politik und geschichte. demokratietheorie zwischen kontingenz und universalität

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Axel Rüdiger Politik und Geschichte: Demokratie zwischen Kontingenz und Universalität (Einleitung zu Richard Saage: Elemente einer politischen Ideengeschichte der Demokratie. Historisch-politische Studien, hrsg. und eingel. von Axel Rüdiger. Berlin: Duncker & Humblot 2007) Die vorliegende Aufsatzsammlung fasst historische Studien zur Demokratietheorie zusammen, die Richard Saage über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren vorgelegt hat. Die frühesten Texte stammen aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, andere wiederum gehören der jüngsten Vergangenheit an. So spiegelt diese Anthologie nicht nur eine intellektuelle Entwicklung wider, sie markiert auch Verschiebungen in den jeweiligen Gegenständen des Erkenntnisinteresses und führt verschiedene Perspektivwechsel vor. Dadurch eröffnet sich ein reizvoller Blick in die Werkzeugkiste einer politischen Theorie, die schließlich in eine kürzlich erschiene zusammenfassende Darstellung der Demokratietheorien mündete 1 . Das bearbeitete Gegenstandsfeld reicht von den Emanzipationskämpfen der Frühen Neuzeit, der politischen Philosophie des Deutschen Idealismus über die Impulse, welche die moderne Demokratie der Arbeiterbewegung verdankt bis hin zu den gegenwärtigen Debatten über die Zukunft der liberalen Demokratie. Ein besonderes Merkmal besteht hierbei in der Verbindung der politischen Dimension der Sozialgeschichte mit den hegemonialen Kämpfen um Begriffe und Konzepte, wie sie in der politischen Theorie geführt werden. Die Leitidee, welche alle Texte trotz zeitlicher und inhaltlicher Entfernung eint, ist das Verhältnis der Geschichte zu Politik und Demokratie. Ausgehend von diesem grundlegenden Zusammenhang sollen in der Folge Saages Texte mit Hilfe einer etwas weiter ausholenden Reflexionsbewegung in einem aktuellen Rahmen kontextualisert werden. Im Zentrum steht dabei der spezifisch politische bzw. demokratische Anteil in der spannungsvollen Vermittlung von historischer Kontingenz und allgemeinem Geltungsanspruch. Dekonstruktion und Rekonstruktion von Geschichte und Politik Was also verbindet die Politik mit der Geschichte im Allgemeinen und mit der Demokratie im Besonderen? Eine entscheidende Voraussetzung für den Versuch einer Antwort ist wohl die Bestimmung der Form, in welcher Politik und Geschichte sich begegnen können. So strebt 1 Saage 2005.

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Axel Rüdiger

Politik und Geschichte: Demokratie zwischen Kontingenz und Universalität

(Einleitung zu Richard Saage: Elemente einer politischen Ideengeschichte der Demokratie.

Historisch-politische Studien, hrsg. und eingel. von Axel Rüdiger. Berlin: Duncker &

Humblot 2007)

Die vorliegende Aufsatzsammlung fasst historische Studien zur Demokratietheorie

zusammen, die Richard Saage über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren vorgelegt hat. Die

frühesten Texte stammen aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, andere wiederum

gehören der jüngsten Vergangenheit an. So spiegelt diese Anthologie nicht nur eine

intellektuelle Entwicklung wider, sie markiert auch Verschiebungen in den jeweiligen

Gegenständen des Erkenntnisinteresses und führt verschiedene Perspektivwechsel vor.

Dadurch eröffnet sich ein reizvoller Blick in die Werkzeugkiste einer politischen Theorie, die

schließlich in eine kürzlich erschiene zusammenfassende Darstellung der Demokratietheorien

mündete1. Das bearbeitete Gegenstandsfeld reicht von den Emanzipationskämpfen der Frühen

Neuzeit, der politischen Philosophie des Deutschen Idealismus über die Impulse, welche die

moderne Demokratie der Arbeiterbewegung verdankt bis hin zu den gegenwärtigen Debatten

über die Zukunft der liberalen Demokratie. Ein besonderes Merkmal besteht hierbei in der

Verbindung der politischen Dimension der Sozialgeschichte mit den hegemonialen Kämpfen

um Begriffe und Konzepte, wie sie in der politischen Theorie geführt werden. Die Leitidee,

welche alle Texte trotz zeitlicher und inhaltlicher Entfernung eint, ist das Verhältnis der

Geschichte zu Politik und Demokratie. Ausgehend von diesem grundlegenden

Zusammenhang sollen in der Folge Saages Texte mit Hilfe einer etwas weiter ausholenden

Reflexionsbewegung in einem aktuellen Rahmen kontextualisert werden. Im Zentrum steht

dabei der spezifisch politische bzw. demokratische Anteil in der spannungsvollen Vermittlung

von historischer Kontingenz und allgemeinem Geltungsanspruch.

Dekonstruktion und Rekonstruktion von Geschichte und Politik

Was also verbindet die Politik mit der Geschichte im Allgemeinen und mit der Demokratie im

Besonderen? Eine entscheidende Voraussetzung für den Versuch einer Antwort ist wohl die

Bestimmung der Form, in welcher Politik und Geschichte sich begegnen können. So strebt

1 Saage 2005.

jede politische Ordnung danach sich als eine auf Dauer angelegte Institution mit allgemeinen,

überzeitlichen Anspruch darzustellen. Täte sie dies nicht, verlöre ihr allgemeiner Anspruch

auf Autorität an Geltung. Gelänge dieser Anspruch jedoch in einem vollständigen Sinne,

könnte die Politik auf die Geschichte verzichten. Sie wäre geschichtslos. Das müsste nicht

unbedingt heißen, dass es keine voneinander unterscheidbare Ereignisse mehr gäbe, die

Ereignisse hätten nur keinen Einfluss mehr auf den strukturellen Rahmen der Politik, in dem

sie passierten. Es wäre sogar möglich den einzelnen Ereignissen eine radikale Kontingenz

einzuräumen, ohne dass dies etwas an der politischen Superstruktur ändern würde. Die

Reflexion der Politik könnte sich dann voll und ganz ahistorisch auf die bloße Funktion des

politischen Systems beschränken.

Ein solcher Fall käme freilich nur in Betracht, wenn es gelänge die Spaltungen und Risse

einer Gesellschaft gleichsam organisch zu überwinden oder zumindest komplett und

harmonisch durch die Politik zu repräsentieren. In einer Gesellschaft mit demokratischem

Anspruch ist dies aber qua Voraussetzung undenkbar, da hier die Differenz und der Konflikt

zum internen Bestandteil der politischen Ordnung erhoben werden. Der nicht zu beseitigende

Riss in der Legitimität verhindert die vollständige Monopolisierung des Politischen in einem

System und setzt damit sowohl die Möglichkeit einer prozessierenden Geschichte als auch der

Demokratie frei. Beide stehen insofern in einem konstitutiven Zusammenhang. Nicht zufällig

entstand der prozessuale Geschichtsbegriff mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert.2 Im

Singular ist er die Geschichte des Souveräns, der damit seine Herrschaft gegen seine

Konkurrenten begründet. Zur fortschrittlichen Emanzipationsgeschichte wird sie dann mit der

Idee der Volkssouveränität umgebildet. Aber mit der Erosion von Souveränität und der

Pluralisierung der um Legitimität werbenden politischen Akteure pluralisiert sich auch die

Geschichte, sie wird zu einem pluralen und relationalen Bündel von kontingenten

Geschichten. An die Stelle des Kollektivsingulars Geschichte treten historische Praktiken und

Erzählungen, die um den Legitimitätsglauben werben. Das Ende der großen Erzählungen fällt

schließlich zusammen mit der „postmodernen Konstellation“.3

Wenn es nun scheint als löse sich alles in einer kontingenten Historizität auf, so soll hier doch

behauptet werden, dass dies erst eine Voraussetzung dafür ist, um den Gegenstand des

Politischen in umfassender Weise bestimmen zu können. Nach dem Zerfall der natürlichen

bzw. selbstevidenten Ordnungen kann die Politik ihren allgemeinen Anspruch nur noch mit

Hilfe einer radikalen Referenz auf die Geschichte einlösen. Doch um diese Konstellation

radikaler Historizität beschreiben zu können, muss die politische Theorie selbst einen

2 Vgl. Koselleck 1979.

ahistorischen Standpunkt einnehmen. Dies ist jedoch nur scheinbar paradox und meint: um

die Historizität als eine universale Konstellation zu erfassen, kann sich die Theorie nicht

unkritisch auf die isolierte historische Selbstbeschreibung der politischen Akteure hinsichtlich

ihrer universalen Ansprüche beschränken.4 Die solchermaßen vorgetragenen Ansprüche

können auch nicht mit einem außerhistorischen Prinzip abstrakter Wahrheit – etwa einer mit

absolutem Anspruch auftretenden Theologie oder Philosophie – evaluiert werden. Vielmehr

muss der verallgemeinernde Anspruch eines historischen Akteurs unter Bezugnahme auf die

gesamte und konkrete historische Konstellation betrachtet werden. Erst von hier aus lassen

sich allgemeine historische Effekte verifizieren und von einer gleichwohl historisch

relativierten Perspektive auch gewissermaßen philosophisch bewerten. Die Spuren eines

solchen Vorgehens lassen sich in der idealtypischen Methode Max Webers ebenso finden wie

in der archäologischen Michel Foucaults oder dem Konzept des epistemologischen Bruchs,

wie es u. a. von Pierre Bourdieu in der politischen Soziologie vertreten wurde.5 Der

allgemeine Anspruch einer Geschichte darf demnach nicht pars pro toto mit den historischen

Praktiken verwechselt werden. Nach Weber dürfen die Zwecke – etwa Legitimität

herzustellen – nicht mit den konkreten Mitteln verwechselt werden, welche zur Herstellung

von Legitimität verwendet werden. Der seriöse Anspruch ihrer Artikulationen darf nach

Foucault nicht a priori ernst genommen werden, um überhaupt analysieren zu können, wie

Seriosität und Legitimität entstehen. Insoweit ist dieser methodische „Ahistorismus“ auch

notwendig verbunden mit einer „apolitischen“ Haltung, welche die politische Performanz und

insbesondere ihre symbolische Wirkung stillegt. Diese apolitische Haltung war auch schon in

der Behauptung von Marx präsent, dass der Staat eben nicht das sittliche Allgemeine, sondern

das Machtinstrument der herrschenden Klasse ist. Auch der marxistische Ökonomismus hat

insoweit eine dekonstruktivistische Dimension, welche die performative Selbstbeschreibung

der Politik außer Kraft setzt und delegitimiert.

Ebenso wie die Dekonstruktion der Geschichte die Voraussetzung für die Erkenntnis der

radikalen Historizität von Geschichte ist, kann auch die Dekonstruktion der Politik den

Schlüssel zu dem kontingenten Terrain des Politischen liefern, welches einerseits das

Operationsfeld der autorisierten wie autorisierenden Diskurse der Politik ist, anderseits aber

von diesen jedoch zugleich verdeckt wird. In Bezug auf den Staat als Monopolist von

3 Lyotard 1986. 4 Dies findet sich in der Kritik Poppers an der Formulierung historischer Gesetzmäßigkeiten (Popper 1986)

ebenso wie die methodisch und politisch von ganz anderen Voraussetzungen argumentierende marxistisch-strukturalistische Kritik Althussers am Historizismus (Althusser 1968). Selbst die in der Aufklärung etwa von Spinoza entwickelte historisch-kritische Methode enthält gegenüber der hegemonialen Herrschaftsgeschichte in weltlichen Chroniken und geistlichen Texten eine dezidiert ahistorische Stossrichtung.

5 Vgl. Weber 1988, Foucault 1995; Bourdieu/Chamboredon/Passeron 1991.

physischer und symbolischer Gewaltsamkeit muss der Politikwissenschaftler daher einem

methodischen Anarchisten gleichen, um überhaupt zum Politischen vordringen zu können.

Einem solchen Verfahren entspricht auch Webers Postulat von der wissenschaftlichen

Werturteilsfreiheit, die keinesfalls als eine formale Deskription missverstanden werden darf,

in welcher der Staat sich selbst bespiegelt. Die in Webers methodischem Postulat enthaltene

Tendenz zur Entpolitisierung eines politisch aufgeladenen Untersuchungsgegenstandes läßt

keinen Unterschied bezüglich der Legitimität oder Illegitimität eines politischen Akteurs

gelten. Nur so kann auch der ideologische Eindruck vermieden werden, es handele sich

hierbei gleichsam um ein Stillhalteabkommen zwischen Wissenschaft und legitimer Gewalt,

welches die Monopolisierung von Autorität vorpolitisch bestätigt.

Der methodische Anarchismus des Archäologen oder Dekonstruktivisten führt jedoch für sich

allein genommen noch nicht zum Ziel, zerfiele das Untersuchungsfeld doch dann in ein

zusammenhangsloses Konglomerat radikaler Kontingenz, in welchem der absolute

Relativismus und die Beliebigkeit herrschten. Die Methode hätte dann entweder ihren

Gegenstand verfehlt, da nicht ersichtlich wäre wie Legitimität und Politik entstünden, oder

aber sie mündet schlimmer noch in das hobbessche Naturzustandstheorem mitsamt des darin

enthaltenen Rechtes des Stärkeren. Im Fall des marxistischen Ökonomismus wiederum

schlägt das politische Defizit schnell in ein horror vacui um. Die bloße Verleugnung der

Politik verfehlt also nicht nur die Ebene der politischen Praxis, wie jeder Anarchismus schlägt

auch der methodische in sein direktes Gegenteil um. Um dies zu verhindern ist daher die

Reflexion jener synthetisierenden Strategien und Praktiken entscheidend, welche die losen

Elemente zu allgemeinen Momenten einer übergreifenden Einheit verbinden. Das beinhaltet

den Weg von der Historizität zur Geschichte wie auch des Politischen zur Politik. Es ist dies

die Ebene der Machtbeziehungen, auf die Foucault mit seiner genealogischen Methode

ebenso abhebt wie die neogramscianische Hegemonietheorie.6 Marx und Weber

zusammendenkend formuliert Bourdieu das Problem folgendermaßen: „Wider die Illusion

vom neutralen, unparteiischen Staat hat Marx den Begriff vom Staat als

Herrschaftsinstrument entwickelt. Gegen die von der marxistischen Kritik vollzogenen

Entzauberung muss nun aber mit Weber gefragt werden, wie es denn dem Staat gelingt, dass

seine Herrschaft anerkannt wird, und ob dem Modell nicht wieder eingefügt werden muss,

gegen das es entwickelt wurde: die spontanen unreflektierten Vorstellungen vom Staat als

legitimen.“7

6 Foucault 1987; Laclau / Mouffe 1991.

7 Bourdieu 1992, S. 52.

Diese hier kurz skizzierte Tendenz in der radikalen Verschränkung von Politik und

Geschichte, die auch eine neue und radikale Option für den Prozess der Demokratietheorie

bereitstellt, ist keineswegs unwidersprochen geblieben. Bevor dieses Konzept daher weiter

konkretisiert werden soll, wird an dieser Stelle Bezug genommen auf mögliche

Gegenstrategien, welche die Geschichte von der Politik abtrennen und in ein distinktes

Verhältnis setzten. Eine besondere Rolle bei der damit angesprochenen politischen

Überwindung der Geschichte spielt die Philosophie.

Zwei Typen der philosophischen Überwindung der Geschichte

An dieser Stelle soll zunächst zwischen zwei Typen der philosophischen Überwindung der

Geschichte unterschieden werden. In beiden ist die Geschichte zwar zentrales Medium der

philosophischen Spekulation, jedoch allein letztlich rein negativ, zu dem Zweck, am Ende als

Sieger und Überwinder über bzw. jenseits von der Geschichte stehen zu können. Unabhängig

von dieser zentralen Gemeinsamkeit sollen sie hier nach ihrer unterschiedlichen

Konzeptionalisierung der historischen Zeit als kontinuierlich-teleologische und als

diskontinuierlich-kontingente Variante der philosophischen Überwindung der Geschichte

diskutiert werden.

Die erste läuft kontinuierlich auf ein Ende der Geschichte in der Zeit zu. Diese Form der

Überwindung der Geschichte wurzelt im kumulativ-mechanischen Fortschrittsdenken und

wird gemeinhin noch als zentraler Bestandteil der dialektisch angereicherten

Geschichtsphilosophie Hegels betrachtet. Bei Hegel stellt die Geschichte zwar die

Möglichkeitsbedingung der Philosophie dar, insofern der dialektische Kampf der Philosophie

um Universalität gegen die historische Kontingenz die Philosophie selber formt. Aber diese

historische Kausalität löst sich schließlich in der Emanzipation der „reinen“ Philosophie von

der Geschichte auf. Wie das Huhn aus dem Ei schlüpft, löst die philosophische Ordnung in

einer finalen systematischen Zusammenfassung diejenige historische Un-Ordnung ab, in der

sie zuvor angelegt war und gegen welche sie revoltiert hat. Obgleich dialektisch vermittelt,

liegt der kumulativen Überwindung der Geschichte doch eine Naturgesetzlichkeit zugrunde,

welche dem politischen Sieg der Philosophie über die Geschichte den Status der

Unvermeidlichkeit verleiht.

Die Ordnungsfunktion der Philosophie in und jenseits der Geschichte qualifiziert das

philosophische Wissen dabei zugleich zu einer Form des politischen Wissens. Bringt die

Philosophie zunächst Ordnung in die historische Kontingenz, so löst sie sich nach ihrer

Emanzipation von der Geschichte von allen kontingenten Fußfesseln und manifestiert eine

absolute und geschichtslose Ordnung. „Somit hat“, wie Marx bemerkt, „es eine Geschichte

gegeben, aber es gibt keine mehr.“8 Politisch repräsentiert wird diese absolute Ordnung der

Philosophie für Hegel durch den modernen Verfassungsstaat, wie ihn die Französische

Revolution in der Verfassung von 1791 in Gestalt der konstitutionellen Monarchie

hervorgebracht hatte. Er ist das philosophisch-politische Muster, das in der Geschichte

sichtbar geworden ist und sich von dieser – davon war Hegel zutiefst überzeugt – auch über

kurz oder lang auch emanzipieren musste. Das Ende der Geschichte bedeutet daher insofern

auch das Ende der Politik.

Dieses philosophische Narrativ ist zu einem zentralen Bestandteil aller

Modernisierungstheorien geworden, unabhängig davon, ob sie primär politisch oder

ökonomisch, mechanisch oder dialektisch argumentieren. Der Fortschritt lässt sich hierin auch

nach dem Grad der Unabhängigkeit der Universalität von jeglicher Kontingenz bemessen.

Zwischen beiden besteht innerhalb der Kausalität der Zeit eine irreversible Demarkationslinie.

Die von der historischen Kontingenz abgenabelte politische Universalität bleibt daher

abstrakt.

Andres strukturiert ist die zweite, die diskontinuierlich-kontingente Variante der

philosophischen Suspendierung der Geschichte. Diese ist im Gegensatz zum vorherigen

Typus primär in der modernisierungskritischen Geschichtsphilosophie zu finden. Während

sich die kumulative Fortschrittstheorie im Umkreis des Liberalismus bewegt, ist diese von

einer radikal-konservativen Abwehrhaltung gegen die von der Modernisierung ausgelösten

Egalisierungs- und Demokratisierungsprozesse geprägt. Zu einer einflussreichen politisch-

philosophischen Doktrin ausgearbeitet, wurde sie insbesondere im Denken der „konservativen

Revolution“ und findet sich daher in verschiedenen Nuancen bei Oswald Spengler, Ernst

Jünger, Carl Schmitt und nicht zuletzt in ihrer streng philosophischen Variante bei Martin

Heidegger.9

8 Marx 1989, S. 96. 9 Bourdieu hat das Phänomen der „konservativen Revolution“ in seiner Heidegger-Studie als ein politisch-

hegemonialen Projekt beschrieben. Er kommt dabei zu der zusammenfassenden Einschätzung: „Die ‚konservativen Revolutionäre – Bürgerliche, die vom Adel aus den lukrativen Verwaltungsposten des Staates vertrieben, wie Kleinbürger, die in ihren von den Schulerfolgen genährten Hoffnungen frustriert worden waren – sehen in der ‚geistigen Wiedergeburt’ und der ‚deutschen Revolution’ als einer ‚Revolution der Seele’ die mythische Erfüllung ihrer widersprüchlichen Erwartungen: Es ist die ‚geistige Revolution’, die die Nation zu neuem Leben ‚erwecken’ wird, ohne deren Struktur zu revolutionieren, und die diesen aktuell oder potentielle Deklassierten die Chance eröffnet, ihr Verlangen nach Aufrechterhaltung einer privilegierten Stellung innerhalb der Gesellschaftsordnung mit ihrer Auflehnung gegen die Ordnung, die ihnen diese Stellungen verwehrt, zu versöhnen, wie auch die Feindschaft gegen das sie ausschließende Bürgertum mit dem Widerwillen vor der sozialistischen Revolution, die all die Werte bedroht, dank deren sie sich vom Proletariat abzuheben wähnen. […]. Eine gewisse intellektuelle Respektabilität verleihen die ‚konservativen Revolutionäre’ ihrer Bewegung aber gerade dadurch, dass sie ihre regressiven Ideen in eine Sprache kleiden,

Übereinstimmend wird hier die Geschichte aufgefasst als das Reich radikaler Kontingenz, in

welchem Relativismus, Unsicherheit, Anonymität, Antihumanismus, kurz das Chaos

herrschen. Sie ist jedoch nicht linear gestreckt und kann deshalb auch nicht innerhalb einer

kontinuierlichen Zeitvorstellung überwunden werden, sie bildet vielmehr gewissermaßen den

unübersteigbaren Horizont des Daseins. Der dabei verwendete zyklische Zeitbegriff zeigt an,

dass die Geschichte nicht auf derselben Ebene überwunden werden kann. In ihren Zyklen

wird das überhistorisch Universale vielmehr eingeschlossen wie von Ebbe und Flut. Aus

dieser Perspektive erscheint die Modernisierung ganz nach dem Prinzip der ideologischen

Umkehrung als eine Verfallsgeschichte des Universalen durch fortschreitende Historisierung

und Relativierung. Der Geschichte ist daher auch nicht mit Hilfe der theoretischen Vernunft

der Wissenschaften beizukommen, da diese selbst in Geschichte und Kontingenz wurzeln.

Das Verhältnis von Struktur und Ereignis kehrt sich im Vergleich zur kontinuierlich-

teleologischen Variante der Geschichtsphilosophie also gewissermaßen um. Während die

Kontinuitätstheorie das historische Ereignis an die philosophische Struktur angleicht, muss

sich hier das philosophische Ereignis gegen die historische Struktur behaupten. Anstatt der

epistemologischen Anstrengung, die Vernunft aus der Geschichte über sie hinaus zu tragen,

bedarf es nun eines radikalen und fundamentalontologischen Ausstiegs aus der Geschichte.

Dieser Ausstieg ist jedoch prekär und endlich, führt allerdings gleichsam als Lohn der Angst

auf die universale Ebene der Zeit bzw. vom historischen Dasein zum eigentlichen Sein. Es ist

dies sowohl ein philosophischer als auch ein heroischer Akt, bei dem die Anonymität des

Akteurs aus der historischen Kontingenz heraustritt. Während die Überwindung der

Geschichte in der Modernisierungstheorie ein in die natürliche Zeit selbst eingeschriebenen

allgemeinen Akt darstellt, ist sie hier eine individuelle und ethische Tat. Die besondere

Universalität des Subjektes ersetzt die allgemeine Universalität anonymer Vernunft.

Theoretische und praktische Vernunft finden sich hier in der Allianz von philosophischem

Wissen und militärischer Todesverachtung wieder. Dem Wahrheitsakt korrespondiert das in

Kauf genommene Opfer. Nur durch diesen endlichen Akt besteht die Möglichkeit in Theorie

und Praxis über die kontingente Erscheinung zum Wesentlichen vorzudringen. Er schlägt

gewissermaßen für einen Moment ein Loch in die Geschichte, in welchem sich die

Subjektivierung über Erkenntnis und Erfahrung vollziehen kann. Durch dieses ontologische

Loch, oder mit Heidegger gesprochen, auf dieser Lichtung der Geschichte wird das Wesen

die nicht selten beim Marxismus und bei den Fortschrittsgesinnten Anleihen macht, dass sie Chauvinismus und Reaktion mit den Worten der Humanisten predigen. Dies kann die strukturelle Ambivalenz ihres Diskurses und dessen verführerischen Reiz bis in die universitären Kreise hinein nur verstärken.“ Bourdieu 1988, S. 38f.

des Menschen nicht nur für den Philosophen in seiner ursprünglichen Form erkennbar,

sondern auch für den Krieger erfahrbar.

Sowohl diese Einsicht als auch diese Erfahrung in das Wesentliche liefert eine ontologische

Legitimation der politischen und sozialen Distinktion, die den eigentlichen Menschen vom

Rest der in der historischen Kontingenz verbleibenden Individuen trennt. Als historische und

vergesellschaftete Wesen sind die Menschen in ihrer abstrakten Freiheit, die ihnen der

moderne Verfassungsstaat mitsamt seinen rechts- und sozialstaatlichen Institutionen

garantiert, zwar gleich. Aber eben ungleich in Hinblick auf ihre Fähigkeit, sich ihrer Freiheit

im eigentlichen Sinne zu bedienen. Genau dies ist jedoch das Kriterium eines elitären

Führungsanspruches. Während die alten Eliten dieses ethische Privileg der Freiheit bis in die

Weimarer Republik hinein ihren gleichsam ursprünglichen Status außerhalb des Staates und

seiner Institutionen, selbst da noch wo sie längst zu Staatseliten geworden waren, verdankten,

war es ein handfestes Problem für die „konservativen Revolutionäre“ ihren kontingenten

Dasein im der Mittelschicht und dem fortschreitenden Verfall ihrer kulturellen Macht zu

entkommen und sich für die politische und soziale Führung zu empfehlen. Ernst Troeltsch

begründete seine Forderung nach einer „geistigen Revolution“ 1921 etwa mit dem

allgemeinen Bedürfnis nach „einer neuen Ursprünglichkeit und Innerlichkeit, einer neuen

geistigen Aristokratie, die dem Rationalismus und dem Nivellement der Demokratie ein

Gegengewicht bietet, die insbesondere der geistigen Öde des Marxismus […] eine feinfühlige

und organischer zusammenfassende Geistigkeit gegenüberstellt.“10

Ein Ausweg bot sich auch in der strategischen Ästhetisierung des Ausnahmezustandes an, in

welchem alle äußerlichen sozialen und politischen Einflüsse auf die innere Subjektivität

rhetorisch suspendiert wurden. Als Kriterium politischer Führung blieb dann nur noch ein

pseudodemokratisch „völkisch“ verbrämter ethischer Voluntarismus übrig.11

Der radikale

Sprung aus dem bloßen Dasein der abstrakten Freiheit in die menschliche Eigentlichkeit

verdeckte in seiner ethischen und humanistischen Drapierung gelegentlich den elitären

Anspruch so erfolgreich, dass Jüngers völkischer Konservativismus, wie Bourdieu bemerkt,

10 Zit. nach Bourdieu 1988, S. 22. 11 Robert Michels, der als einer der ersten Soziologen das Phänomen der „konservativen Revolution“ als

aristokratische Reaktion auf die politische Aufwertung des Volkes in der Massengesellschaft beschrieben hat, wies auch schon früh darauf hin, dass die so unpolitisch daherkommende Ethik unter diesen Bedingungen zu einer scharfen Waffe geworden war: „In den heftigen Kampf, der sich vielfach mit dramatischer Größe vollzieht, vielfach aber auch fast stumm und Unaufmerksamen unbemerkbar durchfochten wird, zwischen der neuen Schicht, die aufsteigt, und der alten Schicht, die in einer Periode teils scheinbaren, teils wirklichen Nachgebens begriffen ist, wird die Ethik als Staffage hineingezerrt. Im Zeitalter der Demokratie ist die Ethik eine Waffe, deren sich jedermann bedienen kann. […] Regierung und Rebellen, Könige und Parteiführer, Tyrannen von Gottes Gnaden und Usurpatoren, wild gewordene Idealisten wie berechnende Ehrgeizlinge, alle sind ‚das Volk’ und geben an, mit ihrer Aktion nur den Willen des Volkes zur Durchführung zu bringen [Hervorh.- Michels].“ Michels 1989, S. 16.

kaum noch von Sartres Existenzialismus zu unterscheiden ist.12

So verschafft die suggestive

Verleugnung von Politik und Gesellschaft in dieser ethischen Überwindung der Geschichte

paradoxerweise politische und soziale Vorteile.

Eine kurze Zusammenfassung kann also folgendes Resümee ziehen: Bei aller

Gegensätzlichkeit hinsichtlich der Bewertung der Modernisierung bauen beide Formen der

Geschichtsphilosophie neben dem historischen auch auf einem politischen und sozialen

Defizit auf. Die Geschichte fungiert in ihnen nicht dazu, die prozessuale Anatomie von Politik

und Gesellschaft zu erfassen, sondern wird als ein negatives Medium betrachtet, welches mit

Hilfe der philosophischen Reflexion einen transzendenten Standpunkt begründen hilft, von

wo sich eine universale politische Ordnung legitimieren lässt. Der Sieger der Geschichte siegt

dabei gleichsam über die Geschichte, auch wenn dieser Kampf ins Unendliche verlängert oder

ontologisiert wird. Im Anschluss soll an einem signifikanten Beispiel untersucht werden,

welche Bedeutung eine solche Sicht auf Geschichte und Politik an den

demokratietheoretischen Diskussionen der jüngeren Vergangenheit gespielt haben.

Die liberale Demokratie am Ende der Geschichte (Francis Fukuyama)

Nach einem kurzen Artikel von 1989 veröffentlichte der vormalige stellvertretende Direktor

des Planungsstabes im Außenministerium der Vereinigten Staaten von Amerika Francis

Fukuyama 1992 seine Studie „The End of History – The Last of Man“. Vor dem Hintergrund

des Zusammenbruchs des Ostblocks wurde das Buch breit rezipiert und löste eine Fülle von

Diskussionen aus. Erfolgreich war Fukuyama vor allem deshalb, weil er in seinen

Grundaussagen scheinbar wie kein anderer den postkommunistischen Zeitgeist in West und

Ost auf den Begriff brachte. An dieser Stelle soll nach den bisherigen Voraussetzungen

geprüft werden, ob sich in diesem geschichtsphilosophischen Konzept nicht mehr als eine

Beschreibung des selbstevidenten Zeitgeist finden lässt. Handelte es sich vielleicht um eine

historisch-politische Intervention, die noch heute, wo das Buch fast vergessen ist, den

Horizont des Narrativs von der Demokratie im Zeitalter der Globalisierung absteckt?

Tatsächlich besteht die eigentliche Originalität von Fukuyamas Traktat darin, dass sie unter

dem Etikett vom „Ende der Geschichte“ die liberale Überwindung der Geschichte mit ihren

konservativen Widergänger verbindet. Die mechanisch-technologische Fortschrittstheorie

12 „Ob er aber sein Schicksal habe oder als Ziffer gelte: das ist die Entscheidung, die heute zwar jedem

aufgezwungen wird, doch die er allein zu fällen hat. […] Es ist der freie Mensch gemeint, so wie ihn Gott geschaffen hat. Dieser Mensch ist keine Ausnahme, stellt keine Elite dar. Er verbirgt sich vielmehr in jedem, und Unterschiede ergeben sich nur aus dem Grade, bis zu welchem der Einzelne die ihm verliehene Freiheit zu verwirklichen vermag.“ Jünger, Der Waldgänger, zit. n. Bourdieu 1988, S. 112.

wird mit jenem heroischen Kriegszustand synthetisiert, welchen die letzten Helden gegen die

Geschichte kämpfen.13

Vordergründig bestätigt seine Hauptthese nur die Selbstwahrnehmung

des Westens nach dem Kollaps des osteuropäischen Kommunismus. Demnach bildet die

liberale Demokratie des Westens „den Endpunkt der ideologischen Evolution der

Menschheit“ und die „endgültige menschliche Regierungsform“.14

Diese These beinhaltet

sowohl den politischen Deutungsanspruch des Westens über den Charakter und die Richtung

der bis dahin noch keineswegs abgeschlossenen Revolutionen in Osteuropa und immunisiert

den Westen zugleich gegen eine irgendwie geartete Infizierung durch die revolutionäre

Dynamik. Hintergründig erfolgt jedoch zugleich eine politische Ausdeutung des Topos der

liberalen Demokratie, welche die im Begriff enthaltene Synthese von demokratischer

Gleichheit und liberaler Freiheit durch die konservative Pointierung des Zusammenhanges

von Freiheit und Ungleichheit ersetzt. Die hierzu verwendeten Geschichtskonzepte

konvergieren in ein hierarchisches Modell politischer Anthropologie, das bei genauerem

Hinsehen dasjenige der „konservativen Revolution“ ist. Exakt hierin besteht die Bedeutung

der Verknüpfung der Sujets vom „Ende der Geschichte“ und vom „letzten Menschen“.

Obwohl die liberal-demokratische Regierungsform empirisch betrachtet keineswegs bereits

überall vorherrsche, so argumentiert Fukuyama, bliebe diese doch von nun ab das nicht mehr

verbesserungsbedürftige Ideal bzw. „das einzige klar umrissene politische Ziel, das den

unterschiedlichen Regionen und Kulturen rund um die Welt gemeinsam vor Augen steht.“15

Das politische Ende der Geschichte wird insofern gewissermaßen vom Ende der politischen

Ideengeschichte und der Ideologien vorweggenommen. Die Evidenz fortlaufender historischer

Ereignisse kann den Kern seiner These daher nicht in Frage stellen, da nicht die kontingente

Ereignisgeschichte, sondern allein die universale Strukturgeschichte an ihr Ende gekommen

sei. Nur diese bildet nämlich „einen einzigartigen, kohärenten evolutionären Prozess, der die

Erfahrungen aller Menschen aller Zeiten umfasst.“16

Analog zur Sprache, so kann hinzugefügt

werden, können die Ereignisse zwar immer noch durch die abzählbar-unendliche Variation

eines gleichwohl unveränderlichen grammatikalischen Sets erzeugt werden, ohne dass es aber

einen „weiteren Fortschritt in der Entwicklung grundlegender Prinzipien und Institutionen

mehr geben würde, da alle wirklich großen Fragen endgültig geklärt wären.“17

Es ist also mit

anderen Worten die politische Geschichte, d. h. die Geschichte der politischen Struktur bzw.

13 Dieser Zusammenhang war den deutschen Übersetzern offensichtlich zu peinlich, das sie den amerikanischen

Untertitel „The Last Of Man“ – eine Anspielung auf Nietzsches Motiv vom „letzten Menschen“ – mit der merkwürdigen Formel wiedergaben: „Wo stehen wir“

14 Fukuyama 1992, S. 11. 15 Ebenda, S. 14. 16

Ebd., S. 12. 17 Ebd., S. 13.

des politischen System, die an ihr Ende gekommen ist. Das Ende der Geschichte fällt hier mit

dem Ende der Politik zusammen, die liberal-demokratische Posthistoire mündet insofern auch

in ein postpolitisches Zeitalter.

Dieser universalgeschichtlichen Entwicklung unterlegt Fukuyama eine vermeintlich

materialistische Naturgesetzlichkeit, die sich aus dem Mechanismus von Kapitalakkumulation

und technologischem Fortschritt speist, und welche ihr logisches Substrat in den modernen

Naturwissenschaften findet. Die Logik der Naturwissenschaften, die er mit der Metapher von

der kontinuierlichen Zeit der Natur verbindet, ist demnach die Methode, welche die

wirtschaftliche Modernisierung als einen Universalisierungsprozess kapitalistischer

Strukturen abbildet.18

Der kumulative Fortschritt technologischer Macht und die globale

Ausbreitung des Kapitalismus führen sich dabei ebenso auf die technisch-militärische

Überlegenheit wie auf einen überlegenen Modus in der Akkumulation und Verteilung von

gesellschaftlichem Reichtum zurück. Da die objektive Struktur der modernen

Naturwissenschaft einen kontinuierlichen Fortschritt ermöglicht, ohne selbst durch diesen in

Frage gestellt zu werden, verkörpert sie das Modell einer Kontinuität im Wandel. Beide,

Naturwissenschaft und Kapitalismus, bilden objektive Strukturen des Wissens und des

Wirtschaftens, welche auf optimale Weise Ereignisse generieren und sich somit den

konkurrierenden Modell der sozialistischen Bedarfdeckungssysteme als überlegen erwiesen

haben. Naturwissenschaft und Kapitalismus bilden daher ein Analogon zum Verhältnis von

theoretischer und praktischer Vernunft. Die Innovationen der Naturwissenschaft können sich

daher am besten innerhalb des kapitalistisch-liberalen Wirtschaftsregimes entfalten.

Diese naturalistische und zugleich ökonomistische Begründung der Überlegenheit liberaler

Wirtschaftsweise impliziert zweifellos eine methodische Strategie der Entpolitisierung, die

nur unzureichend durch den äußeren Systemwettbewerb kompensiert wird. Die politische

Binnenstruktur liberal-demokratischer Regierungsformen, die keineswegs als ein natürlicher

Evolutionsprozess, sondern nur mit einem politischen Zeitbegriff als kontingenter Prozess

sozio-politischer Konflikte begriffen werden kann, fällt hierbei komplett unter den Tisch.

Dieses politische Defizit des ökonomistisch-technizistischen Entwicklungsmodells wird von

Fukuyama im Übrigen auch konzediert. Allerdings nur das konservative Motiv der ethischen

Suspendierung der Geschichte an das Modell der liberalen Demokratie anzuschließen. Unter

doppelter Bezugnahme auf den Platon von Leo Strauss - aus dessen neokonservativen Umfeld

in Chicago Fukuyama stammt - und Alexandre Kojèves Hegelinterpretation gerät die Politik

18 So scheint für Fukuyama die wissenschaftlich-technische Revolution des postindustriellen

Informationszeitalters zu bestätigen, dass „eine universale Entwicklung in Richtung auf kapitalistische Strukturen in der Logik der modernen Naturwissenschaften“ liegt. Ebd., S. 16.

so zu einem ethischen Privileg, in der es um einen exklusiven Kampf um Anerkennung geht.

„Das Streben nach Anerkennung oder der Thymos ist also das ‚missing link’ zwischen

liberaler Ökonomie und liberaler Politik, das bei der ökonomischen Analyse […] gefehlt

hat.“19

Die ethische Dimension der Anerkennung, so muss Fukuyama ergänzt werden,

vermittelt die Ökonomie jedoch nicht nur mit der Politik, sie trennt beide zugleich auch

voneinander. Dies liegt ganz einfach daran, dass das für die Politik notwendige Streben nach

ethischer Anerkennung unbegrenzt ist und zur Monopolisierung derselben bei einer

„ethischen“ zur Freiheit fähigen Elite führt. Der hierzu verwendete spekulative Begriff der

„Megalothymia“ könnte zwar aus der sozialwissenschaftlich nüchternen Perspektive

Bourdieus auch mit der Akkumulation von symbolischen Kapital erklärt werden, allerdings

wäre es dann freilich unmöglich die hieraus erwachsenden politischen Effekte auf einen

ethischen Voluntarismus zu gründen.20

Der „freie“ Kampf um die Maximierung des

symbolischen Kapitals der „Megalothymia“ wird von Fukuyama streng unterschieden von der

gleichmacherischen Verteilung von Anerkennung in der „Isothymia“. Beide verhalten sich

zueinander wie Freiheit und Gleichheit und sind durch eine unsichtbare, ethische Schwelle

voneinander geschieden. Die Ethik erfüllt daher eine semipermeable Funktion, da sie zugleich

in der Lage ist die Politik mit der Ökonomie von oben nach unten zu vermitteln, während sie

beide in umgekehrter Richtung von einander trennt. Auf diese Weise kann die liberale

Demokratie an das Politikmodell der „konservativen Revolution“ angeschlossen werden.

Geschichtslos und apolitisch sind daher zunächst diejenigen Bewohner der ökonomischen

Welt, die vollständigen in der Rolle des saturierten Konsumenten aufgehen. „Sie werden“, so

prophezeit Fukuyama, „ihre Bedürfnisse durch wirtschaftliche Betätigung befriedigen, aber

sie müssen ihr Leben nicht mehr im Kampf aufs Spiel setzen. Sie werden, anders ausgedrückt,

wieder Tiere sein wie vor der blutigen Schlacht, die die Geschichte in Gang setzte. Ein satter

Hund ist zufrieden, wenn er den ganzen Tag in der Sonne schlafen kann, weil er mit dem, was

er ist, nicht unzufrieden ist. Es kümmert ihn nicht, dass andere Hunde mehr Erfolg haben als

er oder dass Hunde in einem entlegenen Teil der Welt unterdrückt werden.“21

Anders als

liberale Demokraten wie Habermas betrachtet Fukuyama die Massenerscheinung des

unpolitischen Konsumenten keineswegs als Problem für die liberale Demokratie, eher im

Gegenteil bildet sie für ihn das materialistische Fundament derselben.22

Als homo

19 Ebd., S. 20. 20 Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Bourdieu zur Kritik der gesellschaftlichen Urteilkraft: Bourdieu

1998. 21 Fukuyama 1992, S. 412. 22 In seinem Buch über den Strukturwandel der Öffentlichkeit hat Habermas die unsichtbare Trennung von

Aktivbürgern und konsumierenden Passivbürgern in der modernen Mediengesellschaft nicht nur zum Grundproblem der Demokratie, sondern auch der von ihm idealisierten liberalen Öffentlichkeit erklärt.

oeconomicus lebt der reine Konsument gewissermaßen als Passivbürger in der Welt der

Gleichheit und kann auf das ethische Moment verzichten, das ihn zum politischen Subjekt

bzw. Aktivbürger machen würde. Die Existenz der unhistorischen Passivbürger bildet daher

die Bedingung für die Möglichkeit des freiheitlichen Aktivbürgers, dessen politische

Kompetenz sich aus dem ästhetisierten Kampf gegen die Geschichte speist.

Bedarf demnach die liberale Demokratie zur eigenen Stabilisierung der trägen

Geschichtslosigkeit ihrer konsumierenden Passivbürger, so wäre doch die Ausbreitung

derselben unter den Aktivbürgern verheerend. Damit meint Fukuyama den demokratischen

Exzess, welcher die Gleichheit über den bloßen Konsum hinausführt und das demokratische

Prinzip der allgemeinen Anerkennung („Isothymia“) auf den Bereich der Politik und der

Freiheit überträgt und damit die ethisch-politische Grenzen zwischen Politik und Ökonomie,

Freiheit und Gleichheit bzw. Gesellschaft und Staat untergräbt. Anzeichen hierfür finden sich

seit 1968 in der ideologischen Ausbreitung von Relativismus, Pazifismus und

Multikulturalismus in den gebildeten Mittelschichten des Westens. „Die moderne Bildung

fördert demnach eine Tendenz zum Relativismus, das heißt zu der Doktrin, dass alle

Horizonte und Wertvorstellungen abhängig seien von ihrer Zeit und ihrem Ort; sie sind nicht

wahr, sondern spiegeln nur die Vorurteile und Interessen derjenigen wider, die sie befördern.

Eine Doktrin, nach der es keine privilegierte Sicht auf die Welt gibt, passt recht gut zu dem

Wunsch des demokratischen Menschen zu glauben, dass seine Lebensweise ebenso gut sei

wie jede andere. In diesem Zusammenhang führt der Relativismus nicht zur Befreiung der

Großen und Starken, sondern zur Befreiung der Mittelmäßigen. Ihnen sagt man jetzt nämlich,

dass es nicht gibt, wofür sie sich schämen müssten. Der Knecht am Anfang der Geschichte

wollte sein Leben nicht in der blutigen Schlacht riskieren, weil er sich instinktiv fürchtete.

Der letzte Mensch am Ende der Geschichte hat so viel Verstand, dass er sein Leben nicht für

eine Sache hingibt. Er weiß, dass die Geschichte voll ist von sinnlosen Schlachten, in denen

die Menschen darum kämpften, ob sie Christen oder Moslems, Protestanten oder Katholiken,

Deutsche oder Franzosen sein sollten. Wie die Geschichte zeigte, waren Treuepflichten, die

Menschen zu verzweifelten Heldentaten und Opfern trieben, nur närrische Vorurteile.

Moderne gebildete Menschen sind zufrieden damit, wenn sie zu Hause sitzen und sich

gegenseitig zu ihrer Toleranz und ihrer Abgeklärtheit gratulieren können. Nietzsches

Während Fukuyama in der sozialen Trennung von Aktiv- und Passivbürgern unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts die Bedingung für die Möglichkeit liberaler Demokratie behauptet, erkennt Habermas hierin eine „Refeudalisierung der Öffentlichkeit“. Habermas 1991.

Zarathustra sagt zu ihnen: ‚Denn so sprecht ihr: »Wirkliche sind wir ganz, und ohne Glauben

und Aberglauben«: also brüstet ihr euch – ach, auch noch ohne Brüste!’“23

Die radikaldemokratische Anerkennung von Historizität und Kontingenz und die damit

verbundene Auflösung der Geschichte in die Geschichten denunziert Fukuyama gerade

deshalb als Kriterien der Geschichtslosigkeit, weil sie das konservative Motiv der ästhetisch-

heroischen Überwindung derselben zerstören. Damit rekurriert er ganz bewusst auf den Topos

von der politischen Bewährung an der Geschichte, welchen die „konservativen

Revolutionäre“ von Nietzsche übernommen haben: „die Geschichte wird nur von starken

Persönlichkeiten ertragen, die schwachen löscht sie vollends aus.“24

Mit der

ideologiekritischen Historisierung und Relativierung des politischen Subjekts hingegen

verschwindet nicht nur der Heldenepos des distinguierten Individuums an sich, es

verschwinden auch die Bedingungen für das historische Privileg an Freiheit und politischer

Führung. Dies fällt aus konservativer Perspektive zusammen mit dem Ende der Politik im

Allgemeinen und der liberalen Demokratie im Besonderen. „In dem Maße“, so heißt es

diesbezüglich unmissverständlich, „wie die liberale Demokratie die Megalothymia aus dem

Leben verbannt und sie durch den rationalen Konsum ersetzt, werden aus uns ‚letzte

Menschen’. […] Wenn sich eine Zivilisation in ungezügelter Isothymia ergeht und fanatisch

jede Spur von Ungleichheit ausmerzt, stößt sie bald an die Grenzen, die die Natur selbst

setzt.“25

Hier sprich Fukuyama als Vertreter einer politischen Elite, die ihren universalen

politischen Status innerhalb der liberalen Demokratie aus der Herrschaft über die passiven

Subjekte des Konsums ableitet. Nur die Herrschaft der „Starken“ kann das zukünftige

Überleben der westlichen Zivilisation im globalen „survival of the fittest“ garantieren.

Huntington erzkonservatives Szenario vom „Clash Of Civilizations“ ist also schon bei

Fukuyama angelegt.26

Für den Historiker politischer Ideen lässt sich hierbei leicht die Reaktualisierung der

klassisch-vormodernen Trennung von Ökonomie und Politik erkennen, wie sie in der

alteuropäischen Ordovorstellung eingelagert war. Im Motiv der Separierung von Gleichheit

und Freiheit wird sie analogisiert zum Begriff der liberalen Demokratie. Von hier aus kann

dieser Antagonismus dann ebenso leicht auch auf die Beziehung von Staat und Gesellschaft

übertragen werden. Fukuyama spielt hier mit offenen Karten: „Die erfolgreiche politische

Modernisierung setzt also voraus, dass in dem System von Rechten und verfassungsmäßigen

Einrichtungen ein vormoderner Rest erhalten bleibt: Die Gesellschaft muss weiterleben, der

23 Fukuyama 1992, S. 407. 24

Nietzsche 1988, S. 283. 25 Fukuyama 1992, S. 416.

Staat darf nicht den vollständigen Sieg davontragen.“27

Die klassische Trennung von Politik

und Ökonomie findet so ein Analogon in der proklamierten Trennung von Staat und

Gesellschaft, was sich wesentlich gegen die nivellierende Wirkung der sozialstaatlichen

Verschränkung derselben richtet. Somit ist es ein konservatives Theorem, welches die

altliberale Idee von der Trennung von Staat und Gesellschaft in seiner neoliberalen Fassung

präsentiert. Die illegitime, weil tendenziell „isothymische“ Angleichung der

Lebensbedingung durch den modernen Wohlfahrtsstaat wird ersetzt durch die legitime

Nivellierung mittels Marktmechanismus. Das Gleichheitsprinzip der Marktwirtschaft

korrespondiert auf diese Weise mit einem vormodernen Politikstil, der sich beständig aufs

Neue gegen die Geschichte stemmt und daraus ein politisch nutzbares kulturelles Kapital

gewinnt. Die quasi-natürliche Trennung von Konsumenten und Produzenten durch das

Marktmodell lässt sich auf die unsichtbare ethische Schwelle zwischen posthistorischer

Gleichheit und historisch-politischer Freiheit übertragen. Kurz: unter den Bedingungen einer

radikalen Vermarktung der Gesellschaft sind es die „präliberalen Werte, die für ein gesundes

Gemeinschaftsleben notwendig sind“.28

Das Bündnis von Liberalismus und Konservativismus

besiegelnd, kommt Fukuyama zu dem Schluss: „Liberale Demokratien tragen sich nicht

selbst, das Gemeinschaftsleben, von dem sie abhängig sind, muss eine andere Quelle haben

als den Liberalismus.“29

Dabei versteht es sich von selbst, dass hier nicht der Sozialismus

gemeint ist.

Die politische Synthese von Liberalismus und Konservativismus im Begriff der liberalen

Demokratie kann jedoch nicht vollständig demokratisch geglättet werden. Die Spaltung der

politischen Anthropologie in Aktiv- und Passivbürger lässt sich unter demokratischen

Gesichtspunkten nicht rechtfertigen. „Die Erscheinungsformen der Megalothymia, die in

modernen Demokratien überlebt haben“, so wird eingeräumt, „stehen demnach in einem

gewissen Spannungsverhältnis zu den Idealen, zu denen sich die Gesellschaft öffentlich

bekennt.“30

Dieser Widerspruch kann nur entschärft werden, wenn die freiheitliche

Attributierung des Demokratiebegriffs das Gleichheitsprinzip logisch grundiert und in der

öffentlichen Wahrnehmung überstrahlt. Die freiheitlichen Kraftzentren, in den die

demokratische Ideologie des Egalitarismus suspendiert werden kann, bilden das

kapitalistischen Unternehmertum, der Typus des wahlkämpfenden Politikers und die

postmateriellen Helden der Medienkultur. Sie bilden den exklusiven, historischen Teil in der

26 Vgl. Huntington 1996. 27 Fukuyama 1992, S. 305. 28 Ebd., S. 431. 29

Ebd., S. 430. 30 Ebd., S. 424.

posthistorischen Welt der Demokratie. Erst aus ihrer mechanischen Synthese entsteht das

Gebilde der liberalen Demokratie.

Obwohl das Motiv vom „Ende der Geschichte“ an der Wende zum 21. Jahrhundert an

Strahlkraft verloren hat, so sind doch zentrale Momente dieses Narrativs in den großen

öffentlichen Diskursen der Gegenwart präsent. Sowohl der neoliberale Globalisierungsdiskurs

als auch der radikal-konservative Diskurs des Kampfes der Kulturen konnten hieran

anknüpfen. Versuchen die Globalisierungstheoretiker alle Partikularismen über das abstrakte

und historisch idealisierte Marktmodell zu harmonisieren, so begegnen die Kulturkämpfer den

hieraus entstehenden Konflikten mit dem offenen Abbau demokratischer Grundstandards. Das

neue Primat der Außenpolitik, welches sich aus der prognostizierten Schlacht der Kulturen

ergibt, desavouiert alle links-liberalen Träume von Multikulturalismus, Toleranz und

Pazifismus und konstituiert über ein schroffes Freund-Feind-Schema den politischen

Führungsanspruch einer elitären und kulturell gleichsam „reinrassigen“ politischen Kaste.

Gegen fortschreitenden Defätismus und Dekadenz und dem prognostizierten Niedergang der

eigenen Kultur leitet sich die besondere Aggressivität dieser neuen „konservativen

Revolution“ ab.

Wider die „Geschichtsvergessenheit“ - „Mehr Demokratie wagen“

Anstatt also die Geschichte überwinden oder in irgend einer anderen Weise fetischisieren zu

wollen, kommt es also heute mehr denn je darauf an, sich auf die Geschichte einzulassen. Das

kann nur heißen, sich der radikalen Kontingenz und Pluralität des historischen Prozesses zu

stellen, ohne dabei auf einen universalen Horizont zu verzichten. Diese Vermittlung zwischen

Kontingenz und Universalität definiert dabei das Operationsfeld des Politischen. Eine

demokratische Politik wird dann daran erkennbar sein, wie es ihr gelingt diese Lücke

partikularer Kontingenz und politischer Universalität zu symbolisieren bzw. zu repräsentieren,

ohne sie dabei zu verleugnen oder zu einem Initiationsritus für politisch Auserwählte zu

ästhetisieren. Ersteres ist im Motiv vom „Ende der Geschichte“ enthalten, letzteres bildet in

seiner zugespitztesten Form das Modell der „konservativen Revolution“. Damit ist ein

Maßstab vorhanden, mit welchem sich die Konzeptualisierung von Politik und Geschichte

auch in der Demokratietheorie Saages einordnen lässt. Das soll in der Folge anhand von

zentralen Themen wie abstrakter Universalismus, Revolution, Besitzindividualismus

geschehen, wobei Saages Konzept in eine fruchtbare Diskussion verwickelt werden soll mit

alternativen Ansätzen, die aus unterschiedlichen Perspektiven zu ähnlichen Ergebnissen

kommen.

Saages dezidiert mit historischen und sozialwissenschaftlichen Anspruch vorgetragene

Theorie gewinnt zunächst an Kontur durch die Abgrenzungen sowohl vom abstrakten

Universalismus einer rein normativen Theorie als auch von der deskriptiven Komparatistik,

welche die Ebene der Kontingenz nicht übersteigt und in der deshalb das universale Moment

nur negativ als ein willkürliches Supplement der Empirie erscheint.31

So löst der abstrakte

Normativismus den Demokratiebegriff von den historischen und sozialen Praktiken ab, um

diese anschließend aus der damit künstlich gewonnenen idealen Begriffsperspektive bewerten

zu können. Die Folge ist die Etablierung einer instrumentellen Beziehung zwischen Theorie

und Praxis, welche auf einer mechanische Trennung von politischer Philosophie und sozio-

historischer Kontingenz beruht. Umgekehrt verfehlt die empirizistische Komparatistik die

Ebene der Politik, da sie den Begriff der Demokratie keinen universalen Wert zu geben

vermag. Sie verbleibt damit komplett auf der Ebene der historischen Selbstbeschreibung, die

in ein willkürliches Konglomerat von Begriffen und Praktiken zerfällt.

Demgegenüber besteht Saage auf der methodisch unhintergehbaren Wechselbeziehung

zwischen historischer Kontingenz und philosophisch verallgemeinender Begriffsbildung.32

Dazu werden drei analytisch zu trennende, aber inhaltlich aufeinander bezogene Ebenen

unterschieden. Es handelt sich hierbei 1. um die sozio-historischen Kämpfe um die

Demokratie, 2. um die philosophische Reflexion dieser Kämpfe, die mit ihrem logisch-

politischen Hegemonieanspruch und ihrer Legitimationsfunktion gleichwohl Bestandteil

derselben sind und 3. die sozio-technischen Voraussetzungen, mit deren Hilfe Saage die

Realisierungschancen politisch-hegemonialer Kämpfe in Bezug zur

Produktivkraftentwicklung untersuchen will. Thematisiert werden soll mit diesem Ansatz, wie

er zusammenfassend schreibt: „im jeweiligen epochenspezifischen Kontext eben jenes Muster

der von Massenbewegungen getragen provokativen Herausforderung des Postulats ‚Mehr

Demokratie wagen’ und der Antwort derer, die auf der Sistierung oder Rückgängigmachung

dieser Dynamik bestanden.“33

Dies schließt eine Fetischisierung des Demokratiebegriffs, wie

sie aus der positiven oder negativen Ablösung vom historischen Prozess hervorgeht,

prinzipiell aus. Demokratie als Prozess zu betrachten, heißt daher den Demokratiebegriff

immer in Beziehung zur Praxis der Demokratisierung zu denken. Dies unterstreicht gegen

eine statische Interpretation den unabgeschlossenen Charakter von Demokratie. „Nicht das

31 Vgl. Saage 2005, S. 25f. 32

Ebd., S. 26f. 33 Ebd., S. 36.

Interesse an der ‚fertigen’ Demokratie, die typologisiert und mit den Mitteln der empirischen

Sozialforschung quantifiziert werden kann, ist federführend, sondern der dynamische

Vorgang der geschichtlichen Entstehung und das Scheitern von Demokratien.“34

Gegen den

Topos vom „Ende der Geschichte“ ließe sich aus dieser Perspektive mit Arthur Rosenberg

einwenden: „Die Demokratie als ein Ding an sich, als eine formale Abstraktion existiert im

geschichtlichen Leben nicht, sondern die Demokratie ist immer eine bestimmte politische

Bewegung, getragen von bestimmten gesellschaftlichen Kräften und Klassen, die um

bestimmte Ziele kämpfen. Ein demokratischer Staat ist demgemäß ein Staat, in dem die

demokratischen Bewegung die Herrschaft hat.“ 35

Welche konkrete Form die Demokratie

dabei annimmt, ist der konkreten Vermittlung von historisch-sozialer Kontingenz und

politischer Universalität geschuldet.

Ein solcher Ausgangpunkt für eine Demokratietheorie ist in vielerlei Richtung anschlussfähig.

So weist Saages Modell der Historisierung, die sowohl den politischen Prozess als auch

philosophischen Legitimationsstrategien einbezieht vielfache Analogien zur Kritik der

„Geschichtsvergessenheit“ auf, wie sie Bourdieu vorgetragen hat. Der Sachverhalt, den

Bourdieu damit beschreiben will, lässt sich folgendermaßen skizzieren: Ebenso wie die

politischen Institutionen ihre Regeln nicht apriori als legitim unterstellen dürfen, sondern, um

sie tatsächlich demokratisch rückkoppeln zu können, als historisch und sozial bedingt

betrachten müssen, darf auch die akademische Wissenschaft einschließlich der Philosophie

ihre geschulte Perspektive nicht auf einen abstrakten Universalismus aufbauen, der seine

eigenen kontingenten Bedingungen unterschlägt. Für sich genommen tendieren aber sowohl

der moderne Staat als auch die Wissenschaften genau dazu, da sie ihren universalen Anspruch

als distinktes Privileg zu statuieren und zu rechtfertigen suchen. Auf diese Weise können sie

darüber hinaus in einen wechselseitigen Legitimationskreislauf eintreten, ohne sich den

vordergründigen Verdacht der gegenseitigen Übervorteilung auszusetzen. Ruhigen Gewissens

kann die aus einer faktischen Unterschlagung hervorgegangene Monopolisierung des

Universalen zum Privileg von Staat und Wissenschaft von diesen jedoch nur behauptet

werden, wenn sie ihre eigne Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes verdrängt oder

vergessen haben. Für Bourdieu bildet diese systematische Verdrängung der gesellschaftlichen

Bedingungen von Universalität in das Unbewusste eines der Grundmomente moderner

34

Ebd., S, 31. 35 Rosenberg 1988, S. 302.

Rationalität, weshalb deren Problematisierung nach einer radikalen Historisierung und

Kontextualisierung verlangt.36

Über diese Verdrängungsleistung, die sich bei der Universalisierung des Marktmodells ebenso

beobachten lässt wie bei den Methoden rationaler Verwaltung, wird es möglich, kontingente

Regeln und Logiken mit natürlicher Selbstverständlichkeit auf alle übrigen Bereiche der

Gesellschaft, die von Staat, Wirtschaft und Wissenschaft objektiviert werden, zu übertragen.

Die dabei gerade wegen ihrer vermeintlichen Wertfreiheit behilfliche Objektivität des

Beobachters überträgt die Normen der abstrakten Vernunft von den politischen und

wissenschaftlichen Beobachtern auf die praktische Logik der beobachteten Akteure. Hierin

besteht der eigentlich nivellierende Akt moderner Rationalität, der zugleich jene unsichtbare

Unterscheidung von Aktiv- und Passivbürgern reproduziert, auf deren Grundlage der

Konservativismus die Trennung von Freiheit und Gleichheit pseudodemokratisch begründen

kann.37

Diese politische Trennung bekommt dabei eine wissenschaftliche Legitimität

verliehen. Unter dem normalisierenden Blick der abstrakten Vernunft erstarrt die soziale

Praxis zu sozialen Systemen, die mit mathematischen Schemata modelliert und optimiert

werden. Lebendige Sprache verwandelt sich in tote Texte, der von autorisierten Lektoren

entziffert werden müssen, um „den Akteuren die räsonierende Vernunft des über ihr

Verhalten räsonierenden Gelehrten zu unterstellen.“38

Je größer die soziale Kluft zwischen

Beobachtern und Beobachteten, desto problematischer sind die Folgen für den

demokratischen Anspruch von Politik und Wissenschaft. „Die Verzerrungen der

scholastischen Sicht haben um so größere und wissenschaftlich ruinösere Auswirkungen, je

weiter die Objekte der Wissenschaft in ihren Lebensbedingungen von den scholastischen

Feldern entfernt sind – mag es sich dabei um die Mitglieder der traditionell von der

36 „Das Unbewusste ist die Geschichte – die kollektive Geschichte, die unsere Denkkategorien erzeugt, und die

individuelle, die sie uns eingeprägt hat: Und so dürfen wir beispielsweise von der (absolut banalen, in der Geschichte philosophischer und anderer Ideen nicht vorkommenden) Sozialgeschichte der Bildungseinrichtungen und von der (vergessenen oder verdrängten) Geschichte unserer eigenen Beziehungen zu diesen Institutionen manch wirkliche Enthüllung über die objektiven und subjektiven Strukturen (Klassifizierungen, Hierarchien, Problemstellungen usw.) erwarten, die unser Denken ständig und gegen unseren Willen lenken.“ Bourdieu 2001, S. 18. Bourdieu fasst die aufklärerische Intention seines Werkes als eine Aneignung des gesellschaftlichen Unbewussten mit den Mitteln der Bildungs-, Kultur- und Staatssoziologie zusammen. Ebd.

37 „Eine Feststellung, die eine für die Wissenschaft wie für die Politik offensichtlich gleich entscheidende Frage aufwirft, von der ‚Politischen Wissenschaft’ jedoch hochmütig ignoriert wird (wohl deswegen, weil die Entdeckung eines solchen unsichtbaren Zensus das gute demokratische Gewissen schockierte oder, fundamentaler noch, den Glauben an die geheiligten Werte der ‚Person’): die Frage nach den ökonomischen und sozialen Voraussetzungen des Zugangs zur öffentlichen Meinung in ihrer legitimen (und scholastischen) Definition als artikulierter und allgemeiner Diskurs über die Welt. […] Die eklatante Ungleichheit im Zugang zu der sogenannten persönlichen Meinung verstört das gute demokratische Gewissen, den guten ethischen Willen der Gutmenschen und auch, grundlegender noch, den intellektualistischen Universalismus, den Kern der scholastischen Illusion.“ Ebd., S. 86f.

38 Ebd., S. 78.

Ethnologie […] untersuchten Gesellschaften handeln oder um die Inhaber niedrigen

Positionen des sozialen Raums.“39

Diese Kritik am ahistorischen Charakter des abstrakten Universalismus der modernen

Rationalität und insbesondere ihrer pseudodemokratischen Verklärung in Politik und

Wissenschaft darf für Bourdieu jedoch nicht dazu führen, den Anspruch der Universalität

zugunsten eines nihilistischen Relativismus aufzugeben, wie das viele Apologeten der

Postmoderne getan haben. Ganz im Gegenteil kann die demokratische Kritik am abstrakten

Universalismus nur darauf abzielen, den Anspruch auf Universalität wie ihn die

demokratisch-emanzipatorischen Bewegungen seit der Aufklärung vertreten haben, zum

Durchbruch zu verhelfen. Bourdieu fasst dies folgendermaßen zusammen: „In den

Beziehungen zwischen den Nationen wie innerhalb derselben dient der abstrakte

Universalismus meist zur Rechtfertigung der bestehenden Ordnung, der geltenden Verteilung

von Macht und Privilegien – das heißt der Herrschaft des heterosexuellen, euro-

amerikanischen (weißen), bürgerlichen Mannes – im Namen formaler Forderungen eines

abstrakt Universellen (Demokratie, Menschenrechte usw.) und unter Vernachlässigung der

ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner Realisierung oder, schlimmer noch, im

Namen der ostentativ universalistischen Verurteilung eines jeden Anspruchs auf

Partikularismus und zugleich aller auf der Grundlage einer stigmatisierten Partikularität

konstruierten ‚Gemeinschaften’ (Frauen, Homosexuelle, Schwarze usw.), die damit

verdächtigt oder beschuldigt werden, sich selbst aus größeren sozialen Einheiten (‚Nation’,

‚Menschheit’) auszuschließen. Auf ihre Weise stellt die skeptische oder zynische

Zurückweisung jeder Form des Glaubens an das Universelle, an die Werte Wahrheit,

Emanzipation, kurz: an die Aufklärung, und jede Behauptung universeller Wahrheiten und

Werte, im Namen eines primitiven Relativismus, der jedes universalistische

Glaubensbekenntnis für ein pharisäisches Betrugsmanöver mit dem Ziel der Verewigung

einer Hegemonie hält, eine andere Art dar, die Dinge zu akzeptieren, wie sie sind – und eine

insofern gefährlichere Spielart, als sie sich den Anschein des Radikalismus geben kann.“40

Dem postmodernen Pseudoradikalismus muss daher eine historisierende „Aufklärung der

Aufklärung“ gegenübergestellt werden, deren politisches Pendant Bourdieu als eine

„kämpferische Realpolitik der Vernunft“ verstanden wissen will. „Entgegen dem Anschein

bedeutet es keinen Widerspruch, gleichzeitig gegen die mystifizierende Heuchelei des

abstrakten Universalismus zu kämpfen und für die Universalisierung der

Zugangsmöglichkeiten des Universellen – ein vorrangiges Ziel jedes wahrhaften

39 Ebd., S. 65f.

Humanismus, den die universalistische Predigt ebenso vergisst wie die (falsche) nihilistische

Subversion.“41

Revolution und Demokratisierung

Ebenso wie sich Saages Auffassung vom unabgeschlossenen Prozess der Demokratisierung in

ein fruchtbares Zwiegespräch mit Bourdieus „kämpferischer Realpolitik der Vernunft“

verwickeln lässt, so scheint mir dies anhand der Dialektik von Demokratie und Revolution

auch möglich für das Modell der radikalen und pluralen Demokratie von Ernesto Laclau und

Chantal Mouffe. So nimmt die Spannung von sozialer und politischer Demokratisierung zum

modernen Revolutionszyklus im Werk Saages einen großen Raum ein. Am Beispiel der

politischen und sozialen Kämpfe in den Niederlanden, England und in Nordamerika zwischen

dem 16. und 18. Jahrhundert wird die Beziehung zwischen demokratischen Volksbewegungen

und der revolutionären Herausbildung des modernen Verfassungsstaates thematisiert. Der

Blick auf die revolutionäre Pamphletistik klärt schnell darüber auf, inwieweit die

Begriffsbildung der politischen Theorie als immanenter und praktischer Bestandteil der

politischen Kämpfe und der sozialen Umwälzungen betrachtet werden muss. Die hierin zum

Ausdruck kommenden Erschütterungen des Legitimitätsglaubens sind im Übergang von der

ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft nicht zu trennen von der Um- und Herausbildung

neuer sozialer Identitäten. Dabei liegt der Fokus der Untersuchungen auf der praktischen

Rekonstruktion des revolutionären Wandels von politischer Legitimität und

Rechtsbegründung.

Geschildert wird dabei die Herausbildung eines kontraktualistischen Verfassungsrechtes,

welches die Motive von individueller, d. h. auf den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit

basierender Rechtspersönlichkeit der Bürger und demokratischer Volkssouveränität verbindet.

Obwohl sowohl die niederländische als auch die englische Revolution zunächst als politische

Konflikte innerhalb der traditionellen Eliten ausbrechen, und auf dieser Ebene noch nicht über

die überkommenen Legitimationsvorstellungen des ständischen Ordoprinzips hinausweisen,

setzen die qualitativen Umbrüche im Staats- und Rechtsverständnis genau dann ein, wenn sich

die revoltierenden Fraktionen der herrschenden Eliten mit einer Volksbewegung verbinden.

So wird mit der Rechtfertigung des bewaffneten Kampfes gegen die Obrigkeit und den

Bedürfnissen der Mobilisierung und Führung einer Volksbewegung das Problem von

Souveränität und Legitimität im Zusammenhang mit der Frage des Widerstandrechts

40 Ebd., S. 91.

aufgeworfen. Das Terrain, auf dem sich die revolutionären Kämpfe entfalten konnten, setzte

allerdings bereits die politischen Interventionen der Reformation und der Staatsräson voraus.

In ihrem Zusammenwirken stellten sie das theologische Legitimationsmonopol der

katholischen Kirche radikal in Frage und konstituierten damit die Politik zu einem

eigenständigen und weltlich bestimmbaren Gegenstand. Die hierdurch beförderte Ablösung

des Rechtes von seiner transzendent-theologischen Begründung veränderte auch den Modus

der juristischen Regulation der Gesellschaft. So geriet das traditionelle Ordoprinzip schnell in

Konflikt zur neuen Souveränitätslehre.

Im Souveränitätsbegriff von Jean Bodin tritt der weltliche Monarch an die transzendente

Position Gottes, um selbst zum „unbewegten Beweger“ der aristotelischen Metaphysik zu

werden. Als solcher kann er allgemein-verbindliche Gesetze erlassen, ohne denselben selbst

unterworfen zu sein. Demgegenüber plädieren die calvinistischen Monarchomachen für die

Wiederherstellung der traditionellen Unterordnung des Souveräns unter die (ständische)

Verfassung und leiten hieraus ihren Anspruch auf ein Widerstandsrecht ab. Die verwaiste

Position Gottes kann demnach tendenziell republikanisch-demokratisch gefüllt werden. Die

im traditionellen Ordoprinzip der ständischen Verfassung durchaus enthaltenen regressiven

Elemente, werden allerdings durch den Antagonismus zwischen Calvinismus und

Katholizismus politisch überzeichnet. Eine revolutionäre Dimension erreichte dieser religiöse

Antagonismus jedoch erst, wenn er temporär mit weiteren politischen, ökonomischen und

sozialen Antagonismen, wie etwa Spanisch und Nicht-Spanisch, arm und reich oder adelig

und bürgerlich verbunden wurde. In diesen antagonistischen Äquivalenzketten, welche die

revolutionäre Volksbewegung mit den revoltierenden Fraktionen der politischen Elite

verband, wird das traditionelle Ordoprinzip suspendiert zugunsten der egalitären Äquivalenz

von Freien und Gleichen.42

Blieben diese Artikulationen in der niederländischen Revolution

jedoch noch instabil und flüchtig und waren auf kurze Momente der Radikalisierung etwa bei

den Geusen beschränkt, so geht das individualistische Prinzip der Freiheit und Gleichheit im

Kampf des englischen Parlaments gegen den patrimonialbürokratischen

Souveränitätsanspruch der Krone bereits unmittelbar in die politische Herrschaftslegitimation

ein.

Das Vertragsmodell, welches hier zur Herrschaftslegitimation gegen die Patrimonialtheorie

herangezogen wurde, ist bereits weitgehend enthierarchisiert. Seine puritanische

Interpretation kann sehr wohl am biblischen Ursprung des Rechts festhalten, ohne jedoch mit

41 Ebd.

den individualistischen Prämissen der Freiheit und Gleichheit in Konflikt zu geraten. Ganz im

Gegenteil machte die politische Metapher vom Herrschaftsvertrag den Puritanismus ebenso

anschlussfähig an die Interessen des frühkapitalistischen Warenverkehrs wie an die

rationalistischen Verwaltungsstäbe, die ihre Bindung an den Souverän nicht mehr

lehensrechtlich, sondern als rationalen Dienst- und Arbeitsvertrag rechtfertigten. Insofern war

der Kontraktualismus eng verwoben mit dem sich herausbildenden Ethos vom öffentlichen

Dienst mitsamt einer neuen politischen Idee der Öffentlichkeit.

Die politische Philosophie der Aufklärung bemühte sich im Anschluss an John Locke und

Jean-Jacques Rousseau unter dieser Kategorie eine gemeinsame Bewegungsform für

besitzindividualistische Prämissen und Volkssouveränität zu finden.43

Mit der demokratischen

Idee der Volkssouveränität verbündete sich die Vertragslehre im Gefolge der bürgerlichen

Revolutionen immer unter dem Druck der radikalen Volksbewegungen. Englische

„Levellers“, amerikanische „mechanics“ und französische „Sansculotten“ ergänzen die

negativen Freiheitsrechts der Besitzbürger durch die Forderung nach politischer Partizipation.

Bei den Levellers wird das radikaldemokratische Prinzip der Volkssouveränität erstmals mit

dem Repräsentationsgedanken verbunden. Bei ihnen wird die soziale Qualifikation zur

Repräsentation weitgehend abgekoppelt sowohl von der standesgemäßen Herkunft als auch

dem Grundeigentum oder der Zugehörigkeit zum Klerus bzw. Juristenstand. Die soziale

Herkunft wird ersetzt durch die ethische Disposition des trust-Prinzips. Das Vertrauen des

Volkes fungiert hier als eine symbolische Kompetenz, welche die partikulare Logik des

Sozialen in die allgemeine Logik der Politik zu übersetzen vermag. Repräsentation findet

demnach statt, weil das Besondere nicht unmittelbar im Allgemeinen aufgeht. Dieses

qualitative Argument für die Repräsentation ist dabei unendlich gewichtiger als ihre

quantitative Begründung, wonach eine große Zahl von Bürgern zu einer unmittelbaren und

direkten politischen Entscheidung nicht fähig ist. Die Repräsentation des Volkes nach dem

trust-Prinzip setzt eine besondere Form der politischen Tugend voraus, die unabhängig von

der sozialen Position ausschließlich dem Allgemeinwohl („commune bonum“) verpflichtet ist.

Wenn die revolutionären Volksbewegungen ein Demokratieverständnis artikulierten, das

Freiheit und Gleichheit in einem untrennbaren und allgemeinen sozialen Zusammenhang

(Brüderlichkeit) setzte, so musste dies zwangsläufig in Widerspruch geraten zum liberalen

Konzept des Besitzindividualismus. Die hegemoniale Matrix des liberalen

Besitzindividualismus war in dem Maße bedroht, wie immer mehr Subjekte ihre Rechte

42 Im Begriff der „Äquivalenzkette“ beschreiben Laclau /Mouffe 1991 das politische Bündnis verschiedener

sozio-politischer Interessen gegen einen antagonisierten Gegner, was die universale Repräsentation der partikularen Elemente in einem hegemonialen Block ermöglicht.

einforderten, die nicht mehr nur mit den Privilegienrechten des Adels, sondern nun auch mit

dem Eigentumsrecht der Aktivbürger kollidierten. Die politische Interpretation der

Menschenrechte als ein universaler Horizont der demokratischen Revolution hing nun davon

ab, welche konkreten, partikularen Inhalte und Interessen sich in diese universale Kategorie

einschreiben konnten und wie der Gesetzgeber diese qua Bürgerrecht zu garantieren

vermochte. Denn nicht zuletzt hiervon hing die universale Legitimität des neuen Staats auf

Dauer ab. War das Recht auf Eigentum etwa nur ein negatives Schutzrecht oder war es als

universelles Anspruchsrecht zu begreifen? Lassen sich diese Rechte auch auf Arbeiter und

Frauen ausdehnen? Lässt sich die revolutionäre Mobilisierung einer Volksbewegung mit Hilfe

der Menschenrechte von den anschließend tatsächlich gewährten Bürgerrechten abtrennen,

oder sind sie eins und unteilbar?

Die politische Theorie des Besitzindividualismus

Vor diesem Hintergrund, so eine der wirkungsmächtigsten Grundthesen Saages, lässt sich

auch die politische Philosophie des Deutschen Idealismus zwischen Kant und Hegel

entschlüsseln. Während Kant den Besitzindividualismus mit dem demokratischen Imaginären

der Volkssouveränität verbindet, indem er diesen einen transzendentalen,

vorgesellschaftlichen Status einräumt, interpretiert Fichte den Besitzindividualismus als ein

revolutionäres Versprechen, das der Staat und die Politik, um seiner Legitimität willen,

einlösen muss. Insoweit propagieren beide das Bündnis von Liberalismus und Demokratismus

von gegenüberliegenden Perspektiven aus, was allerdings nicht ausschließt, dass unter dem

Überbegriff des Republikanismus auch monarchische und selbst ständische Elemente in ihren

Diskursen artikuliert werden. Der von Kant propagierte Rechtsstaatsgedanke, der auf

transzendentaler Grundlage die Rechte der Besitzbürger und verschiedene Privilegien des

Adels vor demokratischen Übergriffen schützt, wird von Fichte durch einen Wohlfahrtsstaat

ergänzt und substituiert, der die Eigentumsbildung politisch durchzusetzen hat. Während also

die politische Ökonomie bei Kant sozusagen statisch in die transzendentalen Voraussetzungen

der Gesellschaft inkludiert ist, besitzt diese bei Fichte eine praktisch-politische Dimension.

Beide philosophische Konzepte sind für die politische Ideengeschichte deshalb so interessant

geworden, weil bereits hier am Anfang des liberal-demokratischen Projektes der Moderne, die

politischen Gestaltungsräume in der Dialektik von Rechts- und Sozialstaat bzw. Freiheit und

Gleichheit ausgelotet werden.

43 Vgl. Saage, Konvergenz

Die Frage, ob Kants juristischer Transzendentalismus, wie Saage behauptet, eine historisch-

politische und daher kontingente Artikulation von politischer Universalität darstellt oder, wie

seine zumeist philosophischen Kritiker meinten, vielmehr als eine abstrakte Universalität zu

begreifen ist, die ahistorisch den unhintergehbaren Horizont von republikanischer

Staatlichkeit beschreibt, ist daher auch keine rein philosophische Frage.44

Der dezidierte

Rückzug der politischen Philosophie in dieser Frage auf einen abstrakt-apriorischen

Universalismus und dessen ostentative Abtrennung von der Geschichte befand sich in einer

vollständigen Homologie zum politischen Widerstand gegen eine fortschreitende

Verschränkung von liberaler Freiheit und demokratischer Gleichheit, wie sie der Politik des

sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates zugrunde lag. Eine unter dem erkenntnisleitenden

Motto „Mehr Demokratie wagen“ angetretene politische Ideengeschichte musste daher

zwingend mit dem abstrakten Universalismus der Philosophen in Konflikt geraten.

Die Kritik am Besitzindividualismus, zumal bei dem zum liberalen Orakel stilisierten Kant,

traf die philosophischen Kritiker des Sozialstaates an einer entscheidenden Stelle. Benötigte

doch das sich formierende konservativ-liberale Projekt des Neoliberalismus den

Besitzindividualismus, um der Verbindung des liberalen Marktsubjekts mit dem

konservativen Elitemodell eine gewisse philosophische Plausibilität geben zu können.45

Das

setzte die Delegitimierung positiver bzw. materieller Freiheitskonzepte, wie sie sich im

ideengeschichtlichen Gegensatz zu Kant beispielsweise bei Fichte finden ließen, voraus,

welche die Eigentumsbildung nicht nur als eine vorstaatliche und vorgesellschaftliche

Voraussetzung, sondern ebenso als sozialstaatliche Aufgabe betrachtete, und von daher eine

Politik der Umverteilung einschloss. Die Diskreditierung positiver Freiheitskonzeptionen als

tendenziell totalitär ist dabei ein Topos, der sich auf verschiedene, aber letztlich

konvergierende Ebenen zurückverfolgen lässt und schließlich in ein mächtiges hegemoniales

Projekt mündete, das heute in Gestalt des Neoliberalismus weitgehend den Rahmen allen

politischen Handelns bestimmt. Der Topos findet sich bei den Ökonomen Friedrich von

Hayek und Milton Friedmann, die auf dieser Rhetorik ihre Gegnerschaft zur keynesianischen

Wirtschaftspolitik und zum New Deal aufbauten ebenso wie bei dem einflussreichen

Rechtsphilosophen Robert Nozick, der den Markt als einzig mögliche Institution der

Verteilungsgerechtigkeit gegen den Sozialstaat ausspielte. Auch die vielgestaltig auftretende

strategische Beschränkung der gesellschaftlichen Reichweite der Begriffe von Demokratie

44 Vgl. Zotta. Diese Auseinandersetzung kann als ein Lehrstück betrachtet werden, wie die Ablösung der

Philosophie von Geschichte und sozialer Reflexion unabhängig von den bewussten Intentionen der Akteure einem antidemokratischen Elitemodell Vorschub leistet.

45 Vgl .hierzu die hegemonietheoretische Beschreibung der „anti-demokratischen Offensive“ in der konzertierten

Aktion von Neoliberalismus und Neokonservatismus bei Laclau/Mouffe 1991, S. 234-239.

und Partizipation sind hierzu zu zählen. Die Anschlussfähigkeit dieser Argumente an die

„Neue Rechte“ demonstriert schlagend ein Zitat von Alain de Benoist: „Ich nenne ‚rechts’ das

Verhalten, das die Verschiedenheit der Welt und deshalb Ungleichheiten als ein Gut und die

fortschreitende Homogenisierung der Welt, die durch den zweitausendjährigen Diskurs der

totalitären Ideologie begünstigt und bewirkt wurde, als ein Übel betrachtet.“46

Schon lange also bevor Fukuyama mit seinen Thesen an die Öffentlichkeit trat, war das

ideologische Feld durch den Neokonservativismus und Neoliberalismus so effektiv beackert

worden, dass der Zusammenbruch des osteuropäischen Sozialismus tatsächlich im populären

Bewusstsein wie eine empirisch-faktische Bestätigung der konservativen Verschiebung im

liberaldemokratischen Diskurs wirken musste. Von entscheidender Bedeutung für diesen

hegemonialen Effekt war dabei die erfolgreiche Etablierung der antagonistischen

Analogieketten von Gleichheit, Identität und Totalitarismus auf der einen und Differenz,

Ungleichheit und Freiheit auf der anderen Seite. Der Sieg der „Freiheit“ durch den

Zusammenbruch des totalitären Kommunismus evozierte in diesem ideologischen Rahmen

notwendig auch das Ende des westlichen Sozialstaates. So konnte Fukuyama dem

sozialdemokratischen Projekt des demokratischen Liberalismus genau in dem Moment unter

allgemeiner Zustimmung gleichsam den Totenschein ausstellen, als die liberale Demokratie

nur scheinbar paradoxer Weise als Sieger aus der äußeren, bipolaren

Systemsauseinandersetzung hervorging. Es war ein Sieg der „Freiheit“ über die „Gleichheit“

nicht nur nach außen, sondern – und das wird oft übersehen - auch nach innen. Dem Triumph

der liberalen Demokratie in der Systemauseinandersetzung folgte daher die innere Krise auf

dem Fuße. Diese war jedoch durch die Auflösung des hegemonialen Zusammenhanges von

Demokratie und Liberalismus zumindest schon vorbereitet.47

Aus der Erfahrung des

Thatcherismus konnten Lalcau und Mouffe daher schon 1985 feststellen: „Genau in diesem

Kontext der Krise des demokratischen Liberalismus muss jene Offensive lokalisiert werden,

die das subversive Potential der Artikulation zwischen Liberalismus und Demokratie zu

zersetzen versucht und erneut die Zentralität des Liberalismus behauptet – als die

Verteidigung individueller Freiheit gegen jede Einmischung seitens des Staates und im

Gegensatz zur demokratischen Komponente, die auf gleichen Rechten und Volkssouveränität

beruht. Dieser Versuch, das Terrain des demokratischen Kampfes zu beschränken und die in

vielen sozialen Verhältnissen existierenden Ungleichheiten zu bewahren, erfordert jedoch die

Verteidigung eines hierarchischen und anti-egalitären Prinzips, das durch den Liberalismus

selbst gefährdet worden war. Aus diesem Grund nehmen die Liberalen zunehmend zu einer

46 Zit. nach ebd., S. 237.

Reihe von Themen aus der konservativen Philosophie Zuflucht, in der sie die notwendigen

Elemente finden, die Ungleichheit zu rechtfertigen. Wir erleben somit das Auftauchen eines

neuen hegemonialen Projekts: das des liberal-konservativen Diskurses, der die neo-liberale

Verteidigung der freien Marktwirtschaft mit dem äußerst anti-egalitären kulturellen und

sozialen Traditionalismus des Konservatismus zu artikulieren versucht.“48

Dies hat sich auch

in den programmatischen Äußerungen der deutschen Bundesregierung niedergeschlagen.

Brandts „Mehr Demokratie wagen“, Schröders „Neue Mitte“ und Merkels „Mehr Freiheit

wagen“ stecken die Eckpunkte dieser Entwicklung ab.

Wie lässt sich jedoch unter solchen Bedingungen die Hegemonie des Neoliberalismus brechen

und der Demokratisierung damit wieder ein Geländegewinn verschaffen? Die Antwort von

Laclau/Mouffe hierauf ist das konsequente Abrücken von einer Strategie der „Neuen Mitte“

oder des „Dritten Weges“ und einer pseudodemokratischen „political correctness“: „The Left

should start elaborating a credible alternative to the neo-liberal order, instead of simply trying

to manage it in a more humane way. This, of course requires drawing new political frontiers

and acknowledging that there cannot be a radical politics without the definition of an

adversary. That is to say, it requires the acceptance of the ineradicability of antagonism. […]

As long as the Left relinguishes the hegemonic struggle, and insists on occupying the centre

ground, there is very little hope that such a situation could be reversed.“49

Der Nullpunkt der Demokratie

Saages Antwort auf die gegenwärtige Krise der liberalen Demokratie besteht in der

Aktualisierung der notwendigen Verschränkung von Freiheit und Gleichheit in ihren

normativen wie historischen Voraussetzungen. Dies kann als eine Strategie interpretiert

werden, welche der Eskamotierung des Demokratiebegriffs von seinen historischen wie

normativen Grundlagen durch den Neoliberalismus widersteht. Er greift dazu historisch auf

das Modell der Attischen Demokratie zurück, um die normative Formel von der

Selbstbestimmung des Volkes als transzendentales Muster der Demokratietheorie zu erhalten.

Diese normative Folie teilt er mit der Demokratietheorie von Jacques Rancière.50

Auch dieser betrachtet die Attische Demokratie als demokratischen Archetypus, geht darüber

hinaus aber noch soweit die Demokratie als Voraussetzung von Politik schlechthin zu

behaupten. Politik konstituiert sich nach Rancière in dem Moment, wo sich der aus der

47 Vgl. hierzu Macpherson 1983. 48

Lalcau/Mouffe 1991, S. 239. 49 Laclau/Mouffe 2001, S. XVIf. u. XVIII.

politischen Gesellschaft bisher ausgeschlossene Demos zum legitimen Repräsentanten der

Gesellschaft proklamiert. Politik und Demokratie sind in exakt dieser Beziehung synonym, da

das Gemeinwohl der Polis nur repräsentiert werden kann, wenn die Polis in ihrer

Allgemeinheit in die Repräsentation einbezogen wird. Hingegen kann die Strategie der

Entpolitisierung, welche den Demos von der Repräsentation trennt und ihn zu einem Teil der

Gesellschaft ohne politischen Anteil macht, nicht eigentlich unter dem Begriff der Politik

subsumiert werden, da hier die Universalität des Gemeinwohls sozial beschränkt wird und die

Identifikation der Beherrschten mit den Herrschenden künstlich über pseudopolitische

Praktiken fabriziert werden muss. Denn nur so kann die politische Identität des

Gemeinwesens den Widerspruch zur sozialen Ungleichheit aushalten. In der philosophischen

Kritik der Demokratie von Aristoteles und Plato steht der Begriff der Politik daher

begriffsgeschichtlich gleichsam auf dem Kopf. Die hieran anschließende philosophische

Tradition etabliert daher eigentlich eine Tradition der Verleugnung des Politischen, die eine

künstliche Trennlinie zwischen der Politik und der Gesellschaft errichtet und legitimiert.

Beide, Saage wie Rancière, sehen in der Französischen Revolution am Ende des 18.

Jahrhunderts die klassische Aktualisierung der normativen Folie der Attischen Demokratie,

die den Begriff auch erst aus seiner pejorativen Konnotation befreit. Hier ist es der Dritte

Stand, der nicht nur seinen Anteil fordert, sondern, indem er sich zur politischen

Allgemeinheit der Nation transformiert, alles zu sein beansprucht. Das berühmte Pamphlet

des Abbé Sieyès „Was ist der Dritte Stand?“ brachte es auf den Punkt: „Was ist der Dritte

Stand? Nichts. Was müsste er sein? Alles!“ Die demokratische Politik der Moderne entstand

aus diesem politischen Kurzschluss zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen. Die

Singularität des Dritten Standes proklamiert sich in einem revolutionären Akt zum alleinigen

Vertreter des Allgemeinen und fordert die übrigen Stände auf, ihm beizutreten. Nach Rancière

ist das die politisch-demokratische Geste schlechthin, welche alle funktionalen Ordnungen

und Differenzierungen aus den Angeln hebt.

Mit der Universalisierung zur Nation hebt der Dritte Stand die funktionale Struktur des

Ständesystems auf und setzt die politische Disposition des Menschen als konkrete Basis

nationaler Universalität frei. Dieser radikale Akt der Politik wird in der Deklaration der

Menschen- und Bürgerrechte beglaubigt. Freiheit und Gleichheit sind ebenso eins und

untrennbar wie die Nation. Hier geht es nicht etwa um die Festschreibung des

Besitzindividualismus, sondern vielmehr um die Etablierung einer völlig neuen politischen

Ordnung. Der Konflikt um die besitzindividualistische Interpretation der Menschenrechte

50 Vgl. Rancière 2002.

setzt erst im Zusammenhang mit der Überführung des deklarierten Postulats in eine

verfassungsmäßige Ordnung ein.51

Erst aus dem nun einsetzenden Kampf zwischen

demokratischer Politik, die an der universalen Geste der Deklaration festhält, und

besitzindividualistischer Pseudopolitik, welche eine funktionale Ordnung mit Aktiv- und

Passivbürgern einführt, entfesselt sich die Dynamik der Französischen Revolution. Für die

Demokraten befähigt alles zum Bürger, was Mensch ist. Die Strategie ihrer Gegner beinhaltet

dagegen die entpolitisierende Trennung des Menschen vom Bürger, der Gleichheit von der

Freiheit und des Staates von der Gesellschaft.

Die gleiche politisch-demokratische Geste, die sich in der Attischen Demokratie und der

Französischen Revolution artikuliert, findet sich auch in der politischen Theorie des

Marxismus wieder. Hier ist es das neue Proletariat, das sich in einem revolutionären Akt nach

dem Vorbild von Demos und Drittem Stand aus einer sozial und politisch unterdrückten und

ausgeschlossenen Klasse in der besitzindividualistischen Ordnung des Kapitalismus zum

singulären Platzhalter der Gesellschaft im Allgemeinen konstituieren soll. Das Paradox der

politischen Klasse besteht in ihrer singulären Allgemeinheit, welche die funktionale Ordnung

des besitzindividualistischen Politik bzw. Demokratieverständnisses aus den Angeln hebt. Es

kann daher aus dieser Perspektive nicht um eine arithmetische Anpassung von Sozialstruktur

und politischer Repräsentation gehen, sondern um die Transformation der sozialen, d.h.

beschränkten Klasse zur politischen Klasse, die den neuen Horizont der Universalität

verkörpert. Die hierauf aufbauende Kritik der politischen Ökonomie muss daher die alte

Trennung von Ökonomie und Politik aufheben. Dies ist der Hintergrund vor dem sich die

begriffliche Spaltung zwischen sozialer und politischer Demokratie in der Mitte des 19.

Jahrhunderts vollzog. Während die liberale Demokratie die besitzindividualistische

Sozialstruktur nicht in Frage stellt, muss der demokratische Sozialismus auf die Überwindung

des kapitalistischen Systems bestehen. Während die Revolution für die liberale Demokratie

nur noch einen historischen oder allenfalls nachholenden Wert besitzt, wird die Dialektik von

Revolution und Reform für die Arbeiterbewegung zu einer entscheidenden Grundfrage.

Diese Problematik, welche die moderne Demokratietheorie über einen langen Zeitraum

geprägt hat, ist auch zentral für die von Saage analysierte Debatte zwischen dem

Austromarxisten Max Adler und dem liberalen Rechtstheoretiker Hans Kelsen in den 20er

Jahren des letzten Jahrhunderts. Für Kelsen ist die demokratische Geste der deklarierten

51 Dies wird auch von Habermas in seinem Öffentlichkeitsbuch bestätigt: „Liberale Menschenrechte und

demokratische Bürgerrechte treten, wie die Privatrechtsordnung, die grundrechtlich fixierte öffentliche Ordnung überhaupt, in Theorie und Praxis des bürgerlichen Staatsrechts erst auseinander, als die Fiktivität der hypothetisch zugrunde gelegten Gesellschaftsordnung zu Bewusstsein kommt und die schrittweise verwirklichte Herrschaft des Bürgertums für es selbst ihre Ambivalenz offenbart. Habermas 1991, S. 328.

Identität der Menschen- und Bürgerrechte in der Französischen Revolution nur noch ein

transzendentales Schema im Kantischen Sinne, das sich in Geschichte und Politik nur

unzureichend und pragmatisch verwirklichen kann. Die repräsentative Demokratie des

Parlamentarismus einschließlich ihrer kapitalistischen Ökonomie ist Ausdruck dieses

politisch-historischen Prozesses. Als ein wahrhaft demokratischer Exponent des Liberalismus

erweist sich Kelsen dabei jedoch durch sein Festhalten an der bürgerlichen Revolution als

normative Folie der parlamentarischen Demokratie. Eine Ablösung des Demokratiebegriffs

von seiner normativen wie historischen Grundlage, der revolutionären

Gemeinwohlorientierung, wie sie in den so genannten realistischen Demokratietheorien im

Anschluss an Josef A. Schumpeter erfolgten, lehnt Kelsen als antidemokratisch ab. Auf sich

gestellt, ohne transzendentales Muster, würde die parlamentarische Demokratie in eine blinde

Orientierungslosigkeit hineintaumeln. Zur reinen Kontingenz depraviert, wäre sie unfähig

politische Probleme einer demokratischen Lösung zuzuführen.

Max Adler hingegen suspendiert die Revolution nicht zu einem transzendentalen Schema der

Geschichte, ihm geht es vielmehr um die politisch-praktische Überwindung der

besitzindividualistischen Sozialstruktur. Die formale Demokratie des bürgerlichen

Parlamentarismus muss dazu durch die soziale Demokratie des Sozialismus ersetzt werden,

welche die Spaltung in eine politische Demokratie und eine kapitalistische Ökonomie aufhebt.

Der politische Träger dieses Prozesses könne im marxistischen Sinne nur das Proletariat sein.

Mit diesem Festhalten am revolutionären Charakter der Demokratie setzte sich Adler aber

selbst im austromarxistischen Lager der Kritik aus. Stand die metapolitische Überhöhung der

Revolution zum alles entscheidenden Zweikampf zwischen Kapital und Arbeit nicht eher

einer demokratischen Politik im Wege? Verkannte eine solche Strategie nicht die plurale und

differenzierte Struktur der modernen Gesellschaft und verspielte gerade aus diesem Grund die

Möglichkeit, konkrete und differenzierte Strategien einer emanzipatorischen Politik zu

entwickeln? Verhinderte die klassenkämpferische Teilung der Gesellschaft in zwei

antagonistische Blöcke nicht die Möglichkeit einer hegemonialen Politik, welche die

verschiedensten zivilgesellschaftlichen Akteure zu einem demokratischen Projekt vereinen

könne? Ist es nicht vorteilhafter den demokratischen Kampf schrittweise auf die

verschiedensten sozialen Felder zu tragen und auf diese Weise die undemokratische Trennung

von Politik und Gesellschaft aufzuheben, ohne ihre pluralistische Struktur zu negieren? Dies

waren Fragen, die Adler u. a. von Karl Renner und Otto Bauer gestellt wurden, ohne dass die

österreichische Sozialdemokratie in Theorie und Praxis hierauf eine befriedigende politisch-

praktische Antwort finden konnte.

Trotzdem ist es das Verdienst diese Fragen gestellt zu haben, und es scheint als sei die

Kontroverse heute von ungeahnter Aktualität für eine Politik, die sich der Demokratisierung

verpflichtet fühlt. Sollte der Liberalismus wieder verstärkt an den demokratischen Diskurs

zurückgebunden werden, indem das liberale Motiv der Differenz zivilgesellschaftlich

interpretiert wird und vom Motiv des kapitalistischen Marktliberalismus sowie der

konservativen Eliteidee abgegrenzt wird? Dies würde jedoch die strategische Abkehr vom

deliberativen Konsensmodell voraussetzen, das den Prozess der Entscheidungsfindung auf ein

unpolitisches, neutrales Terrain gründet. Im Anschluss an Rosenbergs Unterscheidung von

demokratischer Staatsform und demokratischer Bewegung dürften die Demokraten sich dann

nicht scheuen den politischen Konflikt wieder verstärkt in die demokratische Praxis

einzuschreiben.52

So schlagen Laclau und Mouffe vor, die soziale und kulturelle

Fragmentierung der Gesellschaft in der Konstellation von „Globalisierung“ und

„Postmoderne“ anzuerkennen, um zwischen den fragmentierten Positionen, Identitäten und

Subjektivierungsformen einen demokratischen Block zu etablieren, welcher die

Demokratisierung über die formale Grammatik des politischen Systems hinaus auf alle Felder

des Sozialen ausbreitet.53

Ihr Begriff der „demokratischen Revolution“ ist jedoch kein „high

noon“ der Weltgeschichte, sondern ein Prozess der demokratischer Extensivierung und

Intensivierung, der sich von der Homogenität des klassischen Emanzipationsbegriffes

verabschiedet hat. Demgegenüber kündigt sich, etwa im Werk von Michael Hardt und

Antonio Negri oder Slavoj Žižek, eine Rehabilitierung des klassischen Revolutionsbegriffs

an, welcher das postmoderne Universum vollständig durchquert hat und die

Systemüberwindung auf die globale Agenda setzt.54

Diese Position lässt sich pointiert in

Žižeks emblematischer Formel zusammenfassen: „Class Struggle or Postmodernism? Yes,

please!“55

Literatur:

Althusser 1968

Louis Althusser: Für Marx. Aus dem Französischen von Karin Brachmann und Gabriele

Sprigaht. Frankfurt a. M. 1968.

Bourdieu 1988

52 Das „Missverständnis, als wäre die Demokratie die Verkörperung der Gewaltlosigkeit“ erweist sich daher als

eine Schwäche der Demokraten, die aus der fehlenden Unterscheidung zwischen dem Legalitätsgebot der demokratischen Staatsform und der demokratischen Bewegung herrührt. Vgl. Rosenberg 1988, S. 306ff.

53 Vgl. u. a. Laclau 2002 und Mouffe 2000. 54

Vgl. Hardt/Negri 2002 u. 2004; Žižek 2002. 55 Žižek 2000.

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Bernd Schwibs, Frankfurt a. M. 1988.

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Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des

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