politik und geschichte. demokratietheorie zwischen kontingenz und universalität
TRANSCRIPT
Axel Rüdiger
Politik und Geschichte: Demokratie zwischen Kontingenz und Universalität
(Einleitung zu Richard Saage: Elemente einer politischen Ideengeschichte der Demokratie.
Historisch-politische Studien, hrsg. und eingel. von Axel Rüdiger. Berlin: Duncker &
Humblot 2007)
Die vorliegende Aufsatzsammlung fasst historische Studien zur Demokratietheorie
zusammen, die Richard Saage über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren vorgelegt hat. Die
frühesten Texte stammen aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, andere wiederum
gehören der jüngsten Vergangenheit an. So spiegelt diese Anthologie nicht nur eine
intellektuelle Entwicklung wider, sie markiert auch Verschiebungen in den jeweiligen
Gegenständen des Erkenntnisinteresses und führt verschiedene Perspektivwechsel vor.
Dadurch eröffnet sich ein reizvoller Blick in die Werkzeugkiste einer politischen Theorie, die
schließlich in eine kürzlich erschiene zusammenfassende Darstellung der Demokratietheorien
mündete1. Das bearbeitete Gegenstandsfeld reicht von den Emanzipationskämpfen der Frühen
Neuzeit, der politischen Philosophie des Deutschen Idealismus über die Impulse, welche die
moderne Demokratie der Arbeiterbewegung verdankt bis hin zu den gegenwärtigen Debatten
über die Zukunft der liberalen Demokratie. Ein besonderes Merkmal besteht hierbei in der
Verbindung der politischen Dimension der Sozialgeschichte mit den hegemonialen Kämpfen
um Begriffe und Konzepte, wie sie in der politischen Theorie geführt werden. Die Leitidee,
welche alle Texte trotz zeitlicher und inhaltlicher Entfernung eint, ist das Verhältnis der
Geschichte zu Politik und Demokratie. Ausgehend von diesem grundlegenden
Zusammenhang sollen in der Folge Saages Texte mit Hilfe einer etwas weiter ausholenden
Reflexionsbewegung in einem aktuellen Rahmen kontextualisert werden. Im Zentrum steht
dabei der spezifisch politische bzw. demokratische Anteil in der spannungsvollen Vermittlung
von historischer Kontingenz und allgemeinem Geltungsanspruch.
Dekonstruktion und Rekonstruktion von Geschichte und Politik
Was also verbindet die Politik mit der Geschichte im Allgemeinen und mit der Demokratie im
Besonderen? Eine entscheidende Voraussetzung für den Versuch einer Antwort ist wohl die
Bestimmung der Form, in welcher Politik und Geschichte sich begegnen können. So strebt
1 Saage 2005.
jede politische Ordnung danach sich als eine auf Dauer angelegte Institution mit allgemeinen,
überzeitlichen Anspruch darzustellen. Täte sie dies nicht, verlöre ihr allgemeiner Anspruch
auf Autorität an Geltung. Gelänge dieser Anspruch jedoch in einem vollständigen Sinne,
könnte die Politik auf die Geschichte verzichten. Sie wäre geschichtslos. Das müsste nicht
unbedingt heißen, dass es keine voneinander unterscheidbare Ereignisse mehr gäbe, die
Ereignisse hätten nur keinen Einfluss mehr auf den strukturellen Rahmen der Politik, in dem
sie passierten. Es wäre sogar möglich den einzelnen Ereignissen eine radikale Kontingenz
einzuräumen, ohne dass dies etwas an der politischen Superstruktur ändern würde. Die
Reflexion der Politik könnte sich dann voll und ganz ahistorisch auf die bloße Funktion des
politischen Systems beschränken.
Ein solcher Fall käme freilich nur in Betracht, wenn es gelänge die Spaltungen und Risse
einer Gesellschaft gleichsam organisch zu überwinden oder zumindest komplett und
harmonisch durch die Politik zu repräsentieren. In einer Gesellschaft mit demokratischem
Anspruch ist dies aber qua Voraussetzung undenkbar, da hier die Differenz und der Konflikt
zum internen Bestandteil der politischen Ordnung erhoben werden. Der nicht zu beseitigende
Riss in der Legitimität verhindert die vollständige Monopolisierung des Politischen in einem
System und setzt damit sowohl die Möglichkeit einer prozessierenden Geschichte als auch der
Demokratie frei. Beide stehen insofern in einem konstitutiven Zusammenhang. Nicht zufällig
entstand der prozessuale Geschichtsbegriff mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert.2 Im
Singular ist er die Geschichte des Souveräns, der damit seine Herrschaft gegen seine
Konkurrenten begründet. Zur fortschrittlichen Emanzipationsgeschichte wird sie dann mit der
Idee der Volkssouveränität umgebildet. Aber mit der Erosion von Souveränität und der
Pluralisierung der um Legitimität werbenden politischen Akteure pluralisiert sich auch die
Geschichte, sie wird zu einem pluralen und relationalen Bündel von kontingenten
Geschichten. An die Stelle des Kollektivsingulars Geschichte treten historische Praktiken und
Erzählungen, die um den Legitimitätsglauben werben. Das Ende der großen Erzählungen fällt
schließlich zusammen mit der „postmodernen Konstellation“.3
Wenn es nun scheint als löse sich alles in einer kontingenten Historizität auf, so soll hier doch
behauptet werden, dass dies erst eine Voraussetzung dafür ist, um den Gegenstand des
Politischen in umfassender Weise bestimmen zu können. Nach dem Zerfall der natürlichen
bzw. selbstevidenten Ordnungen kann die Politik ihren allgemeinen Anspruch nur noch mit
Hilfe einer radikalen Referenz auf die Geschichte einlösen. Doch um diese Konstellation
radikaler Historizität beschreiben zu können, muss die politische Theorie selbst einen
2 Vgl. Koselleck 1979.
ahistorischen Standpunkt einnehmen. Dies ist jedoch nur scheinbar paradox und meint: um
die Historizität als eine universale Konstellation zu erfassen, kann sich die Theorie nicht
unkritisch auf die isolierte historische Selbstbeschreibung der politischen Akteure hinsichtlich
ihrer universalen Ansprüche beschränken.4 Die solchermaßen vorgetragenen Ansprüche
können auch nicht mit einem außerhistorischen Prinzip abstrakter Wahrheit – etwa einer mit
absolutem Anspruch auftretenden Theologie oder Philosophie – evaluiert werden. Vielmehr
muss der verallgemeinernde Anspruch eines historischen Akteurs unter Bezugnahme auf die
gesamte und konkrete historische Konstellation betrachtet werden. Erst von hier aus lassen
sich allgemeine historische Effekte verifizieren und von einer gleichwohl historisch
relativierten Perspektive auch gewissermaßen philosophisch bewerten. Die Spuren eines
solchen Vorgehens lassen sich in der idealtypischen Methode Max Webers ebenso finden wie
in der archäologischen Michel Foucaults oder dem Konzept des epistemologischen Bruchs,
wie es u. a. von Pierre Bourdieu in der politischen Soziologie vertreten wurde.5 Der
allgemeine Anspruch einer Geschichte darf demnach nicht pars pro toto mit den historischen
Praktiken verwechselt werden. Nach Weber dürfen die Zwecke – etwa Legitimität
herzustellen – nicht mit den konkreten Mitteln verwechselt werden, welche zur Herstellung
von Legitimität verwendet werden. Der seriöse Anspruch ihrer Artikulationen darf nach
Foucault nicht a priori ernst genommen werden, um überhaupt analysieren zu können, wie
Seriosität und Legitimität entstehen. Insoweit ist dieser methodische „Ahistorismus“ auch
notwendig verbunden mit einer „apolitischen“ Haltung, welche die politische Performanz und
insbesondere ihre symbolische Wirkung stillegt. Diese apolitische Haltung war auch schon in
der Behauptung von Marx präsent, dass der Staat eben nicht das sittliche Allgemeine, sondern
das Machtinstrument der herrschenden Klasse ist. Auch der marxistische Ökonomismus hat
insoweit eine dekonstruktivistische Dimension, welche die performative Selbstbeschreibung
der Politik außer Kraft setzt und delegitimiert.
Ebenso wie die Dekonstruktion der Geschichte die Voraussetzung für die Erkenntnis der
radikalen Historizität von Geschichte ist, kann auch die Dekonstruktion der Politik den
Schlüssel zu dem kontingenten Terrain des Politischen liefern, welches einerseits das
Operationsfeld der autorisierten wie autorisierenden Diskurse der Politik ist, anderseits aber
von diesen jedoch zugleich verdeckt wird. In Bezug auf den Staat als Monopolist von
3 Lyotard 1986. 4 Dies findet sich in der Kritik Poppers an der Formulierung historischer Gesetzmäßigkeiten (Popper 1986)
ebenso wie die methodisch und politisch von ganz anderen Voraussetzungen argumentierende marxistisch-strukturalistische Kritik Althussers am Historizismus (Althusser 1968). Selbst die in der Aufklärung etwa von Spinoza entwickelte historisch-kritische Methode enthält gegenüber der hegemonialen Herrschaftsgeschichte in weltlichen Chroniken und geistlichen Texten eine dezidiert ahistorische Stossrichtung.
5 Vgl. Weber 1988, Foucault 1995; Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991.
physischer und symbolischer Gewaltsamkeit muss der Politikwissenschaftler daher einem
methodischen Anarchisten gleichen, um überhaupt zum Politischen vordringen zu können.
Einem solchen Verfahren entspricht auch Webers Postulat von der wissenschaftlichen
Werturteilsfreiheit, die keinesfalls als eine formale Deskription missverstanden werden darf,
in welcher der Staat sich selbst bespiegelt. Die in Webers methodischem Postulat enthaltene
Tendenz zur Entpolitisierung eines politisch aufgeladenen Untersuchungsgegenstandes läßt
keinen Unterschied bezüglich der Legitimität oder Illegitimität eines politischen Akteurs
gelten. Nur so kann auch der ideologische Eindruck vermieden werden, es handele sich
hierbei gleichsam um ein Stillhalteabkommen zwischen Wissenschaft und legitimer Gewalt,
welches die Monopolisierung von Autorität vorpolitisch bestätigt.
Der methodische Anarchismus des Archäologen oder Dekonstruktivisten führt jedoch für sich
allein genommen noch nicht zum Ziel, zerfiele das Untersuchungsfeld doch dann in ein
zusammenhangsloses Konglomerat radikaler Kontingenz, in welchem der absolute
Relativismus und die Beliebigkeit herrschten. Die Methode hätte dann entweder ihren
Gegenstand verfehlt, da nicht ersichtlich wäre wie Legitimität und Politik entstünden, oder
aber sie mündet schlimmer noch in das hobbessche Naturzustandstheorem mitsamt des darin
enthaltenen Rechtes des Stärkeren. Im Fall des marxistischen Ökonomismus wiederum
schlägt das politische Defizit schnell in ein horror vacui um. Die bloße Verleugnung der
Politik verfehlt also nicht nur die Ebene der politischen Praxis, wie jeder Anarchismus schlägt
auch der methodische in sein direktes Gegenteil um. Um dies zu verhindern ist daher die
Reflexion jener synthetisierenden Strategien und Praktiken entscheidend, welche die losen
Elemente zu allgemeinen Momenten einer übergreifenden Einheit verbinden. Das beinhaltet
den Weg von der Historizität zur Geschichte wie auch des Politischen zur Politik. Es ist dies
die Ebene der Machtbeziehungen, auf die Foucault mit seiner genealogischen Methode
ebenso abhebt wie die neogramscianische Hegemonietheorie.6 Marx und Weber
zusammendenkend formuliert Bourdieu das Problem folgendermaßen: „Wider die Illusion
vom neutralen, unparteiischen Staat hat Marx den Begriff vom Staat als
Herrschaftsinstrument entwickelt. Gegen die von der marxistischen Kritik vollzogenen
Entzauberung muss nun aber mit Weber gefragt werden, wie es denn dem Staat gelingt, dass
seine Herrschaft anerkannt wird, und ob dem Modell nicht wieder eingefügt werden muss,
gegen das es entwickelt wurde: die spontanen unreflektierten Vorstellungen vom Staat als
legitimen.“7
6 Foucault 1987; Laclau / Mouffe 1991.
7 Bourdieu 1992, S. 52.
Diese hier kurz skizzierte Tendenz in der radikalen Verschränkung von Politik und
Geschichte, die auch eine neue und radikale Option für den Prozess der Demokratietheorie
bereitstellt, ist keineswegs unwidersprochen geblieben. Bevor dieses Konzept daher weiter
konkretisiert werden soll, wird an dieser Stelle Bezug genommen auf mögliche
Gegenstrategien, welche die Geschichte von der Politik abtrennen und in ein distinktes
Verhältnis setzten. Eine besondere Rolle bei der damit angesprochenen politischen
Überwindung der Geschichte spielt die Philosophie.
Zwei Typen der philosophischen Überwindung der Geschichte
An dieser Stelle soll zunächst zwischen zwei Typen der philosophischen Überwindung der
Geschichte unterschieden werden. In beiden ist die Geschichte zwar zentrales Medium der
philosophischen Spekulation, jedoch allein letztlich rein negativ, zu dem Zweck, am Ende als
Sieger und Überwinder über bzw. jenseits von der Geschichte stehen zu können. Unabhängig
von dieser zentralen Gemeinsamkeit sollen sie hier nach ihrer unterschiedlichen
Konzeptionalisierung der historischen Zeit als kontinuierlich-teleologische und als
diskontinuierlich-kontingente Variante der philosophischen Überwindung der Geschichte
diskutiert werden.
Die erste läuft kontinuierlich auf ein Ende der Geschichte in der Zeit zu. Diese Form der
Überwindung der Geschichte wurzelt im kumulativ-mechanischen Fortschrittsdenken und
wird gemeinhin noch als zentraler Bestandteil der dialektisch angereicherten
Geschichtsphilosophie Hegels betrachtet. Bei Hegel stellt die Geschichte zwar die
Möglichkeitsbedingung der Philosophie dar, insofern der dialektische Kampf der Philosophie
um Universalität gegen die historische Kontingenz die Philosophie selber formt. Aber diese
historische Kausalität löst sich schließlich in der Emanzipation der „reinen“ Philosophie von
der Geschichte auf. Wie das Huhn aus dem Ei schlüpft, löst die philosophische Ordnung in
einer finalen systematischen Zusammenfassung diejenige historische Un-Ordnung ab, in der
sie zuvor angelegt war und gegen welche sie revoltiert hat. Obgleich dialektisch vermittelt,
liegt der kumulativen Überwindung der Geschichte doch eine Naturgesetzlichkeit zugrunde,
welche dem politischen Sieg der Philosophie über die Geschichte den Status der
Unvermeidlichkeit verleiht.
Die Ordnungsfunktion der Philosophie in und jenseits der Geschichte qualifiziert das
philosophische Wissen dabei zugleich zu einer Form des politischen Wissens. Bringt die
Philosophie zunächst Ordnung in die historische Kontingenz, so löst sie sich nach ihrer
Emanzipation von der Geschichte von allen kontingenten Fußfesseln und manifestiert eine
absolute und geschichtslose Ordnung. „Somit hat“, wie Marx bemerkt, „es eine Geschichte
gegeben, aber es gibt keine mehr.“8 Politisch repräsentiert wird diese absolute Ordnung der
Philosophie für Hegel durch den modernen Verfassungsstaat, wie ihn die Französische
Revolution in der Verfassung von 1791 in Gestalt der konstitutionellen Monarchie
hervorgebracht hatte. Er ist das philosophisch-politische Muster, das in der Geschichte
sichtbar geworden ist und sich von dieser – davon war Hegel zutiefst überzeugt – auch über
kurz oder lang auch emanzipieren musste. Das Ende der Geschichte bedeutet daher insofern
auch das Ende der Politik.
Dieses philosophische Narrativ ist zu einem zentralen Bestandteil aller
Modernisierungstheorien geworden, unabhängig davon, ob sie primär politisch oder
ökonomisch, mechanisch oder dialektisch argumentieren. Der Fortschritt lässt sich hierin auch
nach dem Grad der Unabhängigkeit der Universalität von jeglicher Kontingenz bemessen.
Zwischen beiden besteht innerhalb der Kausalität der Zeit eine irreversible Demarkationslinie.
Die von der historischen Kontingenz abgenabelte politische Universalität bleibt daher
abstrakt.
Andres strukturiert ist die zweite, die diskontinuierlich-kontingente Variante der
philosophischen Suspendierung der Geschichte. Diese ist im Gegensatz zum vorherigen
Typus primär in der modernisierungskritischen Geschichtsphilosophie zu finden. Während
sich die kumulative Fortschrittstheorie im Umkreis des Liberalismus bewegt, ist diese von
einer radikal-konservativen Abwehrhaltung gegen die von der Modernisierung ausgelösten
Egalisierungs- und Demokratisierungsprozesse geprägt. Zu einer einflussreichen politisch-
philosophischen Doktrin ausgearbeitet, wurde sie insbesondere im Denken der „konservativen
Revolution“ und findet sich daher in verschiedenen Nuancen bei Oswald Spengler, Ernst
Jünger, Carl Schmitt und nicht zuletzt in ihrer streng philosophischen Variante bei Martin
Heidegger.9
8 Marx 1989, S. 96. 9 Bourdieu hat das Phänomen der „konservativen Revolution“ in seiner Heidegger-Studie als ein politisch-
hegemonialen Projekt beschrieben. Er kommt dabei zu der zusammenfassenden Einschätzung: „Die ‚konservativen Revolutionäre – Bürgerliche, die vom Adel aus den lukrativen Verwaltungsposten des Staates vertrieben, wie Kleinbürger, die in ihren von den Schulerfolgen genährten Hoffnungen frustriert worden waren – sehen in der ‚geistigen Wiedergeburt’ und der ‚deutschen Revolution’ als einer ‚Revolution der Seele’ die mythische Erfüllung ihrer widersprüchlichen Erwartungen: Es ist die ‚geistige Revolution’, die die Nation zu neuem Leben ‚erwecken’ wird, ohne deren Struktur zu revolutionieren, und die diesen aktuell oder potentielle Deklassierten die Chance eröffnet, ihr Verlangen nach Aufrechterhaltung einer privilegierten Stellung innerhalb der Gesellschaftsordnung mit ihrer Auflehnung gegen die Ordnung, die ihnen diese Stellungen verwehrt, zu versöhnen, wie auch die Feindschaft gegen das sie ausschließende Bürgertum mit dem Widerwillen vor der sozialistischen Revolution, die all die Werte bedroht, dank deren sie sich vom Proletariat abzuheben wähnen. […]. Eine gewisse intellektuelle Respektabilität verleihen die ‚konservativen Revolutionäre’ ihrer Bewegung aber gerade dadurch, dass sie ihre regressiven Ideen in eine Sprache kleiden,
Übereinstimmend wird hier die Geschichte aufgefasst als das Reich radikaler Kontingenz, in
welchem Relativismus, Unsicherheit, Anonymität, Antihumanismus, kurz das Chaos
herrschen. Sie ist jedoch nicht linear gestreckt und kann deshalb auch nicht innerhalb einer
kontinuierlichen Zeitvorstellung überwunden werden, sie bildet vielmehr gewissermaßen den
unübersteigbaren Horizont des Daseins. Der dabei verwendete zyklische Zeitbegriff zeigt an,
dass die Geschichte nicht auf derselben Ebene überwunden werden kann. In ihren Zyklen
wird das überhistorisch Universale vielmehr eingeschlossen wie von Ebbe und Flut. Aus
dieser Perspektive erscheint die Modernisierung ganz nach dem Prinzip der ideologischen
Umkehrung als eine Verfallsgeschichte des Universalen durch fortschreitende Historisierung
und Relativierung. Der Geschichte ist daher auch nicht mit Hilfe der theoretischen Vernunft
der Wissenschaften beizukommen, da diese selbst in Geschichte und Kontingenz wurzeln.
Das Verhältnis von Struktur und Ereignis kehrt sich im Vergleich zur kontinuierlich-
teleologischen Variante der Geschichtsphilosophie also gewissermaßen um. Während die
Kontinuitätstheorie das historische Ereignis an die philosophische Struktur angleicht, muss
sich hier das philosophische Ereignis gegen die historische Struktur behaupten. Anstatt der
epistemologischen Anstrengung, die Vernunft aus der Geschichte über sie hinaus zu tragen,
bedarf es nun eines radikalen und fundamentalontologischen Ausstiegs aus der Geschichte.
Dieser Ausstieg ist jedoch prekär und endlich, führt allerdings gleichsam als Lohn der Angst
auf die universale Ebene der Zeit bzw. vom historischen Dasein zum eigentlichen Sein. Es ist
dies sowohl ein philosophischer als auch ein heroischer Akt, bei dem die Anonymität des
Akteurs aus der historischen Kontingenz heraustritt. Während die Überwindung der
Geschichte in der Modernisierungstheorie ein in die natürliche Zeit selbst eingeschriebenen
allgemeinen Akt darstellt, ist sie hier eine individuelle und ethische Tat. Die besondere
Universalität des Subjektes ersetzt die allgemeine Universalität anonymer Vernunft.
Theoretische und praktische Vernunft finden sich hier in der Allianz von philosophischem
Wissen und militärischer Todesverachtung wieder. Dem Wahrheitsakt korrespondiert das in
Kauf genommene Opfer. Nur durch diesen endlichen Akt besteht die Möglichkeit in Theorie
und Praxis über die kontingente Erscheinung zum Wesentlichen vorzudringen. Er schlägt
gewissermaßen für einen Moment ein Loch in die Geschichte, in welchem sich die
Subjektivierung über Erkenntnis und Erfahrung vollziehen kann. Durch dieses ontologische
Loch, oder mit Heidegger gesprochen, auf dieser Lichtung der Geschichte wird das Wesen
die nicht selten beim Marxismus und bei den Fortschrittsgesinnten Anleihen macht, dass sie Chauvinismus und Reaktion mit den Worten der Humanisten predigen. Dies kann die strukturelle Ambivalenz ihres Diskurses und dessen verführerischen Reiz bis in die universitären Kreise hinein nur verstärken.“ Bourdieu 1988, S. 38f.
des Menschen nicht nur für den Philosophen in seiner ursprünglichen Form erkennbar,
sondern auch für den Krieger erfahrbar.
Sowohl diese Einsicht als auch diese Erfahrung in das Wesentliche liefert eine ontologische
Legitimation der politischen und sozialen Distinktion, die den eigentlichen Menschen vom
Rest der in der historischen Kontingenz verbleibenden Individuen trennt. Als historische und
vergesellschaftete Wesen sind die Menschen in ihrer abstrakten Freiheit, die ihnen der
moderne Verfassungsstaat mitsamt seinen rechts- und sozialstaatlichen Institutionen
garantiert, zwar gleich. Aber eben ungleich in Hinblick auf ihre Fähigkeit, sich ihrer Freiheit
im eigentlichen Sinne zu bedienen. Genau dies ist jedoch das Kriterium eines elitären
Führungsanspruches. Während die alten Eliten dieses ethische Privileg der Freiheit bis in die
Weimarer Republik hinein ihren gleichsam ursprünglichen Status außerhalb des Staates und
seiner Institutionen, selbst da noch wo sie längst zu Staatseliten geworden waren, verdankten,
war es ein handfestes Problem für die „konservativen Revolutionäre“ ihren kontingenten
Dasein im der Mittelschicht und dem fortschreitenden Verfall ihrer kulturellen Macht zu
entkommen und sich für die politische und soziale Führung zu empfehlen. Ernst Troeltsch
begründete seine Forderung nach einer „geistigen Revolution“ 1921 etwa mit dem
allgemeinen Bedürfnis nach „einer neuen Ursprünglichkeit und Innerlichkeit, einer neuen
geistigen Aristokratie, die dem Rationalismus und dem Nivellement der Demokratie ein
Gegengewicht bietet, die insbesondere der geistigen Öde des Marxismus […] eine feinfühlige
und organischer zusammenfassende Geistigkeit gegenüberstellt.“10
Ein Ausweg bot sich auch in der strategischen Ästhetisierung des Ausnahmezustandes an, in
welchem alle äußerlichen sozialen und politischen Einflüsse auf die innere Subjektivität
rhetorisch suspendiert wurden. Als Kriterium politischer Führung blieb dann nur noch ein
pseudodemokratisch „völkisch“ verbrämter ethischer Voluntarismus übrig.11
Der radikale
Sprung aus dem bloßen Dasein der abstrakten Freiheit in die menschliche Eigentlichkeit
verdeckte in seiner ethischen und humanistischen Drapierung gelegentlich den elitären
Anspruch so erfolgreich, dass Jüngers völkischer Konservativismus, wie Bourdieu bemerkt,
10 Zit. nach Bourdieu 1988, S. 22. 11 Robert Michels, der als einer der ersten Soziologen das Phänomen der „konservativen Revolution“ als
aristokratische Reaktion auf die politische Aufwertung des Volkes in der Massengesellschaft beschrieben hat, wies auch schon früh darauf hin, dass die so unpolitisch daherkommende Ethik unter diesen Bedingungen zu einer scharfen Waffe geworden war: „In den heftigen Kampf, der sich vielfach mit dramatischer Größe vollzieht, vielfach aber auch fast stumm und Unaufmerksamen unbemerkbar durchfochten wird, zwischen der neuen Schicht, die aufsteigt, und der alten Schicht, die in einer Periode teils scheinbaren, teils wirklichen Nachgebens begriffen ist, wird die Ethik als Staffage hineingezerrt. Im Zeitalter der Demokratie ist die Ethik eine Waffe, deren sich jedermann bedienen kann. […] Regierung und Rebellen, Könige und Parteiführer, Tyrannen von Gottes Gnaden und Usurpatoren, wild gewordene Idealisten wie berechnende Ehrgeizlinge, alle sind ‚das Volk’ und geben an, mit ihrer Aktion nur den Willen des Volkes zur Durchführung zu bringen [Hervorh.- Michels].“ Michels 1989, S. 16.
kaum noch von Sartres Existenzialismus zu unterscheiden ist.12
So verschafft die suggestive
Verleugnung von Politik und Gesellschaft in dieser ethischen Überwindung der Geschichte
paradoxerweise politische und soziale Vorteile.
Eine kurze Zusammenfassung kann also folgendes Resümee ziehen: Bei aller
Gegensätzlichkeit hinsichtlich der Bewertung der Modernisierung bauen beide Formen der
Geschichtsphilosophie neben dem historischen auch auf einem politischen und sozialen
Defizit auf. Die Geschichte fungiert in ihnen nicht dazu, die prozessuale Anatomie von Politik
und Gesellschaft zu erfassen, sondern wird als ein negatives Medium betrachtet, welches mit
Hilfe der philosophischen Reflexion einen transzendenten Standpunkt begründen hilft, von
wo sich eine universale politische Ordnung legitimieren lässt. Der Sieger der Geschichte siegt
dabei gleichsam über die Geschichte, auch wenn dieser Kampf ins Unendliche verlängert oder
ontologisiert wird. Im Anschluss soll an einem signifikanten Beispiel untersucht werden,
welche Bedeutung eine solche Sicht auf Geschichte und Politik an den
demokratietheoretischen Diskussionen der jüngeren Vergangenheit gespielt haben.
Die liberale Demokratie am Ende der Geschichte (Francis Fukuyama)
Nach einem kurzen Artikel von 1989 veröffentlichte der vormalige stellvertretende Direktor
des Planungsstabes im Außenministerium der Vereinigten Staaten von Amerika Francis
Fukuyama 1992 seine Studie „The End of History – The Last of Man“. Vor dem Hintergrund
des Zusammenbruchs des Ostblocks wurde das Buch breit rezipiert und löste eine Fülle von
Diskussionen aus. Erfolgreich war Fukuyama vor allem deshalb, weil er in seinen
Grundaussagen scheinbar wie kein anderer den postkommunistischen Zeitgeist in West und
Ost auf den Begriff brachte. An dieser Stelle soll nach den bisherigen Voraussetzungen
geprüft werden, ob sich in diesem geschichtsphilosophischen Konzept nicht mehr als eine
Beschreibung des selbstevidenten Zeitgeist finden lässt. Handelte es sich vielleicht um eine
historisch-politische Intervention, die noch heute, wo das Buch fast vergessen ist, den
Horizont des Narrativs von der Demokratie im Zeitalter der Globalisierung absteckt?
Tatsächlich besteht die eigentliche Originalität von Fukuyamas Traktat darin, dass sie unter
dem Etikett vom „Ende der Geschichte“ die liberale Überwindung der Geschichte mit ihren
konservativen Widergänger verbindet. Die mechanisch-technologische Fortschrittstheorie
12 „Ob er aber sein Schicksal habe oder als Ziffer gelte: das ist die Entscheidung, die heute zwar jedem
aufgezwungen wird, doch die er allein zu fällen hat. […] Es ist der freie Mensch gemeint, so wie ihn Gott geschaffen hat. Dieser Mensch ist keine Ausnahme, stellt keine Elite dar. Er verbirgt sich vielmehr in jedem, und Unterschiede ergeben sich nur aus dem Grade, bis zu welchem der Einzelne die ihm verliehene Freiheit zu verwirklichen vermag.“ Jünger, Der Waldgänger, zit. n. Bourdieu 1988, S. 112.
wird mit jenem heroischen Kriegszustand synthetisiert, welchen die letzten Helden gegen die
Geschichte kämpfen.13
Vordergründig bestätigt seine Hauptthese nur die Selbstwahrnehmung
des Westens nach dem Kollaps des osteuropäischen Kommunismus. Demnach bildet die
liberale Demokratie des Westens „den Endpunkt der ideologischen Evolution der
Menschheit“ und die „endgültige menschliche Regierungsform“.14
Diese These beinhaltet
sowohl den politischen Deutungsanspruch des Westens über den Charakter und die Richtung
der bis dahin noch keineswegs abgeschlossenen Revolutionen in Osteuropa und immunisiert
den Westen zugleich gegen eine irgendwie geartete Infizierung durch die revolutionäre
Dynamik. Hintergründig erfolgt jedoch zugleich eine politische Ausdeutung des Topos der
liberalen Demokratie, welche die im Begriff enthaltene Synthese von demokratischer
Gleichheit und liberaler Freiheit durch die konservative Pointierung des Zusammenhanges
von Freiheit und Ungleichheit ersetzt. Die hierzu verwendeten Geschichtskonzepte
konvergieren in ein hierarchisches Modell politischer Anthropologie, das bei genauerem
Hinsehen dasjenige der „konservativen Revolution“ ist. Exakt hierin besteht die Bedeutung
der Verknüpfung der Sujets vom „Ende der Geschichte“ und vom „letzten Menschen“.
Obwohl die liberal-demokratische Regierungsform empirisch betrachtet keineswegs bereits
überall vorherrsche, so argumentiert Fukuyama, bliebe diese doch von nun ab das nicht mehr
verbesserungsbedürftige Ideal bzw. „das einzige klar umrissene politische Ziel, das den
unterschiedlichen Regionen und Kulturen rund um die Welt gemeinsam vor Augen steht.“15
Das politische Ende der Geschichte wird insofern gewissermaßen vom Ende der politischen
Ideengeschichte und der Ideologien vorweggenommen. Die Evidenz fortlaufender historischer
Ereignisse kann den Kern seiner These daher nicht in Frage stellen, da nicht die kontingente
Ereignisgeschichte, sondern allein die universale Strukturgeschichte an ihr Ende gekommen
sei. Nur diese bildet nämlich „einen einzigartigen, kohärenten evolutionären Prozess, der die
Erfahrungen aller Menschen aller Zeiten umfasst.“16
Analog zur Sprache, so kann hinzugefügt
werden, können die Ereignisse zwar immer noch durch die abzählbar-unendliche Variation
eines gleichwohl unveränderlichen grammatikalischen Sets erzeugt werden, ohne dass es aber
einen „weiteren Fortschritt in der Entwicklung grundlegender Prinzipien und Institutionen
mehr geben würde, da alle wirklich großen Fragen endgültig geklärt wären.“17
Es ist also mit
anderen Worten die politische Geschichte, d. h. die Geschichte der politischen Struktur bzw.
13 Dieser Zusammenhang war den deutschen Übersetzern offensichtlich zu peinlich, das sie den amerikanischen
Untertitel „The Last Of Man“ – eine Anspielung auf Nietzsches Motiv vom „letzten Menschen“ – mit der merkwürdigen Formel wiedergaben: „Wo stehen wir“
14 Fukuyama 1992, S. 11. 15 Ebenda, S. 14. 16
Ebd., S. 12. 17 Ebd., S. 13.
des politischen System, die an ihr Ende gekommen ist. Das Ende der Geschichte fällt hier mit
dem Ende der Politik zusammen, die liberal-demokratische Posthistoire mündet insofern auch
in ein postpolitisches Zeitalter.
Dieser universalgeschichtlichen Entwicklung unterlegt Fukuyama eine vermeintlich
materialistische Naturgesetzlichkeit, die sich aus dem Mechanismus von Kapitalakkumulation
und technologischem Fortschritt speist, und welche ihr logisches Substrat in den modernen
Naturwissenschaften findet. Die Logik der Naturwissenschaften, die er mit der Metapher von
der kontinuierlichen Zeit der Natur verbindet, ist demnach die Methode, welche die
wirtschaftliche Modernisierung als einen Universalisierungsprozess kapitalistischer
Strukturen abbildet.18
Der kumulative Fortschritt technologischer Macht und die globale
Ausbreitung des Kapitalismus führen sich dabei ebenso auf die technisch-militärische
Überlegenheit wie auf einen überlegenen Modus in der Akkumulation und Verteilung von
gesellschaftlichem Reichtum zurück. Da die objektive Struktur der modernen
Naturwissenschaft einen kontinuierlichen Fortschritt ermöglicht, ohne selbst durch diesen in
Frage gestellt zu werden, verkörpert sie das Modell einer Kontinuität im Wandel. Beide,
Naturwissenschaft und Kapitalismus, bilden objektive Strukturen des Wissens und des
Wirtschaftens, welche auf optimale Weise Ereignisse generieren und sich somit den
konkurrierenden Modell der sozialistischen Bedarfdeckungssysteme als überlegen erwiesen
haben. Naturwissenschaft und Kapitalismus bilden daher ein Analogon zum Verhältnis von
theoretischer und praktischer Vernunft. Die Innovationen der Naturwissenschaft können sich
daher am besten innerhalb des kapitalistisch-liberalen Wirtschaftsregimes entfalten.
Diese naturalistische und zugleich ökonomistische Begründung der Überlegenheit liberaler
Wirtschaftsweise impliziert zweifellos eine methodische Strategie der Entpolitisierung, die
nur unzureichend durch den äußeren Systemwettbewerb kompensiert wird. Die politische
Binnenstruktur liberal-demokratischer Regierungsformen, die keineswegs als ein natürlicher
Evolutionsprozess, sondern nur mit einem politischen Zeitbegriff als kontingenter Prozess
sozio-politischer Konflikte begriffen werden kann, fällt hierbei komplett unter den Tisch.
Dieses politische Defizit des ökonomistisch-technizistischen Entwicklungsmodells wird von
Fukuyama im Übrigen auch konzediert. Allerdings nur das konservative Motiv der ethischen
Suspendierung der Geschichte an das Modell der liberalen Demokratie anzuschließen. Unter
doppelter Bezugnahme auf den Platon von Leo Strauss - aus dessen neokonservativen Umfeld
in Chicago Fukuyama stammt - und Alexandre Kojèves Hegelinterpretation gerät die Politik
18 So scheint für Fukuyama die wissenschaftlich-technische Revolution des postindustriellen
Informationszeitalters zu bestätigen, dass „eine universale Entwicklung in Richtung auf kapitalistische Strukturen in der Logik der modernen Naturwissenschaften“ liegt. Ebd., S. 16.
so zu einem ethischen Privileg, in der es um einen exklusiven Kampf um Anerkennung geht.
„Das Streben nach Anerkennung oder der Thymos ist also das ‚missing link’ zwischen
liberaler Ökonomie und liberaler Politik, das bei der ökonomischen Analyse […] gefehlt
hat.“19
Die ethische Dimension der Anerkennung, so muss Fukuyama ergänzt werden,
vermittelt die Ökonomie jedoch nicht nur mit der Politik, sie trennt beide zugleich auch
voneinander. Dies liegt ganz einfach daran, dass das für die Politik notwendige Streben nach
ethischer Anerkennung unbegrenzt ist und zur Monopolisierung derselben bei einer
„ethischen“ zur Freiheit fähigen Elite führt. Der hierzu verwendete spekulative Begriff der
„Megalothymia“ könnte zwar aus der sozialwissenschaftlich nüchternen Perspektive
Bourdieus auch mit der Akkumulation von symbolischen Kapital erklärt werden, allerdings
wäre es dann freilich unmöglich die hieraus erwachsenden politischen Effekte auf einen
ethischen Voluntarismus zu gründen.20
Der „freie“ Kampf um die Maximierung des
symbolischen Kapitals der „Megalothymia“ wird von Fukuyama streng unterschieden von der
gleichmacherischen Verteilung von Anerkennung in der „Isothymia“. Beide verhalten sich
zueinander wie Freiheit und Gleichheit und sind durch eine unsichtbare, ethische Schwelle
voneinander geschieden. Die Ethik erfüllt daher eine semipermeable Funktion, da sie zugleich
in der Lage ist die Politik mit der Ökonomie von oben nach unten zu vermitteln, während sie
beide in umgekehrter Richtung von einander trennt. Auf diese Weise kann die liberale
Demokratie an das Politikmodell der „konservativen Revolution“ angeschlossen werden.
Geschichtslos und apolitisch sind daher zunächst diejenigen Bewohner der ökonomischen
Welt, die vollständigen in der Rolle des saturierten Konsumenten aufgehen. „Sie werden“, so
prophezeit Fukuyama, „ihre Bedürfnisse durch wirtschaftliche Betätigung befriedigen, aber
sie müssen ihr Leben nicht mehr im Kampf aufs Spiel setzen. Sie werden, anders ausgedrückt,
wieder Tiere sein wie vor der blutigen Schlacht, die die Geschichte in Gang setzte. Ein satter
Hund ist zufrieden, wenn er den ganzen Tag in der Sonne schlafen kann, weil er mit dem, was
er ist, nicht unzufrieden ist. Es kümmert ihn nicht, dass andere Hunde mehr Erfolg haben als
er oder dass Hunde in einem entlegenen Teil der Welt unterdrückt werden.“21
Anders als
liberale Demokraten wie Habermas betrachtet Fukuyama die Massenerscheinung des
unpolitischen Konsumenten keineswegs als Problem für die liberale Demokratie, eher im
Gegenteil bildet sie für ihn das materialistische Fundament derselben.22
Als homo
19 Ebd., S. 20. 20 Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Bourdieu zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilkraft: Bourdieu
1998. 21 Fukuyama 1992, S. 412. 22 In seinem Buch über den Strukturwandel der Öffentlichkeit hat Habermas die unsichtbare Trennung von
Aktivbürgern und konsumierenden Passivbürgern in der modernen Mediengesellschaft nicht nur zum Grundproblem der Demokratie, sondern auch der von ihm idealisierten liberalen Öffentlichkeit erklärt.
oeconomicus lebt der reine Konsument gewissermaßen als Passivbürger in der Welt der
Gleichheit und kann auf das ethische Moment verzichten, das ihn zum politischen Subjekt
bzw. Aktivbürger machen würde. Die Existenz der unhistorischen Passivbürger bildet daher
die Bedingung für die Möglichkeit des freiheitlichen Aktivbürgers, dessen politische
Kompetenz sich aus dem ästhetisierten Kampf gegen die Geschichte speist.
Bedarf demnach die liberale Demokratie zur eigenen Stabilisierung der trägen
Geschichtslosigkeit ihrer konsumierenden Passivbürger, so wäre doch die Ausbreitung
derselben unter den Aktivbürgern verheerend. Damit meint Fukuyama den demokratischen
Exzess, welcher die Gleichheit über den bloßen Konsum hinausführt und das demokratische
Prinzip der allgemeinen Anerkennung („Isothymia“) auf den Bereich der Politik und der
Freiheit überträgt und damit die ethisch-politische Grenzen zwischen Politik und Ökonomie,
Freiheit und Gleichheit bzw. Gesellschaft und Staat untergräbt. Anzeichen hierfür finden sich
seit 1968 in der ideologischen Ausbreitung von Relativismus, Pazifismus und
Multikulturalismus in den gebildeten Mittelschichten des Westens. „Die moderne Bildung
fördert demnach eine Tendenz zum Relativismus, das heißt zu der Doktrin, dass alle
Horizonte und Wertvorstellungen abhängig seien von ihrer Zeit und ihrem Ort; sie sind nicht
wahr, sondern spiegeln nur die Vorurteile und Interessen derjenigen wider, die sie befördern.
Eine Doktrin, nach der es keine privilegierte Sicht auf die Welt gibt, passt recht gut zu dem
Wunsch des demokratischen Menschen zu glauben, dass seine Lebensweise ebenso gut sei
wie jede andere. In diesem Zusammenhang führt der Relativismus nicht zur Befreiung der
Großen und Starken, sondern zur Befreiung der Mittelmäßigen. Ihnen sagt man jetzt nämlich,
dass es nicht gibt, wofür sie sich schämen müssten. Der Knecht am Anfang der Geschichte
wollte sein Leben nicht in der blutigen Schlacht riskieren, weil er sich instinktiv fürchtete.
Der letzte Mensch am Ende der Geschichte hat so viel Verstand, dass er sein Leben nicht für
eine Sache hingibt. Er weiß, dass die Geschichte voll ist von sinnlosen Schlachten, in denen
die Menschen darum kämpften, ob sie Christen oder Moslems, Protestanten oder Katholiken,
Deutsche oder Franzosen sein sollten. Wie die Geschichte zeigte, waren Treuepflichten, die
Menschen zu verzweifelten Heldentaten und Opfern trieben, nur närrische Vorurteile.
Moderne gebildete Menschen sind zufrieden damit, wenn sie zu Hause sitzen und sich
gegenseitig zu ihrer Toleranz und ihrer Abgeklärtheit gratulieren können. Nietzsches
Während Fukuyama in der sozialen Trennung von Aktiv- und Passivbürgern unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts die Bedingung für die Möglichkeit liberaler Demokratie behauptet, erkennt Habermas hierin eine „Refeudalisierung der Öffentlichkeit“. Habermas 1991.
Zarathustra sagt zu ihnen: ‚Denn so sprecht ihr: »Wirkliche sind wir ganz, und ohne Glauben
und Aberglauben«: also brüstet ihr euch – ach, auch noch ohne Brüste!’“23
Die radikaldemokratische Anerkennung von Historizität und Kontingenz und die damit
verbundene Auflösung der Geschichte in die Geschichten denunziert Fukuyama gerade
deshalb als Kriterien der Geschichtslosigkeit, weil sie das konservative Motiv der ästhetisch-
heroischen Überwindung derselben zerstören. Damit rekurriert er ganz bewusst auf den Topos
von der politischen Bewährung an der Geschichte, welchen die „konservativen
Revolutionäre“ von Nietzsche übernommen haben: „die Geschichte wird nur von starken
Persönlichkeiten ertragen, die schwachen löscht sie vollends aus.“24
Mit der
ideologiekritischen Historisierung und Relativierung des politischen Subjekts hingegen
verschwindet nicht nur der Heldenepos des distinguierten Individuums an sich, es
verschwinden auch die Bedingungen für das historische Privileg an Freiheit und politischer
Führung. Dies fällt aus konservativer Perspektive zusammen mit dem Ende der Politik im
Allgemeinen und der liberalen Demokratie im Besonderen. „In dem Maße“, so heißt es
diesbezüglich unmissverständlich, „wie die liberale Demokratie die Megalothymia aus dem
Leben verbannt und sie durch den rationalen Konsum ersetzt, werden aus uns ‚letzte
Menschen’. […] Wenn sich eine Zivilisation in ungezügelter Isothymia ergeht und fanatisch
jede Spur von Ungleichheit ausmerzt, stößt sie bald an die Grenzen, die die Natur selbst
setzt.“25
Hier sprich Fukuyama als Vertreter einer politischen Elite, die ihren universalen
politischen Status innerhalb der liberalen Demokratie aus der Herrschaft über die passiven
Subjekte des Konsums ableitet. Nur die Herrschaft der „Starken“ kann das zukünftige
Überleben der westlichen Zivilisation im globalen „survival of the fittest“ garantieren.
Huntington erzkonservatives Szenario vom „Clash Of Civilizations“ ist also schon bei
Fukuyama angelegt.26
Für den Historiker politischer Ideen lässt sich hierbei leicht die Reaktualisierung der
klassisch-vormodernen Trennung von Ökonomie und Politik erkennen, wie sie in der
alteuropäischen Ordovorstellung eingelagert war. Im Motiv der Separierung von Gleichheit
und Freiheit wird sie analogisiert zum Begriff der liberalen Demokratie. Von hier aus kann
dieser Antagonismus dann ebenso leicht auch auf die Beziehung von Staat und Gesellschaft
übertragen werden. Fukuyama spielt hier mit offenen Karten: „Die erfolgreiche politische
Modernisierung setzt also voraus, dass in dem System von Rechten und verfassungsmäßigen
Einrichtungen ein vormoderner Rest erhalten bleibt: Die Gesellschaft muss weiterleben, der
23 Fukuyama 1992, S. 407. 24
Nietzsche 1988, S. 283. 25 Fukuyama 1992, S. 416.
Staat darf nicht den vollständigen Sieg davontragen.“27
Die klassische Trennung von Politik
und Ökonomie findet so ein Analogon in der proklamierten Trennung von Staat und
Gesellschaft, was sich wesentlich gegen die nivellierende Wirkung der sozialstaatlichen
Verschränkung derselben richtet. Somit ist es ein konservatives Theorem, welches die
altliberale Idee von der Trennung von Staat und Gesellschaft in seiner neoliberalen Fassung
präsentiert. Die illegitime, weil tendenziell „isothymische“ Angleichung der
Lebensbedingung durch den modernen Wohlfahrtsstaat wird ersetzt durch die legitime
Nivellierung mittels Marktmechanismus. Das Gleichheitsprinzip der Marktwirtschaft
korrespondiert auf diese Weise mit einem vormodernen Politikstil, der sich beständig aufs
Neue gegen die Geschichte stemmt und daraus ein politisch nutzbares kulturelles Kapital
gewinnt. Die quasi-natürliche Trennung von Konsumenten und Produzenten durch das
Marktmodell lässt sich auf die unsichtbare ethische Schwelle zwischen posthistorischer
Gleichheit und historisch-politischer Freiheit übertragen. Kurz: unter den Bedingungen einer
radikalen Vermarktung der Gesellschaft sind es die „präliberalen Werte, die für ein gesundes
Gemeinschaftsleben notwendig sind“.28
Das Bündnis von Liberalismus und Konservativismus
besiegelnd, kommt Fukuyama zu dem Schluss: „Liberale Demokratien tragen sich nicht
selbst, das Gemeinschaftsleben, von dem sie abhängig sind, muss eine andere Quelle haben
als den Liberalismus.“29
Dabei versteht es sich von selbst, dass hier nicht der Sozialismus
gemeint ist.
Die politische Synthese von Liberalismus und Konservativismus im Begriff der liberalen
Demokratie kann jedoch nicht vollständig demokratisch geglättet werden. Die Spaltung der
politischen Anthropologie in Aktiv- und Passivbürger lässt sich unter demokratischen
Gesichtspunkten nicht rechtfertigen. „Die Erscheinungsformen der Megalothymia, die in
modernen Demokratien überlebt haben“, so wird eingeräumt, „stehen demnach in einem
gewissen Spannungsverhältnis zu den Idealen, zu denen sich die Gesellschaft öffentlich
bekennt.“30
Dieser Widerspruch kann nur entschärft werden, wenn die freiheitliche
Attributierung des Demokratiebegriffs das Gleichheitsprinzip logisch grundiert und in der
öffentlichen Wahrnehmung überstrahlt. Die freiheitlichen Kraftzentren, in den die
demokratische Ideologie des Egalitarismus suspendiert werden kann, bilden das
kapitalistischen Unternehmertum, der Typus des wahlkämpfenden Politikers und die
postmateriellen Helden der Medienkultur. Sie bilden den exklusiven, historischen Teil in der
26 Vgl. Huntington 1996. 27 Fukuyama 1992, S. 305. 28 Ebd., S. 431. 29
Ebd., S. 430. 30 Ebd., S. 424.
posthistorischen Welt der Demokratie. Erst aus ihrer mechanischen Synthese entsteht das
Gebilde der liberalen Demokratie.
Obwohl das Motiv vom „Ende der Geschichte“ an der Wende zum 21. Jahrhundert an
Strahlkraft verloren hat, so sind doch zentrale Momente dieses Narrativs in den großen
öffentlichen Diskursen der Gegenwart präsent. Sowohl der neoliberale Globalisierungsdiskurs
als auch der radikal-konservative Diskurs des Kampfes der Kulturen konnten hieran
anknüpfen. Versuchen die Globalisierungstheoretiker alle Partikularismen über das abstrakte
und historisch idealisierte Marktmodell zu harmonisieren, so begegnen die Kulturkämpfer den
hieraus entstehenden Konflikten mit dem offenen Abbau demokratischer Grundstandards. Das
neue Primat der Außenpolitik, welches sich aus der prognostizierten Schlacht der Kulturen
ergibt, desavouiert alle links-liberalen Träume von Multikulturalismus, Toleranz und
Pazifismus und konstituiert über ein schroffes Freund-Feind-Schema den politischen
Führungsanspruch einer elitären und kulturell gleichsam „reinrassigen“ politischen Kaste.
Gegen fortschreitenden Defätismus und Dekadenz und dem prognostizierten Niedergang der
eigenen Kultur leitet sich die besondere Aggressivität dieser neuen „konservativen
Revolution“ ab.
Wider die „Geschichtsvergessenheit“ - „Mehr Demokratie wagen“
Anstatt also die Geschichte überwinden oder in irgend einer anderen Weise fetischisieren zu
wollen, kommt es also heute mehr denn je darauf an, sich auf die Geschichte einzulassen. Das
kann nur heißen, sich der radikalen Kontingenz und Pluralität des historischen Prozesses zu
stellen, ohne dabei auf einen universalen Horizont zu verzichten. Diese Vermittlung zwischen
Kontingenz und Universalität definiert dabei das Operationsfeld des Politischen. Eine
demokratische Politik wird dann daran erkennbar sein, wie es ihr gelingt diese Lücke
partikularer Kontingenz und politischer Universalität zu symbolisieren bzw. zu repräsentieren,
ohne sie dabei zu verleugnen oder zu einem Initiationsritus für politisch Auserwählte zu
ästhetisieren. Ersteres ist im Motiv vom „Ende der Geschichte“ enthalten, letzteres bildet in
seiner zugespitztesten Form das Modell der „konservativen Revolution“. Damit ist ein
Maßstab vorhanden, mit welchem sich die Konzeptualisierung von Politik und Geschichte
auch in der Demokratietheorie Saages einordnen lässt. Das soll in der Folge anhand von
zentralen Themen wie abstrakter Universalismus, Revolution, Besitzindividualismus
geschehen, wobei Saages Konzept in eine fruchtbare Diskussion verwickelt werden soll mit
alternativen Ansätzen, die aus unterschiedlichen Perspektiven zu ähnlichen Ergebnissen
kommen.
Saages dezidiert mit historischen und sozialwissenschaftlichen Anspruch vorgetragene
Theorie gewinnt zunächst an Kontur durch die Abgrenzungen sowohl vom abstrakten
Universalismus einer rein normativen Theorie als auch von der deskriptiven Komparatistik,
welche die Ebene der Kontingenz nicht übersteigt und in der deshalb das universale Moment
nur negativ als ein willkürliches Supplement der Empirie erscheint.31
So löst der abstrakte
Normativismus den Demokratiebegriff von den historischen und sozialen Praktiken ab, um
diese anschließend aus der damit künstlich gewonnenen idealen Begriffsperspektive bewerten
zu können. Die Folge ist die Etablierung einer instrumentellen Beziehung zwischen Theorie
und Praxis, welche auf einer mechanische Trennung von politischer Philosophie und sozio-
historischer Kontingenz beruht. Umgekehrt verfehlt die empirizistische Komparatistik die
Ebene der Politik, da sie den Begriff der Demokratie keinen universalen Wert zu geben
vermag. Sie verbleibt damit komplett auf der Ebene der historischen Selbstbeschreibung, die
in ein willkürliches Konglomerat von Begriffen und Praktiken zerfällt.
Demgegenüber besteht Saage auf der methodisch unhintergehbaren Wechselbeziehung
zwischen historischer Kontingenz und philosophisch verallgemeinender Begriffsbildung.32
Dazu werden drei analytisch zu trennende, aber inhaltlich aufeinander bezogene Ebenen
unterschieden. Es handelt sich hierbei 1. um die sozio-historischen Kämpfe um die
Demokratie, 2. um die philosophische Reflexion dieser Kämpfe, die mit ihrem logisch-
politischen Hegemonieanspruch und ihrer Legitimationsfunktion gleichwohl Bestandteil
derselben sind und 3. die sozio-technischen Voraussetzungen, mit deren Hilfe Saage die
Realisierungschancen politisch-hegemonialer Kämpfe in Bezug zur
Produktivkraftentwicklung untersuchen will. Thematisiert werden soll mit diesem Ansatz, wie
er zusammenfassend schreibt: „im jeweiligen epochenspezifischen Kontext eben jenes Muster
der von Massenbewegungen getragen provokativen Herausforderung des Postulats ‚Mehr
Demokratie wagen’ und der Antwort derer, die auf der Sistierung oder Rückgängigmachung
dieser Dynamik bestanden.“33
Dies schließt eine Fetischisierung des Demokratiebegriffs, wie
sie aus der positiven oder negativen Ablösung vom historischen Prozess hervorgeht,
prinzipiell aus. Demokratie als Prozess zu betrachten, heißt daher den Demokratiebegriff
immer in Beziehung zur Praxis der Demokratisierung zu denken. Dies unterstreicht gegen
eine statische Interpretation den unabgeschlossenen Charakter von Demokratie. „Nicht das
31 Vgl. Saage 2005, S. 25f. 32
Ebd., S. 26f. 33 Ebd., S. 36.
Interesse an der ‚fertigen’ Demokratie, die typologisiert und mit den Mitteln der empirischen
Sozialforschung quantifiziert werden kann, ist federführend, sondern der dynamische
Vorgang der geschichtlichen Entstehung und das Scheitern von Demokratien.“34
Gegen den
Topos vom „Ende der Geschichte“ ließe sich aus dieser Perspektive mit Arthur Rosenberg
einwenden: „Die Demokratie als ein Ding an sich, als eine formale Abstraktion existiert im
geschichtlichen Leben nicht, sondern die Demokratie ist immer eine bestimmte politische
Bewegung, getragen von bestimmten gesellschaftlichen Kräften und Klassen, die um
bestimmte Ziele kämpfen. Ein demokratischer Staat ist demgemäß ein Staat, in dem die
demokratischen Bewegung die Herrschaft hat.“ 35
Welche konkrete Form die Demokratie
dabei annimmt, ist der konkreten Vermittlung von historisch-sozialer Kontingenz und
politischer Universalität geschuldet.
Ein solcher Ausgangpunkt für eine Demokratietheorie ist in vielerlei Richtung anschlussfähig.
So weist Saages Modell der Historisierung, die sowohl den politischen Prozess als auch
philosophischen Legitimationsstrategien einbezieht vielfache Analogien zur Kritik der
„Geschichtsvergessenheit“ auf, wie sie Bourdieu vorgetragen hat. Der Sachverhalt, den
Bourdieu damit beschreiben will, lässt sich folgendermaßen skizzieren: Ebenso wie die
politischen Institutionen ihre Regeln nicht apriori als legitim unterstellen dürfen, sondern, um
sie tatsächlich demokratisch rückkoppeln zu können, als historisch und sozial bedingt
betrachten müssen, darf auch die akademische Wissenschaft einschließlich der Philosophie
ihre geschulte Perspektive nicht auf einen abstrakten Universalismus aufbauen, der seine
eigenen kontingenten Bedingungen unterschlägt. Für sich genommen tendieren aber sowohl
der moderne Staat als auch die Wissenschaften genau dazu, da sie ihren universalen Anspruch
als distinktes Privileg zu statuieren und zu rechtfertigen suchen. Auf diese Weise können sie
darüber hinaus in einen wechselseitigen Legitimationskreislauf eintreten, ohne sich den
vordergründigen Verdacht der gegenseitigen Übervorteilung auszusetzen. Ruhigen Gewissens
kann die aus einer faktischen Unterschlagung hervorgegangene Monopolisierung des
Universalen zum Privileg von Staat und Wissenschaft von diesen jedoch nur behauptet
werden, wenn sie ihre eigne Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes verdrängt oder
vergessen haben. Für Bourdieu bildet diese systematische Verdrängung der gesellschaftlichen
Bedingungen von Universalität in das Unbewusste eines der Grundmomente moderner
34
Ebd., S, 31. 35 Rosenberg 1988, S. 302.
Rationalität, weshalb deren Problematisierung nach einer radikalen Historisierung und
Kontextualisierung verlangt.36
Über diese Verdrängungsleistung, die sich bei der Universalisierung des Marktmodells ebenso
beobachten lässt wie bei den Methoden rationaler Verwaltung, wird es möglich, kontingente
Regeln und Logiken mit natürlicher Selbstverständlichkeit auf alle übrigen Bereiche der
Gesellschaft, die von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft objektiviert werden, zu übertragen.
Die dabei gerade wegen ihrer vermeintlichen Wertfreiheit behilfliche Objektivität des
Beobachters überträgt die Normen der abstrakten Vernunft von den politischen und
wissenschaftlichen Beobachtern auf die praktische Logik der beobachteten Akteure. Hierin
besteht der eigentlich nivellierende Akt moderner Rationalität, der zugleich jene unsichtbare
Unterscheidung von Aktiv- und Passivbürgern reproduziert, auf deren Grundlage der
Konservativismus die Trennung von Freiheit und Gleichheit pseudodemokratisch begründen
kann.37
Diese politische Trennung bekommt dabei eine wissenschaftliche Legitimität
verliehen. Unter dem normalisierenden Blick der abstrakten Vernunft erstarrt die soziale
Praxis zu sozialen Systemen, die mit mathematischen Schemata modelliert und optimiert
werden. Lebendige Sprache verwandelt sich in tote Texte, der von autorisierten Lektoren
entziffert werden müssen, um „den Akteuren die räsonierende Vernunft des über ihr
Verhalten räsonierenden Gelehrten zu unterstellen.“38
Je größer die soziale Kluft zwischen
Beobachtern und Beobachteten, desto problematischer sind die Folgen für den
demokratischen Anspruch von Politik und Wissenschaft. „Die Verzerrungen der
scholastischen Sicht haben um so größere und wissenschaftlich ruinösere Auswirkungen, je
weiter die Objekte der Wissenschaft in ihren Lebensbedingungen von den scholastischen
Feldern entfernt sind – mag es sich dabei um die Mitglieder der traditionell von der
36 „Das Unbewusste ist die Geschichte – die kollektive Geschichte, die unsere Denkkategorien erzeugt, und die
individuelle, die sie uns eingeprägt hat: Und so dürfen wir beispielsweise von der (absolut banalen, in der Geschichte philosophischer und anderer Ideen nicht vorkommenden) Sozialgeschichte der Bildungseinrichtungen und von der (vergessenen oder verdrängten) Geschichte unserer eigenen Beziehungen zu diesen Institutionen manch wirkliche Enthüllung über die objektiven und subjektiven Strukturen (Klassifizierungen, Hierarchien, Problemstellungen usw.) erwarten, die unser Denken ständig und gegen unseren Willen lenken.“ Bourdieu 2001, S. 18. Bourdieu fasst die aufklärerische Intention seines Werkes als eine Aneignung des gesellschaftlichen Unbewussten mit den Mitteln der Bildungs-, Kultur- und Staatssoziologie zusammen. Ebd.
37 „Eine Feststellung, die eine für die Wissenschaft wie für die Politik offensichtlich gleich entscheidende Frage aufwirft, von der ‚Politischen Wissenschaft’ jedoch hochmütig ignoriert wird (wohl deswegen, weil die Entdeckung eines solchen unsichtbaren Zensus das gute demokratische Gewissen schockierte oder, fundamentaler noch, den Glauben an die geheiligten Werte der ‚Person’): die Frage nach den ökonomischen und sozialen Voraussetzungen des Zugangs zur öffentlichen Meinung in ihrer legitimen (und scholastischen) Definition als artikulierter und allgemeiner Diskurs über die Welt. […] Die eklatante Ungleichheit im Zugang zu der sogenannten persönlichen Meinung verstört das gute demokratische Gewissen, den guten ethischen Willen der Gutmenschen und auch, grundlegender noch, den intellektualistischen Universalismus, den Kern der scholastischen Illusion.“ Ebd., S. 86f.
38 Ebd., S. 78.
Ethnologie […] untersuchten Gesellschaften handeln oder um die Inhaber niedrigen
Positionen des sozialen Raums.“39
Diese Kritik am ahistorischen Charakter des abstrakten Universalismus der modernen
Rationalität und insbesondere ihrer pseudodemokratischen Verklärung in Politik und
Wissenschaft darf für Bourdieu jedoch nicht dazu führen, den Anspruch der Universalität
zugunsten eines nihilistischen Relativismus aufzugeben, wie das viele Apologeten der
Postmoderne getan haben. Ganz im Gegenteil kann die demokratische Kritik am abstrakten
Universalismus nur darauf abzielen, den Anspruch auf Universalität wie ihn die
demokratisch-emanzipatorischen Bewegungen seit der Aufklärung vertreten haben, zum
Durchbruch zu verhelfen. Bourdieu fasst dies folgendermaßen zusammen: „In den
Beziehungen zwischen den Nationen wie innerhalb derselben dient der abstrakte
Universalismus meist zur Rechtfertigung der bestehenden Ordnung, der geltenden Verteilung
von Macht und Privilegien – das heißt der Herrschaft des heterosexuellen, euro-
amerikanischen (weißen), bürgerlichen Mannes – im Namen formaler Forderungen eines
abstrakt Universellen (Demokratie, Menschenrechte usw.) und unter Vernachlässigung der
ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner Realisierung oder, schlimmer noch, im
Namen der ostentativ universalistischen Verurteilung eines jeden Anspruchs auf
Partikularismus und zugleich aller auf der Grundlage einer stigmatisierten Partikularität
konstruierten ‚Gemeinschaften’ (Frauen, Homosexuelle, Schwarze usw.), die damit
verdächtigt oder beschuldigt werden, sich selbst aus größeren sozialen Einheiten (‚Nation’,
‚Menschheit’) auszuschließen. Auf ihre Weise stellt die skeptische oder zynische
Zurückweisung jeder Form des Glaubens an das Universelle, an die Werte Wahrheit,
Emanzipation, kurz: an die Aufklärung, und jede Behauptung universeller Wahrheiten und
Werte, im Namen eines primitiven Relativismus, der jedes universalistische
Glaubensbekenntnis für ein pharisäisches Betrugsmanöver mit dem Ziel der Verewigung
einer Hegemonie hält, eine andere Art dar, die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind – und eine
insofern gefährlichere Spielart, als sie sich den Anschein des Radikalismus geben kann.“40
Dem postmodernen Pseudoradikalismus muss daher eine historisierende „Aufklärung der
Aufklärung“ gegenübergestellt werden, deren politisches Pendant Bourdieu als eine
„kämpferische Realpolitik der Vernunft“ verstanden wissen will. „Entgegen dem Anschein
bedeutet es keinen Widerspruch, gleichzeitig gegen die mystifizierende Heuchelei des
abstrakten Universalismus zu kämpfen und für die Universalisierung der
Zugangsmöglichkeiten des Universellen – ein vorrangiges Ziel jedes wahrhaften
39 Ebd., S. 65f.
Humanismus, den die universalistische Predigt ebenso vergisst wie die (falsche) nihilistische
Subversion.“41
Revolution und Demokratisierung
Ebenso wie sich Saages Auffassung vom unabgeschlossenen Prozess der Demokratisierung in
ein fruchtbares Zwiegespräch mit Bourdieus „kämpferischer Realpolitik der Vernunft“
verwickeln lässt, so scheint mir dies anhand der Dialektik von Demokratie und Revolution
auch möglich für das Modell der radikalen und pluralen Demokratie von Ernesto Laclau und
Chantal Mouffe. So nimmt die Spannung von sozialer und politischer Demokratisierung zum
modernen Revolutionszyklus im Werk Saages einen großen Raum ein. Am Beispiel der
politischen und sozialen Kämpfe in den Niederlanden, England und in Nordamerika zwischen
dem 16. und 18. Jahrhundert wird die Beziehung zwischen demokratischen Volksbewegungen
und der revolutionären Herausbildung des modernen Verfassungsstaates thematisiert. Der
Blick auf die revolutionäre Pamphletistik klärt schnell darüber auf, inwieweit die
Begriffsbildung der politischen Theorie als immanenter und praktischer Bestandteil der
politischen Kämpfe und der sozialen Umwälzungen betrachtet werden muss. Die hierin zum
Ausdruck kommenden Erschütterungen des Legitimitätsglaubens sind im Übergang von der
ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft nicht zu trennen von der Um- und Herausbildung
neuer sozialer Identitäten. Dabei liegt der Fokus der Untersuchungen auf der praktischen
Rekonstruktion des revolutionären Wandels von politischer Legitimität und
Rechtsbegründung.
Geschildert wird dabei die Herausbildung eines kontraktualistischen Verfassungsrechtes,
welches die Motive von individueller, d. h. auf den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit
basierender Rechtspersönlichkeit der Bürger und demokratischer Volkssouveränität verbindet.
Obwohl sowohl die niederländische als auch die englische Revolution zunächst als politische
Konflikte innerhalb der traditionellen Eliten ausbrechen, und auf dieser Ebene noch nicht über
die überkommenen Legitimationsvorstellungen des ständischen Ordoprinzips hinausweisen,
setzen die qualitativen Umbrüche im Staats- und Rechtsverständnis genau dann ein, wenn sich
die revoltierenden Fraktionen der herrschenden Eliten mit einer Volksbewegung verbinden.
So wird mit der Rechtfertigung des bewaffneten Kampfes gegen die Obrigkeit und den
Bedürfnissen der Mobilisierung und Führung einer Volksbewegung das Problem von
Souveränität und Legitimität im Zusammenhang mit der Frage des Widerstandrechts
40 Ebd., S. 91.
aufgeworfen. Das Terrain, auf dem sich die revolutionären Kämpfe entfalten konnten, setzte
allerdings bereits die politischen Interventionen der Reformation und der Staatsräson voraus.
In ihrem Zusammenwirken stellten sie das theologische Legitimationsmonopol der
katholischen Kirche radikal in Frage und konstituierten damit die Politik zu einem
eigenständigen und weltlich bestimmbaren Gegenstand. Die hierdurch beförderte Ablösung
des Rechtes von seiner transzendent-theologischen Begründung veränderte auch den Modus
der juristischen Regulation der Gesellschaft. So geriet das traditionelle Ordoprinzip schnell in
Konflikt zur neuen Souveränitätslehre.
Im Souveränitätsbegriff von Jean Bodin tritt der weltliche Monarch an die transzendente
Position Gottes, um selbst zum „unbewegten Beweger“ der aristotelischen Metaphysik zu
werden. Als solcher kann er allgemein-verbindliche Gesetze erlassen, ohne denselben selbst
unterworfen zu sein. Demgegenüber plädieren die calvinistischen Monarchomachen für die
Wiederherstellung der traditionellen Unterordnung des Souveräns unter die (ständische)
Verfassung und leiten hieraus ihren Anspruch auf ein Widerstandsrecht ab. Die verwaiste
Position Gottes kann demnach tendenziell republikanisch-demokratisch gefüllt werden. Die
im traditionellen Ordoprinzip der ständischen Verfassung durchaus enthaltenen regressiven
Elemente, werden allerdings durch den Antagonismus zwischen Calvinismus und
Katholizismus politisch überzeichnet. Eine revolutionäre Dimension erreichte dieser religiöse
Antagonismus jedoch erst, wenn er temporär mit weiteren politischen, ökonomischen und
sozialen Antagonismen, wie etwa Spanisch und Nicht-Spanisch, arm und reich oder adelig
und bürgerlich verbunden wurde. In diesen antagonistischen Äquivalenzketten, welche die
revolutionäre Volksbewegung mit den revoltierenden Fraktionen der politischen Elite
verband, wird das traditionelle Ordoprinzip suspendiert zugunsten der egalitären Äquivalenz
von Freien und Gleichen.42
Blieben diese Artikulationen in der niederländischen Revolution
jedoch noch instabil und flüchtig und waren auf kurze Momente der Radikalisierung etwa bei
den Geusen beschränkt, so geht das individualistische Prinzip der Freiheit und Gleichheit im
Kampf des englischen Parlaments gegen den patrimonialbürokratischen
Souveränitätsanspruch der Krone bereits unmittelbar in die politische Herrschaftslegitimation
ein.
Das Vertragsmodell, welches hier zur Herrschaftslegitimation gegen die Patrimonialtheorie
herangezogen wurde, ist bereits weitgehend enthierarchisiert. Seine puritanische
Interpretation kann sehr wohl am biblischen Ursprung des Rechts festhalten, ohne jedoch mit
41 Ebd.
den individualistischen Prämissen der Freiheit und Gleichheit in Konflikt zu geraten. Ganz im
Gegenteil machte die politische Metapher vom Herrschaftsvertrag den Puritanismus ebenso
anschlussfähig an die Interessen des frühkapitalistischen Warenverkehrs wie an die
rationalistischen Verwaltungsstäbe, die ihre Bindung an den Souverän nicht mehr
lehensrechtlich, sondern als rationalen Dienst- und Arbeitsvertrag rechtfertigten. Insofern war
der Kontraktualismus eng verwoben mit dem sich herausbildenden Ethos vom öffentlichen
Dienst mitsamt einer neuen politischen Idee der Öffentlichkeit.
Die politische Philosophie der Aufklärung bemühte sich im Anschluss an John Locke und
Jean-Jacques Rousseau unter dieser Kategorie eine gemeinsame Bewegungsform für
besitzindividualistische Prämissen und Volkssouveränität zu finden.43
Mit der demokratischen
Idee der Volkssouveränität verbündete sich die Vertragslehre im Gefolge der bürgerlichen
Revolutionen immer unter dem Druck der radikalen Volksbewegungen. Englische
„Levellers“, amerikanische „mechanics“ und französische „Sansculotten“ ergänzen die
negativen Freiheitsrechts der Besitzbürger durch die Forderung nach politischer Partizipation.
Bei den Levellers wird das radikaldemokratische Prinzip der Volkssouveränität erstmals mit
dem Repräsentationsgedanken verbunden. Bei ihnen wird die soziale Qualifikation zur
Repräsentation weitgehend abgekoppelt sowohl von der standesgemäßen Herkunft als auch
dem Grundeigentum oder der Zugehörigkeit zum Klerus bzw. Juristenstand. Die soziale
Herkunft wird ersetzt durch die ethische Disposition des trust-Prinzips. Das Vertrauen des
Volkes fungiert hier als eine symbolische Kompetenz, welche die partikulare Logik des
Sozialen in die allgemeine Logik der Politik zu übersetzen vermag. Repräsentation findet
demnach statt, weil das Besondere nicht unmittelbar im Allgemeinen aufgeht. Dieses
qualitative Argument für die Repräsentation ist dabei unendlich gewichtiger als ihre
quantitative Begründung, wonach eine große Zahl von Bürgern zu einer unmittelbaren und
direkten politischen Entscheidung nicht fähig ist. Die Repräsentation des Volkes nach dem
trust-Prinzip setzt eine besondere Form der politischen Tugend voraus, die unabhängig von
der sozialen Position ausschließlich dem Allgemeinwohl („commune bonum“) verpflichtet ist.
Wenn die revolutionären Volksbewegungen ein Demokratieverständnis artikulierten, das
Freiheit und Gleichheit in einem untrennbaren und allgemeinen sozialen Zusammenhang
(Brüderlichkeit) setzte, so musste dies zwangsläufig in Widerspruch geraten zum liberalen
Konzept des Besitzindividualismus. Die hegemoniale Matrix des liberalen
Besitzindividualismus war in dem Maße bedroht, wie immer mehr Subjekte ihre Rechte
42 Im Begriff der „Äquivalenzkette“ beschreiben Laclau /Mouffe 1991 das politische Bündnis verschiedener
sozio-politischer Interessen gegen einen antagonisierten Gegner, was die universale Repräsentation der partikularen Elemente in einem hegemonialen Block ermöglicht.
einforderten, die nicht mehr nur mit den Privilegienrechten des Adels, sondern nun auch mit
dem Eigentumsrecht der Aktivbürger kollidierten. Die politische Interpretation der
Menschenrechte als ein universaler Horizont der demokratischen Revolution hing nun davon
ab, welche konkreten, partikularen Inhalte und Interessen sich in diese universale Kategorie
einschreiben konnten und wie der Gesetzgeber diese qua Bürgerrecht zu garantieren
vermochte. Denn nicht zuletzt hiervon hing die universale Legitimität des neuen Staats auf
Dauer ab. War das Recht auf Eigentum etwa nur ein negatives Schutzrecht oder war es als
universelles Anspruchsrecht zu begreifen? Lassen sich diese Rechte auch auf Arbeiter und
Frauen ausdehnen? Lässt sich die revolutionäre Mobilisierung einer Volksbewegung mit Hilfe
der Menschenrechte von den anschließend tatsächlich gewährten Bürgerrechten abtrennen,
oder sind sie eins und unteilbar?
Die politische Theorie des Besitzindividualismus
Vor diesem Hintergrund, so eine der wirkungsmächtigsten Grundthesen Saages, lässt sich
auch die politische Philosophie des Deutschen Idealismus zwischen Kant und Hegel
entschlüsseln. Während Kant den Besitzindividualismus mit dem demokratischen Imaginären
der Volkssouveränität verbindet, indem er diesen einen transzendentalen,
vorgesellschaftlichen Status einräumt, interpretiert Fichte den Besitzindividualismus als ein
revolutionäres Versprechen, das der Staat und die Politik, um seiner Legitimität willen,
einlösen muss. Insoweit propagieren beide das Bündnis von Liberalismus und Demokratismus
von gegenüberliegenden Perspektiven aus, was allerdings nicht ausschließt, dass unter dem
Überbegriff des Republikanismus auch monarchische und selbst ständische Elemente in ihren
Diskursen artikuliert werden. Der von Kant propagierte Rechtsstaatsgedanke, der auf
transzendentaler Grundlage die Rechte der Besitzbürger und verschiedene Privilegien des
Adels vor demokratischen Übergriffen schützt, wird von Fichte durch einen Wohlfahrtsstaat
ergänzt und substituiert, der die Eigentumsbildung politisch durchzusetzen hat. Während also
die politische Ökonomie bei Kant sozusagen statisch in die transzendentalen Voraussetzungen
der Gesellschaft inkludiert ist, besitzt diese bei Fichte eine praktisch-politische Dimension.
Beide philosophische Konzepte sind für die politische Ideengeschichte deshalb so interessant
geworden, weil bereits hier am Anfang des liberal-demokratischen Projektes der Moderne, die
politischen Gestaltungsräume in der Dialektik von Rechts- und Sozialstaat bzw. Freiheit und
Gleichheit ausgelotet werden.
43 Vgl. Saage, Konvergenz
Die Frage, ob Kants juristischer Transzendentalismus, wie Saage behauptet, eine historisch-
politische und daher kontingente Artikulation von politischer Universalität darstellt oder, wie
seine zumeist philosophischen Kritiker meinten, vielmehr als eine abstrakte Universalität zu
begreifen ist, die ahistorisch den unhintergehbaren Horizont von republikanischer
Staatlichkeit beschreibt, ist daher auch keine rein philosophische Frage.44
Der dezidierte
Rückzug der politischen Philosophie in dieser Frage auf einen abstrakt-apriorischen
Universalismus und dessen ostentative Abtrennung von der Geschichte befand sich in einer
vollständigen Homologie zum politischen Widerstand gegen eine fortschreitende
Verschränkung von liberaler Freiheit und demokratischer Gleichheit, wie sie der Politik des
sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates zugrunde lag. Eine unter dem erkenntnisleitenden
Motto „Mehr Demokratie wagen“ angetretene politische Ideengeschichte musste daher
zwingend mit dem abstrakten Universalismus der Philosophen in Konflikt geraten.
Die Kritik am Besitzindividualismus, zumal bei dem zum liberalen Orakel stilisierten Kant,
traf die philosophischen Kritiker des Sozialstaates an einer entscheidenden Stelle. Benötigte
doch das sich formierende konservativ-liberale Projekt des Neoliberalismus den
Besitzindividualismus, um der Verbindung des liberalen Marktsubjekts mit dem
konservativen Elitemodell eine gewisse philosophische Plausibilität geben zu können.45
Das
setzte die Delegitimierung positiver bzw. materieller Freiheitskonzepte, wie sie sich im
ideengeschichtlichen Gegensatz zu Kant beispielsweise bei Fichte finden ließen, voraus,
welche die Eigentumsbildung nicht nur als eine vorstaatliche und vorgesellschaftliche
Voraussetzung, sondern ebenso als sozialstaatliche Aufgabe betrachtete, und von daher eine
Politik der Umverteilung einschloss. Die Diskreditierung positiver Freiheitskonzeptionen als
tendenziell totalitär ist dabei ein Topos, der sich auf verschiedene, aber letztlich
konvergierende Ebenen zurückverfolgen lässt und schließlich in ein mächtiges hegemoniales
Projekt mündete, das heute in Gestalt des Neoliberalismus weitgehend den Rahmen allen
politischen Handelns bestimmt. Der Topos findet sich bei den Ökonomen Friedrich von
Hayek und Milton Friedmann, die auf dieser Rhetorik ihre Gegnerschaft zur keynesianischen
Wirtschaftspolitik und zum New Deal aufbauten ebenso wie bei dem einflussreichen
Rechtsphilosophen Robert Nozick, der den Markt als einzig mögliche Institution der
Verteilungsgerechtigkeit gegen den Sozialstaat ausspielte. Auch die vielgestaltig auftretende
strategische Beschränkung der gesellschaftlichen Reichweite der Begriffe von Demokratie
44 Vgl. Zotta. Diese Auseinandersetzung kann als ein Lehrstück betrachtet werden, wie die Ablösung der
Philosophie von Geschichte und sozialer Reflexion unabhängig von den bewussten Intentionen der Akteure einem antidemokratischen Elitemodell Vorschub leistet.
45 Vgl .hierzu die hegemonietheoretische Beschreibung der „anti-demokratischen Offensive“ in der konzertierten
Aktion von Neoliberalismus und Neokonservatismus bei Laclau/Mouffe 1991, S. 234-239.
und Partizipation sind hierzu zu zählen. Die Anschlussfähigkeit dieser Argumente an die
„Neue Rechte“ demonstriert schlagend ein Zitat von Alain de Benoist: „Ich nenne ‚rechts’ das
Verhalten, das die Verschiedenheit der Welt und deshalb Ungleichheiten als ein Gut und die
fortschreitende Homogenisierung der Welt, die durch den zweitausendjährigen Diskurs der
totalitären Ideologie begünstigt und bewirkt wurde, als ein Übel betrachtet.“46
Schon lange also bevor Fukuyama mit seinen Thesen an die Öffentlichkeit trat, war das
ideologische Feld durch den Neokonservativismus und Neoliberalismus so effektiv beackert
worden, dass der Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus tatsächlich im populären
Bewusstsein wie eine empirisch-faktische Bestätigung der konservativen Verschiebung im
liberaldemokratischen Diskurs wirken musste. Von entscheidender Bedeutung für diesen
hegemonialen Effekt war dabei die erfolgreiche Etablierung der antagonistischen
Analogieketten von Gleichheit, Identität und Totalitarismus auf der einen und Differenz,
Ungleichheit und Freiheit auf der anderen Seite. Der Sieg der „Freiheit“ durch den
Zusammenbruch des totalitären Kommunismus evozierte in diesem ideologischen Rahmen
notwendig auch das Ende des westlichen Sozialstaates. So konnte Fukuyama dem
sozialdemokratischen Projekt des demokratischen Liberalismus genau in dem Moment unter
allgemeiner Zustimmung gleichsam den Totenschein ausstellen, als die liberale Demokratie
nur scheinbar paradoxer Weise als Sieger aus der äußeren, bipolaren
Systemsauseinandersetzung hervorging. Es war ein Sieg der „Freiheit“ über die „Gleichheit“
nicht nur nach außen, sondern – und das wird oft übersehen - auch nach innen. Dem Triumph
der liberalen Demokratie in der Systemauseinandersetzung folgte daher die innere Krise auf
dem Fuße. Diese war jedoch durch die Auflösung des hegemonialen Zusammenhanges von
Demokratie und Liberalismus zumindest schon vorbereitet.47
Aus der Erfahrung des
Thatcherismus konnten Lalcau und Mouffe daher schon 1985 feststellen: „Genau in diesem
Kontext der Krise des demokratischen Liberalismus muss jene Offensive lokalisiert werden,
die das subversive Potential der Artikulation zwischen Liberalismus und Demokratie zu
zersetzen versucht und erneut die Zentralität des Liberalismus behauptet – als die
Verteidigung individueller Freiheit gegen jede Einmischung seitens des Staates und im
Gegensatz zur demokratischen Komponente, die auf gleichen Rechten und Volkssouveränität
beruht. Dieser Versuch, das Terrain des demokratischen Kampfes zu beschränken und die in
vielen sozialen Verhältnissen existierenden Ungleichheiten zu bewahren, erfordert jedoch die
Verteidigung eines hierarchischen und anti-egalitären Prinzips, das durch den Liberalismus
selbst gefährdet worden war. Aus diesem Grund nehmen die Liberalen zunehmend zu einer
46 Zit. nach ebd., S. 237.
Reihe von Themen aus der konservativen Philosophie Zuflucht, in der sie die notwendigen
Elemente finden, die Ungleichheit zu rechtfertigen. Wir erleben somit das Auftauchen eines
neuen hegemonialen Projekts: das des liberal-konservativen Diskurses, der die neo-liberale
Verteidigung der freien Marktwirtschaft mit dem äußerst anti-egalitären kulturellen und
sozialen Traditionalismus des Konservatismus zu artikulieren versucht.“48
Dies hat sich auch
in den programmatischen Äußerungen der deutschen Bundesregierung niedergeschlagen.
Brandts „Mehr Demokratie wagen“, Schröders „Neue Mitte“ und Merkels „Mehr Freiheit
wagen“ stecken die Eckpunkte dieser Entwicklung ab.
Wie lässt sich jedoch unter solchen Bedingungen die Hegemonie des Neoliberalismus brechen
und der Demokratisierung damit wieder ein Geländegewinn verschaffen? Die Antwort von
Laclau/Mouffe hierauf ist das konsequente Abrücken von einer Strategie der „Neuen Mitte“
oder des „Dritten Weges“ und einer pseudodemokratischen „political correctness“: „The Left
should start elaborating a credible alternative to the neo-liberal order, instead of simply trying
to manage it in a more humane way. This, of course requires drawing new political frontiers
and acknowledging that there cannot be a radical politics without the definition of an
adversary. That is to say, it requires the acceptance of the ineradicability of antagonism. […]
As long as the Left relinguishes the hegemonic struggle, and insists on occupying the centre
ground, there is very little hope that such a situation could be reversed.“49
Der Nullpunkt der Demokratie
Saages Antwort auf die gegenwärtige Krise der liberalen Demokratie besteht in der
Aktualisierung der notwendigen Verschränkung von Freiheit und Gleichheit in ihren
normativen wie historischen Voraussetzungen. Dies kann als eine Strategie interpretiert
werden, welche der Eskamotierung des Demokratiebegriffs von seinen historischen wie
normativen Grundlagen durch den Neoliberalismus widersteht. Er greift dazu historisch auf
das Modell der Attischen Demokratie zurück, um die normative Formel von der
Selbstbestimmung des Volkes als transzendentales Muster der Demokratietheorie zu erhalten.
Diese normative Folie teilt er mit der Demokratietheorie von Jacques Rancière.50
Auch dieser betrachtet die Attische Demokratie als demokratischen Archetypus, geht darüber
hinaus aber noch soweit die Demokratie als Voraussetzung von Politik schlechthin zu
behaupten. Politik konstituiert sich nach Rancière in dem Moment, wo sich der aus der
47 Vgl. hierzu Macpherson 1983. 48
Lalcau/Mouffe 1991, S. 239. 49 Laclau/Mouffe 2001, S. XVIf. u. XVIII.
politischen Gesellschaft bisher ausgeschlossene Demos zum legitimen Repräsentanten der
Gesellschaft proklamiert. Politik und Demokratie sind in exakt dieser Beziehung synonym, da
das Gemeinwohl der Polis nur repräsentiert werden kann, wenn die Polis in ihrer
Allgemeinheit in die Repräsentation einbezogen wird. Hingegen kann die Strategie der
Entpolitisierung, welche den Demos von der Repräsentation trennt und ihn zu einem Teil der
Gesellschaft ohne politischen Anteil macht, nicht eigentlich unter dem Begriff der Politik
subsumiert werden, da hier die Universalität des Gemeinwohls sozial beschränkt wird und die
Identifikation der Beherrschten mit den Herrschenden künstlich über pseudopolitische
Praktiken fabriziert werden muss. Denn nur so kann die politische Identität des
Gemeinwesens den Widerspruch zur sozialen Ungleichheit aushalten. In der philosophischen
Kritik der Demokratie von Aristoteles und Plato steht der Begriff der Politik daher
begriffsgeschichtlich gleichsam auf dem Kopf. Die hieran anschließende philosophische
Tradition etabliert daher eigentlich eine Tradition der Verleugnung des Politischen, die eine
künstliche Trennlinie zwischen der Politik und der Gesellschaft errichtet und legitimiert.
Beide, Saage wie Rancière, sehen in der Französischen Revolution am Ende des 18.
Jahrhunderts die klassische Aktualisierung der normativen Folie der Attischen Demokratie,
die den Begriff auch erst aus seiner pejorativen Konnotation befreit. Hier ist es der Dritte
Stand, der nicht nur seinen Anteil fordert, sondern, indem er sich zur politischen
Allgemeinheit der Nation transformiert, alles zu sein beansprucht. Das berühmte Pamphlet
des Abbé Sieyès „Was ist der Dritte Stand?“ brachte es auf den Punkt: „Was ist der Dritte
Stand? Nichts. Was müsste er sein? Alles!“ Die demokratische Politik der Moderne entstand
aus diesem politischen Kurzschluss zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Die
Singularität des Dritten Standes proklamiert sich in einem revolutionären Akt zum alleinigen
Vertreter des Allgemeinen und fordert die übrigen Stände auf, ihm beizutreten. Nach Rancière
ist das die politisch-demokratische Geste schlechthin, welche alle funktionalen Ordnungen
und Differenzierungen aus den Angeln hebt.
Mit der Universalisierung zur Nation hebt der Dritte Stand die funktionale Struktur des
Ständesystems auf und setzt die politische Disposition des Menschen als konkrete Basis
nationaler Universalität frei. Dieser radikale Akt der Politik wird in der Deklaration der
Menschen- und Bürgerrechte beglaubigt. Freiheit und Gleichheit sind ebenso eins und
untrennbar wie die Nation. Hier geht es nicht etwa um die Festschreibung des
Besitzindividualismus, sondern vielmehr um die Etablierung einer völlig neuen politischen
Ordnung. Der Konflikt um die besitzindividualistische Interpretation der Menschenrechte
50 Vgl. Rancière 2002.
setzt erst im Zusammenhang mit der Überführung des deklarierten Postulats in eine
verfassungsmäßige Ordnung ein.51
Erst aus dem nun einsetzenden Kampf zwischen
demokratischer Politik, die an der universalen Geste der Deklaration festhält, und
besitzindividualistischer Pseudopolitik, welche eine funktionale Ordnung mit Aktiv- und
Passivbürgern einführt, entfesselt sich die Dynamik der Französischen Revolution. Für die
Demokraten befähigt alles zum Bürger, was Mensch ist. Die Strategie ihrer Gegner beinhaltet
dagegen die entpolitisierende Trennung des Menschen vom Bürger, der Gleichheit von der
Freiheit und des Staates von der Gesellschaft.
Die gleiche politisch-demokratische Geste, die sich in der Attischen Demokratie und der
Französischen Revolution artikuliert, findet sich auch in der politischen Theorie des
Marxismus wieder. Hier ist es das neue Proletariat, das sich in einem revolutionären Akt nach
dem Vorbild von Demos und Drittem Stand aus einer sozial und politisch unterdrückten und
ausgeschlossenen Klasse in der besitzindividualistischen Ordnung des Kapitalismus zum
singulären Platzhalter der Gesellschaft im Allgemeinen konstituieren soll. Das Paradox der
politischen Klasse besteht in ihrer singulären Allgemeinheit, welche die funktionale Ordnung
des besitzindividualistischen Politik bzw. Demokratieverständnisses aus den Angeln hebt. Es
kann daher aus dieser Perspektive nicht um eine arithmetische Anpassung von Sozialstruktur
und politischer Repräsentation gehen, sondern um die Transformation der sozialen, d.h.
beschränkten Klasse zur politischen Klasse, die den neuen Horizont der Universalität
verkörpert. Die hierauf aufbauende Kritik der politischen Ökonomie muss daher die alte
Trennung von Ökonomie und Politik aufheben. Dies ist der Hintergrund vor dem sich die
begriffliche Spaltung zwischen sozialer und politischer Demokratie in der Mitte des 19.
Jahrhunderts vollzog. Während die liberale Demokratie die besitzindividualistische
Sozialstruktur nicht in Frage stellt, muss der demokratische Sozialismus auf die Überwindung
des kapitalistischen Systems bestehen. Während die Revolution für die liberale Demokratie
nur noch einen historischen oder allenfalls nachholenden Wert besitzt, wird die Dialektik von
Revolution und Reform für die Arbeiterbewegung zu einer entscheidenden Grundfrage.
Diese Problematik, welche die moderne Demokratietheorie über einen langen Zeitraum
geprägt hat, ist auch zentral für die von Saage analysierte Debatte zwischen dem
Austromarxisten Max Adler und dem liberalen Rechtstheoretiker Hans Kelsen in den 20er
Jahren des letzten Jahrhunderts. Für Kelsen ist die demokratische Geste der deklarierten
51 Dies wird auch von Habermas in seinem Öffentlichkeitsbuch bestätigt: „Liberale Menschenrechte und
demokratische Bürgerrechte treten, wie die Privatrechtsordnung, die grundrechtlich fixierte öffentliche Ordnung überhaupt, in Theorie und Praxis des bürgerlichen Staatsrechts erst auseinander, als die Fiktivität der hypothetisch zugrunde gelegten Gesellschaftsordnung zu Bewusstsein kommt und die schrittweise verwirklichte Herrschaft des Bürgertums für es selbst ihre Ambivalenz offenbart. Habermas 1991, S. 328.
Identität der Menschen- und Bürgerrechte in der Französischen Revolution nur noch ein
transzendentales Schema im Kantischen Sinne, das sich in Geschichte und Politik nur
unzureichend und pragmatisch verwirklichen kann. Die repräsentative Demokratie des
Parlamentarismus einschließlich ihrer kapitalistischen Ökonomie ist Ausdruck dieses
politisch-historischen Prozesses. Als ein wahrhaft demokratischer Exponent des Liberalismus
erweist sich Kelsen dabei jedoch durch sein Festhalten an der bürgerlichen Revolution als
normative Folie der parlamentarischen Demokratie. Eine Ablösung des Demokratiebegriffs
von seiner normativen wie historischen Grundlage, der revolutionären
Gemeinwohlorientierung, wie sie in den so genannten realistischen Demokratietheorien im
Anschluss an Josef A. Schumpeter erfolgten, lehnt Kelsen als antidemokratisch ab. Auf sich
gestellt, ohne transzendentales Muster, würde die parlamentarische Demokratie in eine blinde
Orientierungslosigkeit hineintaumeln. Zur reinen Kontingenz depraviert, wäre sie unfähig
politische Probleme einer demokratischen Lösung zuzuführen.
Max Adler hingegen suspendiert die Revolution nicht zu einem transzendentalen Schema der
Geschichte, ihm geht es vielmehr um die politisch-praktische Überwindung der
besitzindividualistischen Sozialstruktur. Die formale Demokratie des bürgerlichen
Parlamentarismus muss dazu durch die soziale Demokratie des Sozialismus ersetzt werden,
welche die Spaltung in eine politische Demokratie und eine kapitalistische Ökonomie aufhebt.
Der politische Träger dieses Prozesses könne im marxistischen Sinne nur das Proletariat sein.
Mit diesem Festhalten am revolutionären Charakter der Demokratie setzte sich Adler aber
selbst im austromarxistischen Lager der Kritik aus. Stand die metapolitische Überhöhung der
Revolution zum alles entscheidenden Zweikampf zwischen Kapital und Arbeit nicht eher
einer demokratischen Politik im Wege? Verkannte eine solche Strategie nicht die plurale und
differenzierte Struktur der modernen Gesellschaft und verspielte gerade aus diesem Grund die
Möglichkeit, konkrete und differenzierte Strategien einer emanzipatorischen Politik zu
entwickeln? Verhinderte die klassenkämpferische Teilung der Gesellschaft in zwei
antagonistische Blöcke nicht die Möglichkeit einer hegemonialen Politik, welche die
verschiedensten zivilgesellschaftlichen Akteure zu einem demokratischen Projekt vereinen
könne? Ist es nicht vorteilhafter den demokratischen Kampf schrittweise auf die
verschiedensten sozialen Felder zu tragen und auf diese Weise die undemokratische Trennung
von Politik und Gesellschaft aufzuheben, ohne ihre pluralistische Struktur zu negieren? Dies
waren Fragen, die Adler u. a. von Karl Renner und Otto Bauer gestellt wurden, ohne dass die
österreichische Sozialdemokratie in Theorie und Praxis hierauf eine befriedigende politisch-
praktische Antwort finden konnte.
Trotzdem ist es das Verdienst diese Fragen gestellt zu haben, und es scheint als sei die
Kontroverse heute von ungeahnter Aktualität für eine Politik, die sich der Demokratisierung
verpflichtet fühlt. Sollte der Liberalismus wieder verstärkt an den demokratischen Diskurs
zurückgebunden werden, indem das liberale Motiv der Differenz zivilgesellschaftlich
interpretiert wird und vom Motiv des kapitalistischen Marktliberalismus sowie der
konservativen Eliteidee abgegrenzt wird? Dies würde jedoch die strategische Abkehr vom
deliberativen Konsensmodell voraussetzen, das den Prozess der Entscheidungsfindung auf ein
unpolitisches, neutrales Terrain gründet. Im Anschluss an Rosenbergs Unterscheidung von
demokratischer Staatsform und demokratischer Bewegung dürften die Demokraten sich dann
nicht scheuen den politischen Konflikt wieder verstärkt in die demokratische Praxis
einzuschreiben.52
So schlagen Laclau und Mouffe vor, die soziale und kulturelle
Fragmentierung der Gesellschaft in der Konstellation von „Globalisierung“ und
„Postmoderne“ anzuerkennen, um zwischen den fragmentierten Positionen, Identitäten und
Subjektivierungsformen einen demokratischen Block zu etablieren, welcher die
Demokratisierung über die formale Grammatik des politischen Systems hinaus auf alle Felder
des Sozialen ausbreitet.53
Ihr Begriff der „demokratischen Revolution“ ist jedoch kein „high
noon“ der Weltgeschichte, sondern ein Prozess der demokratischer Extensivierung und
Intensivierung, der sich von der Homogenität des klassischen Emanzipationsbegriffes
verabschiedet hat. Demgegenüber kündigt sich, etwa im Werk von Michael Hardt und
Antonio Negri oder Slavoj Žižek, eine Rehabilitierung des klassischen Revolutionsbegriffs
an, welcher das postmoderne Universum vollständig durchquert hat und die
Systemüberwindung auf die globale Agenda setzt.54
Diese Position lässt sich pointiert in
Žižeks emblematischer Formel zusammenfassen: „Class Struggle or Postmodernism? Yes,
please!“55
Literatur:
Althusser 1968
Louis Althusser: Für Marx. Aus dem Französischen von Karin Brachmann und Gabriele
Sprigaht. Frankfurt a. M. 1968.
Bourdieu 1988
52 Das „Missverständnis, als wäre die Demokratie die Verkörperung der Gewaltlosigkeit“ erweist sich daher als
eine Schwäche der Demokraten, die aus der fehlenden Unterscheidung zwischen dem Legalitätsgebot der demokratischen Staatsform und der demokratischen Bewegung herrührt. Vgl. Rosenberg 1988, S. 306ff.
53 Vgl. u. a. Laclau 2002 und Mouffe 2000. 54
Vgl. Hardt/Negri 2002 u. 2004; Žižek 2002. 55 Žižek 2000.
Pierre Bourdieu: Die politische Ontologie Martin Heideggers. Aus dem Französischen von
Bernd Schwibs, Frankfurt a. M. 1988.
Bourdieu 1992
Pierre Bourdieu: Rede und Antwort. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Frankfurt a.
M. 1992.
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Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis. Hrsg. .v. Beate Krais,
übers. v. Hella Beister, Reinhard Blomert u. Bernd Schwibs, Berlin/New York 1991.
Foucault 1987
Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des
Wissens. Hrsg. und aus dem Französischen und Italienischen übertragen von Walter Seitter,
Frankfurt a. M. 1987, S. 69-90.
Foucault 1995
Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Übersetzt von Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 71995.
Fukuyama 1992
Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? Aus dem Amerikanischen von
Helmut Dierlamm, Ute Mühr und Karlheinz Dürr, München 1992.
Habermas 1991
Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der
bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt a. M. 21991.
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Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Aus dem Englischen von
Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Darmstadt 2002.
Hardt/Negri 2004
Michael Hardt/Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire. Aus dem
Englischen von Thomas Atzert und Andreas Wirthensohn, Frankfurt a. M. 2004.
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Soziotechnisch Bedingungen. Eine Einführung, Wiesbaden 2005.
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Max Weber: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in:
ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Hrsg. v. Johannes Winckelmann,
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Slavoj Žižek: Class Struggle or Postmodernism? Yes, please!, in: Judith Butler/Ernesto
Laclau/Slavoj Žižek, Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the
Left, London/New York 2000, S. 90-135.
Žižek 2002
Slavoj Žižek: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin. Aus dem
Englischen v. Nikolaus G. Schneider, Frankfurt a. M. 2002.
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Franco Zotta: Kant und der Besitzindividualismus, in: Richard Saage, Eigentum, Staat und
Gesellschaft bei Immanuel Kant. 2. aktualisierte Auflage, Baden-Baden 1994, S. 9-42.