Ulrich, Joachim Gerd: 2006. Wie groß ist die ,,Lehrstellenlücke" wirklich? Vorschlag für einen alternativen Be- rechnungsmodus; in: Berufsbildung in Wissenschaft und Praxis 35 (2006) 3, S. 12-16.

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