der junge von kayhausen und die haut aus dem bareler moor

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Der Junge von Kayhausen und die Haut aus dem Bareler Moor Neueste Untersuchungsergebnisse Sonderausgabe aus Museumsjournal Natur und Mensch 2010

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Der Junge von Kayhausen unddie Haut aus dem Bareler Moor

Neueste Untersuchungsergebnisse

Sonderausgabe aus

Museumsjournal

Natur und Mensch

2010

– 2 |

Inhalt

E. Jopp, E. Oplesch, S. Klingner, F. Both, M. Schultz, K. Püschel

Feststellungen zum Erhaltungszustand und Deskription der

makroskopischen Untersuchungen (2010) .................................................................................................. 41

E. Jopp, D. Säring, P. Käsemann, M. Schultz, K. Püschel

Lokalisation und Interpretation der Stichverletzungen,

Fesselungen und sonstige Verletzungen ..................................................................................................... 57

K. Püschel, M. Schultz, E. Jopp

So genannte „operative Fallanalyse“ –

......................................................................... 77

J. Zustin, M. Schultz

................................................................................... 91

J. Mißbach-Güntner, Chr. Dullin, S. Klingner, E. Oplesch, F. Alves, M. Schultz

hochauflösender Computertomographie .................................................................................................. 103

M. P. Schön, A. Bennemann, St. Emmert, M. Schultz

................................... 113

M. Schultz, J. Zustin, J. Nováček, E. Jopp, K. Püschel, S. Klingner, E. Oplesch

Licht- und rasterelektronenmikroskopische Untersuchungen

................................................................................... 123

E. Oplesch, S. Klingner, J. Mißbach-Güntner, E. Jopp, K. Püschel, M. Schultz

Ergebnisse der paläopathologischen Untersuchung

.................................................................................... 147

J. Zustin, I. Moll, J. Mißbach-Güntner, M. Schultz, K. Püschel, E. Jopp

Untersuchung der sog. „Brusthaut“ der Moorleiche

„Mädchen aus dem Bareler Moor“ ............................................................................................................. 159

J. Mißbach-Güntner, Chr. Dullin, J. Schirmer, F. Alves, M. Schultz

Analyse des Hautfragments der Moorleiche „Bareler Moor“ mittels

hochauflösender Computertomographie ................................................................................................... 165

S. Klingner, E. Oplesch, M. Schön, M. Schultz

Licht- und rasterelektronenmikroskopische Untersuchungen

an Hautproben der Moorleiche des „Mädchens Bareler Moor“ ................................................................. 173

| 41 –

Feststellungen zum Erhaltungszustand und Deskription der

makroskopischen Untersuchungen (2010)

E. Jopp, E. Oplesch, S. Klingner, F. Both, M. Schultz, K. Püschel

Aus der neu rekonstruierten Körperhöhe

(s. u.) und aus der Beurteilung der Breite der

Knorpelfuge des Oberschenkelkopfes ergibt

sich für BERG, ROLLE, SEEMANN (1981, 16) ein

Alter von 13 – 14 Jahren:

„Zunächst sind hier Bedenken hinsichtlich

der Altersschätzung anzumelden: Wie ist

die Bestimmung der Körpergröße zustande

gekommen? Nach der Zentimetereinteilung

auf Abb. [9, Kapitel 2] beträgt die Länge des

ganzen Torsos nur rund 90 Zentimeter; die

Länge des Oberarmknochens beträgt 26-27

Zentimeter, woraus sich eine Körpergröße

von 130-135 Zentimetern errechnen läßt. Es

kommt hinzu, daß die Knorpelfuge am Hüft-

gelenksende des Oberschenkelknochens

auf dem Röntgenbild einen Schmalheitsgrad

aufweist, der nicht dem achten bis neunten,

sondern wie auch die Körperlänge eher dem

13. bis 14. Lebensjahr entspricht. Man muß

also starken Zweifel haben, ob die bisherige

Altersschätzung wirklich zutrifft.“

Eine neue und gewagt enge Einschätzung

des Alters erfolgte 1996 durch den Zahnarzt

Dr. Schübel. Er kam unter Berücksichtigung

der übernommenen Körperhöhenangaben

und der selbst beurteilten Gebissentwick-

lung des Oberkiefers auf ein Alter von ca.

6 ½ Jahren.

Für die aktuelle Untersuchung stand einer-

seits das nicht weiter beurteilbare Unterkie-

ferfragment (Abb. 1) für die Einschätzung

des Lebensalters zur Verfügung. Zusätz-

lich wurden von Schultz und Mitarbeitern

weiterführende paläopathologische Unter-

suchungen am Skelett vorgenommen. Auf-

grund der Mikrostruktur des kompakten

Knochengewebes (histomorphologische

und histomorphometrische Lebensaltersbe-

stimmung) wird das Alter des Jungen hier

mit (6) 7 – 13 (14) Jahren geschätzt (siehe

auch Schultz et al. in diesem Band).

Äußere Leichenschau:

Tagebuch-Nr. G1930-10,

Junge von Kayhausen – Protokoll

Die Moorleiche liegt in einem mit Konser-

vierungsflüssigkeit (destilliertes Wasser und

70%iges Ethanol) gefüllten Plastikbehältnis

(Asservat Nr. 1). Weitere Teile der Moorleiche

befinden sich in diversen Behältnissen (Ge-

fäß Nr. 2 bis 15). Für die makroskopischen

Untersuchungen wurde die Konservierungs-

flüssigkeit entfernt. Für den ersten Untersu-

chungsgang wurde der Körper des Jungen

zwischen Glasplatten mit einer „Sandwich-

Technik“ umgewendet.

Die Beschreibung der Befunde erfolgt un-

ter strukturellen Gesichtspunkten (und be-

wusst nicht z. B. kopf-fußwärts). Zum bes-

seren Verständnis der Fallsituation werden z.

T. die Ergebnisse der zuvor durchgeführten

Untersuchungen in den hier vorgelegten Be-

richt eingefügt.

Individualdaten –

Alter, Geschlecht und Körperhöhe

Alter

Das Alter wird 1922 von Schläger nicht

angegeben. Trotzdem rekonstruiert MAR-

TIN (1924, 243) das Alter anhand der von

ihm geschätzten Körperhöhe – �wie die

mitgeteilten Maße ergeben“ – auf 8 – 9

Jahre.

Aus dem Obduktionsprotokoll von 1952 ge-

hen keine Angaben hervor. Obgleich 1953

der noch vorhandene Molar und die Reste

des Oberkiefers von Dr. Lahmann untersucht

wurden, wird von HAYEN (1964) das Alter von

8 – 9 Jahren ohne Zusammenhang – offen-

bar den Angaben Martins folgend – über-

nommen.

– 42 |

Zusammenfassend wird man das Alter des

Jungen von Kayhausen heute mit (6) 7 – 13

(14) angeben.

Geschlecht

Obwohl die äußeren Geschlechtsorgane

2010 nicht mehr vorhanden waren, wird die

Beurteilung von Schläger (1922) als männ-

lich – Penis und Hoden waren gut erhalten

– von uns akzeptiert.

„Nach den vorhandenen Resten scheint es

sich um eine männliche Leiche zu handeln. Es

finden sich Reste des Penis und zwei rund-

liche Gebilde, welche als Hoden angespro-

chen werden müssen.“ (Schläger 1922).

In den Untersuchungsjahren 1952, 1981

und 1996 wurde die Einschätzung Schlä-

gers – wahrscheinlich aufgrund des feh-

lenden Protokolls – angezweifelt. So wurde

die Geschlechtsangabe 1952 – nicht zwei-

felsfrei – bestätigt:

„Im Bereich der Schamfuge ragt ein dau-

mengroßer, fast nur von Haut gebildeter Ge-

webeteil hervor. Der Größe und Lage nach

könnte es sich bei diesem im Übrigen leeren

Gewebeschlauch um das männliche Glied

handeln. Im Übrigen ist der Zustand der Be-

ckenorgane so, dass aus ihnen Rückschlüs-

se auf das Geschlecht des Individuums nicht

mehr mit Sicherheit möglich sind.“ (Obduk-

tionsprotokoll 1952).

Berg und Mitarbeiter stellen die Geschlechts-

bestimmung – aufgrund von ausschließlich

Fotos und Literaturstudium – in Frage und

empfehlen die Bestimmung über die Be-

ckenform. Sie schreiben: �Das gleiche gilt für

die Geschlechtsbestimmung. Ohne nähere

Analyse der Beckenform muß zumindest die

Möglichkeit des weiblichen Geschlechts of-

fen bleiben.“ (BERG et al. 1981, 16)

Das Geschlecht der Leiche konnte 1996

nicht mehr sicher bestätigt werden, da die

Genitalien nicht mehr erhalten waren. Mögli-

cherweise sind diese bei der Obduktion 1952

im Zuge der Entfernung der Organe des klei-

nen Beckens ebenfalls entnommen worden

(siehe unten). Pieper und Mitarbeiter ver-

suchten eine Geschlechtsbestimmung über

die Ausprägung des Collum-Corpus-Winkels

des Femurs (früher auch Collum-Diaphysen-

Winkel genannt) (PIEPER et al. 1999).

„Der Collodiaphysenwinkel des linken Fe-

mur ließ eher auf männliches, denn auf weib-

liches Geschlecht schließen (WB); dies ist

allerdings als sehr fragliches Indiz zu werten

(PP).“ (Rechtsmedizinischer Befund in den

nicht publizierten Aufzeichnungen von Dr. P.

Pieper und Prof. W. Bonte)

Kritisch ist hier anzumerken, dass sich bei

Kinderskeletten dieser Winkel nicht zur Ge-

schlechtsdifferenzierung eignet.

Abb. 1: Unterkiefer-Zahnbogen links (Foto: Eva Schreiber).

| 43 –

Körperhöhe

Die rekonstruierte Körperhöhe von etwa

1,20 m „wie die mitgeteilten Einzelmaße er-

gaben“ (MARTIN 1924, 243) und das daraus

resultierende Alter von 8 – 9 Jahren, wird von

Schläger im Protokoll nicht erwähnt:

„Die Leiche hat eine Länge von Scheitelhöhe

bis zum unteren Ende des Oberschenkelkno-

ches von 87cm.“ (Protokoll Schläger 1922).

Bei der Obduktion von 1952 wurden neue

Berechnungen der Körperhöhe durchge-

führt und die Angaben von 1924 bestätigt:

�Die Länge des linken Oberarms, soweit eine

exakte Messung noch möglich ist, beträgt 24

cm. Würde man dieses Mass bei der üblichen

Berechnung der Körpergrösse zugrunde le-

gen (Länge des Oberarmknochens mal 5 –

„ohne Berücksichtigung einer evtl. möglichen

Schrumpfung“ (HAYEN 1964, 29), so würde

für die Körpergrösse des Individuums schät-

zungsweise ein Mass von etwa 1,20 bis 1,25

Meter resultieren. (Rohes geschätztes Mittel-

maß).“ (Obduktionsgutachten 1952).

BERG et al. (1981, 16) rekonstruierten die

Körperhöhe anhand einer Abbildung in HA-

YEN 1987 neu und kommen auf ein Ergebnis

von 1,30 - 1,35 m. Nach der Zentimeterein-

teilung auf einer Abbildung betrage die Län-

ge des Torsos nur rund 90 cm, die Länge

des Oberarmknochens auf dem Röntgenbild

betrage 26-27 cm, woraus sich eine KH von

1,20 - 1,35 m errechnen lasse.

Die 1922 und 1952 angegebene Körperhöhe

von 1,20 - 1,25 m wurde 1996 bestätigt.

Bei der aktuellen Untersuchung wurden kei-

ne neuen Vermessungen durchgeführt, da

diese aufgrund des Erhaltungszustandes

der Skelettelemente keine zuverlässigen

Ergebnisse mehr liefern.

Erhaltungszustand

Postmortale Artefakte

Der Erhaltungszustand der Leiche ist 2010 –

verglichen mit dem Zustand zum Zeitpunkt

der Dokumentation von 1922 – schlecht.

Die Haut zeigt diverse Defekte, die offenbar

zum einen auf die über einen längeren Zeit-

raum erfolgte Lagerung in einem zu engen

Becken zurückzuführen sind, zum anderen

auf die Zerstörungen im Zuge der Obduktion

bzw. Untersuchungen in den Jahren 1952

und 1996.

So handelt es sich bei der 6 cm langen glatt-

randigen Schnittlegung in der mittleren Na-

ckenregion eindeutig um ein Sektionsarte-

fakt, das im Zusammenhang mit der Ent-

fernung des Gesichts bei der Obduktion

1952 entstand. Schon 1996 wurde dieser

Schnitt von Pieper und Bonte im rechtsme-

dizinischen Befund beschrieben:

„Die insgesamt 6 cm lange Schnittstelle in

der linken hinteren Halsregion, die aus zwei,

leicht winkelig zueinanderlaufenden Schnitt-

strecken von je 3 cm Länge besteht, deckt

sich nicht mit Obduktionsbefund von 1952;

hier muss es sich um einen recht groben

Sektionsartefakt handeln.“

Ein weiteres Sektionsartefakt aus dem Jahr

1952 stellt ein glattrandiger Gewebsdefekt

im mittleren Gesäßbereich dar. Offenbar re-

sultiert dieser Schnitt aus der Entfernung der

Organe des kleinen Beckens (Abb. 2).

Ein mehrfach fetzig aufgerissener Bereich

der Haut an der Vorder-/Außenseite der

rechten Schulter resultiert offenbar aus

der Freilegung der Epi- und Diaphyse und

des Oberarmbeins während der Untersu-

chungen durch Bonte und Pieper 1996.

– 44 |

Unregelmäßige Gewebsdefekte im Bereich

der linken Schulter und des linken Ober-

arms sind offenbar auf die Lagerung zu-

rückzuführen (Abb. 3). Aus den Untersu-

chungsprotokollen der vergangenen Jahre

sind keine Hinweise auf die Ursachen zu

entnehmen.

In Abb. 4 zeigt sich die Veränderung des Er-

haltungszustandes über den Zeitraum von

der Bergung bis heute.

Auf der Abb. 5 ist der Junge in Rückenla-

ge dargestellt. Verglichen wird hier der Zu-

stand von 1922 („in situ“) mit dem makro-

skopischen Zustand sowie dem Zustand der

Knochen im CT von 2010.

Über den Zustand der Brust- und Bauch-

höhle schreibt Schläger (1922), dass diese

unregelmäßig eröffnet sind und die Organe

freiliegen. Links waren nur einzelne Rippen

vorhanden, die rechte Brusthöhle war weit-

gehend erhalten (siehe auch Jopp, Both in

diesem Band).

„II. Brust und Bauchhöhle: Beide Höhlen sind

wie durch einen, allerdings sehr unregelmä-

ßigen, Sektionsschnitt eröffnet. Die rechte

Brusthöhle wird durch die Rippen in ihrer

ungefähren natürlichen Lage noch begrenzt.

Links sind nur einzelne Rippenreste vorhan-

den. Im linken Brustfellsack finden sich noch

deutliche Reste des Lungengewebes, welche

sich durch ihre dunkel grau-grüne Farbe von

den umgebenden Häuten des Brustfellsacks

abheben. Hinter diesen nach unten verlau-

fend sieht man deutlich die große Körper-

schlagader.“ (Protokoll Schläger 1922).

Morphologische Strukturen

Kopf und Gesicht

Von der Kopfschwarte sind nur noch der

Bereich des Hinterkopfes mit anhängenden

Haaren sowie die sich anschließende Haut

des Nackens erhalten. Die Ränder der Haut

sind seitlich mehrfach eingerissen/ausgeris-

sen. Die Haare (etwa 4 bis 5 cm lang) schim-

mern rötlich-bräunlich.

Die Gesichtshaut ist zu einem Teil – rechte

Seite – noch in situ anhaftend, und die an-

Abb. 2: Gesäß mit glattrandigem Gewebsdefekt im mittleren Bereich (Foto: Eilin Jopp).

Abb. 3: Linke Schulter, Körper in Rückenlage (Foto: Eva Schreiber).

| 45 –

dere Gesichtshälfte – linke Seite – als Tro-

ckenasservat erhalten. Die linke Gesichts-

hälfte einschließlich des linken Ohres und

der Halsbereich mit den Stichwunden wur-

de 1952 bei der Obduktion entfernt und in

einem Weckglas aufbewahrt. Eine Untersu-

chung dieses Asservats fand dann erst 1996

statt. Pieper et al. trockneten das Gesicht

und spannten es auf einer Styroporunter-

lage auf.

Die rechte Gesichtsregion ist als unregelmä-

ßiges Hautstück (etwa 10 x 10cm) erhalten.

Das rechte Ohr ist als erbsengroßer „Haut-

bürzel“ vorhanden – dieser Zustand besteht

offenbar seit der Bergung. Eine ähnliche Be-

schreibung findet sich im Obduktionsproto-

koll von 1952. Möglicherweise ist der Zustand

(Defekt) des rechten Ohres aus der Fundge-

schichte erklärlich – der Finder zog den Jun-

gen am rechten Ohr auf die linke Seite!

Weiterhin lassen sich an der rechten Ge-

sichtshälfte Knorpelreste der Nase und der

Bereich der ehemaligen Augenhöhle erken-

nen. Hier besteht ein unregelmäßiger Ge-

websdefekt, bei dem vom Auge und von an-

grenzenden Strukturen nichts erhalten ge-

blieben ist. Einzelne knöcherne Strukturen,

die dem rechten Jochbogen und Teilen des

Oberkiefers (untere Begrenzung der Augen-

höhle) entsprechen, finden sich anhaftend

an dem Hautgewebe. Der Mund und das

Kinn sind noch zu erkennen (Abb. 6).

Die Haut der linken Gesichts- und Halsseite

liegt heute nur in getrocknetem Zustand vor.

Man erkennt im oberen Anteil Abschnitte der

linken Augenbraue und den Bereich der Au-

genhöhle, letzterer nur noch als halbkreisför-

miger Gewebeausschnitt erhalten. Augen-

lider oder Haare (Augenbrauen, Wimpern)

sind nicht erhalten (Abb. 7).

Das linke Ohr hat sich ebenfalls offenbar

seit 1922 nicht verändert. Die Ohrmuschel

Abb. 4: Vergleichende Darstellung des Erhaltungszustandes des Jungen in Bauchlage – 1922,

1952, 2010 (Fotomontage: Dennis Säring).

Abb. 5: Vergleichende Darstellung des Erhaltungszustandes des Jungen in Rückenlage – „in

situ“ 1922, makroskopisch und als CT-Befund von 2010 (Fotomontage: Dennis Säring).

– 46 |

ist deutlich zu erkennen (Abb. 8). Ein brei-

ter, unregelmäßiger Hautdefekt oberhalb der

Ohrmuschel zieht bis zum Abtrennungs-

rand dieses Hautstücks. Dieser Defekt wird

schon bei der Obduktion 1952 beschrieben.

Die Ursache wurde damals nicht mitgeteilt

und bleibt heute unklar.

Die Knochen des Schädels sind bis auf eini-

ge Fragmente des Gesichts- und Hirnschä-

dels (insgesamt 13 Stück) nicht mehr erhal-

ten. Die erhaltenen Fragmente sind in einem

sehr schlechten Zustand und lassen sich nur

in einigen wenigen Fällen bestimmten Schä-

delbereichen zuordnen (Abb. 9, Skelettsche-

ma). An den erhaltenen Knochen lassen sich

keine Werkzeugspuren und keine Hinweise

auf zu Lebzeiten entstandene Frakturen

oder auf Knochenkrankheiten finden.

Innere Organe

Die Organe des Jungen sind bis auf weni-

ge asservierte, nur schwer zu identifizieren-

de Anteile nicht mehr erhalten. Sie wurden

1952 bei der Obduktion entnommen und

in Gläsern aufbewahrt. Offenbar sind diese

Gläser im Laufe der Zeit – bis auf ein Glas

mit der Aufschrift „Gekröse“ – verschwun-

den. 1996 wurden bereits einige Proben hi-

stologisch untersucht – die Probenentnah-

me ist an verschiedenen Stellen anhand

glattrandiger Durchtrennungen der Gewebs-

strukturen zu erkennen.

Bei der aktuellen Inspektion des Körpers

konnten im inneren Brustbereich keine De-

tails abgegrenzt werden. Im rechten inneren

Brustbereich neben der hier weitgehend in-

takten Hautpartie liegen fetzige Reste von

fraglichem Lungengewebe. Das Herz oder

Teile davon sind eindeutig nicht vorhanden

Im Bauch- und Beckenbereich sind zwischen

den hier aufgeplatzten/aufgerissenen Haut-

partien ebenfalls keine Einzelheiten zu er-

Abb. 6: Rechte Gesichtsregion (Foto: Eilin Jopp).

Abb. 7: Linke trockene Gesichtshälfte (Foto: Eilin Jopp).

| 47 –

kennen. Bei einigen membranartigen Struk-

turen im rechten Unterbauch könnte es sich

um Teile des Darmtraktes handeln. Teile des

knöchernen Beckens haben sich erhalten.

Das erhaltene „Organpaket“ aus dem Glas-

gefäß wurde lediglich orientierend beschrie-

ben und fotografisch dokumentiert. Neben

membranösen und schlauchartigen Struk-

turen finden sich kleinere Teile von kom-

paktem, parenchymatösem Gewebe. Ein-

deutig abgrenzbar ist ein großes Blutgefäß

(Aorta). Diese Körperhauptschlagader ist

völlig glattrandig quer zur Verlaufsrichtung

durchtrennt. Zarter Wandaufbau.

Die weiteren Gewebeteile sind nicht eindeu-

tig zu identifizieren. Es könnte sich um Teile

des Zwerchfells handeln, um Dünndarm und

Dickdarm, Darmgekröse, möglicherweise

auch um Lungengewebe und/oder Leberge-

webe. Weitere Untersuchungen wurden auf-

grund des schlechten Erhaltungszustandes

nicht durchgeführt.

Knochen

Von der ursprünglich gut erhaltenen Wir-

belsäule (1922 und 1952) sind die Wirbel-

körper bei der aktuellen Untersuchung nur

noch fragmentarisch erhalten. Sicher lassen

sich nur Anteile der Brust- und Lendenwir-

bel nachweisen. Teilweise sind Bänder und

Muskulatur sowie deren Sehnen undeutlich

zu erkennen (Abb. 11).

Zudem finden sich in einem Gefäß vier tro-

ckene Wirbelfragmente. Das größte Frag-

ment wurde mittels Mikro-CT speziell un-

tersucht (siehe Marshall in diesem Band).

Im Brustbereich finden sich 2010 die Rip-

pen nicht mehr in ursprünglicher Position.

Bei der ersten Untersuchung 1922 befanden

sich die Rippen in der rechten Brusthöhle

noch in ihrer ungefähren natürlichen Lage.

Offenbar ist dieser Befund bei der Obdukti-

on 1952 zerstört worden. Aktuell sind insge-

samt 19 unterschiedlich große Rippen bzw.

Rippenfragmente in unterschiedlichem Er-

Abb. 8: Linkes Ohr (Foto: Eilin Jopp).

– 48 |

Abb. 9: Skelettschema der erhaltenen Knochen.

| 49 –

haltungszustand erhalten; wobei die rechts-

seitigen Rippen vollständiger als die linken

erhalten sind (Ausnahme: 1. Rippe). Die

besser erhaltenen Rippen sind zur vorderen

Brustwand hin weitgehend intakt (Übergang

zum knorpeligen Teil). Die hinteren wirbel-

säulennahen Enden sind unregelmäßig ab-

gebrochen. Es finden sich Defekte, die mit

der Bergung erklärt werden könnten. Anson-

sten gibt es keinerlei Hinweis auf alte Frak-

turen oder Werkzeugspuren.

Als weitere knöcherne Anteile des Brust-

korbes waren 2010 lediglich das sternale

Ende des linken Schlüsselbeins mit offener

Epiphysenfuge sowie ein relativ plattes Kno-

chenstück mit anhaftenden Hautresten – am

ehesten als Handgriff des Brustbeins (Manu-

brium) identifiziert – erhalten. Die Fragmente

zeigen Defekte, deren Ursache nicht nach-

gewiesen werden konnten.

Der Erhaltungszustand der Arme lässt sich

auf dem CT nachvollziehen (Abb. 10). Bei-

de Arme sind bis zu den Händen als gut

erhaltener Hautschlauch zu erkennen. Die

Oberarmknochen können bei der makro-

skopischen Inspektion aufgrund des Erhal-

tungszustandes nur schwer ertastet werden.

Speziell auf der linken Seite entsteht aller-

dings der Eindruck, dass sich hier innerhalb

des Hautschlauches knöcherne Strukturen

befinden, insbesondere im Bereich des El-

Abb. 10: CT Aufnahmen in Bauchlage. Hervorge-

hoben sind die erhaltenen Knochen in der „Haut-

hülle“ (Dennis Säring, med. Informatik UKE, siehe

auch Simon in diesem Band).

Abb. 11: Halswirbelsäule und Textil um den Hals – von vorne betrachtet (Foto: Eva Schreiber).

– 50 |

lenbogens. Etwa im Ellenbogenbereich sind

die seitlich dem Rumpf anliegenden Arme je-

weils zur Rückenregion hin im Winkel von 90°

abgewinkelt.

Die Knochen der Unterarme und Hände

sind so schlecht erhalten, dass sie zum

großen Teil nur noch fragmentarisch vorlie-

gen; teilweise lassen sich die Fragmente im

Hautschlauch (z. B. rechter Unterarm) er-

tasten. An den sichtbaren, außerhalb des

Hautschlauches liegenden Anteilen – z. B.

der rechten Speiche – lassen sich offene

Wachstumsfugen erkennen. Zudem fehlen

die größten Anteile beider Hände. Musku-

latur und Sehnen sowie einzelne fragmen-

tarische Mittelhandknochen sind erhalten.

Die Haut der Hände ist unregelmäßig und

vielfach eingerissen.

Außerdem finden sich diverse, isoliert aufbe-

wahrte Knochenfragmente in kleineren Ge-

fäßen (diese wurden teilweise schon 1922

asserviert) – zwei Teile der rechten Ulna, ein

Fragment des distalen Endes der rechten

Speiche, ein Fragment des lateralen Condy-

lus sowie kleinere unregelmäßige Fragmente

des fraglichen rechten Oberarmschaftes.

Der Erhaltungszustand der Beinknochen

ist ebenfalls im Skelettschema (Abb. 9) und

auf der computertomografischen Abbildung

(Abb. 10) dargestellt.

Die Haut des linken Oberschenkels ist weit-

gehend erhalten und mehrfach längs und

quer aufgerissen (offensichtlich postmorta-

le Artefakte). Das Muskelgewebe liegt teil-

weise frei. In den Weichgeweben tastet man

den linken Oberschenkelschaft. Im Kniebe-

reich liegt der distale Teil des Oberschen-

kelknochens weitgehend frei. Die offene

Wachstumsfuge ist zu erkennen. Die Haut

und Weichteile weisen im Bereich des Knie-

gelenks unregelmäßig fetzige Gewebsde-

fekte auf (Abb. 14).

Vom linken Schienbein ist lediglich der 14

cm lange proximale Anteil – aufbewahrt in

einem Gefäß – vorhanden. Die proxima-

le Epiphysenfuge ist offen. Die Oberfläche

des Schaftes ist glatt. Das distale Ende ist

glatt durchtrennt (leicht schräg zur Längs-

achse). 1 cm oberhalb der glatten Durch-

trennung findet sich an der Schienbeinvor-

derkante ein weiterer, 5 mm tief reichender

Schnitt (Abb. 12). Dieses Schaftfragment

wurde bereits 1922 isoliert beschrieben und

asserviert. Die glatte Durchtrennung resul-

tiert offenbar aus der Zerstörung der Un-

terschenkel durch den Torfstecher bei der

Auffindung der Leiche.

Abb. 12: Linke proximale Tibia, von vorn und hinten (Foto: Eilin Jopp).

| 51 –

Im großen Plastikbehältnis bzw. Asservaten-

becken finden sich außerhalb des Körpers

der linke – im Bereich der Wachstumsfuge

abgelöste – Oberschenkelkopf und der linke

Oberschenkelhals sowie der abgelöste linke

große Rollhügel mit anhängender Sehnen-

platte (Ansatzsehnen des mittleren und klei-

nen Gesäßmuskels, Abb. 13).

Der Bereich des rechten Oberschenkels

zeigt sehr unregelmäßige Haut- und Weich-

teildefekte. Die Haut ist an der Rücksei-

te und Innenseite des Schenkels teilweise

erhalten. Im Muskelschlauch lassen sich

Teile des rechten Oberschenkelschaftes –

ein Fragment der oberen Hälfte – ertasten.

Im Kniebereich finden sich unregelmäßige

Gewebsdefekte, die Haut ist nicht mehr er-

halten. Die Muskulatur ist lappenförmig bis

in Höhe der Kniekehle teilweise vorhanden

(Abb. 14).

In einem Gefäß befindet sich die distale

Schafthälfte des rechten Femurs. Am knie-

gelenknahen Ende des 19 cm langen Frag-

ments ist die Epiphyse abgelöst. Auch die-

ses Fragment wurde bereits 1922 beschrie-

ben und asserviert. An der lateralen Seite

des Fragments finden sich gröbere, bis in

die Spongiosa des Oberschenkelschaftes

hineinreichende Knochendefekte. Gröbere

Knochendefekte, insbesondere der Com-

pacta, bestehen auch an der Vorderseite

dieses Oberschenkelknochens. Im distalen

Drittel findet sich schräg verlaufend (etwa

im Winkel von 45° von innen oben nach au-

ßen unten) eine Bruchlinie im kompakten

Knochengewebe des Schaftes ohne Anzei-

Abb. 13: Linker Femurhals, Femurkopf und großer Rollhügel jeweils von

vorne (links) und hinten (rechts) (Foto: Eilin Jopp).

– 52 |

chen einer Callusbildung oder Dislokation

des Bruchs. Die Frakturlinie durchsetzt den

Knochen nicht vollständig sondern endet

kurz vor seiner Rückseite. Die Ursache des

Defekts ist nicht sicher festzustellen, dürf-

te aber sicher postmortaler Natur sein. Das

distale Schaftfragment ist proximal unre-

gelmäßig abgebrochen. Die Oberfläche des

Schaftes zeigt einige unterschiedlich große,

löchrige Defekte bzw. Abblätterungen der

Compacta (Ursache: nur postmortal, d. h.

Moorlagerung oder Konservierung) (Abb.

15).

Der weitgehend erhaltene rechte Ober-

schenkelkopf und der zugehörige Ober-

schenkelhals befinden sich in weiteren klei-

neren Gefäßen. Der große und kleine Roll-

hügel und der Kopf sind im Bereich ihrer

Epiphysenfugen abgelöst. Der Collum-Cor-

pus-Winkel erscheint relativ groß zu sein,

ist allerdings aufgrund des schlechten Er-

haltungszustandes nur eingeschränkt zu be-

urteilen (Hinweis: Bei einem Kind der Alters-

gruppe Infans II bewegt sich der als gesund

zu bezeichnende Winkel in der Regel etwas

größer als 124°).

Der Oberschenkelkopf zeigt im Bereich sei-

ner Gelenkfläche verschiedene Unregel-

mäßigkeiten bzw. knöcherne Eindrücke,

Einpressungen. Die spongiösen Knochen-

anteile enthalten überwiegend postmor-

tal entstandene, unregelmäßig vergrößerte

Hohlräume. Der äußere Aspekt lässt nicht

auf eine Knochenerkrankung schließen. Die

1952 im Röntgenbild und makroskopisch er-

kannte Hüftgelenksanomalie kann nicht be-

stätigt werden (siehe Beitrag Marshall et al.

in diesem Band).

Das rechte distale Schienbeinfragment ist

18 cm lang. Es wurde schon 1922 mit glei-

cher Längenangabe beschrieben und as-

serviert. Im Bereich der Wachstumsfuge hat

Abb. 14: Distaler Anteil der Oberschenkel. Junge liegt auf dem Rücken. (Foto: Eva Schreiber).

Abb. 15: Distaler rechter Femur, links: von vorne, rechts: von hinten (Foto: Eilin Jopp).

| 53 –

sich der körperferne Teil des Schienbeins mit

der Gelenkfläche und dem Innenknöchel ab-

gelöst. Die Schienbeinkante sowie die Au-

ßenkante des Knochens zum Wadenbein hin

sind relativ glatt. Das proximale Ende des

Knochens ist zerfranst bzw. unregelmäßig

zerborsten. Es finden sich keinerlei geformte

Defektbildungen, die auf irgendeine Werk-

Abb. 16: Rechter Oberschenkelhals und Oberschenkelkopf jeweils von vorne (links) und hinten (rechts) fotografiert (Foto: Eilin Jopp).

Abb. 17: Rechte distale Tibia von vorne (Foto: Eilin Jopp), von hinten (Foto: Eva Schreiber).

– 54 |

zeug- oder Tiereinwirkung hindeuten. Die

Innenseite des Schienbeines hat eine leicht

unruhige, gewellte Struktur (Abb. 16).

Vom Becken sind zum jetzigen Zeitpunkt

die rechte Darmbeinschaufel – in zwei Frag-

mente zerbrochen – und die dazu passende

rechte Crista iliaca sowie ein rechtes Sitz-

beinfragment erhalten (Abb. 17).

Das linke Becken ist nur noch in nicht si-

cher identifizierbaren Fragmenten vorhan-

den. Außerdem fand sich ein Gewebsteil mit

einer felgenartigen Struktur. Die seitlich an-

haftenden spongiösen Knochen lassen ver-

muten, dass es sich hier um die knorpelige

Struktur zwischen den Schambeinen (Dis-

cus interpubicus) handelt.

Zusammenfassung

Die vergleichende Darstellung der Untersu-

chungsprotokolle und Veröffentlichungen

seit der Auffindung des Jungen von Kayhau-

sen im Jahr 1922 zeigt anschaulich wie sich

der Erhaltungszustand – trotz der vorbild-

lichen Feuchtkonservierung – verschlech-

tert hat. Zudem lässt sich aus heutiger

Sicht feststellen, dass die zugegebenerma-

ßen neue Möglichkeit der zerstörungsfreien

bildgebenden Dokumentation der Befunde

den ohnehin schon schwierigen Zustand

von Moorleichen am ehesten bewahrt. An

dem Beispiel des Jungen von Kayhausen,

mit den insgesamt vier (aktuelle Untersu-

chung mitgezählt) großen Untersuchungen,

lässt sich zudem zeigen, dass je nach vor-

herrschender Lehrmeinung und Stand der

Technik interpretiert, dokumentiert und lei-

der auch zerstört wurde.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass an

diesem Körper einerseits durch Gewalt zu

Lebzeiten, andererseits durch frühe post-

mortale Veränderungen bei der Verbringung

in das Moor und beim Verbergen/Ablegen

im Moorschlamm diverse Veränderungen

entstanden sind. Weiterhin sind durch die

jahrhundertelange Lagerung im Moor, dann

bei der Auffindung durch die Bergung des

Abb. 18: Rechte Darmbeinschaufel, von vorne (oben) und hinten (unten) (Foto: Eilin Jopp).

| 55 –

Leichnams, schließlich durch die Konser-

vierung und mehrfachen Untersuchungen

zahlreiche Läsionen am Körper entstanden,

die in ihren Auswirkungen nur schwer einzu-

schätzen sind. Unseres Erachtens sind aber

vor allem auch Fäulnisprozesse und Einwir-

kungen von Tieren an der Zerstörung des

Körpers dieses Jungen mitbeteiligt. Dies gilt

insbesondere für die Aufreißungen und De-

fekte im Bereich der Brust- und Bauchwand

(vergl. hierzu die erste sorgfältige Dokumen-

tation von Schläger 1922).

Literatur

BERG, S., ROLLE, R., SEEMANN, H. 1981: Der Archäo-

loge und der Tod. Archäologie und Gerichtsme-

dizin. München und Luzern 1981, 10-16.

HAYEN, H. 1964: Die Knabenmoorleiche aus dem

Kayhausener Moor. Oldenburger Jahrbuch 63,

1964,19-42.

HAYEN, H. 1987: Die Moorleichen im Museum am

Damm. Veröffentlichungen des Staatlichen Mu-

seums für Naturkunde und Vorgeschichte Olden-

burg 6. Oldenburg 1987, 27-35.

MARTIN, J. 1924: Beiträge zur Moorleichenforschung.

Mannus 16, 1924, 240-259.

PIEPER, P., BEHRE, K.-E., MÖHLENHOFF, P., PARPATT, P.-

M., SCHÜBEL, F., SCHÜBEL, J. 1999: et al. Moor-

verlorene Landschaft. Schriftenreihe des Staatli-

chen Museums für Naturkunde und Vorgeschich-

te Oldenburg, Beiheft 10, Band 1. Oldenburg

1999, 63-79.

Anschriften der Verfasser

Eilin Jopp, M.A.

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Institut für Rechtsmedizin

Arbeitsbereich Forensische Anthropologie

Butenfeld 34

22529 Hamburg

Prof. Dr. Klaus Püschel

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Institut für Rechtsmedizin

Arbeitsbereich Forensische Anthropologie

Butenfeld 34

22529 Hamburg

Dipl.-Biol. Edith Oplesch

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

Dipl.-Biol. Susan Klingner

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

tingen.de

Dr. Frank Both

Landesmuseum Natur und Mensch

Damm 38-44

26135 Oldenburg

Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

und

Universität Hildesheim

Institut für Biologie und Chemie

Marienburger Platz 22

31141 Hildesheim

E-Mail: [email protected]

| 57 –

Lokalisation und Interpretation der Stichverletzungen, Fes-

selungen und sonstige Verletzungen

E. Jopp, D. Säring, P. Käsemann, M. Schultz, K. Püschel

verläuft. Dieses soll in Verbindung gestan-

den haben bei der Auffindung der Leiche

mit einem 8 cm langen Ende einer zweiten

Umschnürung, welche beide Handgelenke

in doppelter Umschnürung derart umgibt,

dass jedes Handgelenk einmal gesondert

umschnürt war und dann beide Handge-

lenke zusammen ein drittes Mal. Ein fester

Knoten hält so die beiden Handgelenke auf

dem Rücken vereinigt am unteren Ende der

Wirbelsäule.“ (Schläger 1922).

Die von Martin nach Aussage des Finders

als Tragevorrichtung interpretierte Wicke-

lung des Textils um den Hals wird folgen-

dermaßen beschrieben:

„Ein Stück Gewebe von derselben Beschaf-

fenheit ist (feines Gewebe), wie in der Pho-

tographie [beschrieben wird das Foto Abb.

1] erkennbar ist, wie ein Schal um den Hals

geschlungen. Von hier soll der schalartig

zusammengefaltete Teil des Gewebes über

die Vorderseite des Körpers durch die Bei-

ne hindurch und wieder über den Rücken

zurück nach der Halsumwickelung hinauf

geführt gewesen sein. Beim hantieren mit

der Leiche war dieser Gewebestreifen bei-

derseits, vorn und hinten, nahe am Hals ab-

gerissen. Von den beiden übriggebliebenen

Zeugenden hängt das eine in der Mitte über

den Rücken herab, während das andere, das

vordere, in der Photographie nach rechts zur

Seite hin absteht.“ (MARTIN 1924, 242).

Im Obduktionsprotokoll von 1952 wird das

Textil um den Hals wie folgt beschrieben:

„Um die Halsgegend liegt ein aus sackar-

tigem Tuch gedrehter Strick, und zwar von

links her betrachtet, in Form zweier je etwa

daumendicker Stränge.“ (Obduktionsgut-

achten 1952).

Martin rekonstruiert die Fesselung der Hän-

de folgendermaßen:

In diesem Kapitel werden die Verletzungen

und Fesselungen des Jungen vergleichend

dargestellt. Um die todesursächlichen Verlet-

zungen von Bergungsdefekten und fälschlich

beurteilten Verletzungen zu trennen, wurden

auch hier die früheren Untersuchungsproto-

kolle und Publikationen zur Einschätzung

herangezogen. Ziel war es, durch eine ver-

gleichende Betrachtung der verschiedenen

Interpretationen dieser Verletzungen zu ei-

ner Einschätzung der Geschichte des Jun-

gen von Kayhausen zu gelangen.

Fesselung

Die Fesselungen des Jungen von Kayhau-

sen stellen einen der besonderen Befund-

komplexe dieses Falles dar. Über die Jahre

sind neben der eigentlichen Dokumentation

eine Menge Interpretationsansätze unkri-

tisch übernommen worden, die auf die Erst-

einschätzung von MARTIN (1924) zurückge-

hen. Insbesondere die Rekonstruktion von

zwei Zeugschlingen – die eine zum Fesseln,

die andere als Tragevorrichtung – ist offenbar

nicht objektiv, sondern zumindest teilweise

der Fantasie Martins entsprungen. So ist in

dem lange verschollenen Untersuchungs-

protokoll von Schläger (1922) nur von einer

Zeugschlinge am Körper des Jungen die

Rede, die dessen Hände auf dem Rücken

fesselt und diese mit dem Hals verbindet:

„Jetzt sieht man nur um den Hals herum

10 cm breite Gewebestreifen zweimal he-

rum geschlungen und zwar schalartig. Ein

15 cm langes Ende dieses Schals liegt bis

zur Mitte der Bauchhöhle. Diese schalar-

tige Umschnürung zeigt auf der Nacken-

seite einen festen Knoten von welchem aus

ein 8 cm langes Ende nach dem Rücken zu

– 58 |

„Die Fesselung ist in der Weise bewerkstel-

ligt, das aus einem Teil des feineren Gewe-

bes ein Strick gedreht worden ist, der zum

Zusammenbinden der auf den Rücken ge-

legten Unterarme benutzt und mittels seiner

beiden freien Enden am Hals befestigt wur-

de. In der Photographie ist letzteres nicht zu

erkennen, da die Fessel am Hals durch die

darüber liegende schalartige Umwickelung

verdeckt ist.“ (MARTIN 1924, 243). Martin sieht keinen Zusammenhang zwi-

schen der Fesselung der Hände auf dem

Rücken sowie der damit in Verbindung ste-

henden Umwickelung von Armen und Hals.

Er vermutet, dass es sich hier zum einen um

eine Handhabe zum Fortschaffen der Leiche

und zum anderen um eine zusätzliche Fes-

selung der Hände mit einem gleichartigen

(feinen) Gewebe handelt.

„Man könnte versucht sein, diese Vorrich-

tung mit der obenerwähnten Fesselung der

Arme in Zusammenhang zu bringen; doch

ist sie von dieser vollkommen unabhängig.

Ihr offensichtlicher Zweck ist es gewesen,

beim Fortschaffen der Leiche als Handhabe

zu dienen.“ (MARTIN 1924, 242 f.).

Nach Angabe des Torfstechers sollen auch

die Unterschenkel und Füße des Jungen mit

einem Pelzumhang (Kalbfell) zusammenge-

bunden gewesen sein. Beim Eintreffen Mar-

Abb. 1: Rückseite der Leiche, links gesäubert.

| 59 –

tins am Tag nach der Auffindung war dieser

Umstand nicht mehr zu erkennen.

„Zudem fand ich in einem größeren Plag-

gen von „Moorfleisch“ in ziemlicher Voll-

zähligkeit die Knochen beider Füße, so die

beiden leicht kenntlichen Fersenbeine, dicht

beieinanderliegend nebst 3 Fußnägeln und

dazwischen zahlreiche kleine Pelzfetzen. Ich

schließe aus diesem Befund, dass letztere

von dem unteren um die Füße gewickeltem

Ende des Pelzkragens herrühren, dass beim

Torfgraben einen starken Widerstand entge-

gensetzte und daher im Eifer kurz und klein

gestochen wurde.“ (MARTIN 1924, 242).

Dies bedeutet, dass die Fesselung, respek-

tive Tragevorrichtung sowie die Umwicke-

lung der Beine nicht mehr von Martin selbst

dokumentiert werden konnten, sondern le-

diglich auf den Angaben des Torfstechers

beruhen. Wie sicher sind diese Angaben?

Martin sah nach Beurteilung des Befundes

auf dem Foto keinen Grund, an den Anga-

ben des Torfstechers zu zweifeln.

Bei Schläger (1922) wird nur kurz folgendes

erwähnt: „Beide Unterschenkel fehlen ganz. Die Beine sollen bei der Auffindung mit zu-

sammen genähten Fellstücken gebunden

gewesen sein.“

Im Obduktionsprotokoll von 1952 findet sich

keine Beschreibung. HAYEN (1964, 32) über-

nimmt die Beschreibung und Interpretation

nach MARTIN (1924):

„Die Unterschenkel und Füße waren in einen

Pelzumhang eingehüllt. Dabei brauchte man

nur den Halsausschnitt um die Unterschenkel

zu legen und die durch ihn gezogene Schnur

zuzuknoten. Offenbar sollte auch dieses den

Transport des Toten erleichtern.“

Bei BERG et al. (1981) und PIEPER et al. (1996)

finden sich keine Beurteilungen der ver-

meintlichen Pelzumwickelungen der Unter-

schenkel.

Heute wird die von Martin beschriebene

Position des Pelzmantels als nicht mehr re-

konstruierbar angesehen. Der Mantel kann

ebenso gut auf den Beinen oder daneben

gelegen haben. Somit wäre eine Fesselung

der Beine mit dem Umhang nicht nachge-

wiesen.

Martin interpretiert die Fesselung des Jun-

gen im Sinne der Wiedergängerfurcht und stellte dazu fest, dass:

„bei der Kayhauser Leiche […] mit Sicher-

heit festgestellt werden [konnte], dass die

Fesselung der Hände und Füße erst nach

der Ermordung vorgenommen worden ist.

Welchen Zweck aber konnte es haben, eine

Leiche zu fesseln? Doch nur den einen, die

Wiederkehr des Toten zu verhüten. Die Fes-

selung ist also lediglich als ein Bannmittel

anzusehen.“ (MARTIN 1924, 254).

Hayen lieferte dann die Zeichnung und sei-

ne eigene Interpretation (angelehnt an Mar-

tin) zu der Fesselung und Tragevorrichtung

(Abb. 2):

„Den Toten beseitigte man [trug ihn auf das

Moor und drückte ihn in nasses Torfmoos-

polster hinein – Zusammenfassung, S. 40].

Mit den Fetzen zerrissener Kleidung band

man die Arme des Opfers so zusammen,

dass sie bei einem Transport nicht hinderlich

waren, mit seinem Pelzumhang die Beine.

Zusätzlich wurde ein zusammengefaltetes

Tuch derart um den Körper geknotet, dass

man ihn ohne besondere Mühe tragen konn-

te.“ (HAYEN 1964, 33).

Weiter rekonstruiert er anhand der vorhan-

denen Tragevorrichtung den „Schauplatz“

der Tötung. Die Tragevorrichtung zeige,

dass die Tötung nicht im Moor, wenigstens

aber nicht am Ort der Beseitigung erfolgt

sein kann (HAYEN 1964). Für Hayen lässt sich

der erkennbare Teil des Vorgangs in drei Ab-

schnitte gliedern, die örtlich getrennt anzu-

– 60 |

nehmen seien: 1. Tötung des Jungen, 2.

Transport des Leichnams und 3. Beseiti-

gung durch Einbettung in das Moor.

Bei BERG et al. (1981) wird die Fesselung,

insbesondere die Tragevorrichtung, in die ei-

gene Interpretation eingebaut und um eine

weitere zweckdienliche Bestimmung der

Halsfessel ergänzt:

„Insgesamt sprechen aber die Befunde in

der Tat mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine

deliktische Tötung mit nachfolgendem Ab-

transport der Leiche; die Umwicklung des

Halses könnte auch dadurch motiviert wor-

den sein, dass man das (postmortale) Ablie-

ßen von Blut aus den Halswunden unterbin-

den wollte.“ (BERG et al. 1981, 16).

Die Schalwicklung um Hals und Hände wur-

de durch Peter Pieper und den Textilexper-

ten Klaus Tidow aus Neumünster unter-

sucht (Protokoll der Voruntersuchung vom

16.12.1996). Hierfür wurde das Textil von der

Leiche abgenommen und anschließend wie-

der in die vermeintlich ursprüngliche Posi-

tion verbracht. Die diesbezüglichen bislang

nicht publizierten Ergebnisse stellen sich in

Auszügen folgendermaßen dar:

„Der Schlaufenumfang in der Halsregion

misst ca. 30 cm, wonach die Schlaufe, in

Doppelwicklung und ohne Verknotung, rela-

tiv locker um den Hals gelegen haben dürf-

te (s. Skizze PP). Da die Wickelung im Be-

reich oberhalb der umschlungenen Hände

und unterhalb der Rippen-/Halspartie – ver-

mutlich sekundär – zerrissen ist, wird eine

Entfernung des oberen Anteils durch Ab-

streifung in Richtung des Kopfes Schädels

zwecks besserer Untersuchungsmöglich-

keiten durch den Textilexperten beschlos-

sen (PP).“

„Beide Teile stammen möglicherweise aus

nur einem Ausgangsstück, und zwar vermut-

lich aus dem Unterteil eines großen Tuches,

das eher von einem Rahmenwebstuhl als

von einem Gewichtswebstuhl kommt.“

„Ein Handgelenksknoten ist nicht existent

(vgl. H. Hayen 1987:32). Es finden sich –

wie schon bei der Halsschlaufe s.o. – eine

2-fache Umschlingung, hier jedoch des

Handgelenks, darüber, in ca. 10 cm Abstand,

der untere, vermutlich zumindest dreifache

Knoten (WB & KT, s. Skizze PP).“ (Abb. 3)

„Beim oberen Knoten im Nackenbereich

handelt es sich hingegen vermutlich um ei-

nen mindestens zweifachen (WB & KT, s.

Skizze PP).“

„Um Gewebezerstörung zu vermeiden, wur-

de nicht versucht, die Knoten zu lösen. Ei-

nige kleine Gewebsproben wurden zwecks

weiterer Untersuchungen in Neumünster

entnommen (KT), andere Gewebezonen ex-

emplarisch mittels Makroskopie dokumen-

tiert (PP).“

Abb. 2: Die Leiche und Rekonstruktionszeichnung der Fesselung (HAYEN 1987).

| 61 –

2010 hatte der Junge nur eine Textilum-

schlingung um Hals und Handgelenke. Auch

den Beschreibungen von 1996 ist zu ent-

nehmen, dass nur eine Fesselung mit Kno-

ten (wie von Pieper skizziert) vorhanden war.

Die Abb. 4 zeigt den Jungen in Bauchlage

sowie die Fesselung der Hände und des

Halses seit 1922. Der unsortierte und ver-

schobene Zustand der Fessel ist auf die

Sektion von 1952 und die Entfernung des

Schals von 1996 zurückzuführen.

Im Einzelnen wird die Fesselung im Protokoll

der äußeren Leichenschau 2010 folgender-

maßen beschrieben:

„Im Halsbereich (von hinten) der rechten

feuchten Gesichtshälfte liegt um den Hals

herum (schalartig) ein verknotetes Textil aus

relativ grobem Stoff. Von vorne betrach-

tet erkennt man, dass das Textil ganz um

den Hals herumgeschlungen war (Abb. 5).

Auf der linken Seite ist kein Textil mehr ab-

zugrenzen. Der Stoff ist mehrfach ausgefa-

sert, abgerissen/durchgerissen. Die Breite

des Textils (im ausgebreiteten Zustand) be-

trägt 5 cm.“

„Zwischen der linksseitigen Ellenbogenre-

gion des Corpus und der Körperseite wie-

derum Teile des Textilstoffes (ähnlich wie im

Halsbereich beschrieben), hier mehrfach in

sich verdreht und gefaltet bzw. auch einfach

verschlungen. Von hinten erkennt man Reste

der Umwicklung um die Handgelenke. Die-

se Umschnürung um die Reste der Handge-

lenke ist heute sehr locker. Die Knoten sich

im Bereich des Halses und der Handgelenke

noch erhalten.“ (siehe Abb. 4).

Strangulationsfurche

Schläger konnte 1922 keine Strangulati-

onsfurchen durch die Stoffumwickelung

am Hals erkennen und schloss dement-

sprechend Strangulation als Todesursache

Abb. 3: Links: Kayhausener Moor; Wickelung des schalartigen Tuches; unmaßstäbliche, schematische Skizze (PP) (Pieper, Protokoll von der Vorun-

tersuchung vom 16.12.1996); rechts: Schal, mit dem der Junge gefesselt war; links: Halswickelung, mittig: „Knoten“ um die Hände, rechts: Ende mit

Fransen (Foto: Christa Loose, Göttingen 1996).

– 62 |

aus. Dieser Befund wurde bei den nachfol-

genden Untersuchungen weitestgehend be-

stätigt (z. B. MARTIN 1924, Obduktion 1952,

HAYEN 1964).

„Eine deutliche Strangulationsfurche ist am

Halse nicht festzustellen.“ (Schläger 1922).

Martin beschreibt den Befund und Interpre-

tiert das Geschehen wie folgt (HAYEN 1964,

31 übernimmt Martins Einschätzung):

„Der naheliegende Gedanke, daß der Junge

bei der Fesselung erdrosselt wurde, ist nach

Herrn Schlägers Meinung wegen des Fehlens

einer Strangulationsfurche unbedingt von der

Abb. 4: Darstellung der Fesselung auf dem Rücken seit 1922 (links). An dritter und vierter Position ist der Zustand 2010 einmal makroskopisch und

einmal mittels der bearbeiteten CT Aufnahme dargestellt (Fotomontage: Dennis Säring; CT Rekonstruktion gemäß Phillip Käsemann).

Abb. 5: Textil um den Hals. Junge liegt in Rücken-

lage. (Foto: Eva Schreiber).

| 63 –

Hand zu weisen. Wie Herr Schläger münd-

lich sich äußerte, müßte in Anbetracht des

trefflichen Erhaltungszustandes der Haut eine

solche Marke deutlich erkennbar sein, falls

der Tod durch Erdrosselung herbeigeführt

worden wäre. Die gänzliche Abwesenheit

von Zeichen der Strangulation lassen viel-

mehr darauf schließen, daß das Leben be-

reits erloschen war, als die Zeugschlinge um

den Hals gelegt wurde.“ (MARTIN 1924, 243 f.).

Berg und Mitarbeiter (BERG et al. 1981) be-

urteilen den Befund nach Literaturrecherche

und Abbildungen folgendermaßen:

„Eine Strangulationsfurche muss natürlich

nach Ablauf der frühen postmortalen Ver-

änderungen bei Eintritt der Moorgärung

keineswegs noch unbedingt sichtbar sein;

die diesbezügliche Argumentation ist nicht

stichhaltig.“ (BERG et al. 1981, 16)

Bonte und Pieper (1996) suchten in der

rechten Halsgegend nach einer möglichen

vorhandenen Strangulationsfurche. Offen-

bar waren die Untersucher fälschlich davon

ausgegangen, dass derartige Furchen ent-

deckt worden waren; sie schreiben:

“… das Vorhandensein einer Strangulations-

furche bestätigt sich nicht. Es handelt sich

hier um einen Hautdefekt infolge Überdeh-

nung bei langer postmortaler Rechtsdre-

hung des Halses im Moorboden (PP & WB).“

(Rechtsmedizinische Befunde)

Bei der Untersuchung 2010 war nur die ge-

trocknete linke Gesichtshälfte mit Anteilen

des Halses für die Begutachtung geeignet.

Die rechte Gesichtshälfte und Halsgegend

konnte aufgrund des Erhaltungszustandes

für diese Fragestellung nicht mehr genutzt

werden. Der Befund am Hals stellte sich fol-

gendermaßen dar:

„An der linken Gesichtshälfte (Trockenprä-

parat) findet man in der Vorderhalsregion,

wenig oberhalb des jetzt präparatorisch ge-

legten Schnittes, eine angedeutet mulden-

artige Einsenkung der Haut, hier sehr unre-

gelmäßig verworfen, mehr bräunlich gefärbt,

während die übrige Gesichtshaut eine mehr

grau-weißliche Struktur hat. Im oberen An-

teil dieser Verwerfungen – etwa am Über-

gang vom Mundboden zum Hals – parallel

dazu zwei dicht beieinander liegende, unre-

gelmäßige Hautaufreissungen, voneinander

getrennt durch eine um 1 mm breite faser-

artige, feinste Oberhautbrücke. Diese Hau-

taufreissungen weisen keine Defektbildung

in die Tiefe hinein auf.“ (Äußere Leichen-

schau 2010).

In Übereinstimmung mit Pieper/Bonte

(1996) interpretieren wir diese oberfläch-

lichen Hautaufreissungen als postmortale

Dehnungsartefakte. Konkrete Hinweise auf

eine Strangulation ergeben sich unseres

Erachtens nicht. Andererseits ist einzuräu-

men, dass eine Strangulationsfurche nicht

zwingend erhalten geblieben sein müsste,

da bei Lagerung im feuchten Milieu sowie

einer postmortalen Quellung der Haut mög-

licherweise vorhandene Furchen überdeckt

werden könnte. Die Oberhaut ist bei Moor-

leichen regelmäßig ab-/ aufgelöst.

Halsstiche

Bezüglich der drei Einstiche auf der linken

Seite des Halses gibt es in den Untersu-

chungsjahren seit 1922 keine Unstimmig-

keiten. Die Verletzungen werden von allen

Untersuchern als Todesursache angesehen

und bestätigt. Als Tatwaffe wurde ein Dolch

vorgeschlagen (HAYEN 1964) jedoch nicht zur

Gänze bestätigt.

– 64 |

Schläger (1922) beschrieb die Halsstiche

wie folgt:

„Eine weiter ganz gradlinige Durchtrennung

der Haut findet sich in einer Länge von 4 cm

am oberen Rande des linken Schlüsselbeins

und zwei weitere Hautdurchtrennungen mit

nicht ganz geraden Rändern 1cm oberhalb

dieser Wunde in der Richtung von unten

nach oben.“ (Schläger 1922).

MARTIN (1924) schloss aus den drei dicht ne-

beneinander liegenden Wunden am Hals,

nahe am Schlüsselbein, dass der Junge

erstochen wurde und die Stiche aufgrund

ihrer Lage schnell aufeinander erfolgt sein

müssen.

Im Obduktionsprotokoll von 1952 stellt sich

der Befund ähnlich dar:

„3-4 Querfinger breit unter der linken Ohrmu-

schelspitze finden sich in der stark in Falten

gelegten Haut 2 weit klaffende, in horizonta-

ler Richtung verlaufende Gewebsdurchtren-

nungen mit glatten Rändern. 2 Querfinger

breit von diesen Gewebsdurchtrennungen

entfernt, und zwar nach der Vorderseite des

Halses hin findet sich eine weitere Gewebs-

durchtrennung, ebenfalls von glattrandiger

Beschaffenheit. Im Einzelnen zeigen diese

Gewebsdurchtrennungen folgende Längen-

maße: 4 bzw. 3,5 und 3 cm.“ (Obduktions-

protokoll 1952) (Abb. 6).

Nach der Obduktion 1952 wurden „Teile des linken Gesichts einschl. lk. Ohr mit Halswun-

den“ entnommen und in einem Weckglas

feucht konserviert.

HAYEN (1964, 33, 40) übernimmt die Inter-

pretation von Martin und fügt Angaben zur

Tatwaffe hinzu, die nicht aus den Berichten

aus den Jahren 1922 und 1924 (Schläger,

Martin) oder dem Obduktionsgutachten von

1952 hervorgehen. Möglicherweise wurde

auch dieser Befund mündlich bei der Ob-

duktion mit den Obduzenten besprochen:

„..wird durch mehrere schnell aufeinander-

folgende Stiche getötet. Hierzu benutzte

man entweder einen Dolch oder aber ei-

nen Speer. Die Länge der Stichwunden, die

zwischen 3 cm und 4 cm schwankt, deutet

an, dass die benutzte Waffe eine Spitze hat-

te, nach rückwärts mindestens 4 cm breit

wurde und mit flacher Klinge versehen war.

Durch die eng beieinander erfolgten Verlet-

zungen des Halses ist die Verwendung der

kürzeren, genauer treffenden Stichwaffe,

also des Dolches, wahrscheinlich.“

BERG et al. (1981, 16) hielten diese Rekon-

struktion für fragwürdig:

„Die Länge der Hautstichwunde lässt keinen

Schluss auf die Klingenbreite der Tatwaffe

zu, weil das Stichloch je nach der Stichrich-

tung beim Einstechen oder Herausziehen

der Klinge durch die Scheide sekundär er-

weitert werden kann.“

Bonte und Pieper (1996) untersuchten das

noch feuchte Präparat. Es befand sich nach Abb. 6: Halsschnitte, Obduktion 1952. Nach der Obduktion wurden „Teile des linken Gesichts

einschließlich linkes Ohr mit Halswunden“ entnommen und in einem Weckglas feucht konserviert.

| 65 –

der Obduktion von 1952 in einem Glas. Eine

detaillierte Beschreibung der Stichwunden

fehlt im Protokoll. Das Präparat wurde zum

trocknen auf einer Styroporunterlage aufge-

spannt. Erst in der Veröffentlichung PIEPER

2002 (wird die Todesursache durch Stich

zum Hals pauschal bestätigt.

Im aktuellen Protokoll der äußeren Leichen-

schau von 2010 wird der Befund an dem

jetzt ausgetrockneten Präparat beschrie-

ben:

„3,5 cm unterhalb des Ohres an der linken

Halsseite ein 3,5 cm langer Gewebsdefekt.

Der Rand des Defektes ist glattrandig (insbe-

sondere im Bereich der Haut, fraglich auch

im Bereich der darunter liegenden Muskula-

tur). Das Gewebe ist hier lediglich 7 mm dick.

Zu Läsionen an den tiefer gelegenen Weich-

teilen lassen sich keine Feststellungen tref-

fen. Maximales Klaffen dieses glattrandigen

Gewebsdefektes 1,5 cm. In der Tiefe blickt

man auf ein unregelmäßiges, ovales, im vor-

deren Bereich eindeutig spitziges Loch mit

den Ausmaßen 2 x 1,2 cm. Von diesem glatt-

randigen Gewebsdefekt durch eine 2 mm

breite Hautbrücke getrennt ein weiterer Ge-

websdefekt mit einer Länge von 4 cm, zum

ersten Defekt hin nach vorne versetzt, begin-

nend etwa in Höhe der Mitte des zunächst

beschriebenen Defektes. Hier im Bereich

der Haut auch relativ glattrandige Durch-

trennungsstellen. Im hinteren Anteil geht der

Defekt in die Tiefe. Hier findet sich ein im

Randbereich ebenfalls angedeutet glattran-

diger Defekt in der Muskulatur, etwa in Ver-

laufsrichtung des Hautdefektes, 1,7 cm lang

und maximal 0,7 cm klaffend. Etwa die vor-

dere Hälfte des Haut- und Weichteildefektes

läuft oberflächlich aus. Hier ist lediglich die

obere Hautschicht durchtrennt. Der Defekt

ist hier bis 1,8 cm breit und läuft in Rich-

tung Kinn ganz seicht aus. Etwa wie bei einer

oberflächlichen Hautschnitt-/-ritzverletzung,

während der Defekt im rückwärtigen Anteil

dieser Wunde in die Tiefe geht. – Neben dem

größeren Defekt in den tieferen Weichteilen

(Muskulatur) noch ein umschriebener wei-

terer, 0,5 cm breiter und 3 mm klaffender

Defekt.“ (Abb. 7). „Eine weitere glattrandige Hautverletzung ist

von der 2. Verletzung durch eine 5 mm breite

Hautbrücke getrennt. Hier erkennt man im

Randbereich dieser Verletzung ein spitzes

Auslaufen (rückwärts) angedeutet „schwal-

benschwanzförmig“ (nach vorne hin). Der

Weichteildefekt in der Tiefe ist hier unregel-

mäßig. Er ist zur Halsvorderseite hin gerich-

tet, Ausdehnung 1,9 cm, Breite jetzt 0,5 cm.

Insgesamt handelt es sich um 3 in etwa pa-

rallel verlaufende Stich-/Schnittläsionen, die

von der linken Halsseite zur Vorderhalsregi-

on hin gerichtet sind.“

Auch aus gerichtsmedizinischer Sicht kann

man endgültig von drei Stichverletzungen

in der seitlichen/ vorderen Halsregion aus-

gehen.

Schulterstich

Die Stichwunde am linken Oberarm wird

von Schläger im Protokoll 1922 lediglich

beschrieben:

„Auf der Hinterseite des linken Oberarmge-

lenks findet sich eine 4 cm lange gradlinige

Durchtrennung der Haut, welche von außen

oben nach innen unten verläuft.“

Alle weiteren Interpretationen stammen of-

fenbar von Martin. So rühre die Wunde „au-

genscheinlich von einem breiten Messer“

(MARTIN 1924). Die Wunde sitze hinten im

Deltamuskel (durch den das Heben des Ar-

mes bewirkt werde). Lage und Verlauf dieser

Wunde lassen für Martin erkennen, „dass

– 66 |

sich der Arm in gehobener Stellung befand,

als er den Messerstich erhielt; denn bei hän-

gender Armstellung müsste, falls der Mörder

den Stoß mit der rechten Hand ausführte,

die Wunde in umgekehrter Richtung – von

innen oben nach außen unten – verlaufen.“

(MARTIN 1924, 245). Damit hat sich für MARTIN (1924, 245) fol-

gendes Szenario zugetragen:

„In dem Leichenfund spiegelt sich der Mord

in seinen einzelnen Phasen so getreu wie-

der, als hätte der ganze Vorgang sich vor un-

seren Augen abgespielt. Aus der Lage und

dem Verlauf der Armwunde schließe ich, daß

der Angegriffene mit hochgehobenen linken

Arm Gesicht und Hals zu schützen suchte

und die tödlichen Stiche in den Hals in dem

Augenblick erhielt, als der verwundete Arm

kraftlos niedersank.“

Obgleich Schläger (1922) von einer mikro-

skopischen Untersuchung der Wundränder

mit folgenden einfachen Worten absieht,

„Auf eine genauere mikroskopische Unter-

suchung der Haut in der Umgebung der als

Wunde angesprochenen Veränderungen am

linken Oberarm und am oberen Rande des

linken Schlüsselbeines wird für den Augen-

blick verzichtet um die Form dieser Verlet-

zungen nicht zu verändern.“ schreibt MARTIN

(1924, 244):

„Herr Schläger machte den Vorschlag, eine

mikroskopische Untersuchung der Wund-

ränder vorzunehmen, um festzustellen, ob

ein Bluterguß in die umliegenden Gewebe

stattgefunden habe. Hiermit würde der un-

anfechtbare Beweis geliefert sein, daß die

Verletzungen bei Lebzeiten erfolgt sind. Der

Fall liegt indessen so sonnenklar zutage, daß

von einer solchen Untersuchung abgesehen

werden darf.“ Obwohl die Verletzung im Obduktionspro-

tokoll von 1952 nicht beschrieben wird,

da hier offenbar die Entnahme der Organe

das Hauptanliegen der Untersuchung war,

Abb. 7: Drei Halsstiche auf der linken Halsseite (Foto: Eilin Jopp).

| 67 –

nimmt HAYEN 1964 in seiner Fundinterpreta-

tion auch Bezug auf diese Verletzungen und

bestimmt z. B. die Waffe (s. o.). Bei der Inter-

pretation hält er sich ganz an den Vorschlag

von Martin, und übernimmt die Deutung der

Wunde als Abwehrverletzung:

„Drei Wunden liegen an der Vorderseite des

Halses, eine jedoch im Deltamuskel des lin-

ken Oberarms. Offenbar hatte der Junge

hierzu – ob zur Abwehr? – den linken Arm

so – vor das Gesicht? – gehalten, dass der

von einem Rechtshänder geführte Stoß ihn

auf seine Rückseite traf.“ (HAYEN 1964, 33).

BERG et al. (1981) beurteilen die Verletzungen

folgendermaßen:

„Aus heutiger kriminalphänomenologischer

Sicht sind Stichverletzungen des Halses eher

selten und meist mit aberrierenden Mehr-

fachverletzungen in der Umgebung (Ge-

sicht, Brust, Schulter) verbunden; die Par-

allelität der Halswunden spricht dafür, dass

kein Wechsel in der Zueinander-Position von

Täter und Opfer stattgefunden hat. Abwehr-

verletzungen am Oberarm kommen fast nie

vor; die mit unbefangener Selbstverständ-

lichkeit praktisch als einzige Möglichkeit an-

gebotene Deutung der Schulterwunde als

Abwehrverletzung ist aus gerichtsmedizi-

nischer Sicht eher unwahrscheinlich.“ (BERG

et al. 1981, 16).

Auch Bonte und Pieper halten die Verlet-

zungen der linken Schulter nicht für eine

Abwehrverletzung (rechtsmedizinischer Be-

fund 1996):

„Die glattrandige, ca. 4 cm lange Wunde am

linken Oberarm ist entgegen H. Hayen 1987

nicht als typische Abwehrverletzung zu in-

terpretieren.“

Die Frage, ob das um den Hals geschlun-

gene Textil durch die scharfe Gewalt zum

Hals beschädigt wurde oder nicht ist nicht

zweifelsfrei geklärt. Aus dem wieder aufge-

tauchten textilkundlichen Gutachten von

Ephrajm (1922) – es war seit 1922 nicht auf-

zufinden (BOTH, FANSA 2011, 43 f.) – geht

nicht hervor, ob das Textil Schnittspuren auf-

weist. Dennoch beschreiben MARTIN (1924)

und später HAYEN (1964 nach MARTIN), dass

es keine Schnittspuren am Textil gab.

Bei MARTIN (1924, 244) heißt es dazu:

„Da die Wunden von der Zeugschlinge völ-

lig verdeckt sind, diese aber keine von Mes-

serstichen herrührende Beschädigung auf-

weist, so erhellt, daß die Fesselung erst nach

der Ermordung erfolgt sein kann.“

Dies führte dann in der Folge zu der Interpre-

tation, dass der Junge zunächst durch die

Stiche zum Hals getötet und anschließend

gefesselt wurde. Nach MARTIN (1924) ein un-

trügliches Zeichen für eine Bannung gegen

die Wiederkehr des toten Jungen.

Im Protokoll der äußeren Leichenschau von

2010 wird die Verletzung folgendermaßen

beschrieben:

„Rückwärts an der linken Schulter, begin-

nend 2 cm unterhalb der Schulterhöhe und

3 cm einwärts der Oberarmaußenseite, ein

glattrandiger Haut- und Weichteildefekt, der

im Winkel von 45° nach innen unten zieht.

Länge 4 cm. Maximales Klaffen jetzt am Cor-

pus um 0,8 cm. In der Tiefe des Defektes

einerseits glattrandig durchtrennte Kno-

chenstrukturen, anderseits durchtrennte

Muskulatur. Der untere Wundrand ist zuge-

schrägt, der obere angespitzt. Von daher

Verlaufszurichtung dieser Stichverletzung in

der Tiefe Richtung Nacken (ansteigend von

unten nach oben). In der Tiefe lässt sich der

Stichkanal dann nicht weiter verfolgen. Der

Schnitt verletzt in der Tiefe die rückwärtigen

Anteile des linken Deltamuskels. Es handelt

sich um eine Stichverletzung und nicht um

eine mehr oberflächliche Schnittverletzung.“

(Abb. 8).

– 68 |

Bauchdefekt – Riss der Bauchdecke

Schläger (1922) beschreibt einen von oben

nach unten verlaufenden Riss, durch den die

Brust- und Bauchhöhle – nebst den wohler-

haltenen inneren Organen – wie durch einen

„unregelmäßigen Sektionsschnitt“ freigelegt

sind:

„Beide Höhlen (Brust- und Bauchhöhle) sind

wie durch einen, allerdings sehr unregelmä-

ßigen, Sektionsschnitt eröffnet.“ (Schläger

1922).

Dieser Schnitt, so vermutet MARTIN (1924),

ist offenbar durch den Druck der im Kör-

perinneren sich entwickelnden Gase verur-

sacht worden. Aichel (1927 zitiert nach HA-

YEN 1964, 23) sieht demgegenüber diesen

Defekt nicht als Folge der „Zersetzung im

Körperinneren“ an, da die „inneren Organe

vorzüglich erhalten waren“, und der „Darm-

kanal intakt war“.

Im Obduktionsprotokoll von 1952 wird der

Defekt wieder nur beschrieben:

„Der Bereich von Brust und Bauch zeigt nur

noch Reste der Hautdecke, die in dünnen,

teilweise durchlöcherten Lappen von der

Unterlage abzuheben sind“.

Die Interpretation dieses Befundes wird

dann von HAYEN (1964) geliefert. Er geht in

Anlehnung an Martins Einschätzung weiter-

hin davon aus, dass der Gasdruck für den

Defekt verantwortlich ist. Der gute Erhal-

tungszustand der Organe sei auf den nach

dem „Platzen“ eingedrungenen Torfbrei zu-

rückzuführen, der die weitere Zersetzung

verhindert hätte (HAYEN 1964).

BERG et al. (1981, 16) halten diese Erklärung

für unwahrscheinlich und boten eine Inter-

pretation an, deren Eignung noch fragwür-

diger anmutet:

„Andere Vermutungen müssen aus gerichts-

medizinischer Sicht abgelehnt werden; dass

zum Beispiel die Bauchdecke durch Fäulnis-

gase aufreißen könnte, ist mit Sicherheit un-

richtig. Wenn hier ein Artefakt auszuschlie-

ßen ist, müsste sogar an ein Aufschlitzen

Abb. 8: Stichverletzung an der linken Schulter. Vergleichende Darstellung von Foto und CT 3D Rekonstruktion (Foto: Eilin Jopp; CT Rekonstruktion

Dennis Säring).

| 69 –

der Leibeshöhle nach Art nekrosadistischer

Handlung gedacht werden. Eine mikrosko-

pische Untersuchung der Wundränder er-

gibt in solchen Fällen keinen Aufschluss;

man könnte aber an der Wirbelsäule mögli-

cherweise Knochenverletzungen durch das

Messer finden, mit dem die Halsstichwun-

den beigebracht wurden – allerdings nur

durch Präparation, wegen der moorsäure-

bedingten Knochenentkalkung nicht rönt-

genologisch.“

Von Bonte und Pieper (1996) wurde dieser

Befund bei der rechtsmedizinischen Begut-

achtung nicht beschrieben.

Im Protokoll der aktuellen Untersuchung

2010 wird der Riss auf der Vorderseite der

Leiche folgendermaßen beschrieben:

„Der gesamte Corpus ist vorne von der Kopf-/

Halsregion bis zur Schamregion breit aufgeris-

sen. Am liegenden, ausgebreiteten Corpus ist

diese Aufreißungszone zwischen 8 und 12 cm

breit. Zu den Beinen hin (im Unterbauchbe-

reich) verläuft die Aufreißungszone dann mehr

in Richtung zum rechten Oberschenkel.“

Wenngleich sich diese Beschreibung wei-

testgehend mit den Angaben im Protokoll

aus dem Jahr 1922 deckt, bleibt es wei-

terhin unklar, ob es sich hier um einen Ber-

gungsartefakt handelt, oder ob dieser De-

fekt durch Fäulnis entstanden ist.

Weiterer Bauchdefekt – Stoß mit einer

Stange?

Eine weiterer von MARTIN (1924, 244) be-

schriebener Defekt der Haut der Bauchde-

cke, resultierend aus einer Beschädigung

durch einen möglichen Stoß mit einer Stan-

ge oder ähnlichem zum niederdrücken ins

Moor, wird weder von Schläger (Protokoll

1922) noch von den Obduzenten 1952 be-

schrieben. Möglicherweise hat hier Martin

die beschriebenen „gerissenen Stellen“ im

Hüftbereich gemeint:

„Die noch größtenteils erhaltene Haut hat le-

derartige Beschaffenheit, an vielen Stellen

scheint sie gerissen zu sein, so in der Ge-

gend des rechten Hüftbeins auch in der lin-

ken Hüftgegend.“ (Schläger 1922).

Martin beschrieb und interpretierte folgen-

dermaßen: „… die Haut der Bauchdecke eine

Beschädigung, wie von einem Stock herrüh-

rend, aufweist, die nach ihrer Beschaffenheit

schon vorhanden gewesen sein muß, bevor

die Leiche aufgedeckt wurde.“

Möglicherweise ist hier eine Fehlinterpreta-

tion im „Sinne der Geschichte“ Martins ge-

troffen worden, denn er rekonstruierte einen

Tümpel als ursprüngliche „Ablegestelle“ der

Leiche und beschreibt die Deponierung des

Jungen wie folgt:

„Um den Ermordeten zu bannen, schleppt

der Verbrecher die Leiche mit Hilfe der oben

beschriebenen Tragevorrichtung ins Moor

hinaus, wirft sie in einen Wassertümpel und

drückt sie, wie die Verletzungen der Haut

der Bauchdecke vermuten lässt, mittels ei-

ner Stange in das den Boden des Gewässers

bedeckende Wollgras hinein, so dass sie

sich mit Händen und Füßen darin verstrickt

und ihrem Wiederauftreiben vorgebeugt ist.

Die an der Lagerstelle der Leiche bemerkte

schwachmuldenförmige Vertiefung in dem

Wollgrastorf deutet ebenfalls darauf hin,

dass die Leiche gewaltsam zu Boden ge-

drückt wurde.“ (MARTIN 1924, 245)

Diese Interpretation des Tatherganges bleibt

auch bei HAYEN 1964 weitestgehend beste-

hen, allerdings wird die Positionierung im

Moor anders interpretiert. So spricht er bei

der „Art der Beseitigung“ von „Einbettung“

im nassen Torfmoospolster und nicht wie

MARTIN (1924) vom Versenken in einem Tüm-

– 70 |

pel oder Kolk. Alle weiteren Autoren enthal-

ten sich einer Beschreibung.

Bei der äußeren Leichenschau 2010 stellt

sich der in Frage kommende Bereich folgen-

dermaßen dar:

„Die seitlichen Hautpartien am Rumpf sind in

sich mehrfach eingerissen. Der innere Rand

des Hautdefektes im vorderen Rumpfbe-

reich ist überall völlig unregelmäßig fetzig

(keinerlei Anhaltspunkt für Schnittlegung in

diesem Bereich).“

Möglicherweise sind auch diese Defekte

durch die Bergung und das Freilegen durch

den Finder entstanden.

Oberarmfraktur rechts

Merkwürdigerweise werden von Schläger

(1922) die Verletzungen am rechten Ober-

arm nicht beschrieben, während MARTIN

(1924, 244) den Defekt gleich nach der Er-

wähnung der Verletzung der Bauchdecke

folgendermaßen beschrieb:

„Ferner ist zu beachten, daß der rechte

Oberarmknochen mitten durchgebrochen

ist, und daß die zersplitterten Enden der bei-

den Bruchstücke durch die Haut hindurch

gedrungen sind. Da die Knochen in ihrem

jetzigen Erhaltungszustand zu weich sind,

um die noch recht feste, widerstandsfähige

Haut durchbohren zu können, so muß der

Knochenbruch schon vor der Versenkung

der Leiche entstanden sein.“

In seiner Interpretation des „Tathergangs“

passt dieser Befund folgendermaßen hin-

ein (MARTIN 1924, 245):

„Nun die unselige Tat geschehen, packt den

Mörder das Grauen vor der Rache seines

Opfers. Er reißt demselben das Zeug vom

Leibe, um den Toten damit zu fesseln, da-

mit er nicht wiederkehre und ihn nachhole.

Größerer Sicherheit halber bricht er ihm

obendrein den rechten Oberarm, um ihm

so das Lösen seiner Fesseln unmöglich zu

machen.“

Im Obduktionsprotokoll von 1952 wird die

Fraktur ebenfalls nicht erwähnt und HAYEN

(1964) schloss sich wieder den Beschrei-

bungen und weitestgehend den Interpreta-

tionen von MARTIN (1924) an. Allerdings ist

er bei der Einschätzungen des Motivs nicht

so sicher und widerspricht Martins Wieder-

gänger-Theorie:

„Der Bruch des rechten Oberarms erfolgte,

wie schon gezeigt wurde, wohl im Zusam-

menhang mit der Tötung oder dem Trans-

port, jedenfalls aber sicher vor der Einbet-

tung.“ (HAYEN 1964, 31).

Und etwas später heißt es:

„Ob der rechte Oberarmknochen zufällig

oder mit einer bestimmten Absicht zerbro-

chen wurde, ist nicht zu klären. Offenbar ge-

schah dieses jedoch im Ablauf der erkannten

Vorgänge.“ (HAYEN 1964, 34).

Auch zu dieser Verletzung liefern die ande-

ren Autoren keine Einschätzung.

Das aktuelle Protokoll der äußeren Leichen-

schau (2010) benennt den Defekt am Ober-

arm folgendermaßen:

„14 cm unterhalb der rechten Schulterhöhe

steht der rechte Oberarmknochen unregel-

mäßig frakturiert aus dem Haut- und Mus-

kelschlauch des rechten Oberarms heraus.

Die Knochenbruchlinie verläuft schräg von

vorne oben nach hinten unten und ist ziem-

lich unregelmäßig. Die Haut über diesem Be-

reich ist fetzig zerrissen. Die unregelmäßige

Hautaufreissungszone an der Außenseite

des Oberarms reicht bis zum oberen Drit-

tel des rechten Unterarms. Hier fehlen die

Knochen in der Umgebung des rechten El-

lenbogens. Man findet lediglich Sehnen und

Muskulatur.“ (Abb. 9).

| 71 –

Demnach bestünde die Möglichkeit, dass

beim Umdrehen der Leiche auf die linke

Seite nicht nur die Hände abgerissen sind,

sondern auch der rechte Oberarm dabei

verdrehte, die Haut aufriss und der Kno-

chen brach. Möglicherweise handelt es

sich hier also auch um einen Bergungsde-

fekt. Die makroskopische Betrachtung der

Bruchkante mit einer Lupe (durch Michael

Schultz 2010) ließ keine diagenetischen Ver-

änderungen erkennen und unterstützt damit

diese Vermutung.

Zusammenfassung

Wenn man nun zusammenfassend die Dar-

stellungen und Interpretationen betrachtet,

was bleibt dann als Faktum übrig?

Vielleicht beginnt man hier mit der Darstel-

lung der Motivation der einzelnen Untersu-

cher in ihrer Zeit. Die Tabelle fasst die Jahre

der Untersuchungen zusammen. Spezielle

Untersuchungen, wie z. B. 14C-Datierungen

oder die Hautuntersuchung von Bechara

(2001), sind in der Tabelle nicht aufgeführt

(Tab. 1).

Obgleich schon Schläger (1922) zumindest

in seinem Protokoll auf fantasievolle Ein-

schätzungen der Befunde verzichtet hat,

„erzählt“ Martin 1924 die Geschichte auch

im Sinne seiner Zeit. Die Wiedergänger-

furcht-These war zur Zeit Martins eine gän-

gige Erklärung insbesondere für die häufig

neben oder über Moorleichen gefundenen

Stangen und Stöcker.

Die Untersuchungen der Torfschichten am

Fundort führten Martin zu der Erkenntnis,

dass der Junge in einem Wassertümpel de-

poniert worden sei und, um nicht wieder auf-

zutreiben, mit einer Stange in Wasser ge-

drückt wurde. So waren für ihn die Bauch-

deckendefekte erklärlich. Hayen (1964) wi-

derspricht nach eigenen pollenanalytischen

Abb. 9: Frakturierter rechter Oberarm (Foto: Eilin Jopp).

– 72 |

Untersuchungen Martins Interpretation. Er

beschreibt den ursprünglichen Ablageplatz

als „nasses Tormoospolster“, hielt aber ein

Eindrücken mit einer Stange zur Erklärung

der Bauchdefekte trotz allem für wahr-

scheinlich. Alle anderen Autoren verzichte-

ten auf eine Beschreibung des Fundplatzes.

Der in diesem Zusammenhang gesehene

Defekt der Bauchdecke wurde nicht mehr

beschrieben, weil er möglicherweise als sol-

cher nicht mehr zu erkennen war.

Bezüglich der ursprünglichen Fundsituation

stellt sich die Frage, ob die 1924 von Martin,

bzw. vom Finder gemachten Angaben stim-

men. Fakt ist, dass 1. die Leiche beim Torf-

stechen gefunden und dadurch im Bereich

der Unterschenkel und Füße stark zerstört

wurde, 2. der Finder die Leiche am rechten

Ohr ziehend, auf die linke Seite drehte und

damit die genaue Position der Hände und

Unterarme verändert und möglicherweise

den Defekt am rechten Humerus verursacht

sowie die gesamt Körperhaltung zerstört hat

und 3. die Beschreibungen des Befundes in

Martins Publikation von 1924 auf den Aus-

sagen des Finders beruhen.

Dies bedeutet, dass die genaue Position der

„Hand- und Fuß- Fesselung“ und der später

von Martin als „Tragevorrichtung“ beschrie-

bene Textilschnürung nicht mit Bestimmtheit

rekonstruiert werden kann. Auch hier sind le-

diglich die Angaben des Finders Grundlage

aller weiteren Interpretationen, z. B. das Ab-

reißen des schalartig gefalteten Tuchs im Be-

reich des Halses beim Drehen der Leiche oder

die genaue Position des Pelzumhanges. Um-

wickelte er die Unterschenkel? Lag der Um-

hang vielleicht auch über oder unter den Bei-

nen? Lag er vielleicht neben den Beinen?

Nimmt man eine andere Position des Pelz-

umhanges und der Textilien an, könnte eben-

falls rekonstruiert werden, dass es keine Um-

wickelung oder Fesselung der Unterschenkel

mit dem Pelzkragen gegeben hat und dass

die „Textil-Verschnürung“ um Hals und Hän-

de als rekonstruierte Tragevorrichtung nicht

existiert hat, sondern dass lediglich eine Fes-

selung der Hände auf dem Rücken und eine

Verbindung mit dem Hals bestand.

Eindeutig als Grabungs- bzw. Bergungsarte-

fakte sind die Durchtrennung der linken Tibia

durch einen Spatenstich, die zerstochenen

Füße, die abgerissenen Hände und das ein-

gerissene rechte Ohr zu sehen. Die Fraktur

des rechten Oberarms sowie der angeblich

durch eine Stange verursachte Defekt der

Bauchdecke können unseres Erachtens

ebenfalls am ehesten als Bergungsartefakt

angesehen werden.

Bei der Obduktion 1952 wurden dem Leich-

nam weitere Spuren der „scharfen Gewalt“

zugefügt, die als solche auch sicher zu iden-

SCHLÄGER

1922

MARTIN

1924

1952

HAYEN

1964

BERG et al.

1981

PIEPER et al.

1996

PÜSCHEL

et al. 2010

1. medizinische

Bestandsauf-

nahme

Interpretation

Wiedergänger-

Bannung

Obduktion und

Entfernung der

Organe, Röntgen

Tatmotiv nicht

bestimmbar

Interpretation

Opfer als Zeuge

einer Straftat,

Sexualdelikt

(deliktische

Tötung)

Histologische

Untersuchungen

(Organreste,

Magen-

Darminhalt),

ohne

Interpretation

bildgebende

Untersuchungen,

2. Bestandsauf-

nahme

| 73 –

tifizieren sind. So lässt der glatte Schnitt im

Gesäßbereich vermuten, dass hier die Reste

des ehemals erhaltenen Geschlechtsteils

entfernt wurden. Ebenso ist der 6 cm lange

Halsschnitt als Sektionsartefakt zu erkennen

und passt zur Entfernung der linken Gesichts-

hälfte im Rahmen der Obduktion 1952.

Die nur 1952 auf dem Röntgenbild und

makroskopisch durch Dr. Feye erkann-

te Hüftgelenksdeformation, interpretierte

HAYEN (1964, 1987) als weiteres Motiv für

den Mord an dem Kind. Auch diese Aus-

legung der „Krankentötung“ wurde für di-

verse Moorleichen, wie beispielsweise die

Frau von Zweeloo, das Mädchen von Yde,

oder das Kind aus der Esterweger Dose als

Erklärung für Mord und Beseitigung im Moor

verwendet, konnte aber insgesamt bei Be-

trachtung der Häufigkeiten nicht überzeu-

gen (VAN DER SANDEN 1996; BROCK 2009).

Im Lauf der 90-jährigen Fundgeschichte des

Jungen von Kayhausen sind seit der Auffin-

dung 1922 diverse Anteile der Leiche verlo-

ren gegangen. Der Erhaltungszustand, ins-

besondere der Knochen hat sich über die

Jahre zusehends verschlechtert. Einige der

dargestellten Befunde vorangegangener

Untersuchungen des Leichnams (siehe auch

Beitrag Jopp, Both in diesem Band) sind da-

her heute nicht bzw. nur unzureichend nach-

zuvollziehen. So gingen schon in der Zeit

zwischen Auffindung 1922 und der Obduk-

tion 1952 einzelne Hand- und Fußknochen,

Finger- und Fußnägel, das distale Ende der

linken und das proximale Ende der rech-

ten Tibia, der größte Anteil des Unterkie-

fers und der gut erhaltene Penis mit Hoden

(1952 als „Hautschlauch“ beschrieben), die

von Schläger als Asservate in Formalin auf-

geführt werden, verloren.

Bei der Obduktion 1952 wurden alle bis

dahin gut erhaltenen Organe entnommen.

1996 konnten sie nur noch in kleinen Men-

gen und zum größten Teil als unkenntliche

Reste untersucht werden. Im Zuge der ak-

tuellen Untersuchungen fand sich nunmehr

nur noch ein Glas mit enthaltenem „Gekrö-

se“. Außerdem ist das für die Altersbestim-

mung wichtige, bis 1996 erhaltene Oberkie-

ferfragment und der einzige seit Auffindung

erhaltene Molar heute nicht mehr vorhan-

den. Aktuell konnte nur ein nicht weiter beur-

teilbares kleines Fragment des Unterkiefers

gefunden werden.

Was bleibt 2010

Ein etwa (6) 7 – 13 (14) Jahre alt gewordener,

etwa 1,20-1,25 m großer Junge wurde ge-

tötet in Rückenlage im Moor bestattet. An-

zeichen für eine „Wiedergänger-Bannung“

finden sich nicht. Die Hände des Jungen wa-

ren auf dem Rücken gefesselt. Diese Fes-

sel war auch mit dem Hals verbunden. Eine

Tragevorrichtung scheint es nach unserer

Einschätzung nie gegeben zu haben. Eine

Umwicklung der Unterschenkel mit einem

Pelzumhang kann ebenfalls nicht bestätigt

werden, da die genaue Position des Um-

hanges unklar ist. Zusätzliche Textilreste,

bei denen es sich möglicherweise auch um

Reste seiner Kleidung handeln könnte, fan-

den sich verknäult im Nacken und linksseitig

der Leiche.

Der Junge wurde mit drei Stichen zum Hals

(linksseitig) getötet. Eine Stichverletzung im

Bereich der linken Schulter spricht dafür, dass

die Hände beim Angriff mit einem dolchar-

tigen Werkzeug bereits auf dem Rücken

gefesselt waren. Die Schulter wurde zur Ab-

wehr zum Ohr hochgezogen (im Sinne einer

Abwehrbewegung), als der Angriff zum Hals

erfolgte. Die weiteren parallelen Stiche trafen

– 74 |

dann den Hals. Das Verletzungsmuster mit

dicht beieinander liegenden ähnlichen Stich-

läsionen zeigt, dass das Opfer keine Mög-

lichkeit zu Flucht und/oder Abwehr hatte,

sondern fixiert bzw. weitgehend unbeweg-

lich war, z. B. durch Fesselung und evtl. auch

zusätzliches Festhalten. Hierfür spricht auch,

dass keine sonstigen Abwehrverletzungen

dokumentiert werden konnten. Ob der Hals

in dieser Phase des Geschehens schon mit

dem Textil umwickelt war ist unklar, da die

Untersuchungsprotokolle der Textilexperten

keine Schnittspuren erwähnen und sich an

dem noch vorhandenen Textil aufgrund des

Erhaltungszustandes keine sicheren Anga-

ben mehr machen lassen. Zu diskutieren ist,

dass das Textil erst nachträglich (nach den

Stichverletzungen) um den Hals gewickelt

wurde, um die Stiche zu verdecken und/

oder Blutfluss zu vermeiden.

Bei der Auffindung der Leiche wurden zu-

nächst die Unterschenkel abgetrennt und

der Befund knieabwärts zerstört. Beim Um-

drehen der Leiche verursachte der Finder

den Defekt am rechten Ohr, da er die Leiche

am Ohr ziehend auf die linke Seite drehte.

Dabei zerriss die Haut des Arms und der

rechte Oberarmknochen brach. Die zersplit-

terte Fraktur am Oberarm ist nicht durch eine

zu Lebzeiten entstandene stumpfe Gewalt-

einwirkung erklärbar. Außerdem rissen beide

Hände ab und die auf dem Rücken ange-

brachte Fessel um Hals und Hände wurde

dabei zerrissen.

Für die Entstehung des großen Risses der

Bauchdecke kommt aus heutiger Sicht am

ehesten eine artifizielle Defektbildung bei

der Auffindung und Bergung (DD: Fäulnis)

in Frage. Ein angeblich durch eine Stange

verursachter Defekt der Bauchdecke (beim

Herunterdrücken des Körpers in das Moorla-

ger) konnte nicht bestätigt werden. Die Erklä-

rung des Niederdrückens des Leichnams ins

Moor mit einer Stange wird abgelehnt. Für

ein intentionelles Aufschlitzen der Leibes-

höhle (BERG et al. 1981) gibt es kein morpho-

logisches Äquivalent. Gerade auch im Ver-

gleich zu den anderen Verletzungen durch

scharfe Gewalt (Stichverletzungen) ist fest-

stellbar, dass kein Aufschneiden/Aufschlit-

zen, sondern ein aufreißen/aufplatzen vorlag.

Eine Strangulation am Hals wurde seit 1922

wiederholt diskutiert, kann aber endgül-

tig ausgeschlossen werden. Die dokumen-

tierten oberflächlichen Hautverwerfungen

und -einreißungen am Hals sind (ebenfalls)

als postmortal entstanden zu erklären.

Das Kind zeigt mit den dokumentierten HAR-

RIS-Linien der noch vorhandenen Schien-

beinfragmente (siehe Marshall et al. und

Missbach et al., in diesem Band) Anzeichen

überstandener, wiederholter Stresssituati-

onen (Mangelphasen oder Infektionskrank-

heiten), die für die Zeit um Christi Geburt in

Nordeuropa sicher keine Ausnahme darstellt

und beispielsweise auch schon bei dem

Mädchen aus dem Uchter Moor (JOPP et al.

2006) oder dem Kind von Windeby nachge-

wiesen wurden.

Die Reste in seinem Magen und Darm (Ap-

felkerne und div. Kulturpflanzenreste) zeigen

an, dass der Junge sich für seine Zeit normal

ernährt hat (PIEPER et al. 1999, 78). Weder

über die gefundenen Kleidungsreste noch

über den allgemeinen Gesundheitszustand

lässt sich eine Aussage bezüglich seines so-

zialen Status machen.

Eine Erkrankung der Hüftgelenke und damit

einhergehendes „humpeln “ wie von HAYEN

(1964) vorgeschlagen wurde, kann nicht be-

stätigt werden (siehe Simon et al. und Mar-

shall et al. in diesem Band).

| 75 –

Literatur

BERG, S., ROLLE, R., SEEMANN 1981: Der Archäologe

und der Tod. Archäologie und Gerichtsmedizin.

München und Luzern 1981, 10-16.

BOTH, F., FANSA, M. 2011: Faszination Moorleichen.

Schriftenreihe des Landesmuseums Natur und

Mensch, Heft 80. Mainz 2011.

BROCK, T. 2009: Moorleichen. Zeugen vergangener

Jahrtausende. AID Sonderheft 2009. Stuttgart

2009.

HAYEN, H. 1964: Die Knabenmoorleiche aus dem

Kayhausener Moor. Oldenburger Jahrbuch 63,

1964, 19-42.

HAYEN, H. 1987: Die Moorleichen im Museum am

Damm. Veröffentlichungen des Staatlichen Mu-

seums für Naturkunde und Vorgeschichte Olden-

burg. 6. Oldenburg 1987, 27-35.

JOPP, E., PÜSCHEL K., AMLING, M., SCHILLING, A. F.,

HELMKE, K., KAHLER, A., BAUEROCHSE, A. 2006:

Rechtsmedizin, Anthropologie und Archäologie

– „Mooras“ Harris-Linien – ein besonderer Be-

fund? Berichte zur Denkmalpflege in Niedersach-

sen Heft 2, 2006, 38-39.

MARTIN, J. 1924: Beiträge zur Moorleichenforschung.

Mannus 16, 1924, 240-259.

PIEPER, P. et al. 1999: Moorleichen. In: M. Fansa

(Hrsg.), Weder See noch Land. Moor - eine ver-

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Museums für Naturkunde und Vorgeschichte Bei-

heft 10, Band 1, Oldenburg 1999, 63-79.

PIEPER, P. 2002: Moorleichen. In: H. Becket et al.

(Hrsg.), Reallexikon der germanischen Altertums-

kunde, Bd. 20, 2002, 222-229.

VAN DER SANDEN, W. A. B. 1996: Mumien aus dem

Moor – Die vor- und frühgeschichtlichen Moorlei-

chen aus Nordwesteuropa. Amsterdam 1996.

Anschriften der Verfasser

Eilin Jopp, M.A., Prof. Dr. Klaus Püschel,

Dr. D. Säring, P. Käsemann

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Institut für Rechtsmedizin

Arbeitsbereich Forensische Anthropologie

Butenfeld 34

22529 Hamburg

Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

und

Universität Hildesheim

Institut für Biologie und Chemie

Marienburger Platz 22

31141 Hildesheim

E-Mail: [email protected]

| 77 –

So genannte „operative Fallanalyse“ – Der „Fall Kayhausen“

aus aktueller kriminalistischer Sicht

K. Püschel, M. Schultz, E. Jopp

Interpretationen zum Geschehensablauf beim

Tod des Jungen von Kayhausen. Diese wer-

den nachfolgend stichwortartig referiert:

Im Verlauf der Zeit sowie der verschiedenen

Untersuchungen durch Wissenschaftler ver-

schiedener Fachrichtungen, erfolgten diverse

„In dem Leichenfund spiegelt sich der Mord in seinen einzelnen Phasen so getreu wieder,

als hätte der ganze Vorgang sich vor unserer Augen abgespielt. Aus der Lage und dem

Verlauf der Armwunde schließe ich, dass der Angegriffene mit dem hochgehobenen

linken Arm Gesicht und Hals zu schützen suchte und die tödlichen Stiche in den Hals

in dem Augenblick erhielt, als der verwundete Arm kraftlos niedersank. Nun die un-

selige Tat geschehen, packt den Mörder das Grauen vor der Rache seines Opfers. Er

reißt demselben das Zeug vom Leibe, um den Toten damit zu fesseln, damit er nicht

wiederkehre und ihn nachhole. Größerer Sicherheit halber bricht er ihm obendrein

den rechten Oberarmknochen, um ihm so das Lösen seiner Fesseln unmöglich zu

machen. Um den Ermordeten zu bannen, schleppt der Verbrecher die Leiche mit Hilfe

der oben beschriebenen Tragevorrichtung ins Moor hinaus, wirft sie in einen Wasser-

tümpel und drückt sie, wie die Verletzung der Haut der Bauchdecke vermuten lässt,

mittels einer Stange in das den Boden des Gewässers bedeckende Wollgras hinein,

so dass sie sich mit Händen und Füßen darin verstrickt und ihrem Wiederauftreiben vor-

gebeugt ist. Die an der Lagerstelle der Leiche bemerkte schwachmuldenförmige Ver-

tiefung in dem Wollgrastorf deutet ebenfalls darauf hin, dass die Leiche gewaltsam zu

Boden gedrückt wurde. Das zur Fesselung und Herstellung der Tragevorrichtung nicht

benutzte Zeug, das im Nacken der Leiche angetroffen wurde, mag unter den nur lose

um den Hals gelegten schalartigen Streifen gestopft gewesen sein, um zugleich mit der

Leiche beseitigt zu werden, damit es dem Mörder nicht zum Verräter werden könnte.“

(MARTIN 1924, 245)

„Ein etwa 8 bis 9 Jahre alter, verkrüppelter Junge, der lange Zeit krank gewesen ist

und zuletzt nicht gehungert hat, wird durch mehrere schnell aufeinanderfolgende

Stiche getötet. Hierzu benutzt man entweder einen Dolch oder aber einen Speer. Die

Länge der Schnittwunden, die zwischen 3cm und 4cm schwankt, deutet an, dass die

benutzte Waffe eine Spitze hatte, nach rückwärts mindestens 4cm breit wurde und

mit flacher Klinge versehen war. Durch die eng nebeneinander erfolgten Verletzungen

des Halses ist die Verwendung der kürzeren, genauer treffenden Stichwaffe, also des

Dolches, wahrscheinlich. Drei Wunden liegen an der Vorderseite des Halses, eine je-

doch im Deltamuskel des linken Oberarmes. Offenbar hatte der Junge hierzu – ob

zur Abwehr? – den linken Arm so – vor das Gesicht? – gehalten, dass der von einem

Rechtshänder geführte Stoß ihn auf seiner Rückseite traf. Den Toten beseitigte man -

trug ihn auf das Moor und drückte ihn in nasses Torfmoospolster hinein. Mit den Fet-

– 78 |

Unter Berücksichtigung der ausführlichen

Diskussion zu sämtlichen Befunden an die-

ser Moorleiche (vergl. insbesondere JOPP et

al. zur Lokalisation und Interpretation der

Verletzungen) ist zur Rekonstruktion des

Tathergangs folgendes festzuhalten:

zen zerrissener Kleidung band man die Arme des Opfers so zusammen, dass sie bei

einem Transport nicht hinderlich waren, mit seinem Pelzumhang die Beine. Zusätzlich

wurde ein zusammengefaltetes Tuch derart um den Körper geknotet, dass man ihn ohne

besondere Mühe tragen konnte. Die Pollenanalyse verweist diesen Vorgang in die Zeit

zwischen Chr. Geb. und 200 n. Chr. – Abschließend wird darauf hingewiesen, dass aus

den Fundumständen und den Ablagerungen des Moores sich Vorgänge mehr oder we-

niger ausführlich erkennen lassen, die Ableitung eines bestimmten Tatmotives jedoch

nicht möglich ist.“

(HAYEN 1964)

I. Rekonstruktion des Tathergangs

dem Rücken gefesselt. Die Schulter wurde zur Abwehr zum Ohr hochgezogen.

Die weiteren Stiche trafen den Hals.

keine Möglichkeit zu Flucht und/ oder Abwehr hatte, sondern fixiert bzw. weitge-

hend unbeweglich war, z. B. durch Fesselung. Hierfür spricht auch, dass es keine

weiteren Abwehrverletzungen gab.

ist unklar (offenbar keine Schnittspuren im Textil).

abwärts zerstört.

da er die Leiche am Ohr ziehend auf die linke Seite drehte. Dabei rissen beide

Hände ab und das Textil der Fessel vom Hals zu den Händen zerriss.

splitterte Fraktur ist nicht durch eine zu Lebzeiten entstandene stumpfe Gewalt-

einwirkung erklärbar.

Halsstiche als tödliche Verletzung!

Fesselung!

Fraktur des Oberarms postmortal entstanden!

| 79 –

II. Rekonstruktion des Tathergangs

geklärt werden. Ein angeblich durch eine Stange verursachter Defekt der Bauch-

decke (beim Herunterdrücken des Körpers in das Moorlager) ist rechtsmedizinisch

nicht nachvollziehbar.

BERG et al. 1981) durch den „Täter“ kommt nicht

in Betracht.

zungen) ist feststellbar, dass kein Aufschneiden/ Aufschlitzen, sondern ein Aufrei-

ßen/Aufplatzen vorlag.

tierten Spuren am Hals sind als postmortal entstanden zu erklären.

Kein Aufschlitzen des Bauches!

Keine Strangulation!

Was bleibt 2011?

wurde getötet.

die Hände mit dem Hals. Die Rekonstruktion einer „Tragevorrichtung“ wird abge-

lehnt.

bestätigt werden, da die genaue Position des Umhanges unklar ist.

dung handeln könnte, fanden sich verknäult im Nacken und linksseitig der Lei-

che.

Sog. „Undoing“ beim Beseitigen des Leichnams!

„Dumping“ des entkleideten Leichnams!

– 80 |

Die Motivation für die Tötung des (6) 7 - 13

(14) Jahre alt gewordenen gesunden Jun-

gen von Kayhausen sowie der Geschehens-

ablauf sind unter Aspekten einer sog. ope-

rativen Fallanalyse (aus heutiger Sicht) am

ehesten folgendermaßen zu erklären:

Häufig benutzte Theorien von Opfer- oder

kultischen Zeremonien lassen sich anhand

der dokumentierten Tatsachen nicht bele-

gen. Die Konstellation deutet aus heutiger

Sicht auf eine – pädophil motivierte – Tö-

tungshandlung hin.

Literatur

BERG, S., Rolle, R., Seemann, H. 1981: Der Archäo-

loge und der Tod. Archäologie und Gerichtsmedi-

zin. München und Luzern 1981, 10-16.

HAYEN, H. 1964: Die Knabenmoorleiche aus dem

Kayhausener Moor. Oldenburger Jahrbuch 63,

1964, 19-42.

MARTIN, J. 1924: Beiträge zur Moorleichenforschung.

Mannus 16, 1924, 240-259.

von Hals und Oberkörper; dafür benutzt er z. T. die Kleidungsstücke.

losen, fixierten, gefesselten Jungen; der verletzte Halsbereich wird (nachträglich)

durch das Textil abgedeckt.

abdeckt, Kleidungsstücke unter den Nacken legt und das Kind positioniert.

dungsstücke neben und unter der Leiche) sog. „Leichen-Dumping“.

Anschriften der Verfasser

Prof. Dr. Klaus Püschel

Eilin Jopp, M.A.

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

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| 91 –

Histopathologische Analyse des Knochengewebes

J. Zustin, M. Schultz

den drei kleinere Proben, die komplett in

Kunststoff eingebettet und geschliffen wur-

den. Histopathologische Schnitte wurden

mit PAS Reaktion, Toluidin Blau und Goldner

Trichrom histochemisch gefärbt. Mikrosko-

pische Analysen wurden sowohl lichtmikro-

skopisch als auch unter polarisiertem Licht

durchgeführt.

Histopathologische Analyse

Mikroskopisch stellte sich in der Über-

sichtvergrößerung (25x) eine gut erhaltene

Grundstruktur des Knochens dar (Abb. 2A).

Es zeigte sich eine regelmäßige Vernetzung

der Spongiosa mit leeren intertrabekulären

Räumen. Es konnte weder blutbildendes

Gewebe noch Fettgewebe nachgewiesen

Makroskopische Begutachtung

Für die morphologische Analyse wurden

mehrere Knochenfragmente (Abb. 1) von

den Resten langer Röhrenknochen makros-

kopisch untersucht und für weitere histo-

pathologische Spezialuntersuchungen eine

Probe eingebettet. Makroskopisch konnte

man die Gewebsstücke leicht als Knochen

identifizieren, wobei sich sowohl die glatte

oberflächliche Knochenrinde, die Corticalis

(lat. corticalis „Rinde�), als auch der tiefer

gelegene Schwammknochen, die Spongio-

sa (lat. spongia „Schwamm�), unterscheiden

ließen. Die Oberfläche war frei von Weichge-

webe, man sah lediglich vereinzelte Haare.

Restliche Weichteile einschließlich der Kno-

chenhaut (Periost) fehlten. Das größte Kno-

chenfragment hat eine Länge von 6,1 cm

und ein Durchmesser von etwa 1,6 cm und

könnte von einem Hand- oder Fußknochen

stammen. Weitere Knochenproben waren

kleiner und eine genaue anatomische Zu-

ordnung war nicht möglich. Alle Gewebe-

proben wiesen eine dunkelbraune Farbe

auf. Der Knochen war derb elastisch und

es konnten keine mineralisierten knochen-

harten Areale gefunden werden. In der kon-

taktradiologischen Untersuchung kamen

ebenfalls keine mineralisierten Gewebeab-

schnitte zur Darstellung. Für weitere histo-

pathologische Analysen wurde das kleinste

Knochenfragment verwendet.

Aufarbeitung der Knochenprobe

Für die mikroskopische Untersuchung wur-

de eine Gewebeprobe mittels wasserge-

kühlter Diamantbandsäge, mit der sich der

Knochen schonend und nahezu ohne Arte-

fakte teilen lässt, lamelliert. Dabei entstan-

Abb. 1: Knochenproben der Moorleiche Junge von Kayhausen. Makroskopisch kommen drei

braune Gewebsfragmente ohne Weichteile zur Darstellung, die sich eindeutig dem Knochen-

gewebe zuordnen ließen. Es handelt sich mit größter Wahrscheinlichkeit um Teile von kleinen

Hand- oder Fußknochen. Die Knochenoberfläche war glatt, ohne Knochenhaut; es zeigten sich

lediglich wenige Haare, die den Knochen bedeckten. Ein Gewebsstück (links oben) wurde weiter

histopathologisch aufgearbeitet.

– 92 |

werden. Des Weiteren kommen in der Cor-

ticalis Osteone (Abb. 2B), die Grundbauele-

mente des Knochens, zur Darstellung. Deren

Kanäle sind ebenfalls leer, ohne Nachweis

von zellulären Strukturen. Ausgedehnte Re-

sorptionshöhlen wie bei einer Osteomyelitis

oder Callusformationen, die auf eine mög-

liche Fraktur hinweisen könnten, oder andere

grobe Veränderungen der Knochenarchitek-

tur liegen nicht vor, so dass im vorliegenden

Material von einem normalen gesunden Kno-

chen ausgegangen werden kann.

Abb. 2: Knochengewebe des

Moorleichnams (Übersicht). (A) Guter

Erhaltungszustand des Knochenge-

webes in der Übersichtsvergrößerung

(Toluidin Blau Färbung, Vergrößerung:

25x) mit regelmäßig vernetzten Kno-

chentrabekeln. Die Knochenbalken

sind komplett demineralisiert und die

Markräume leer. Fettmark oder Hä-

matopoese sind nicht nachweisbar.

(B) Bei höherer Vergrößerung sieht

man leere Havers-Kanäle (Pfeile), die

normalerweise lockeres Fibrosegewe-

be und Blutgefäße enthalten (Toluidin

Blau Färbung, Vergrößerung: 200x).

Abb. 3: Mikroskopische Befunde am Knochen des Moorleichnams bei starker Vergrößerung. (A) Die Knochentrabekel sind komplett demineralisiert,

die organische Grundsubstanz ist jedoch sehr gut erhalten. Man sieht mehrere optisch leere Linien (Pfeile, sgn. Kittlinien), die Areale mit Stadien un-

terschiedlicher Knochenentwicklung abgrenzen. Diese entsprechen den Grenzen zwischen osteoklastär resorbierten Trabekelabschnitten, die durch

Osteoblasten immer wieder angebaut und aufgefüllt wurden. (B) Man erkennt die lamelläre Struktur der organischen Grundsubstanz, in der sich optisch

leere Lakunen der Osteozyten (Pfeile) befinden. Die Knochenzellen sind nirgendwo mehr nachweisbar. (C) In einem Gewebeabschnitt auf der Knochen-

oberfläche zeigt sich eine unregelmäßige faserige Struktur mit dicken Fasern, die von lamellär strukturiertem Cortikalisknochen durch eine optisch leere

Linie abgegrenzt wird. Diese entspricht offensichtlich einem gelenknahen Sehnenansatzpunkt (A-C: unentkalkte Präparation, Färbung: Toluidin blau,

Vergrößerung: 400x).

| 93 –

In der stärkeren Vergrößerung (200x und 400x)

lässt sich eine sehr gut erhaltene organische

Grundsubstanz erkennen. Die Knochentra-

bekel sind komplett demineralisiert, die orga-

nische Grundsubstanz zeigt mehrere optisch

leere Linien (Abb. 3A), die die Areale mit unter-

schiedlichen Stadien der Knochenbildung ab-

grenzen und auf eine dynamische Knochen-

umbauaktivität hinweisen. Diese Linien stel-

len die Grenzen zwischen osteoklastär (d. h.

durch die Knochenfresszellen – Osteoklasten)

resorbierten Trabekelabschnitten dar, die

noch intravital durch die knochenbildenden

Zellen (Osteoblasten) immer wieder neu an-

gebaut und mit jüngerem Knochen aufge-

füllt wurden. Ferner erkennt man die lamel-

läre Struktur der organischen Grundsubstanz

und optisch leere Lakunen der Osteozyten

(Abb. 3B). Die Knochenzellen sind in keiner

Probe mehr nachweisbar. Auf der Knochen-

oberfläche zeigte sich eine unregelmäßige

faserige Struktur mit dicken Kollagenfasern,

die von lamellär strukturiertem Corticalis-

knochen durch eine optisch leere Linie ab-

gegrenzt wurde. Diese entspricht offensicht-

lich einem gelenknahen Sehnenansatzpunkt

(lat. enthesis, Abb. 3C), der intravital norma-

lerweise mineralisiert ist. Elastische Fasern

oder andere Weichgewebestrukturen sind

nicht nachweisbar.

Es ließen sich herdförmige geringfügige

Grundstrukturzerstörungen von Knochen-

trabekeln nachweisen. Mit histochemischer

PAS Reaktion konnten fokale Kolonien von

Pilzen (Abb. 4A) nachgewiesen werden, die

offensichtlich an den zerstörerischen Pro-

zessen teilgenommen haben. In der Nähe

von Pilzkolonien zeigten sich in den Kno-

chentrabekeln vermehrt Tunnelierungen

(vermutlich Pilz- oder Algenfraßgänge, Abb.

4B) mit kleinerem Durchmesser als die La-

kunen von Knochenzellen, die sich über

mehrere parallele Schnittstufen nachweisen

ließen und von der Größe her gut zur Grö-

ße von Pilzhyphen oder Algenwuchs pas-

sen. Ganz vereinzelt sah man pflanzliche

Reste (Abb. 4C), am ehesten Samen, mit

oberflächlich polarisationsoptisch doppel-

Abb. 4: Histopathologische Nebenbefunde am Knochengewebe des Moorleichnams. (A) Zwischen den Knochenbalken konnten vereinzelte Pilz-

kolonien nachgewiesen werden (PAS Reaktion, Vergrößerung: 200x). (B) In der Nachbarschaft von Pilzkolonien zeigten Knochenbalken vermehrt

Tunnelierungen kleinen Durchmessers, passend zur Größe von Pilzhyphen bzw. Algenfraßspuren (Toluidin Blau Färbung, Vergrößerung: 400x). (C) In

den intertrabekulären Räumen zeigten sich stellenweise pflanzliche Strukturen. (D) In der Polarisationsoptik war eine oberflächliche Zellulose-Kapsel zu

erkennen (Toluidin Blau Färbung, Polarisationsoptik, C und D: Vergrößerung: 400x).

– 94 |

brechender Kapsel, passend zu Zellulose-

haltigem pflanzlichem Gewebe. Da der zur

histopathologischen Untersuchung aufgear-

beitete Knochen bereits fragmentiert wurde,

könnten die pflanzlichen Bestandteile bei

der Manipulation bzw. nach Ausgrabung

oder nachfolgender Fixierung durchaus ar-

tifiziell eingebracht worden sein.

Zusammenfassung

Histologisch konnten bei den Knochenpro-

ben die Kollagenbündel der organischen Kno-

chengrundsubstanz nachgewiesen werden,

die eine regelmäßige lamelläre Grundstruktur

aufwiesen. Es stellte sich sowohl die Cortica-

lis mit Sehnenansatz als auch der Schwamm-

kochen dar, periostale Weichteile waren nicht

erhalten. Zelluläre Strukturen wie Osteo-

zyten oder Knochenmarkzellen waren eben-

falls nicht erkennbar. Zusätzlich stellten sich

pflanzliche Reste und Pilzelemente dar, die

das Knochengewebe möglicherweise auch

erst nach der Ausgrabung kolonisierten.

Anschriften der Verfasser

Priv. Doz. Dr. med. Jozef Zustin

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Institut für Pathologie

Haus O, 26 Raum 275

Martinistr. 52

20246 Hamburg

Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

und

Universität Hildesheim

Institut für Biologie und Chemie

Marienburger Platz 22

31141 Hildesheim

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| 103 –

Analyse des Schienbeinschaftes des „Jungen von Kayhau-

sen“ mittels hochauflösender Computertomographie

J. Mißbach-Güntner, Chr. Dullin, S. Klingner, E. Oplesch, F. Alves,

M. Schultz

nicht-invasive Untersuchung größerer Ske-

lettelemente praktisch unmöglich machen.

Zur Aufnahme müssen die zu analysie-

renden Knochen zersägt werden. Trotzdem

steht der Nutzen eines Mikro-CT-Scans ge-

rade auch für kleine Fragmente außer Frage,

wie beispielsweise die Mikro-CT-basierte Di-

agnose einer fortgeschrittenen Osteomye-

litis an einem Schienbeinfragment von nur

einem Kubikzentimeter Volumen der Moor-

leiche „Esterweger Dose“ eindeutig zeigen

konnte (MISSBACH-GÜNTNER et al. 2010).

Um die linke Tibia des „Jungen von Kayhau-

sen“, einer kindlichen Moorleiche aus der

Weser-Ems-Region, die in die vorrömische

Eisenzeit datiert werden konnte (Übersicht:

BOTH und FANSA 2010), in Gänze zu scan-

nen und dabei nicht auf eine hervorragende

Ortsauflösung verzichten zu müssen, wurde

der Prototyp eines hochauflösenden, prä-

Einleitung

Durch neue, oft experimentelle und somit nur

im präklinischen Bereich einsetzbare bildge-

bende Verfahren erhält die anthropologisch-

forensische Forschung immer wieder neue

Impulse. Aussagen, die beispielsweise mit-

tels innovativer computertomographischer

(CT) Analysen über das Untersuchungsgut

getroffen werden können, stützen dabei je-

doch nicht nur die makroskopischen, kon-

ventionell röntgenologischen und lichtmi-

kroskopisch erhaltenen Ergebnisse. Sie ge-

statten darüber hinaus durch die freie Wahl

der Betrachtungswinkel, der zwei- oder drei-

dimensionalen Darstellungsweisen auch in

verschiedenen Schnittebenen sowie durch

die quantitative Bestimmung der ortsspe-

zifischen Röntgendichten eine völlig neue

Qualität der Information. Dazu zählt unter

anderem die CT-gestützte Knochendichte-

messung, die im Fall des Vergleichs beider

Oberarmbeine der Moorleiche „Esterweger

Dose“ ein Verteilungsmuster der Knochen-

mineraldichte aufwies, wie sie für Rechts-

händer typisch ist (BARVENCIK et al. 2010). Um

hoch aufgelöste Darstellungen von (prä)hi-

storischem Knochenmaterial gewinnen zu

können, werden Mikro-CT-Geräte verwen-

det, die zwar eine Ortsauflösung von unter

10 µm ermöglichen, dabei aber eine Bild-

aufnahme im Bereich von Stunden realisie-

ren und eine vielfach erhöhte Röntgendo-

sis im Vergleich zu klinischen Computerto-

mographen generieren, die nur eine durch-

schnittliche Ortsauflösung von 0,5 mm er-

reichen können (CADEMARTIRI et al. 2009). Bei

der anthropologisch-forensischen Analyse

spielt dieses Charakteristikum jedoch nur

eine untergeordnete Rolle. Viel kritischer

sind die sehr kleinen Gerätekammern vie-

ler Mikro-CT-Geräte zu betrachten, die eine

Abb. 1: Das präklinische Volumen-

CT ermöglicht bei einer Auflösung von

bis zu 150 µm die Aufnahme größerer

Objekte, die auf dem beweglichen Pa-

tiententisch (Stern) gelagert und in die

Gantry eingefahren werden.

– 104 |

klinischen Flächendetektor-Volumen-Com-

putertomographen (Abb. 1) eingesetzt, der

einerseits ein großes Objektvolumen und

dabei Aufnahmezeiten im Bereich von Se-

kunden zulässt und andererseits eine Orts-

auflösung von 150 bis 200 µm erreicht.

Untersuchungsgut und Methode

Für die CT-Analyse stand das linke Schien-

bein der Moorleiche des „Jungen von Kay-

hausen“ zur Verfügung, von dem sich die

oberen zwei Drittel des Schaftes erhalten

hatten (Abb. 2A). Dieses Schaftfragment

wurde mit dem Prototypen des Flächende-

tektor-Volumen-CT (VCT) gescannt, der eine

Entwicklung des General Electric Global Re-

search Centers (Niskayuna, NY, USA) ist.

Im Gegensatz zu üblichen Mikro-CT-Syste-

men, bei denen Röntgenstrahler und Detek-

tor ortsfest sind und die Untersuchungsob-

jekte auf einem Drehteller bewegt werden,

führen bei dem hier beschriebenen VCT-

Sys tem die Röntgenröhre und die Flächen-

detektoren in einer geschlossenen Abtast-

einheit (Gantry) eine miteinander gekop-

pelte Drehbewegung um ein gemeinsames

Rotationszentrum aus (s. Abb. 1). Zu dem

Sys tem gehört ferner ein Netzwerk aus ver-

schiedenen Rechnern, die das Gesamtsys-

tem steuern, sowie die Datenübertragung

und die anschließenden Rekonstruktions-

rechnungen bis hin zur Archivierung realisie-

ren. Das VCT-System wird als Axialsystem

betrieben, d.h. die Datenerfassung erfolgt

längs der Systemachse in voneinander un-

abhängigen Einzelschritten jeweils während

einer 360° umfassenden Rotation der Rönt-

genröhre und des Detektorsystems um das

stationäre Untersuchungsobjekt. Anschlie-

ßend wird bis zur vollständigen Erfassung

des zu untersuchenden Objektvolumens

der Patientenlagerungstisch schrittweise

vorwärts bewegt. Während des Tischvor-

schubs erfolgt keine Exposition.

Der Scan mit einer Ortsauflösung von ca.

150 µm erfolgte mit folgenden Parametern:

Einzeldetektormodus, 80 kVp, 100 mA, 1000

Projektionen pro Rotation in vier Sekunden

und insgesamt drei Schritte zur vollstän-

digen Abdeckung der Tibia. Anschließend

wurde der Datensatz mittels voxtools 3.0.64

Advantage Workstation 4.2 (GE Healthcare)

analysiert.

Da der Unterschenkelknochen des „Jungen

von Kayhausen“ in seiner Mineraldichte er-

heblich reduziert war, eigneten sich normale

Darstellungsprotokolle für die Langknochen

von heute lebenden Patienten nicht. Um ei-

nen sichtbaren Kontrast der sehr röntgen-

schwachen Knochenstruktur zu erzeugen,

wurde ein eigenes Darstellungsprotokoll

„Moor“ etabliert, welches die liegezeitlich

bedingte dunkle Verfärbung des Knochens

virtuell hell abbildet, oder auf vorhandene

Weichgewebsprotokolle wie „BW Lung“,

„Air Structure“ oder „BW Colon“ zurückge-

griffen.

Beurteilung des Erhaltungszustands

und der Morphologie

Die dreidimensionale Darstellung der Tibia

zeigt eine in den proximalen ersten zwei

Dritteln völlig integere Oberfläche des Kno-

chens (Abb. 2A). Der untere Gelenkbereich

fehlt jedoch und wird durch eine teils glatt

geschnittene, teils gebrochene Kante be-

grenzt. Etwa 1 cm oberhalb und parallel zu

dieser Kante imponiert eine weitere Schnitt-

marke, ebenfalls glatt und ohne Hinweise

auf Knochenreaktion (Abb. 2B, C), welches

| 105 –

auf postmortale, möglicherweise beim Torf-

stechen oder im Zuge der Bergung ent-

standene Beschädigungen hinweist. Auf

der ventralen Seite des Schienbeinkopfes

findet sich ein oberflächlich röntgenschwa-

cher Bereich, der als liegezeitlich bedingte

Verdrückung interpretiert werden kann (Abb.

3A). Das Fehlen der aufgrund des kindlichen

Alters noch nicht mit dem Schaft verwach-

senen Gelenkfläche bestätigt die Alters-

schätzung eines älteren Kindes (vgl. HAYEN

1964). Weiterhin ist durch die Abbildung der

knöchernen Oberfläche die Einkerbung ei-

ner Muskelursprungsmarke, der Linea mus-

culi solei, als prominente Struktur und klei-

nere, diskrete Blutgefäßimpressionen gut

Abb. 2: Die dreidimensionale Darstellung des Schienbeinfragmentes

mit einem Darstellungsprotokoll für Weichgewebe zeigt A: den Erhaltungs-

zustand des Knochens in der Übersicht. Das untere Schaftdrittel liegt

nicht mehr vor. Kurz vor der Bruchfläche zeigt sich eine glatte Schnitt-

marke (Pfeil). Maßstab = 2 cm. B, C: In der Vergrößerung stellt sich dieser

Schnitt (Pfeil) ebenso wie die Bruchkante am distalen Fragmentende als

scharfkantig, ohne irgendeine Erosionsspur und somit als postmortale

Beschädigung dar. Maßstab = 0,5 cm.

Abb. 3: Der dreidimensionale Datensatz des Schienbeins des „Jungen

von Kayhausen“ zeigt A: im oberen, vorderen Anteil eine Reduktion der

Knochendichte auf, die im Darstellungsprotokoll ockerfarben dargestellt

wird und als eine liegezeitliche Veränderung interpretiert werden kann. B:

Die obere Oberfläche des Tibiakopfes ist jedoch hervorragend erhalten.

Das Fehlen des oberen Gelenkendes infolge einer noch offenen Wachs-

tumsfuge stützt das angenommene kindliche Alter des Jungen. C, D: Die

exakte Abbildung der Knochenoberfläche lässt die krankhafte Ausbildung

der Muskelmarke (Linea musculi solei, weiße Pfeile) sowie kleinere Blut-

gefäßkanäle (blaue Pfeile) deutlich erkennen. Maßstab = 1 cm.

– 106 |

erkennbar (Abb. 3B-D). Diese Grubenbil-

dung ist als das Ergebnis einer übermäßi-

gen Beanspruchung anzusehen.

Um die Integrität des kompakten Knochen-

gewebes des Schaftes (Compacta) und der

Markhöhle des Schienbeins besser beur-

teilen zu können, wurde das Protokoll „Air

Structure“ auf den VCT-Datensatz ange-

wandt (Abb. 4). Während die dreidimensi-

onale, äußere Ansicht des Knochens einen

homogenen, mit Luft gefüllten Hohlraum ab-

bildet, der der Markhöhle entspricht, zeigt

sich der kompakte Wandbereich der Mark-

höhle dicht und luftleer (Abb. 4A). Erst die

virtuelle sagittale Schnittführung offenbart im

Bereich des eigentlich spongiösen Schien-

beinkopfes eine fokale, röntgendichte Regi-

on (Abb. 4B). Der Anschnitt im Bereich der

Diaphyse ermöglicht zwar eine genaue Ab-

grenzung von äußerer und innerer Generalla-

melle durch die unterschiedliche Dichte von

Knochenbinnenstruktur und Compacta (Abb.

4C), stellt aber gleichzeitig kleinere Luftein-

schlüsse im Bereich des normalerweise kom-

pakten Knochenrandes dar (Abb. 4D, E) und

weist somit auf eine erhebliche Reduktion

der „Kalksalze“ hin (Knochenapatit). Dieser

Befund ist ein wichtiger Hinweis auf die Art

der Knochendestruktion im Rahmen tapho-

nomischer Prozesse (z. B. Lagerung im Moor)

und kann dazu beitragen, historische von re-

zenten Moorleichenfunden abzugrenzen. Die

Darstellung des Knochenschaftes zeigt wei-

terhin einen großen, immer auf der Rücksei-

te des oberen Drittels des Schienbeinschaf-

tes auftretenden Blutgefäßkanal, der mit ei-

ner großen Öffnung (Foramen nutricium) auf

der Knochenrückseite in die kompakte Kno-

chenwandung eintritt und bis in die Mark-

höhle verläuft (Abb. 4E). Dreidimensionale

Anschnitte mit einem konventionellen Dar-

stellungsprotokoll für Weichgewebe lassen

die Compacta dagegen konsequent röntgen-

dicht erscheinen und liefern gleichzeitig einen

Überblick über die Knochenbinnenstruktur

(Abb. 5). Fokale Aufhärtungen innerhalb der

Markhöhle können als postmortal entstan-

dene Sedimentpartikel angesprochen wer-

den (Abb. 5B). Um den Mineralverlust der

Compacta jedoch auch in der Querschnitt-

ebene darstellen zu können, wurden zwei-

dimensionale Querschnitte des Knochen-

schaftes angefertigt (Abb. 6), die besonders

im Bereich des vorderen Schienbeinrandes

(Margo anterior) eine schwammig-poröse

Abb. 4: Das dreidimensionale Darstellungsprotokoll „Air Structure“ ermöglicht die Beurteilung

luftgefüllter Hohlräume des Knochens. A: Auf den ersten Blick erscheint die proximale Tibia im

Inneren homogen mit Luft gefüllt. Die Rindenschicht (Corticalis: Pfeile) hebt sich dagegen dunkler

und damit röntgendichter vom Knocheninneren ab. B: Im virtuellen Anschnitt des Tibiakopfes

ist deutlich ein fokal auftretender Hohlraum zu erkennen (weißer Pfeil), der einem dichten, fest

verfüllten Bereich (blauer Pfeil) gegenüber liegt. C: Im mittleren Schienbeinschaft stellt sich die

Grenze (Pfeile) zwischen dem kompaktem Randbereich des Knochens und dem luftgefüllten

Inneren besonders deutlich dar. D: Im Anschnitt sind auch diskretere Strukturen wie der Ge-

fäßkanal des Foramen nutricium (Pfeil) darstellbar. Maßstab = 1 cm. E: Die Vergrößerung des

Schaftbereichs zeigt neben dem belüfteten Schwammknochen (Spongiosa: Sterne) im Inneren

auch die kompakte Knochenwandung, die jedoch im Laufe der Liegezeit an Integrität verloren

hat und kleinere Lufteinschlüsse aufweist (blaue Pfeile). Der Gefäßkanal (weiße Pfeile) des Fora-

men nutricium kann von der Knochenoberfläche bis zu seiner Mündung in die Markhöhle verfolgt

werden. Maßstab = 1 cm.

| 107 –

Struktur des beim erwachsenen Individuum

kompakt ausgebildeten Bereiches belegen.

Als Ursache könnte ein diagenetischer Pro-

zess angesehen werden, der Hinweise auf

die Qualität des Moorbodens in Bezug auf

die Resorption von Knochensubstanz infolge

des sauren Moorbodens liefern könnte. Tat-

sächlich dürfte es sich aber wohl eher um le-

bensaltersbedingte Veränderungen handeln:

Kindlicher Knochen befindet sich im stetigen

Aufbau. Bei der Neubildung von Knochen-

substanz müssen gleichzeitig ältere Struk-

turen abgebaut werden. Dies bedingt die

Ausbildung zahlreicher Resorptionshöhlen,

die im Querschnittbild in Form kleiner Löcher

auffallen. Zusätzlich könnte bei dem Jungen

von Kayhausen auch noch eine gesteigerte

Ausbildung großer Gefäßkanäle im Sinne ei-

ner Hypervaskularisation vorliegen.

Um die Knochenbinnenstruktur im Bereich

des Schienbeinkopfes näher beurteilen zu

können, wurde dieser von vorne nach hin-

ten (ventral-dorsal) in der dreidimensionalen

Ansicht frontal geschnitten. Die für Kinder

und Jugendliche typischerweise dicht ge-

packte Spongiosa, welche in der Regel bis

weit in den Knochenschaft und somit in

den oberen und unteren Bereich der spä-

teren Markröhre hineinreicht (Abb. 7), wird

auch in dieser Darstellung von hinten durch

ein röntgendichtes, eher mit der Dichte der

Compacta zu vergleichendem Material er-

setzt (Abb. 7D, E). Eine drei- (Abb. 8A-D) und

zwei-dimensionale (Abb. 8E-G) Darstellung

des Schienbeinkopfes in der Querschnitt-

ebene bestätigt die Verfüllung mit röntgen-

dichtem Material im hinteren Bereich des

Knochens, die mit größter Sicherheit als la-

gerungsbedingtes Sediment anzusprechen

ist. Aufgrund der Verteilung des Sediments

ist von einer Rückenlage des „Jungen von

Kayhausen“ während der Liegezeit auszu-

gehen. Die Einlagerung von Sediment in den

Knochen, die durch äußere Inspektion allein

nicht ersichtlich war, macht gleichzeitig den

bidirektionalen Austausch von Knochenmi-

neralien und Bodenmineralien im Zuge des

taphonomischen Prozesses deutlich.

Abb. 5: Dreidimensionale Anschnitte der Diaphyse (A, B), bei der rönt-

gendichte Bereiche hell, röntgenschwache Bereiche dunkel imponieren,

ermöglichen die Unterscheidung von schwammknöcherner, d. h. spongi-

öser Knochenbinnenstruktur (blaue Pfeile) und der kompakten Wandung

der Markhöhle (weiße Pfeile). Gleichzeitig sind dichte Sedimenteinschlüsse

zu beobachten (Stern). Maßstab = 1 cm.

Abb. 6: In zweidimensionalen se-

quentiellen Querschnittbildern (A-D)

des Schienbeinschaftes, in denen

röntgendichte Bereiche hell, röntgen-

schwache Bereiche jedoch dunkel

imponieren, sind neben der spongi-

ösen Knochenbinnenstruktur auch

liegezeitlich bedingte Sedimentein-

schlüsse sichtbar (Sterne). In dieser

Darstellung ist weiterhin die poröse,

wohl diagenetisch veränderte äußere

Oberfläche (Compacta: rote Pfeile) be-

urteilbar, die besonders im Bereich der

Schienbeinvorderkante (Margo anteri-

or) fast schwammig wirkt. Möglicher-

weise liegen hier auch Spuren eines

physiologischen oder pathologischen

Prozesses vor (vgl. Abb. 11). Der Ka-

nal eines Foramen nutricium (blaue

Pfeile) ist punktuell nachvollziehbar.

Maßstab = 0,5 cm.

– 108 |

Abb. 7: Im sequentiellen dreidimensionalen Anschnitt des Tibiakopfes (A-E) lässt sich die dichte

Schwammknochenschicht (Spongiosa) im Knocheninneren (Sterne) bis weit in den Knochenschaft verfol-

gen. Im Frontalschnitt zeigt sich ein röntgendichter, heller Bereich, welcher die Spongiosa völlig verdrängt

und als Produkt der Diagenese interpretiert werden kann. Maßstab = 1 cm. F: In der Vergrößerung sind die

dicht gepackten Knochentrabekel gut darstellbar. Maßstab = 1 cm.

Abb. 8: In der Aufsicht (Abb. 8A) und den nachfolgenden dreidimensionalen sequentiellen Querschnitten

(Abb. 8B-G) ist die röntgendichte, diagenetisch bedingte Veränderung im Sinne einer Verdichtung (Pfeile) im

hinteren Schienbeinbereich gut zu beobachten. Mit zunehmendem Übergang in den weiter unten gelegenen

Schaftbereich nimmt diese Verdichtung ab. Maßstab = 1 cm. E-G: Die zweidimensionale Abbildung von

virtuellen Einzelschnitten lässt darüber hinaus den trabekulären Knochenbinnenaufbau (Sterne) erkennen.

Die Verdichtung zeigt sich in dieser Ansicht als dicht gepackte, völlig röntgendichte Struktur (Pfeile), die in

ihrer Dichte der kompakten Wandung der Markhöhle (Compacta) vergleichbar ist und gleichzeitig infolge

ihrer ausschließlich hinten anzutreffenden Ausbildung für eine Rückenlage der Leiche des „Jungen von

Kayhausen“ während der Liegezeit im Moor spricht. Maßstab = 1 cm.

| 109 –

Pathologisch bedeutsame Befunde

Da die in der Querschnittebene verlau-

fenden Strukturverdichtungen im oberen

Drittel des Schienbeinschaftes einschließ-

lich des Schienbeinkopfes Hinweise auf

Wachstumsstillstände geben können (so

genannte HARRISsche Linien), die auf Stres-

ssituationen zurückzuführen sind (z. B.

Mangelernährung, länger andauernde In-

fektionskrankheiten), wurden „Ray sum“

-Darstellungen, die dem konventionellen

Röntgensummationsbild entsprechen, aus-

gewertet. Obgleich in dieser Darstellungs-

weise das CT dem traditionellen Röntgen-

bild in Brillanz und Kontrast unterlegen ist,

sind die transversalen Streifungen gut zu

erkennen (Abb. 9A, B). Diese HARRISschen

Linien, die auf einem Wachstumsstillstand

und dem nachfolgenden, erneuten Einset-

zen von Knochensubstanz beruhen, können

jedoch auch im dreidimensionalen Anschnitt

verfolgt werden. Hierbei imponieren relativ

kräftig ausgebildete, röntgendichte und da-

mit von dem übrigen Schwammknochen

(Spongiosa) gut differenzierbare quer zur

Knochenlängsachse verlaufende Trabekel-

züge, die sich zu parallelen Linien formieren

(Abb. 9C, D).

Aber auch oberflächlich auf dem Schien-

beinschaft finden sich ungewöhnlich viele

schmalstreifige Impressionen, die in der

Knochenlängsachse angeordnet sind (Abb.

10). Bei näherer Betrachtung zeigen die-

se Einkerbungen die Charakteristika ober-

flächlicher Blutgefäße, obgleich in Anzahl

und Verteilung untypisch (vgl. Abb. 6). Bei

diesem Befund ist an drei verschiedene Sze-

narien zu denken: 1.) lässt eine Vermehrung

feinster Gefäßöffnungen und -impressionen

zunächst immer an eine Vermehrung von

Gefäßen (Hypervaskularisation) denken, die

als morphologisches Merkmal eines reak-

tiven Knochenprozesses angesehen werden

kann (z. B. im Zuge einer Entzündung). Da

es sich bei der Moorleiche jedoch um ein

Kind im Wachstum handelt, könnte es sich

bei der Zunahme von Gefäßen 2.) auch um

einen physiologischen Prozess im Bereich

des normalen Wachstums handeln. 3.) kön-

nen die Gefäßimpressionen im Zuge der Di-

agenese durch postmortalen Abbau der ur-

sprünglichen Oberfläche entstanden sein.

Abb. 9: HARRISsche Linien, die auf Episoden eines temporären Stillstandes des Längenwachs-

tums hinweisen, lassen sich mittels eines CT-Datensatzes sowohl konventionell, als auch räumlich

darstellen. A, B: Mit dem Protokoll „Ray sum“, das dem konventionellem Röntgenbild entspricht,

sind transversale, streifige Aufhärtungen (Pfeile) im oberen Schienbeinschaft zu erkennen, welche

als typische, wenn auch schwache, HARRISsche Linien angesprochen werden können. Maßstab

= 2 cm. C, D: Der dreidimensionale sequentielle Anschnitt zeigt darüber hinaus die Ursache

dieser Linien: Einzelne transversale Knochenbälkchen (Pfeile) weisen eine größere Dichte als

der umgebende Schwammknochen auf und zeugen somit von einer reaktivierten, etwas über

die Norm erfolgenden Mineraleinlagerung nach dem Wachstumsstillstand. Maßstab = 0,5 cm.

– 110 |

Möglicherweise ist das hier zu beobachten-

de Phänomen ein Zusammenspiel der drei

genannten Möglichkeiten.

Aufgrund der hervorragenden Auflösung

des präklinischen VCT werden auch kleinste

Diskreta, wie der Gefäßkanal eines Foramen

nutricium exakt abgebildet und erlauben so

verschiedenste Formen der Darstellung, die

den genauen Verlauf des Kanals, von der äu-

ßeren Knochenoberfläche bis hin zur Mark-

höhle aufzeigen (Abb. 11). Der hier darge-

stellte Kanal entspricht dabei der physiolo-

gischen Norm, die Methode gestattet jedoch

prospektiv auch die Detektion und Evaluati-

on kleinster strukturmorphologischer Verän-

derungen im pathologischen Bereich.

Zusammenfassung

Das linke, unvollständig erhalten gebliebene

Schienbein (Tibia) der eisenzeitlichen Moor-

leiche eines Kindes, das offenbar gewaltsam

getötet wurde und unter der Bezeichnung

„Junge von Kayhausen“ bekannt geworden

ist, wurde mittels hochauflösender, nicht de-

struktiver Volumen-Computertomographie

untersucht. Abgesehen von einer, für viele

Moorleichen typischen Rarefizierung des

Knochenminerals ist das Schienbein her-

vorragend erhalten und repräsentiert alle

strukturrelevanten Aspekte eines Knochens.

Aufgrund der Moorbodenlagerung weist der

Knochen Sedimenteinschlüsse im hinteren

Bereich des Schienbeinkopfes auf. Dies

deutet auf eine Rückenlage der Moorleiche

unter der Liegezeit hin. Über die hohe Orts-

auflösung des Datensatzes konnten eine

Gefäßvermehrung (Hypervaskularisation)

des Schienbeinschaftes, dreidimensional

abgebildete Linien eines verzögerten Län-

Abb. 10: Über die dreidimensionale

Darstellung des Schienbeinschaftes

kann auch die Knochenoberfläche

zuverlässig begutachtet werden. A,

B: Schmale, streifige Impressionen

finden sich über den gesamten Schaft

gleichmäßig verteilt. Maßstab = 1 cm.

C: Im größeren Ausschnitt sind die

parallel zur Schaftachse verlaufenden

Streifen (Pfeile) als oberflächliche Blut-

gefäßkanäle zu erkennen. Am linken

Rand imponiert die Linea musculi solei

als tiefe Grube, die als das Ergebnis

einer übermäßigen Beanspruchung

anzusehen ist. Maßstab = 0,5 cm.

Abb. 11: Durch die hohe Auflösung des an dem Schienbein gewonnenen VCT-Datensatzes

können auch kleinste Diskreta wie ein einzelnes Foramen nutricium und sein Kanal räumlich

dargestellt werden. A: Die Oberflächenstruktur des Schienbeinschaftes zeigt zunächst nur eine

Einkerbung (Pfeil), die zum eigentlichen Foramen nutricium führt. Maßstab = 0,5 cm. B: Der ge-

samte luftgefüllte Blutgefäßkanal (Pfeile) lässt sich mit dem Darstellungsprotokoll „Air Structure“

lückenlos nachvollziehen. Maßstab = 1 cm. C-H: In der dreidimensionalen Schnittführung kann

der Kanal (blaue Pfeile) nun punktuell auf seinem Weg durch die Schaftcompacta bis hin zur

Öffnung in die Markhöhle verfolgt werden. Weiterhin sichtbar sind einzelne röntgendichte Sedi-

mentpartikel (Sterne) und der Verlust an Integrität der kompakten Knochenrandbereiche, welche

sich durch fokale poröse Destruktionen (schwarze Pfeile) darstellen (vgl. Abb. 6). Maßstab = 0,2

cm.

| 111 –

genwachstums (HARRISsche Linien) sowie

der Verlauf eines Blutgefäßkanals (Foramen

nutricium) von der äußeren Knochenoberflä-

che (periostal) bis in die Markhöhle (endo-

stal) exakt dargestellt und beurteilt werden.

Literatur

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BOTH, F., FANSA, M. 2010: Zur Forschungsgeschichte

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M. Fansa, E. Jopp, K. Püschel (Hrsg.), Das Kind

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Püschel, (Hrsg.), Das Kind aus der Esterweger

Dose – Dokumentation einer außergewöhnlichen

Skelett-Moorleiche. Oldenburg 2010, 39-44.

Anschriften der Verfasser

Dr. rer. nat. Jeannine Mißbach-Güntner

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Diagnostische Radiologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

und

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Hämatologie und Onkologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

Christian Dullin

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Diagnostische Radiologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

gen.de

Dipl.-Biol. Susan Klingner

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

tingen.de

Dipl.-Biol. Edith Oplesch

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. med. Frauke Alves

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Hämatologie und Onkologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

und

MPI für experimentelle Medizin

Hermann-Rein-Str. 3

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

– 112 |

Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

und

Universität Hildesheim

Institut für Biologie und Chemie

Marienburger Platz 22

31141 Hildesheim

E-Mail: [email protected]

| 113 –

Histologische Untersuchungen der Haut der Moorleiche

„Junge von Kayhausen“

M. P. Schön, A. Bennemann, St. Emmert, M. Schultz

haut (Subcutis) an. Die Epidermis besteht

ihrerseits aus vier Schichten, dem Stratum

basale (die Basalzellschicht, in der die Zell-

teilung stattfindet), dem Stratum spinosum

(Stachelzellschicht), dem Stratum granu-

losum (Körnerzellschicht) und dem außen

liegenden Stratum corneum (Hornschicht).

1. Einleitung

Im Jahr 1922 wurde im Moor nahe dem nie-

dersächsischen Ort Kayhausen die Leiche

eines gefesselten und erstochenen Jungen

der Altersstufe Infans-II entdeckt. Der etwa

1,20 m große Junge starb nach den bislang

vorliegenden Daten vor 1600 bis 2000 Jah-

ren. Die Weichgewebe der Leiche wurden

durch die konservierenden Bedingungen im

Moor bis heute erhalten. Hierfür werden or-

ganische Chemikalien im Torf, die deutliche

Unterschiede zwischen einzelnen Mooren

aufweisen können, verantwortlich gemacht

(NAUCKE 1968). Die Haut gehört zu den Ge-

weben, deren Morphologie durch Konser-

vierung im Moor gut erhalten werden kann.

Obwohl bereits viele Moorleichen gefunden

wurden und obwohl für die unterschiedlich-

sten Arten archäologischer Mumienfunde

etliche Veröffentlichungen vorliegen (z. B.

AUFDERHEIDE 2003; HESS et al. 1998; RUFFER

und SMITH 1910; SANDISON 1955, 1967), sind

erst wenige detaillierte Untersuchungen zur

mikroskopischen Morphologie der Haut von

Moorleichen publiziert worden. Hierbei ist

die bislang umfangreichste Untersuchung

an der Haut von Moorleichen in einer medi-

zinischen Dissertationsarbeit an der Ruhr-

Universität Bochum durchgeführt worden; in

dieser Arbeit wurde die Haut mehrerer Lei-

chen, die durch Konservierung im Moor er-

halten wurden, untersucht (BECHARA 2001).

Eine Übersicht der Anatomie der menschli-

chen interfollikulären Haut (ohne Unterhaut)

zeigt Abb. 1a. Grundsätzlich besteht die

Haut des Menschen aus drei großen Kom-

partimenten: Die Begrenzung zur Umwelt

bildet die epitheliale Schicht, die Oberhaut

(Epidermis). Darunter schließen sich die bin-

degewebigen (mesenchymalen) Schichten

der Lederhaut (Dermis) sowie der Unter-

Abb. 1: a) Aufbau normaler menschlicher Haut. Die Abbildung zeigt einen mit

Hämatoxylin und Eosin gefärbten Schnitt interfollikulärer Haut. Oberhaut (Epidermis)

und Lederhaut (Dermis) sind gekennzeichnet. Vergrößerung 200x. b) Ungefärbte

Dünnschliffe der Haut des „Jungen von Kayhausen“. Das Präparat lässt anhand der

feineren und aufgelockerteren Faserstruktur das Stratum papillare (gekennzeichnet

mit *) und anhand der groberen und kompakteren Faserstruktur das Stratum reticu-

lare (gekennzeichnet mit **) vermuten. c) Im polarisierten Licht lassen sich ebenfalls

die typischen Anordnungen kollagener Fasern der Dermis erkennen.

– 114 |

Die Epidermis, insbesondere auch deren

Hornschicht, kann je nach Lokalisation am

Körper, Geschlecht, Alter und mechanischer

Beanspruchung unterschiedlich dick ausge-

bildet sein. Normalerweise erneuert sich die

Epidermis innerhalb von etwa 28 Tagen. Die-

ser Zeitrahmen kann bei Erkrankungen der

Haut erheblich verändert sein. Die Hornzel-

len (Keratinozyten) machen mehr als 90%

der epidermalen Zellen aus; neben diesen

kommen in der Epidermis auch Pigment-

zellen (Melanozyten), Langerhans-Zellen,

Merkel-Zellen, Nervenendigungen und

Lymphozyten (weiße Blutkörperchen) vor.

Die Adnexe (Hautanhangsgebilde) gehen

ebenfalls von der Epidermis aus. Zu diesen

speziell differenzierten Teilen des Epithels,

die bereits während der Embryonalentwick-

lung angelegt werden, gehören Schweißdrü-

sen, Haarfollikel, Talgdrüsen und Nägel. Als

wichtige Strukturelemente enthält die Epi-

dermis Keratinfilamente. Diese Proteine sind

charakteristisch für Epithelien. Daher kann

die Detektion von Keratinen in der Histolo-

gie zum Nachweis epithelialer Strukturen

genutzt werden. Die Dermis, die sich nach

innen an die Epidermis anschließt und mit

dieser durch eine Basalmembran verbun-

den ist, besteht lichtmikroskopisch aus zwei

Schichten, dem äußeren Stratum papillare,

das aus feineren und etwas dünneren Kol-

lagenfasern aufgebaut ist sowie dem aus

kompakteren Kollagenfaserbündeln beste-

henden Stratum reticulare. Neben den do-

minanten Kollagenfasern befinden sich in

der Dermis weitere extrazelluläre Bestand-

teile, beispielsweise elastische Fasern und

Retikulinfasern. Die dominanten Zellen in

der Dermis sind Fibroblasten (Bindegewebs-

zellen). Daneben finden sich jedoch zahlrei-

che weitere Zelltypen, beispielsweise Mast-

zellen, Lymphozyten, dendritische Zellen,

Makrophagen, Endothelzellen und Nerven-

fasern. Die Unterhaut besteht aus fibrösen

Septen und zwischen diesen Septen läpp-

chenartig angeordneten Fettzellen. Auch in

diesem Kompartiment finden sich regelhaft,

jedoch zahlenmäßig in geringerem Ausmaß,

weitere Zelltypen, wie Endothelzellen, Lym-

phozyten und Makrophagen. Die Unterhaut

stellt die Verbindung zu Muskelfaszien und

Periost dar.

Wir berichten hier über histologische Unter-

suchungen der Haut des „Jungen von Kay-

hausen“. Dabei haben wir zunächst Dünn-

schliffe angefertigt. Andere Teile der links-

seitigen Bauchhaut- und der linksseitigen

Gesichtshaut wurden rehydriert oder direkt

als Feuchtpräparat weiter verarbeitet und

histochemisch sowie immunhistologisch

untersucht.

2. Material und Methoden

2.1. Dünnschliffe

Kleine Proben aus der linksseitigen Bauch-

und Gesichtshaut sowie einige Haare (aus

Gefäß Nr. 12) wurden für die lichtmikrosko-

pische Untersuchung entnommen. Von die-

sen wurden nach einem bereits beschrie-

benen Verfahren (SCHULTZ 1988; SCHULTZ und

DROMMER 1983) ungefärbte Dünnschliffe für

die Untersuchung im einfachen und polari-

sierten Durchlicht angefertigt.

2.2. Schnittpräparate für die konventionelle

Gewebeuntersuchung

Bei der histologischen Untersuchung konnte

sowohl auf Trocken- als auch auf Feucht-

präparate zurückgegriffen werden. Trockene

Hautfragmente der Moorleiche wurden für

| 115 –

48 h bei 4°C schonend in Phosphat-gepuf-

ferter Kochsalzlösung (PBS) rehydriert. Die

Fragmente wurden anschließend für 24 h in

Paraformaldehyd-Lösung (PFA, 4%) fixiert.

Fixierte Gewebestücke wurde nach histolo-

gischen Standard-Methoden entwässert (Al-

kohol- und Xylolreihe) und in Paraffin einge-

bettet. Schnitte dieser Paraffin-Präparate (3

µm dick) wurden histochemischen und im-

munhistologischen Färbungen unterzogen.

2.3. Histologische Färbungen

Färbungen mit Hämatoxylin und Eosin so-

wie Elastica- und Giemsa-Färbungen wur-

den nach etablierten Standard-Verfahren

durchgeführt. Weitere Paraffinschnitte wur-

den gemäß Herstellerprotokoll mit dem ge-

gen Keratine gerichteten murinen Antikörper

AE1/AE3 (DAKO, Hamburg) gefärbt.

3. Ergebnisse

Um die Gewebearchitektur frisch eingebet-

teter menschlicher Haut (Abb. 1a) mit den in

der Haut des „Jungen von Kayhausen“ noch

erhaltenen Strukturen zu vergleichen, wurden

zunächst Dünnschliffe einiger Hautfragmente

angefertigt. Ohne weitere Anfärbung konnte

an diesen Präparaten im einfachen Durch-

licht (Abb. 1b) sowie polarisationsmikrosko-

pisch (Abb. 1c) die von frisch eingebetteter

Haut bekannte typische Architektur der Le-

derhaut mit wellenförmigen, parallel angeord-

neten Fasern dargestellt werden. Fokal er-

schien sogar eine Unterscheidung zwischen

retikulärer und papillärer Dermis möglich

(Abb. 1b). Dabei entsprach die feinere, fili-

grane Faserstruktur in der Haut des „Jungen

von Kayhausen“ der von frisch eingebetteter

menschlicher Haut bekannten Architektur der

papillären Dermis, während die kompaktere

Schicht mit dickeren Kollagenfaserbündeln

der retikulären Dermis zugeordnet wurde (in

Abb. 1b mit * bzw. ** gekennzeichnet). Die-

se morphologische Unterscheidung kann al-

lerdings nicht mit letzter Sicherheit erfolgen.

Der größte Teil des erhaltenen Hautgewebes

des „Jungen von Kayhausen“ wies kom-

paktere und dickere Fasern auf, welche der

Architektur der retikulären Dermis entspre-

chen. Epitheliale Strukturen einschließlich der

Hautanhangsgebilde (Haarfollikel, Talg- oder

Schweißdrüsen) waren in den Dünnschliffen

nicht nachweisbar. Ebenso konnten Anteile

der Subcutis nicht dargestellt werden. Die

Haare zeigten runde bis ovaläre Querschnitte

mit in wenigen Haaren nachweisbaren Mark-

kanälen (Abb. 2).

Zur histologischen Untersuchung wurden

Fragmente der als Feuchtpräparat konser-

vierten Haut (Abb. 3) sowie Trockenpräpa-

rate, die für 48 Stunden in Phosphat-gepuf-

ferter Kochsalz-Lösung rehydriert wurden

(Abb. 4), aufgearbeitet. Vor der Einbettung in

Paraffin wurden die Präparate in Paraform-

aldehyd-Lösung fixiert. Die Schnitte wur-

den sowohl nativ als auch nach Anfärbung

mit Hämatoxylin und Eosin mikroskopisch

untersucht. Einige Paraffinschnitte wurden

zusätzlich Elastica-Färbungen, Giemsa-

Färbungen oder immunhistochemischen

Färbungen mit dem gegen Zytokeratine ge-

richteten Antikörper AE1/AE3 unterzogen.

Ohne weitere Anfärbung wiesen die Proben

eine bräunlich-gelbe Eigenfärbung auf, die

bereits Einzelheiten der Gewebearchitektur

erkennen ließ. Die morphologischen Einzel-

heiten, die in den mit Hämatoxylin und Eosin

gefärbten Proben (Abb. 3 und 4) erkennbar

waren, waren weitgehend bereits in den un-

gefärbten Proben sichtbar, traten nach An-

– 116 |

färbung allerdings etwas deutlicher hervor.

Ähnlich wie in den Dünnschliff-Präparaten

waren auch in den angefärbten Paraffin-

schnitten die Faserstrukturen des kollage-

nen Bindegewebes exzellent erhalten. Ver-

einzelt waren zwischen den Faserbündeln

eingelagerte pflanzliche Gewebe nachweis-

bar (in Abb. 3 durch einen Pfeil gekennzeich-

net).

In der Giemsa-Färbung fanden sich keine

zusätzlich erkennbaren Strukturen, insbe-

sondere keine eindeutig identifizierbaren

zellulären Elemente. Elastische Fasern, die

in frisch eingebetteter Haut als filigrane, dun-

kelbraun angefärbte Strukturen zwischen

den Kollagenfasern leicht erkennbar sind,

waren durch die Elastica-Färbung weder im

Feucht- (Abb. 3, rechts) noch im Trockenprä-

parat (Abb. 4, rechts) der Haut des „Jungen

von Kayhausen“ nachweisbar. Zur Bestäti-

gung, dass eindeutig epitheliale Strukturen

in der Haut des „Jungen von Kayhausen“

nicht erhalten sind, wurden Paraffinschnitte

mit dem gegen sämtliche Zytokeratine ge-

richteten Antikörper AE1/AE3 immunhisto-

chemisch angefärbt. Hierbei fand sich keine

Abb. 2: Dünnschliff der Kopfhaare

des „Jungen von Kayhausen“. Man

erkennt ovaläre Querschnitte und an

einigen Stellen kleinlumige Markkanä-

le. Der Rahmen im oberen Bild kenn-

zeichnet das Areal, das in der unteren

Fotografie stärker vergrößert ist. Ver-

größerung 200x bzw. 400x.

Abb. 3: Histologische Aufarbeitung

der Rumpfhaut (linksseitige Bauch-

haut) des „Jungen von Kayhausen“,

Paraffin-eingebettetes Feuchtpräpa-

rat. Die linke Fotografie zeigt einen

Schnitt, der mit Hämatoxylin und Eo-

sin gefärbt wurde. Im rechten Bildteil

ist die Elastica-Färbung gezeigt (der

Pfeil weist auf zwischen den Fasern

eingeschlossenes Pflanzenmaterial

hin). Vergrößerung 100x.

| 117 –

Reaktivität mit diesem Standard-Reagens

(Abb. 4, Mitte). Anteile des subkutanen Ge-

webes ließen sich auch in den gefärbten Par-

affinschnitten nicht nachweisen.

4. Diskussion

Die histologische Untersuchung der Haut

des „Jungen von Kayhausen“ zeigte, dass

die Struktur des kollagenen Bindegewebes

in der Dermis exzellent erhalten und durch-

aus mit der Gewebearchitektur frisch ein-

gebetteter menschlicher Haut vergleichbar

war. Die Struktur des dermalen Bindegewe-

bes war bereits in ungefärbten Präparaten

durch die Eigenfärbung des Gewebes nach-

weisbar und konnte durch histochemische

Anfärbung noch akzentuiert werden. Ähnlich

gute Darstellungen der Gewebearchitektur

wurden durch Dünnschliffe des nicht rehy-

drierten Gewebes erreicht. Damit entspra-

chen unsere Ergebnisse weitgehend einer

früheren Studie an der Haut des „Jungen

von Kayhausen“ sowie anderen Moorlei-

chen (BECHARA 2001). Der Erhaltungszustand

der dermalen Gewebearchitektur erwies

sich sogar als noch etwas besser, als bei

der Moorleiche „Moora“, die von uns kürz-

lich untersucht wurde (SCHÖN et al. 2011).

Abb. 4: Histologische Aufarbeitung der Rumpfhaut (linksseitige Rumpfhaut) des „Jungen von Kayhausen“, Schnitt von rehydriertem Trockenmaterial.

Der linke Schnitt wurde mit Hämatoxylin und Eosin gefärbt; der mittlere Schnitt wurde immunhistochemisch mit einem gegen Zytokeratine gerichteten

Antikörper gefärbt und der rechte Schnitt zeigt die Elastica-Färbung. Vergrößerung 100x.

– 118 |

Die gute Konservierung dermaler Struktu-

ren bei Moorleichen kann plausibel durch

folgende Hypothese erklärt werden: Das

im Torf enthaltene Polysaccharid Sphagnan

weist antimikrobielle und konservierende Ei-

genschaften auf (PAINTER 1995). Es kann am

Anfang einer komplexen Folge chemischer

Umsetzungen, die als Maillard- oder Mela-

noidin-Reaktion zusammengefasst werden,

stehen (VAN DER SANDEN 1996). Über mehrere

Zwischenschritte reagiert Sphagnan dabei

zu Humussäure, wobei beide Verbindungen,

Humussäure und Sphagnan, Calcium und

Stickstoff binden können. Es ergibt sich ein

zweifacher Netto-Effekt: Durch Humussäu-

re wird einerseits die Haut gegerbt, ähnlich

wie bei der Lederherstellung. Zusätzlich wird

den an der Zersetzung des Gewebes betei-

ligten Bakterien der für ihr Wachstum not-

wendige Stickstoff entzogen.

Bis auf vereinzelte pflanzliche Einlagerungen

(Torfreste) zwischen den dermalen Kollagen-

fasern waren keine weiteren Strukturen in der

Haut des „Jungen von Kayhausen“ erkenn-

bar. Frühere histologische Untersuchungen

an Mumien, die durch andere Einflüsse kon-

serviert wurden, ergaben ähnliche Befunde:

auch bei diesen fand sich häufig relativ gut

erhaltenes Bindegewebe, jedoch kaum erhal-

tene zelluläre Elemente (TURNER und HOLTOM

1981). Innerhalb des dermalen Bindegewe-

bes des „Jungen von Kayhausen“ selbst wa-

ren mit den hier angewandten Methoden wei-

tere Strukturen, insbesondere elastische Fa-

sern, nicht nachweisbar. Auch dieser Befund

bestätigte frühere Berichte an dieser sowie an

anderen Moorleichen (BECHARA 2001). Elasti-

sche Fasern scheinen demnach trotz Konser-

vierung im Moor keinen Bestand zu haben.

Alternativ könnte man über eine Veränderung

ihres Färbeverhaltens spekulieren.

Dass kollagene Faserstrukturen durch ver-

schiedene Arten der Mumifizierung bzw.

Konservierung gut erhalten werden kön-

nen, ist bereits mehrfach gezeigt worden.

Ein bekanntes Beispiel hierfür ist „Ötzi“ oder

der „Tyrolean Ice Man“ (WILLIAMS et al. 1995).

Durch die mehr als 5000 Jahre andauernde

Konservierung von „Ötzi“ im Eis der Alpen

wurden die Struktur und Anordnung der der-

malen Kollagenfasern ebenfalls sehr gut er-

halten. Die Abnahme des Proteinanteils der

Haut von „Ötzi“ lässt sich möglicherweise

durch partielle Denaturierung kollagener Fa-

sern erklären (WILLIAMS et al. 1995). Darüber

hinaus blieben epidermale Strukturen von

„Ötzi“, im Gegensatz zum „Jungen von Kay-

hausen“ und anderen Moorleichen, teilwei-

se erhalten (HESS et al. 1998; BECHARA 2001;

SCHÖN et al. 2011).

Manche molekularen Bestandteile der Haut

von Moorleichen können auf Ebene der Ami-

nosäuren erhalten bleiben (STANKIEWICZ et al.

1997). Wenn die Gewebekonservierung bei

Mumien hinreichend gut ist, können dabei

durchaus auch antigene Determinanten für

immunhistochemische Untersuchungen er-

halten sein. Dies wurde tatsächlich bereits

bei verschiedenen Mumien, die auf unter-

schiedliche Weise konserviert wurden, nach-

gewiesen (FULCHERI 1995; HOYLE et al. 1997;

WESER und KAUP 1994; WICK et al. 1980). Al-

lerdings waren antigene Epitope des Kolla-

gen Typ IV in früheren Untersuchungen an

Moorleichen nicht nachweisbar (BECHARA

2001; STÜCKER et al. 2001). Ebenso konnte

in unserer Untersuchung mit einem für die

histologische Routine-Diagnostik validierten

Antikörper gegen Zytokeratine in der Haut

des „Jungen von Kayhausen“ keine Re-

aktivität detektiert werden. Dies bestätigte

das bereits in den histochemischen Unter-

| 119 –

suchungen festgestellte Fehlen epithelialer

Anteile in der Haut des „Jungen von Kay-

hausen“.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass

bereits mit histochemischen Standardfär-

bungen in der Haut des „Jungen von Kay-

hausen“ sehr gute Darstellungen der erhal-

tenen kollagenen Faserstruktur erzielt wer-

den konnten. Andere Kompartimente oder

zelluläre Elemente waren hingegen nicht

nachweisbar.

Zusammenfassung

Die Weichgewebe der etwa 1600 bis 2000

Jahre alten Moorleiche „Junge von Kayhau-

sen“ können aufgrund ihres guten Erhal-

tungszustandes heute noch feingeweblich

genau untersucht werden. Wir haben Tei-

le der Bauchhaut (linksseitig) und der Ge-

sichtshaut (linksseitig) der Leiche, die im

Jahr 1922 im Moor bei Kayhausen in Nieder-

sachsen aufgefunden wurde, mittels Polari-

sationsmikroskopie an Dünnschliffen sowie

durch Histochemie und Immunhistochemie

an Gefrier- und Paraffinschnitten rehydrier-

ter Trockenhaut und am Feuchtpräparat un-

tersucht. Wie bei frischen Biopsien mensch-

licher Haut war bei der Haut des „Jungen

von Kayhausen“ die typische kollagene Fa-

serstruktur der retikulären Dermis sehr gut

erkennbar. Sowohl in den Dünnschliff-Prä-

paraten als auch in den mit Hämatoxylin und

Eosin gefärbten Paraffin-Präparaten konn-

ten darüber hinaus wahrscheinlich Anteile

der papillären Dermis gesehen werden. Die

Unterscheidung der beiden dermalen Kom-

partimente erschien anhand der feineren

und lockerer angeordneten Fasern in der

papillären Dermis im Vergleich zur gröberen

und strafferen Struktur der retikulären Der-

mis möglich. Ungefärbte Haut wies bereits

eine bräunliche Eigenfärbung auf. Verein-

zelt fanden sich Pflanzenteile zwischen den

dermalen Fasern eingelagert. Giemsa- und

Elastica-Färbungen ließen keine weiteren

Strukturen erkennen. Im Gegensatz zu histo-

logischen Präparaten frischer Haut konnten

bei der Haut des „Jungen von Kayhausen“

Reste epithelialer Strukturen einschließ-

lich der Anhangsgebilde (Schweißdrüsen,

Talgdrüsen, Haarfollikel) nicht nachgewie-

sen werden. Ebenso konnten mit keiner der

verwendeten Methoden zelluläre Strukturen

eindeutig identifiziert werden.

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Anschriften der Verfasser

Prof. Dr. med. Michael P. Schön

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Dermatologie, Venerologie und

Allergologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

gen.de

| 121 –

Anette Bennemann

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Dermatologie, Venerologie und

Allergologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

tingen.de

Prof. Dr. med. Steffen Emmert

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Dermatologie, Venerologie und

Allergologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

und

Universität Hildesheim

Institut für Biologie und Chemie

Marienburger Platz 22

31141 Hildesheim

E-Mail: [email protected]

| 123 –

Licht- und rasterelektronenmikroskopische Untersuchungen

an Gewebsproben der Moorleiche von Kayhausen

M. Schultz, J. Zustin, J. Nováček, E. Jopp, K. Püschel, S. Klingner, E. Oplesch

dieser Moorleiche unter Berücksichtigung

der Auswirkungen der Taphonomie und der

Diagenese zu überprüfen und zu charakteri-

sieren sowie den anhand der Ergebnisse der

makroskopischen Untersuchung (OPLESCH et

al. 2011, in diesem Band) geäußerten Ver-

dacht auf Blutarmut (Anämie) und auf einen

chronischen Vitamin-C-Mangel (Skorbut)

bzw. einen unbestimmten Entzündungspro-

zess des Knochens zu erhärten oder zu wi-

derlegen und weitere mögliche Krankheiten,

für die makroskopisch kein Hinweis bestand,

zu diagnostizieren. Weiterhin sollte der Ver-

such unternommen werden, das Lebensalter

dieses Knaben mit der histomorphometri-

schen und der histomorphologischen Me-

thode genauer zu bestimmen.

Material und Methoden

Grundsätzlich sollte bei der für eine mikro-

skopische Untersuchung notwendigen Pro-

benentnahme die Leiche des Jungen, die

mittlerweile aufgrund verschiedener Unter-

suchungsgänge – besonders in den Jahren

1952 und 1996 – in ihrem Bestand etwas

gelitten hat, soweit wie möglich geschont

werden. Deshalb wurden auch nur von aus-

gewählten Geweben kleinformatige Proben

mit der größtmöglichen Sorgfalt nach vorhe-

riger Dokumentation des heute vorliegenden

Befundes genommen. Im Einzelnen wurden

für die lichtmikroskopische Untersuchung

je eine Probe aus der Gesichts- und der

Bauchhaut, mehrere Haarproben (beinhal-

tet ein kleines Büschel von 27 sehr kurzen

Haarbruchstücken, die quergeschliffen wur-

den, und drei Einzelhaare, die längsgeschlif-

fen wurden, sowie drei Haare für die raster-

elektronenmikroskopische Analyse) und eine

Probe aus etwa der Schaftmitte des linken

Einleitung

Die mikroskopische Untersuchung von

Moorleichengeweben ist ein vergleichswei-

se neues Arbeitsfeld, zu dem aber schon

einige sehr informative Veröffentlichungen

vorliegen (z. B. BECHARA 2001). Da Skelette

von Moorleichen in der Regel stark demine-

ralisiert aufgefunden werden und Weichge-

websstrukturen – und hier vor allem die Haut

– den Umständen entsprechend sehr gut

erhalten sein können, müssen andere Maß-

stäbe an die Anfertigung mikroskopischer

Präparate (z. B. Mikrotom-Schnitte, Dünn-

schliffe) und deren Auswertung angelegt

werden, als es bei der mikroskopischen

Befundung archäologischer Skelette und

Mumien der Fall ist. Der Fall des „Jungen

von Kayhausen“ beinhaltet aber auch noch

aus einem anderen Grund eine zusätzliche

Schwierigkeit: Die Leiche des Jungen wur-

de bis vor kurzem jahrzehntelang, genauer

gesagt seit 1922, in einer wässerigen For-

malinlösung zwecks besserer Konservie-

rung der bei ihrer Auffindung hervorragend

erhaltenen Weichgewebsstrukturen (z. B.

Haut, Muskeln, Blutgefäße, mehrere innere

Organe) aufbewahrt. Diese Art der Konser-

vierung hat natürlich die Demineralisierung

des ebenfalls ursprünglich fast vollständig

erhaltenen Skeletts erheblich gefördert, so

dass heute von vielen Knochen nur noch

Reste und dann meist nur noch das Kno-

chenkollagen erhalten geblieben sind (vgl.

ZUSTIN und SCHULTZ 2011, in diesem Band).

Deshalb stellte die licht- und rasterelektro-

nenmikroskopische Untersuchung verschie-

dener Gewebe, die der Moorleiche des „Jun-

gen von Kayhausen“ entnommen worden

waren, eine gewisse Herausforderung dar.

Ziel der Untersuchung war es, den Erhal-

tungszustand der verschiedenen Gewebe

– 124 |

Schienbeins (ganzer Querschnitt) entnom-

men. Nach dem von Schultz und Brandt ent-

wickelten Verfahren (SCHULTZ 1988; SCHULTZ

und DROMMER 1983) wurden von den vier

Proben Knochendünnschliffe in den Stärken

von 50µm und 70µm hergestellt, die im ein-

fachen und polarisierten Durchlicht, teilwei-

se unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot

1. Ordnung (Quarz) als Kompensator, analy-

siert wurden. Alle Proben wurden nicht ge-

färbt, die Schienbeinproben nicht entkalkt.

Der Schienbeinquerschnitt wurde auch für

die histomorphologische und die histomor-

phometrische Untersuchung herangezogen

(KERLEY und UBELAKER 1978; NOVÁČEK 2011 im

Druck; NOVÁČEK et al. 2008; SCHULTZ 1986,

1997; SCHULTZ et al. 2003; STOUT et al. 1996;

WOLF 1999). Die für die rasterelektronenmi-

kroskopische Untersuchung vorgesehenen

Haarfragmente wurden mit Gold-Palladium

bedampft und mit dem Rasterelektronen-

mikroskop DSM-960 der Firma ZEISS un-

tersucht.

Ergebnisse zum mikromorphologi-

schen Erhaltungszustand (Haut,

Haare und Knochen)

Hier sollen die verschiedenen mikroskopisch

erhobenen Befunde zur Morphologie (ein-

schließlich der Pathologie) sowie zur Tapho-

nomie und Diagenese der verschiedenen

untersuchten Organgewebe (einschließlich

der lagerungsbedingten Demineralisation

des Knochengewebes) vorgestellt werden.

Hautgewebe und Haare sind an der Moor-

leiche des „Jungen von Kayhausen“ in der

Regel gut erhalten, auch unter Berücksich-

tigung der Tatsache, dass an Moorleichen-

haut offenbar immer die äußerste Haut-

schicht, die Epidermis fehlt. Obwohl bei der

makropathologischen Untersuchung des

Knochens der Erhaltungszustand des Ske-

letts als nicht gut beschrieben wurde (OP-

LESCH et al. 2011, in diesem Band), stellt sich

der Erhalt des Knochengewebes auf der mi-

kroskopischen Ebene als recht gut bis sehr

gut dar. Spuren von während der Boden-

lagerung aufgetretenem Pilzbefall in Form

so genannter „Bohrkanälchen“ konnten am

Knochen (linkes Schienbein) nicht nachge-

wiesen werden.

Haut

Ergebnisse zur Dünnschnittmikroskopie von

Hautproben an der Moorleiche des „Jungen

von Kayhausen“ haben bereits M. P. Schön

und Mitarbeiter vorgelegt (SCHÖN et al. 2011,

in diesem Band). Hier sollen im Detail die Er-

gebnisse der Dünnschliffmikroskopie vorge-

legt werden, die bei M. P. Schön und Mitar-

beitern (SCHÖN et al. 2011, in diesem Band)

nur angerissen werden konnten. Der Dünn-

schliff aus der Bauchhaut zeigt eine über-

wiegend gut erhaltene und gleichmäßig be-

grenzte Struktur, die eine gegenüber der

Innenschicht etwas dickere Außenschicht

erkennen lässt (Abb. 1: oben). Am rechten

Bildrand ist das Präparat ausgefranst und

die Strukturkontinuität gestört. Kleinere,

meist länglich ausgebildete, spindelförmige

Spalten zwischen den zum Teil verklump-

ten Kollagenfaserbündeln sind als Schrump-

fungsspalten zu interpretieren und gehen

auf einen Trocknungsprozess zurück. Sie

sind also lediglich als ein taphonomisches

Produkt anzusehen. In der mittleren Vergrö-

ßerung (100x) stellen sich die kollagenen

Faserzüge, welche die Zerreißfestigkeit der

Haut bedingen, hervorragend dar (Abb. 2).

Hier wird auch ersichtlich, dass sich von der

gesamten Bauchhaut (Cutis) nur noch die

Dermis, also die Lederhaut erhalten hat und

| 125 –

die äußeren Hautschichten (Epidermis mit

ihren vier Schichten) – offenbar schon wäh-

rend der Moorlagerung – vollständig verlo-

ren gingen. Deshalb wurden Schweißdrüsen

oder deren Ausführungsgänge, Talgdrüsen

und Haarfollikel nicht nachgewiesen. Auch

das Unterhautgewebe (Subcutis) hat sich an

keiner Stelle erhalten. Die Verdichtung der

Kollagenzüge besonders in der Außen-, aber

auch in der Innenzone bedingt die bereits in

der schwachen Vergrößerung (16x) deutlich

sichtbare Strukturbegrenzung (Abb. 1). In

der starken Vergrößerung (400x) sind im ein-

fachen (Abb. 3a) und polarisierten Durchlicht

unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1.

Ordnung (Abb. 3c) allerdings zwischen den

Kollagenfaserzügen sehr kleine Partikel zu

erkennen, die auf den ersten Blick an se-

kundär – beispielsweise aus dem Moorbo-

den – eingewanderte Pflanzenreste denken

Abb. 1: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 50µm). Betrachtung mit dem Mikroskop im einfachen Durch-

licht. Übersicht: Vergr. 16x.

Abb. 2: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 50µm). Ausschnitt aus Abb. 1. Kollagene Faserbündel der Dermis. Vergr. 100x. Betrachtung mit dem

Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung

(Quarz).

– 126 |

lassen. Bei der Betrachtung im einfachen

polarisierten Durchlicht (Abb. 3b) sind die-

se Strukturen nicht mehr so deutlich nach-

weisbar. Tatsächlich dürfte es sich bei die-

sen Strukturen um ursprünglich körpereige-

ne Gewebsreste – also um zusammengesin-

terte Bindegewebszellen bzw. Zelltrümmer

– handeln und nicht um sekundär während

der Liegezeit im Moor in die Leiche einge-

wanderte pflanzliche Reste. Dieser Befund

entspricht auch der normalen Anatomie der

Haut, da in der Dermis außer den netzar-

Abb. 3: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 50µm). Ausschnitt aus Abb. 2. Kollagene Faserbündel der

Dermis. Pfeile: fragliche Zelltrümmer. Vergr. 400x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durch-

licht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot

1. Ordnung (Quarz).

Abb. 4: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 70µm). Gestauchte kollagene Faserbündel der Dermis. Vergr. 100x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a)

im einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).

| 127 –

tig angeordneten kollagenen Faserbündeln

auch zahlreiche Zellen (z. B. Bindegewebs-

zellen, z. B. Fibroblasten) zu finden sind. In

der mittleren Vergrößerung (100x) ist anhand

der Anordnung der Kollagenfaserzüge zu er-

kennen, dass die Haut bei der Bergung der

Leiche, aber sicherlich auch während der

verschiedenen Umlagerungen im Museum,

erheblich gestaucht und auseinander gezo-

gen wurde (Abb. 4).

Wie bei der Bauchhaut hat sich auch im Ge-

sichtsbereich nur die Dermis erhalten. Der

Dünnschliff durch die Gesichtshaut, die sich

etwas dünner als die zuvor beschriebene

Bauchhaut darstellt (Abbildungen 1 und 5

weisen nicht denselben Maßstab auf: s. Le-

gende), zeigt eine deutliche Gliederung der

Haut in drei Schichten (Abb. 5). In der Mitte

trennt eine „zusammengebackene Schicht“

kollagener Faserbündel zwei weniger dichte,

geradezu lockere Schichten gegeneinander

ab. Die oberflächliche dieser beiden Schich-

ten (Abb. 6: oben) weist einen etwas locke-

Abb. 5: Dünnschliff der Gesichtshaut (Stärke 50µm). Betrachtung mit dem Mikroskop im ein-

fachen Durchlicht. Übersicht: Vergr. 25x.

Abb. 6: Dünnschliff der Gesichtshaut (Stärke 50µm). Ausschnitt aus Abb. 5. Kollagene Faserbündel der

Dermis. 1 = Schicht mit lockerem Aufbau (fragliches Stratum papillare), 2 = „zusammengebackene Schicht“

kollagener Faserbündel, 3 = Schicht mit dichterem Aufbau (fragliches Stratum reticulare) Vergr. 100x. Be-

trachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten

Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).

– 128 |

reren Aufbau auf als die tiefe Schicht (Abb.

6: unten). Dieser morphologische Befund

lässt sich möglicherweise mit der Schich-

tung der Lederhaut erklären (vgl. SCHÖN et al.

2011, in diesem Band): Die äußere Schicht

der Dermis, das Stratum papillare, ist etwas

feiner und lockerer aufgebaut (Abb. 7) als

das tiefer gelegene Stratum reticulare, das

sich mehr aus dichteren Kollagenfaserbün-

deln zusammensetzt.

Haare

Von einzelnen Haaren und einem kleinen

Haarbüschel wurden Längs- und Quer-

schliffe angefertigt und rasterelektronenmi-

kroskopische Präparate hergestellt. Schon

in der Übersicht im Lichtmikroskop (100x)

ist zu erkennen, dass die Haarquerschnit-

te unterschiedlich groß und unterschiedlich

geformt sind (Abb. 8). Dies bestätigt sich

auch in der stärkeren Vergrößerung (400x),

in der auffällt, dass die normale anatomische

Haarstruktur teilweise verschwunden ist

bzw. sich nur verwaschen darstellt (Abb. 9).

Längsschliffe durch zwei Haare belegen die

schon im Querschliff gemachten Beobach-

tungen (Abb. 10-12). Das Haarinnere ent-

spricht nicht dem morphologischen Zustand

wie es bei einem Kinderhaar zu erwarten

wäre: Der Aufbau von Mark und Rinde erin-

nern eher an das Haar eines alten Menschen

(Abb. 10c, Abb. 11c). Auch die rasterelektro-

nenmikroskopische Begutachtung verstärkt

diesen Befund (Abb. 13). Diese Einflüsse der

Haarstruktur kann aber möglicherweise auf

taphonomische Veränderungen zurückge-

führt werden, die sich mit der Lagerung im

Moorboden erklären lassen. Einige Haare

besitzten einen Haarschaft, der an seiner Au-

Abb. 7: Dünnschliff der Gesichtshaut (Stärke 50µm). Ausschnitt aus Abb. 6. Kollagene Faserbündel der

locker aufgebauten Schicht (fragliches Stratum papillare). Vergr. 400x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a)

im einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung

(Quarz).

Abb. 8: Dünnschliff (quer) durch ein kleines Haarbüschel (Stärke 50µm). Betrachtung mit dem

Mikroskop im einfachen Durchlicht. Übersicht: Vergr. 100x.

| 129 –

ßenfläche nicht mehr die charakteristische

Schuppenstruktur erkennen lässt (Abb.

13a), was wohl als Taphonomie-bedingtes

Zeichen angesehen werden kann, während

andere Haare eine völlig normale Oberfläche

mit der charakteristischen Schuppenaus-

bildung aufweisen (Abb. 13b). Querschnitte

von Haaren des „Jungen von Kayhausen“

Abb. 10: Dünnschliff (längs) durch ein Haar (Stärke 50µm). Haarschaft mit abschilfernden Schuppen (Pfei-

le). Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht. Vergr. 100x; b) im polarisierten Durchlicht

unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz). Vergr. 100x; c) im polarisierten Durchlicht

unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz). Vergr. 200x.

Abb. 9: Dünnschliff (quer) durch ein kleines Haarbüschel (Stärke 50µm). Ausschnitt aus Abb. 8. Haar-

schäfte unterschiedlicher Größe, Form und Erhaltung. Vergr. 400x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im

einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung

(Quarz).

– 130 |

zeigen im Rasterelektronenmikroskop eben-

falls ein zusammengesintertes Inneres (Abb.

14) und zwar, ohne dass ein Zusammenhang

zwischen schlecht (Abb. 14a) und gut erhal-

tener Außenfläche (Abb. 14b) besteht. Eine

vermehrte Loslösung von Schuppen an der

Haaroberfläche kann sowohl im Licht- (Abb.

10a-11b) als auch im Rasterelektronenmi-

kroskop (Abb. 15) beobachtet werden (vgl.

Abb. 13b: Normalbefund mit eng dem Haar-

schaft anliegenden Schuppen). Es konnten

auch in einigen Fällen die Haarenden unter-

sucht werden, während Haarwurzeln nicht

nachgewiesen wurden. So fanden sich post-

mortal beschädigte Haarspitzen (Abb. 16a),

aber auch Haarenden, die wohl im Zuge

früherer wissenschaftlichen Bearbeitung

durch Schnittspuren (Messer, Schere) ge-

kennzeichnet wurden (Abb. 16b).

Es fällt auf, dass die Haare sehr unterschied-

lich starke Spuren einer Beschädigung auf-

weisen, die sicherlich zum Teil auf die Lage-

rung im Moorboden, aber zum Teil auch auf

Schädigungen während der verschiedenen

Untersuchungsgänge in den letzten Jahr-

zehnten zurückzuführen sind. Eine sichere

Zuordnung der Beschädigungen ist nur in

einigen Fällen möglich: Kleine Höhlende-

fekte im Haarschaft infolge von Pilzwachs-

tum oder vielleicht auch anderen Mikroorga-

nismen (Abb. 12) und rezente Schnittspuren

(Abb. 16b).

Abb. 11: Dünnschliff (längs) durch ein Haar (Stärke 70µm). Haarschaft mit abschilfernden Schuppen (Pfeile). Vergr. 100x. Betrachtung mit dem Mikro-

skop: a) im einfachen Durchlicht; b) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).

Abb. 12: Dünnschliff (längs) durch ein Haar (Stärke 70µm). Haarschaft mit durch Pilzwuchs verursachten Höhlen (Pfeile). Vergr. 100x. Betrachtung mit

dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht; b) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).

| 131 –

Abb. 13: Rasterelektronenmikroskopische Präparate. a) diagenetisch geschädigter Haarschaft (Schuppen

nicht mehr sichtbar). Vergr. 1.000x; b) gut erhaltener Haarschaft (Schuppen sichtbar). Vergr. 500x.

Abb. 14: Rasterelektronenmikroskopische Präparate. Haarquerschnitt mit zusammengesintertem Inneren:

a) bei schlecht erhaltener Oberfläche (Schuppen fehlen). Vergr. 2.000x; b) bei gut erhaltener Außenfläche

(Schuppen vorhanden). Vergr. 700x.

Abb. 15: Rasterelektronenmikroskopische Präparate. Haarschaft mit teilweiser Schuppenablösung und

Resten organischer Auflagerung: a) Vergr. 500x; b) Vergr. 3.000x.

– 132 |

Knochen

Es wurde eine Probe aus dem linken Schien-

beinschaft für die lichtmikroskopische Un-

tersuchung entnommen, aus der zwei Dünn-

schliffe unterschiedlicher Stärken angefer-

tigt wurden (Abb. 17 und Abb. 18). Das Kno-

chengewebe ist sehr stark demineralisiert.

Die organische Knochenmatrix – und hier

vor allem das Knochenkollagen – hat sich

aber hervorragend erhalten. Die beim Absä-

gen der noch nicht eingebetteten Probe vom

Knochenschaft erfolgten Risse und Absplei-

ßungen der äußeren Knochenschichten vom

kompakten Schaft (Abb. 17 und: Abb. 8 in

OPLESCH et al. 2011, in diesem Band) sind ein

sehr starker Hinweis auf die fast vollstän-

dige Demineralisation des Knochens. Diese

faserartigen Abspaltungen sind in der Re-

gel bei vollständig mineralisiertem Knochen

nicht zu beobachten. Ganz entsprechend

sind die sich nur in den stärkeren Vergrö-

ßerungen (ab 100x) im Querschliff darstel-

lenden, relativ diskreten Oberflächenverän-

derungen zu bewerten (Abb. 17, Abb. 18a

und Abb. 19): Besonders die äußeren Ober-

flächen weisen ein leicht gebrochenes bis

ausgefranstes Aussehen auf. Diese relativ

diskreten Veränderungen an den Außenflä-

chen des Schaftes haben sich wohl erst in-

folge einer mechanischen Beanspruchung

nach der Bergung des Fundes aufgrund

der fehlenden Knochenfestigkeit entwickelt

(z. B. bei der intensiven Untersuchung der

Leiche). Bedingt durch den Demineralisa-

tionsprozess, bei dem die feste Knochen-

substanz (Knochenapatit) schwindet, wird

der Knochen weich. Da durch die Demine-

ralisation die kollagenen Faserbündel nicht

mehr in der schützenden Mineralschicht ein-

gebettet waren, konnten – schon bei ver-

gleichsweise geringer mechanischer Be-

lastung – die Knochenoberflächen relativ

Abb. 16: Rasterelektronenmikroskopische Präparate. a) leicht postmortal beschädigte Haarspitze. Vergr.

1.000x; b) rezentes, mit Messer oder Schere unvollständig durchtrenntes Haar. Vergr. 1.000x.

Abb. 17: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des

linken Schienbeins (Stärke 70µm). Ganzer Dünn-

schliff auf gläsernem Objektträger. Größe s. Maß-

stab: 1 = 16,6mm, 2 = 12mm.

| 133 –

schnell aufgescheuert werden und „ausfran-

sen“. Der Kollagenbestand der gesamten

Compacta ist hervorragend erhalten (Abb.

18b, Abb. 18c und Abb. 20).

Hinweise auf Krankheitsspuren am

linken Schienbeinfragment

Schon bei der makroskopischen Begutach-

tung (OPLESCH et al. 2011, in diesem Band)

fiel auf, dass sich an dem Fragment des

linken Schienbeins diskrete Spuren ver-

schiedener Krankheiten manifestiert haben

könnten. Diesen Spuren wurden mithilfe

der lichtmikroskopischen Diagnostik nach-

gegangen.

Hinweis auf Anämie

Während der makroskopischen Untersu-

chung wurde eine geringgradige Verdickung

der oberen bzw. unteren Schaftenden ver-

schiedener Langknochen beobachtet, die

mit einer möglichen Blutarmut (Anämie) in

Verbindung gebracht wurden (OPLESCH et al.

2011, in diesem Band). Deshalb sollte ei-

ner der am besten erhaltenen Langknochen,

das linke Schienbein, das schon seit mehre-

ren Jahrzehnten nur in einem Präparateglas

in wässeriger Ethanollösung liegt und des-

halb nicht so stark demineralisiert ist wie die

sich noch im Leichenverband befindlichen

Skelettteile, mikroskopisch auf Merkmale

der Anämie untersucht werden.

Abb. 18: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 70µm). Ausschnitt aus Abb. 17. Ganze Schaftwandung. Oben links:

äußere Schaftoberfläche mit äußerer Generallamelle, unten rechts: innere Markröhrenoberfläche mit innerer Generallamelle. Vergr. 100x. Betrachtung

mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1.

Ordnung (Quarz).

Abb. 19: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins mit der äußeren Oberfläche der in-

nenseitlichen Schaftwandung (Stärke 70µm). Mehrere Resorptionshöhlen (Sterne). Wenige HOWSHIPsche

Lakunen (Pfeile). Vergr. 100x. Betrachtung mit dem Mikroskop im einfachen Durchlicht.

– 134 |

In der Tat sind in der Schliffübersicht (Abb.

17) ausgedehnte Areale von Schwammkno-

chen (Spongiosa) zu erkennen, die eventu-

ell als Merkmal einer krankhaften Knochen-

markvergrößerung (Knochenmarkhypertro-

phie) bei Anämie gewertet werden können.

In den schwächeren Vergrößerungen (16x

und 25x) lassen sich die eine größere Fläche

einnehmenden Räume des roten Knochen-

marks als regelrechte Spongiosastrukturen

beschreiben (Abb. 21). Allerdings muss da-

ran erinnert werden, dass sich bei Kindern

in den oberen und unteren Abschnitten der

Markröhren (Metaphysen) häufig noch rest-

liches rotes Knochenmark nachweisen lässt.

Im Fall des „Jungen von Kayhausen“ ist aber

– gemessen am Alter dieses Kindes – die

Menge an Spongiosa doch ein wenig zu

groß, um diesen Befund allein mit der phy-

siologischen Situation eines älteren Kindes

zu erklären. Der Verdacht auf das Vorliegen

einer chronischen Anämie muss deshalb be-

stehen bleiben, kann aber auch nicht – vom

mikroskopischen Standpunkt aus – in eine

verlässliche Diagnose „Anämie“ verwandelt

werden.

Abb. 20: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins mit der äußeren Oberfläche der

innenseitlichen Schaftwandung (Stärke 50µm). Sehr gut entwickelte äußere Generallamelle. Vergr. 100x.

Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im polarisierten Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht unter Verwen-

dung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).

Abb. 21: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 70µm). Ausschnitt aus

Abb. 17. Ganze Schaftwandung. Ausgeprägte Spongiosierung des vorderen Markröhrenabschnittes. Be-

reich der innenseitlichen Schaftfläche mit dem Schaftvorderrand. a) Vergr. 16x; b) Vergr. 25x. Betrachtung

mit dem Mikroskop im einfachen Durchlicht.

| 135 –

Hinweis auf Skorbut oder auf einen unbe-

stimmten Entzündungsprozess

Bei der lupenmikroskopischen Betrachtung

(OPLESCH et al. 2011, in diesem Band) wur-

den auf der innenseitlichen Schaftoberflä-

che des linken Schienbeins zahlreiche fei-

ne, streifenartige Impressionen und eine

über die Norm vermehrt poröse Oberfläche

beobachtet. Diese Veränderungen gehen

klar auf eine Gefäßvermehrung (Hypervas-

kularisation) zurück. Eine Hypervaskularisa-

tion tritt bei einem chronischen Vitamin-C-

Mangel, aber auch bei einem unspezifischen

Entzündungsprozess des Knochens auf. Al-

lerdings ist eine Gefäßvermehrung bei Indi-

viduen im gesteigerten Wachstum auch un-

ter physiologischen, das heißt normalen Be-

dingungen, anzutreffen. Eine diagenetisch

bedingte Veränderung im Sinne der Moor-

lagerung bzw. der Demineralisation kann

anhand der Ergebnisse der lichtmikrosko-

pischen Untersuchung ausgeschlossen

werden (Abb. 22). Da keine charakteristi-

schen Spuren eines ehemaligen, unter der

Knochenhaut gelegenen Blutergusses (sub-

periostales Hämatom) nachgewiesen wer-

den konnten (Abb. 22), ist die Wahrschein-

lichkeit für das Vorliegen eines Skorbuts

nicht sehr groß – kann aber natürlich nicht

gänzlich ausgeschlossen werden.

Ein wenig anders sieht es mit dem Verdacht

auf einen Entzündungsprozess des Kno-

chens aus. Auch zu einem solchen Krank-

heitsbild passt das Vorliegen von vermehrt

auftretenden Blutgefäßimpressionen auf

der Oberfläche des Knochens (Abb. 22),

Abb. 22: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 50µm). Äußere innenseitliche

Schaftoberfläche mit Blutgefäßimpressionen: Pfeile. Vergr. 100x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im

einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines

Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).

– 136 |

weil ein Entzündungsprozess in der Regel

mit einer Hypervaskularisation einhergeht.

Allerdings wäre bei einer Knochenentzün-

dung auch mit einer Reaktion im Inneren des

Knochens zu rechnen. Tatsächlich ist dies

auch der Fall: Der kompakte Bereich des

Knochens (Compacta) ist mit einer Vielzahl

von Einschmelzungshöhlen, so genannten

Resorptionshöhlen, übersät (Abb. 23). Diese

treten in relativ gleichmäßiger Verteilung im

gesamten Bereich der Compacta auf, finden

sich aber gehäuft in der Außenzone des vor-

deren Schienbeinrandes (Abb. 21) und der

innenseitlichen Schaftfläche (Abb. 19). Die

Grundbaueinheit des kompakten Knochen-

gewebes ist das nach seinem wissenschaft-

lichen Erstbeschreiber benannte HAVERS-

system, das auch als Osteon bezeichnet

wird (vgl. ZUSTIN et al. 2011, in diesem Band).

Ein HAVERSsystem ist im Querschnittsbild ein

rundliches Gebilde, das aus einem Blutge-

fäßkanal, dem HAVERSschen Kanal, und zir-

kulär um das Kanallumen, also konzentrisch

gewickelten kollagenen Faserzügen be-

steht, die auch als zirkuläre Speziallamellen

bezeichnet werden (Abb. 24). Auf den ersten

Blick lassen sich – besonders im kindlichen

Knochen – die im Knochenquerschnitt sicht-

baren HAVERSschen Kanäle (Abb. 24) nicht

immer leicht gegen die Resorptionshöhlen

(Abb. 25) abgrenzen. Den Resorptionshöh-

len, die meistens auch ein wenig größer

als die üblichen Gefäßkanäle sind, fehlen

diese zirkulären Speziallamellen (Abb. 25).

Über dieses morphologische Merkmal las-

sen sich beide Strukturen gut voneinander

Abb. 23: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 50µm). Äußere hintere

Schaftoberfläche mit überwiegend glattwandigen Resorptionshöhlen (Sterne). Vergr. 100x. Betrachtung

mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht, b) im polarisierten Durchlicht, c) im polarisierten Durchlicht

unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).

| 137 –

unterscheiden. Nun treten Resorptionshöh-

len – auch in vergleichsweise großer Zahl

– immer bei Kindern und Jugendlichen auf,

da diese sich noch im Wachstum befinden

und der Knochen in der Wachstumsphase

vermehrt umgebaut wird. Die meisten der

aufgrund des Knochenwachstums entstan-

denen Resorptionshöhlen besitzen eine

glatte Innenwandung (Abb. 25, vgl. Abb. 19).

Diese belegt, dass die Resorptionshöhlen

einen längeren Bestand hatten bzw. nicht

schnell und überstürzt durch einen raschen

Einschmelzungsprozess entstanden sind.

Resorptionshöhlen, die schnell entstehen

bzw. noch keinen längeren Bestand hatten,

zeigen eine gebuchtete Wandung (Abb. 26,

vgl. Abb. 19). Diese Buchten werden nach

dem wissenschaftlichen Erstbeschreiber als

HOWSHIPsche Lakunen bezeichnet und von

Knochenfresszellen, den Osteoklasten, ge-

schaffen (Abb. 26).

Nun finden sich in der innenseitlichen Wan-

dung und dem Vorderrand des Schienbeins

– also gerade dort, wo der Knochen ver-

mehrt in der Querschnittsfläche („Dicke“)

wächst – deutlich vermehrt Resorptions-

höhlen (Abb. 17, Abb. 19). Dies ist durchaus

physiologisch. Auffällig ist nur, dass auch

Abb. 24: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 50µm). HAVERSsches Sys-

tem. Vergr. 320x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im polarisierten Durchlicht, b) im polarisierten Durch-

licht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).

Abb. 25: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 50µm). Glattwandige Resorp-

tionshöhle. Vergr. 320x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im polarisierten Durchlicht, b) im polarisierten

Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).

– 138 |

dort deutlich vermehrt gebuchtete Resorp-

tionshöhlen zu finden sind (Abb. 19, Abb. 26)

und zwar an der Stelle, an der sich auf der

Außenfläche auch vermehrt Gefäßabdrü-

cke nachweisen lassen (Abb. 22). Offenbar

besteht also eine kausale Verbindung zwi-

schen der Zunahme der in der Knochenhaut-

zone gelegenen Gefäßimpressionen und

den schnell entstandenen Resorptionshöh-

len. Es ist zu bezweifeln, ob dies nur auf ein

gesteigertes physiologisches Dickenwachs-

tum zurückgeführt werden kann. Vielmehr ist

daran zu denken, dass hier vielleicht doch

ein beginnender pathologischer Prozess im

Bereich der Knochenhaut lokalisiert war. Ob

es sich hierbei um einen bakteriellen Entzün-

dungsprozess (z. B. „Periostitis“) oder nur

um die Organisation eines subperiostalen

Hämatoms bei Skorbut (z. B. „Periostose“)

gehandelt hat, lässt sich nicht mehr über-

zeugend nachweisen. Ein solcher Prozess

geht in der Regel mit einer heftigen knöcher-

nen Neubildung im Knochenhautbereich

einher (Periostitis/Periostose). Sicherlich

hat es sich – wenn wir von einem patholo-

gischen Geschehen ausgehen – um einen

beginnenden Krankheitsprozess gehandelt.

Eine bei einem solchen Prozess begleitend

auftretende knöcherne Neubildung, die im

frischen Zustand in der Regel immer aus

Faserknochen besteht, hätte sich aber im

sauren Moorboden über die Jahrhunderte

nicht erhalten und kann somit nicht bewei-

send herangezogen werden. Hingegen wer-

den die Impressionen der im Basisbereich

dieser knöchernen Neubildung auf der origi-

Abb. 26: Dünnschliff (quer) durch den Schaft des linken Schienbeins (Stärke 70µm). Ausgebuchtete Re-

sorptionshöhlen mit HOWSHIPschen Lakunen (Pfeile) im Bereich der innenseitlichen Schaftwandung. a) große

Resorptionshöhlen. Vergr. 400x; b) kleine Resorptionshöhle. Vergr. 600x. Betrachtung mit dem Mikroskop

im einfachen Durchlicht.

| 139 –

nalen Knochenoberfläche angelegten Blut-

gefäße, die typisch für einen solchen Pro-

zess sind, erhalten bleiben – und dies ist hier

der Fall. Somit ist letztlich wohl doch von

einem Krankheitsgeschehen auszugehen,

das sich aber nicht näher beschreiben lässt

und lediglich im Sinne eines Stressmarkers

zu vermerken ist.

Andere Spuren einer Erkrankung haben sich

mikroskopisch nicht an den verschiedenen

Proben der Leiche des „Jungen von Kay-

hausen“ nachweisen lassen.

Mikroskopische Altersbestimmung

am linken Schienbeinfragment

Abschließend sollen noch die Ergebnisse

zweier mikroskopischer Methoden zur Le-

bensaltersbestimmung vorgestellt werden.

Es ist vorauszuschicken, dass die mikrosko-

pische Bestimmung des Lebensalters bei

subadulten Individuen schwieriger als bei

adulten Individuen ist, einer gewissen Erfah-

rung bedarf und nur einen Näherungswert

darstellt bzw. eine Alterspanne präsentiert,

in welcher der Tod wohl eingetreten ist. Prin-

zipiell stehen zwei Methoden zur Verfügung:

1.) die histomorphologische Altersbestim-

mung (HML) und 2.) die histomorphomet-

rische Altersbestimmung (HMM).

Bei beiden Methoden kamen jeweils zwei

Schliffpräparate zur Anwendung, die von

zwei Untersuchern (Jan Nováček [J.N.] und

Michael Schultz [M.S.]) unabhängig vonei-

nander zur Schätzung des erreichten Le-

bensalters des „Jungen von Kayhausen“

angewandt wurden.

Histomorphologische Altersbestimmung

Die Befunde im 50µm- und 70µm-Schliff

entsprechen sich. Im Rahmen dieser Me-

thode werden das Vorhandensein und die

Größe der äußeren und der inneren Gene-

rallamelle, die Zahl und Größe der HAVERS-

schen Systeme und die Größe ihrer Kanäle

sowie die Größe und Verbreitung von Re-

sorptionshöhlen beurteilt. Basis dieses Ver-

fahrens sind Erfahrungswerte.

Beim „Jungen von Kayhausen“ sind die äu-

ßere (Abb. 20) wie die innere Generallamelle

(Abb. 18, Abb. 22) sehr gut entwickelt und

relativ breit angelegt (Alter: jünger als 30-

40 Jahre bzw. jünger als 25-30 Jahre); al-

lerdings hat sich die äußere Generallamelle

aufgrund des Demineralisationsprozesses

bei der Probenentnahme teilweise abge-

hoben (s. a. Ergebnis der histomorphome-

trischen Lebensaltersbestimmung). Die HA-

VERSschen Systeme (Abb. 18, Abb. 23) sind

von unregelmäßiger Form und variieren von

mittelgroßer bis zu sehr großer Größe (Al-

ter: ca. zwischen 10-30 Jahren). Nur wenige

Primärosteone sind sicher nachweisbar (Al-

ter: ca. 5-20 Jahre). Die HAVERSschen Kanäle

(Abb. 18) sind in ihrem Lumen unterschied-

lich weit gestaltet (Alter: ca. zwischen 10-

30 Jahre). Die zahlreichen in ihrer inneren

Begrenzung glattwandigen Resorptionshöh-

len (Abb. 23) belegen eine rege Umbauak-

tivität, die im Sinne eines physiologischen

Knochenwachstums anzusehen sind (Al-

ter: ca. 10-20 Jahre). Fragmentierte Oste-

one bzw. Zwischenlamellen (Abb. 18, Abb.

20) sind nachweisbar (Alter: ca. 5-15 Jahre).

Obwohl – ohne dass Spuren einer Inaktivi-

tätsatrophie (= Schwund infolge von Inaktivi-

tät) beobachtet werden können – zahlreiche

Tangentiallamellen (= in der Compacta gele-

gene, parallele zur Oberfläche angeordnete

kollagene Fibrillenbündel) zwischen den

HAVERSschen Systemen ausgebildet sind

(Abb. 18, Abb. 23), können diese nicht si-

cher als Reste des kindlichen Schalenkno-

– 140 |

chens nachgewiesen werden (Alter: ca. älter

als 5-7 Jahre). – Nach Schätzung mit der

histomorphologischen Bestimmung hat der

„Junge von Kayhausen“ ein Lebensalter von

etwa 10-15 Jahren erreicht.

Histomorphometrische Altersbestimmung

Die Befunde im 50µm- und 70µm-Schliff

entsprechen sich. Bei dieser Methoden

wird die Zahl der HAVERSschen Systeme,

die Zahl der fragmentierten HAVERSsysteme

( = fragmentierte Osteone = Zwischenla-

mellen = Interstitiallamellen = interstitielle

Lamellen), die Zahl der nicht-HAVERSschen

Kanäle und der Prozentsatz der äußeren Ge-

nerallamelle an vier etwa gleichweit vonei-

nander entfernt liegenden Stellen in der Pe-

ripherie des gesamten Knochenquerschnitt-

bildes nach der von KERLEY und UBELAKER im

Jahre 1978 publizierten Methode bewertet:

An beiden Schienbeinquerschnitten (50µm

und 70µm) wurden von zwei verschiedenen

Personen (J.N. mit Zeiss-Pol-Mikroskop-

Faktor, M.S. mit Leica-Pol-Mikroskop-Fak-

tor) jeweils in vier Durchläufen an vier defi-

nierten Stellen (s. KERLEY und UBELAKER 1978)

die entsprechenden Merkmale ausgezählt

(Tabellen 1 und 2):

Jeweils zwei Durchläufe an 50µm und 70µm

Schliffen mit Zeiss-Pol-Mikroskop-Faktor

(J.N.) – (Tabelle 1)

a) HAVERSsche Systeme:

17,1 Jahre

b) fragmentierte HAVERSsche Systeme :

26,2 Jahre

c) nicht-HAVERSsche Kanäle

36,5 Jahre

d) äußere Generallamelle

15,3 (18,5) Jahre

Geschätztes Alter (HMM):

23,8 (24,6) ± 6 Jahre

Tab. 1: Ergebnisse der histomorphometrischen Lebensaltersbestimmung. Untersucher J.N. – Frag-

mente = fragmentierte HAVERSsche Systeme; nicht-Havers = nicht-HAVERSsche Kanäle; GL = äußere Gene-

rallamelle; li = links.

Osteone Fragmente nicht-Havers GL Alter

Tibia li 50 µm Zahl Alter Zahl Alter Zahl Alter Zahl Alter Mittel-wert

1. Durchgang 38 15,7 16 20,4 8 33,1 50 14,0 20,8

2. Durchgang 39 16,1 20 25,4 7 35,7 60 8,7 21,5

3. Durchgang 54 24,1 22 28,0 6 38,4 30 n.a. (31,6) 30,2 (30,5)

4. Durchgang 35 14,3 14 18,0 4 44,4 50 n.a. (14,0) 25,6 (22,7)

durchschnitt-liches Alter

17,6 23,0 37,9 11,4 (17,1)

Tibia li 70 µm

1 40 16,6 29 37,6 8 33,1 40 n.a. (21,7) 29,1 (27,3)

2 38 15,7 17 21,6 6 38,4 50 14,0 22,4

3 36 14,7 16 20,4 8 33,1 40 21,7 22,5

4 45 19,2 29 37,6 7 35,7 40 21,7 28,6

durchschnitt-liches Alter

16,6 29,3 35,1 19,1 (19,8)

| 141 –

Jeweils zwei Durchläufe an 50µm und 70µm

Schliffen mit Leica Pol Mikroskop Faktor

(M.S.) – (Tabelle 2)

a) HAVERSsche Systeme:

15,1 Jahre

b) fragmentierte HAVERSsche Systeme :

21,6 Jahre

c) nicht-HAVERSsche Kanäle

21,1 Jahre

d) äußere Generallamelle

19,8 Jahre

Geschätztes Alter (HMM):

19,4 ± 1 Jahre

Die Teilergebnisse beider Untersucher zur

Lebensaltersschätzung mit der histomor-

phometrischen Methode (HMM) lassen fol-

gende Altersspannen zu: (17,8) 18,6 – 29,8

(30,6) Jahre (J.N.) bzw. (18,4) – 19,4 – (20,4)

Jahre (M.S.). Diese Teilergebnisse lassen

sich zusammenfassen: wahrscheinlich er-

reichte Altersspanne von 19-22 Jahren. Ein

zusammenfassendes mittleres Alter lässt

sich für alle vier Merkmale [a) – d)] über alle

vier Untersuchungsgänge beider Untersu-

cher mit 21,6 Jahren angeben.

Die histomorphologische Untersuchung

(HMM) ergab ein erreichtes Lebensalter von

etwa 10-15 Jahren. Das Ergebnis der histo-

morphometrischen Untersuchung (HMM)

liegt mit 19-22 Jahren deutlich darüber.

Diese Diskrepanz ist auffällig, kann aber mit

dem erheblichen Schrumpfungsprozess

des Knochens infolge der Demineralisati-

on befriedigend erklärt werden. Auch an-

dere Untersuchungen haben gezeigt, dass

die histomorphologische Methode für die

Bestimmung des subadulten Alters besser

geeignet ist (s. NOVÁČEK 2011, im Druck) als

die histomorphometrische Methode. Dies

gilt besonders für Moorleichen, da infolge

des Schrumpfungsprozesses die morpho-

logischen Strukturen (HAVERSsche Systeme,

fragmentierte HAVERSsche Systeme, nicht-

HAVERSsche Kanäle) räumlich näher zusam-

menrücken und es dadurch bei Anwendung

Tab. 2: Ergebnisse der histomorphometrischen Lebensaltersbestimmung. Untersucher M.S. – Frag-

mente = fragmentierte HAVERSsche Systeme; nicht-Havers = nicht-HAVERSsche Kanäle; GL = äußere Gene-

rallamelle; li = links.

Osteone Fragmente nicht-Havers GL Alter

Tibia li 50 µm Zahl Alter Zahl Alter Zahl Alter Zahl Alter Mittel-wert

1. Durchgang 56 11,0 27 13,1 12 20,6 40 21,7 16,6

2. Durchgang 52 9,2 31 18,3 15 15,2 50 14,0 14,2

3. Durchgang 75 19,2 35 23,3 18 11,8 18,1

4. Durchgang 77 20,1 39 28,1 8 31,3 26,5

durchschnitt-liches Alter

14,9 20,7 19,7 17,9

Tibia li 70 µm

1 65 14,9 36 24,5 11 22,8 40 21,7 21,0

2 59 12,3 32 19,6 9 28,2 40 21,7 20,5

3 69 16,5 33 20,8 12 20,6 19,3

4 71 17,5 36 24,5 13 18,5 20,2

durchschnitt-liches Alter

15,3 22,4 22,5 21,7

– 142 |

der nur für den nicht geschrumpften Kno-

chen geeigneten Formeln nach KERLEY und

UBELAKER (1978) zu einer Überschätzung des

erreichten Lebensalters kommt.

Mithilfe der kombinierten histologischen Le-

bensaltersbestimmung (HML/HMM) lässt

sich für das erreichte Lebensalter des „Jun-

gen von Kayhausen“ folgende vorsichtige

Schätzung abgeben: zweite Hälfte der Al-

tersstufe „Infans-II“ bis Mitte der Altersstufe

„Juvenis“, also etwa 10-17 Jahre.

Nachtrag zur makroskopischen

Lebensaltersbestimmung am linken

Schienbeinfragment

Ergänzend zur Schätzung des erreichten

Lebensalters des „Jungen von Kayhausen“

wurde noch versucht, das Mindestalter die-

ses Kindes über die Größen der mittleren

Schaftumfänge der messbaren Langkno-

chen und das Maß einer Metaphysenplatte

eines Langknochens zu bestimmen.

Am rechten Oberschenkelbein beträgt der

Umfang in etwa Schaftmitte 64 mm. An bei-

den Schienbeinen wurden ebenfalls in etwa

Schaftmitte folgende Umfänge gemessen:

rechtes Schienbein 58 mm, linkes Schien-

bein 60 mm. Weiterhin wurde noch an der

körpernahen Metaphysenplatte des linken

Schienbeins das Maß in der Frontalebene

(Breite) mit 51,4 mm genommen.

Anhand von Vergleichsmessungen an Kin-

der- und Juvenilenskeletten (SCHULTZ 2012,

in Vorbereitung) können nachfolgende An-

gaben gemacht werden.

Da die Vergleichsdaten nicht an Moorlei-

chen, also an nicht geschrumpften Knochen

erhoben wurden, kann das errechnete Alter

als Mindestalter angesehen werden.

Der in Schaftmitte gemessene Oberschen-

kelumfang von 64 mm des „Jungen von

Kayhausen“ passt sich in die Altersgruppe

der 14-16-jährigen vor- und frühgeschicht-

licher Individuen ein. Die Durchschnittswer-

te der verschiedenen, in Frage kommenden

subadulten Altersgruppen weisen folgende

Variationsbreiten für den in Schaftmitte ge-

messenen Oberschenkelumfang auf:

6-8-Jährige: 43-52 mm

8-10-Jährige: 49-55 mm

10-12-Jährige: 49-56 mm

12-14-Jährige: 57-60 mm

14-16-Jährige: 63-71 mm

17-19-Jährige: 72-75 mm

Entsprechendes ist für den in Schaftmitte

gemessenen Schienbeinumfang zu beo-

bachten:

Der in Schaftmitte gemessene Umfang des

rechten Schienbeins beträgt 58 mm, der

des linken 60 mm. Der „Junge von Kayhau-

sen“ passt sich somit in die Altersgruppe

der 12-14-jährigen bzw. der 14-16-jährigen

vor- und frühgeschichtlicher Individuen ein.

Die Durchschnittswerte der verschiedenen,

in Frage kommenden subadulten Alters-

gruppen weisen folgende Variationsbreiten

für den in Schaftmitte gemessenen Schien-

beinumfang auf:

6-8-Jährige: 43-50 mm

8-10-Jährige: 44-50 mm

10-12-Jährige: 50-54 mm

12-14-Jährige: 57-58 mm

14-16-Jährige: 60-68 mm

17-19-Jährige: 68-71 mm

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die

Auswertung des Breitenmaßes der körper-

| 143 –

nahen Metaphysenplatte des linken Schien-

beins, die etwas über 51 mm misst. Auch

hier fällt der Wert in die Altersgruppe der 12-

14 (15)-Jährigen.

Da die Knochen – und somit auch das linke

Schienbein – des „Jungen von Kayhausen“

infolge der Demineralisation während der

Lagerung im Moorboden und der nachfol-

genden Aufbewahrung in wässeriger Forma-

linlösung im Museum auch in ihrer Dicke und

somit in ihrem Umfang geschrumpft sein

dürften, ist aufgrund der Umfangsmaße mit

einem Mindestalter von (12) 14-16 Jahren

zu rechnen.

Zusammenfassung

Es wurden ausgewählte Proben der Moor-

leiche des „Jungen von Kayhausen“ (Haut,

Haare und Knochen: linkes Schienbein)

licht- und rasterelektronenmikroskopisch

untersucht, um den mikromorphologischen

Aufbau der Gewebe zu überprüfen und Hin-

weise auf den Zustand der analysierten Ge-

webe sowie spezieller Faktoren der Diage-

nese (z. B. Demineralisation) zu erhalten.

Von der Haut hatte sich nur die Lederhaut

– diese aber besonders gut – konserviert.

Haare lagen in unterschiedlichem morpho-

logischem Zustand vor und wiesen Spuren

der Diagenese auf. Die organische Kno-

chensubstanz des linken Schienbeins (Kno-

chenkollagen) hat sich hervorragend erhal-

ten und wies keine nennenswerten Spuren

der Diagenese auf (z. B. Pilzwachstum).

Die paläohistopathologische Untersuchung

erbrachte für den Todeszeitpunkt einen

schwachen Verdacht auf das Vorliegen ei-

ner chronischen Anämie, die sich unter Um-

ständen auf eine chronische Malaria zurück-

führen ließe. Der Hinweis auf Skorbut oder

auf einen unbestimmten Entzündungspro-

zess konnte ebenfalls nicht sicher bestätigt

werden, darf aber nicht vernachlässigt wer-

den, so dass die mikromorphologisch nach-

gewiesenen Veränderungen zumindest als

unspezifische Stressmarker zu werten sind.

Die mikroskopische Altersbestimmung (his-

tomorphologisch und histomorphometrisch)

an Dünnschliffen aus dem linken Schienbein

lieferte – vor allem bei der histomorpholo-

gischen Methode – ein verlässliches Ster-

bealter von etwa 10-15 Jahren, das durch

die Auswertung von am Oberschenkelbein

und Schienbein genommenen Maßen be-

stätigt wurde.

Danksagung

Die Autoren danken Herrn Michael Brandt

und Frau Ingrid Hettwer-Steeger, beide

Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin

Göttingen, für die Anfertigung der Knochen-

dünnschliffe bzw. der rasterelektronenmi-

kroskopischen Präparate.

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ZUSTIN, J., SCHULTZ, M. 2011: Histopathologische

Analyse des Knochengewebes. In diesem Band.

Anschriften der Verfasser

Eilin Jopp, M.A.

Institut für Rechtsmedizin

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Butenfeld 34

22529 Hamburg

E-Mail: [email protected]

E-Mail: [email protected]

Dipl. Biol. Susan Klingner

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

tingen.de

| 145 –

RNDr. Jan Nováček

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

Dipl. Biol. Edith Oplesch

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. med. Klaus Püschel

Institut für Rechtsmedizin

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Butenfeld 34

22529 Hamburg

E-Mail: [email protected]

Priv. Doz. Dr. med. Jozef Zustin

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Institut für Pathologie

Haus 0, 26 Raum 275

Martinistr. 52

20246 Hamburg

Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

und

Universität Hildesheim

Institut für Biologie und Chemie

Marienburger Platz 22

31141 Hildesheim

E-Mail: [email protected]

| 147 –

Ergebnisse der paläopathologischen Untersuchung an der

Moorleiche aus dem Kayhausener Moor

E. Oplesch, S. Klingner, J. Mißbach-Güntner, E. Jopp, K. Püschel,

M. Schultz

1988a), so dass wesentliche Informationen

durch den Konservierungs- und Lagerungs-

prozess verloren gegangen sind. Die Erhal-

tung ist – für die paläopathologische Unter-

suchung – daher als schlecht einzustufen.

Zusätzlich zum schlechten Erhaltungszu-

stand war die paläopathologische Unter-

suchung auch durch die Tatsache limitiert,

dass sich der Hauptanteil des Skeletts im

Weichgewebsverband befindet und somit

viele diagnostisch wichtige Strukturen ver-

borgen blieben. Folglich beziehen sich die

Befundbeschreibungen lediglich auf die

Skelettelemente, die isoliert vorliegen oder

sichtbar aus dem Hautschlauch herausra-

gen (Abb. 1).

Einleitung

Paläopathologie ist ein vergleichsweise neu-

er Arbeitsbereich, der sich mit der Art, den

Ursachen und Häufigkeiten sowie der Ver-

breitung der Krankheiten der Angehörigen

vergangener Gesellschaften befasst. Die Er-

gebnisse einer paläopathologischen Unter-

suchung leisten einen wesentlichen Beitrag

zur Rekonstruktion damaliger Lebenswei-

se. Auf der Individualebene ist es innerhalb

gewisser Grenzen möglich, aufgrund der

Krankheitsbelastung und der Ausprägung

bestimmter morphologischer Merkmale

auf die damaligen Lebensbedingungen zu

schließen und sogar biographische Daten zu

erheben (SCHULTZ 2011).

Mit dieser Zielsetzung wurde die 1922 ent-

deckte Moorleiche des Jungen von Kayhau-

sen einer eingehenden paläopathologischen

Untersuchung unterzogen. Dabei wurden

neben der makroskopischen Befunderhe-

bung aller zugänglichen Skelettelemente

auch röntgenologische sowie licht- und ras-

terelektronenmikroskopische Verfahren an

ausgewählten Strukturen eingesetzt.

Erhaltung

Durch die jahrzehntelange Konservierung

der Moorleiche (seit 1922) in wässeriger

Formalinlösung (seit einiger Zeit nun in

70%igem Ethanol) wurde die Knochenober-

fläche, die ohnehin schon durch die im Moor

enthaltenen Säuren im Sinne einer Entkal-

kung verändert worden war, stark angegrif-

fen. Gerade die Knochenoberfläche ist für

viele paläopathologischen Fragestellungen

ein diagnostisch wichtiger Bereich (SCHULTZ

Abb. 1: Skelettschema des Jungen von Kayhau-

sen. Untersuchbare Skelettelemente in der Restlei-

che und in isolierten Aufbewahrungsgefäßen sind

im Schema mit grauer Farbe eingetragen.

– 148 |

Material und Methoden

Die Leiche des Jungen von Kayhausen

wurde – zusammen mit den in Gläsern ar-

chivierten Feuchtpräparaten der inneren

Organe – von den Autoren vor Ort im Nie-

dersächsischen Landesmuseum Natur und

Mensch in Oldenburg paläopathologisch,

das heißt makroskopisch und lupenmikro-

skopisch im Auf- und Streiflicht nach den

Vorschlägen von Schultz (SCHULTZ 1988a)

untersucht. Skelettelemente wurden – so-

weit für die paläopathologische Befundung

notwendig – nach anthropologischen Stan-

dards vermessen. Alle Befunde wurden fo-

tografisch bzw. zeichnerisch dokumentiert.

Von der Haut wurden zwei sehr kleine Pro-

ben genommen.

Da das linke Schienbeinfragment für eine

eingehende paläopathologische Analyse

an das Zentrum Anatomie der UMG ver-

bracht werden konnte, bestand nach Pro-

benentnahme die Möglichkeit zur Nutzung

verschiedener Untersuchungstechniken.

Neben der makroskopischen und lupenmi-

kroskopischen Untersuchung wurden kon-

ventionelle digitale und analoge Röntgen-

aufnahmen mit dem Vollschutzröntgengerät

Faxitron (Hewlett & Packard), einem Indus-

trieröntgengerät mit hochauflösendem Fo-

cus, auf folienlosen Filmen (AGFA Structu-

rix D7) angefertigt. Computertomographien

wurden in der Abteilung Radiologische Dia-

gnostik der UMG durchgeführt (s. MISSBACH-

GÜNTNER et al., in diesem Band). Nach dem

von SCHULTZ und BRANDT entwickelten Ver-

fahren (SCHULTZ 1988b; SCHULTZ und DROM-

MER 1983) wurden zwei Knochendünnschliffe

in den Stärken von 50µm und 70µm herge-

stellt, die im einfachen Durchlicht analysiert

wurden (s. a. Beiträge in diesem Band von

Schön et al. und Schultz et al.).

Makromorphologische Skelettanalyse

Der erste Schritt einer paläopathologischen

Begutachtung sollte immer eine sorgfältige

Besichtigung der Knochen auf Form- und

Oberflächenveränderungen sein. Dabei ist

die Lupenbetrachtung der Knochenoberflä-

chen unter Schräglicht ein wichtiger Unter-

suchungsschritt.

Ausgrabungsartefakte

Bekanntlich wurde die Moorleiche des Jun-

gen von Kayhausen bei der Ausgrabung bzw.

der Bergung erheblich beschädigt. Zu die-

sen Beschädigungen gehören auch Schnitt-

spuren, die offenbar durch den Torfstechs-

paten verursacht wurden. So finden sich

an dem linken Schienbein typische, frische

Schnittspuren, deren glatte Schnittflächen

zweifelsfrei auf eine rezente Verletzung hin-

deuten (Abb. 2): Ein Schnitt liegt – von vor-

ne-außenseitlich auftreffend – an der Schien-

beinvorderkante (C: oberer Pfeil). Ein zweiter

Schnitt (C: unterer Pfeil) hat – aus der glei-

chen Richtung auftreffend – fast vollständig

den Schaft durchtrennt (im hinteren Schaft-

bereich zerbrach der Knochen beim Auftref-

fen des Spatens).

Verdacht auf Anämie

Im Hinblick auf Formveränderungen konn-

ten einige Auffälligkeiten im Bereich der

Extremitätenknochen beobachtet werden.

Dabei ist aber zu beachten, dass nur we-

nige Teile des Skeletts untersuchbar waren

(s. Abb. 1) und diese untersuchbaren Ske-

lettelemente in ihrer Größe und Konsistenz

sehr wohl auch noch durch den Konservie-

rungs- und Lagerungsprozess (Formalin/

Ethanol) verändert sein könnten. Deshalb

werden die nachfolgend beschriebenen

Veränderungen, die möglicherweise auf

| 149 –

eine sich systemisch äußernde chronische

Erkrankung, nämlich die Blutarmut (Anämie)

hindeuten, nur unter einem gewissen Vorbe-

halt vorgestellt. Erkranken Kinder an einer

chronischen Anämie kommt es in der Regel

zu einer Vergrößerung der Räume des roten

Knochenmarks, das sich in allen kurzen und

platten Knochen, aber auch in den Metaphy-

sen, das heißt in den oberen und unteren

Enden der Langknochenschäfte befindet,

also in den Regionen, in denen keine Mark-

röhre, sondern nur der Schwammknochen

(Spongiosa) ausgebildet ist. Diese Knochen-

markvergrößerung (Knochenmarkhypertro-

phie) bedingt eine geringgradige Verdickung

der oberen und unteren Enden der Lang-

knochen, die dem Skelettelement ein ver-

gleichsweise plumpes Aussehen verleiht.

Die distalen Metaphysen, d. h. die körperfer-

nen Enden der Schäfte der beiden Speichen,

sind etwas über die Norm verdickt (rechte

Speiche: Frontaldurchmesser 22,5 mm, Sa-

gittaldurchmesser 17,4 mm) und deuten eine

Vermehrung des im Inneren des Knochen-

schaftes gelegenen roten Knochenmarkes

an (Abb. 3). Dies kann unter Umständen als

ein schwacher Hinweis auf eine chronische

Anämie gewertet werden. Ganz ähnlich ist die

rundlich aufgequollene Metaphysenplatte am

unteren Ende der rechten Elle zu bewerten.

Auch das untere, noch nicht mit dem Schaft

verwachsene Knochenende der rechten Elle,

die distale Epiphyse, ist geringgradig über

die Norm verbreitert. Somit wird der an den

Speichen erhobene Befund gestützt. Auch

an beiden Schienbeinen lassen sich ent-

sprechende morphologische Merkmale be-

obachten: Besonders das untere Schaftende

des rechten Schienbeins (Abb. 4-6), aber

auch das obere Ende des linken Schienbeins

(Abb. 7) erwecken den Eindruck, geringgra-

dig verdickt bzw. „verplumpt“ zu sein. Wei-

terhin sind offenbar die noch erhaltenen Me-

taphysenplatten beider Schienbeine etwas

über die Norm vergrößert (untere Metaphy-

senplatte des rechten Schienbeins: Frontal-

durchmesser 38 mm, Sagittaldurchmesser

Abb. 2: Computertomographische Rekonstrukti-

on des linken Schienbeins. Die Pfeile markieren die

rezenten, offenbar durch den Torfspaten verursach-

ten Schnitte.

Abb. 3: Unteres, leicht verdicktes Ende der rechten Speiche des Jungen von Kayhausen.

– 150 |

34 mm; obere Metaphysenplatte des linken

Schienbeins: Frontaldurchmesser 51,4 mm,

Sagittaldurchmesser 39,1 mm) und gering-

gradig aufgewölbt (Abb. 4-7).

Die Markröhre in Höhe des zweiten Schaft-

viertels (von oben gezählt) des linken

Schienbeins weist im Querschnittsbild nur

wenige Knochenbälkchen auf (Abb. 8); die-

ser Teil der Markröhre ist nahezu frei von

Schwammknochen, der das rote Knochen-

mark repräsentiert. Dieser Befund spricht

zwar nicht überzeugend für eine Knochen-

markvergrößerung, schließt diese aber nicht

vollständig aus, da ein postmortaler und

somit lagerungsbedingter Verlust eventuell

vorhanden gewesener Knochenbälkchen

letzten Endes nicht vollständig ausgeschlos-

sen werden kann. Allerdings ist auch in der

computertomographischen Darstellung

eine, wenn auch nur schwache Schwamm-

knochenausbildung im zweiten Viertel des

Schienbeinschaftes im Sinne einer leich-

ten „Spongiosierung“ zu beobachten (vgl.

MISSBACH-GÜNTNER et al., in diesem Band:

Abb. 6), die sich bei der makroskopischen

Begutachtung und der Darstellung im kon-

servativen Röntgenbild (Abb. 9) in dieser In-

tensität nicht so zu erkennen gegeben hat.

Im dritten Schaftviertel (von oben gezählt)

des rechten Oberschenkelbeins ist makros-

kopisch keine Vermehrung des Schwamm-

knochen zu erkennen; hier ist die Markröhre

offenbar nicht mit Schwammknochen ver-

füllt und somit vollkommen regelrecht ge-

staltet, so dass dieser Befund gegen das

Vorliegen einer chronischen Anämie spricht.

Abb. 4: Untere zwei Drittel des

rechten Schienbeins des Jungen von

Kayhausen mit geringgradig verdick-

tem Schaftende von vorne.

Abb. 5: Unteres, geringgradig verdicktes

Schaftende des rechten Schienbeins des Jungen

von Kayhausen.

Abb. 6: Untere, geringgradig aufgewölbte und

vergrößerte Metaphysenplatte des rechten Schien-

beins des Jungen von Kayhausen.

Abb. 7: Obere, geringgradig aufgewölbte und

vergrößerte Metaphysenplatte des linken Schien-

beins des Jungen von Kayhausen.

| 151 –

Allerdings ist auch hier – ähnlich wie an dem

Schienbeinschaft - ein gewisser postmortal

bedingter Verlust des Schwammknochens

nicht sicher auszuschließen.

Am rechten Oberschenkelbein ist im vorde-

ren-innenseitlichen Halsbereich ein fleckar-

tiges, grobporöses Areal zu erkennen (Abb.

10), dass sagittal etwa 27 mm und frontal

16 mm misst und an die ALLEN’SCHE Fossa

erinnert (FINNEGAN 1978). Diese flache Grube

gibt sich in der lichtmikroskopischen Unter-

suchung als Auflösungsbereich der äußeren

Knochenschicht (Corticalis) zu erkennen, in

dem die daruntergelegene Schwammkno-

chenschicht (Spongiosa) äußerlich sichtbar

wird und das grobporöse Aussehen bedingt.

Möglicherweise handelt es sich bei diesem

morphologischen Merkmal um eine Spongi-

osahypertrophie und somit um ein Symptom

der chronischen Anämie.

Verdacht auf einen unbestimmten Entzün-

dungsprozess oder auf Skorbut

Die innenseitliche Schaftoberfläche des lin-

ken Schienbeins weist bei der lupenmikro-

skopischen Betrachtung zahlreiche feine,

streifenartige Impressionen und eine über

die Norm vermehrt poröse Oberfläche auf.

Diese Veränderungen gehen offenbar auf

eine verstärkte Blutgefäßbildung zurück

(Hypervaskularisation), könnten unter Um-

ständen aber auch durch eine oberflächlich

erfolgte Erosion über die Einwirkung der im

Moorboden enthaltenen Säuren (Diagene-

se) und das während des Aufbewahrungs-

prozesses einwirkende Formalin im Sinne

einer postmortalen Auflösung der äußeren

Rindenschicht des Knochen erklärt werden.

Die lichtmikroskopische Untersuchung einer

Probe aus dem Schaft des linken Schien-

beins zeigt aber, dass nur sehr geringgradi-

ge diagenetische Veränderungen vorliegen

(Abb. 8) und dass somit die Merkmale der

diskreten Hypervaskularisation intravitalen

Ursprungs sind.

In der Regel weist eine gesteigerte Ver-

sorgung der äußeren Knochenoberfläche

mit feinsten Blutgefäßen auf einen Ent-

zündungsprozess oder das Vorliegen einer

chronischen Vitamin-C-Mangelerkrankung

(Skorbut) hin. Allerdings lässt sich das in-

travital bestandene Ausmaß dieser Ge-

fäßvermehrung aufgrund der – wenn auch

nur geringgradigen – postmortalen Ober-

flächenveränderungen nicht mehr genau

feststellen. Aufgrund der makroskopischen

Untersuchungsergebnisse kann also nur

ein unbestimmter Verdacht auf einen mög-

licherweise entzündlich bedingten Prozess

bzw. auf einen chronischen Skorbut geäu-

ßert werden.

Abb. 8: Knochendünnschliff durch

das linke Schienbein des Jungen

von Kayhausen (Stärke 70µm). Mar-

kierungen: * = postmortale bedingte

Risse; ** = postmortal bedingte Ab-

sprengungen der oberflächlichen

Knochenschicht; 1 = Reste ursprüng-

licher Knochenbälkchen (Spongiosa);

2 = Schwammknochen (Spongiosa).

– 152 |

Muskel-Sehnenzerrung

Im Ursprungsbereich des Schollenmuskels

(Musculus soleus), eines Bauches des drei-

köpfigen oberflächlichen Wadenbeugers

(Musculus triceps surae), findet sich eine

für ein solch subadultes Individuum rela-

tiv kräftig ausgebildete Grube (Abb. 11 und

12), die 45 mm in der Länge, 6 mm in der

Breite und etwa 1-2 mm in der Tiefe misst.

Derartige Veränderungen an Muskelbefesti-

gungsstellen sind in der Regel Zeichen einer

durch körperliche Überlastung hervorgeru-

fenen Muskel-Sehnen-Reizung (Myotendo-

pathie), die meist als Zerrung zu interpre-

tieren ist (z. B. bei Kinderarbeit) und über

Knochennekrosen zur Grubenbildung führt.

Differentialdiagnostisch kann besonders

bei Subadulten eine solche Läsion auch im

Zusammenhang mit einer chronischen Vi-

tamin-C-Mangelerkrankung (Skorbut) ge-

sehen werden, da bei einem chronischen

Skorbut die Qualität des Knochenkollagens

nicht der Norm entspricht und deshalb eher

Schädigungen im Sehnen- und Bandbefes-

tigungsbereich auftreten können. Für eine

gesicherte Beurteilung fehlen allerdings hier

weitere Anhaltspunkte, so dass dieser Be-

fund nicht weiter interpretiert werden kann.

Röntgenuntersuchung des linken

Schienbeins auf Wachstumsstill-

standslinien

Die Röntgenuntersuchung belegt durch den

Nachweis der so genannten HARRIS-Linien den

Verdacht auf unspezifische Stresszustände.

Diese röntgendichten, quer zur Längsachse

des Schienbeins angeordneten, relativ dün-

nen und in der Regel nicht den ganzen Kno-

chenschaft in seiner Breite durchziehenden

Linien, die sich im körpernahen und körper-

Abb. 9: Konventionell erstellte Röntgenbilder des

linken Schienbeins der Kindermoorleiche von Kay-

hausen. Links: anterior-posteriorer Strahlengang,

Belichtung: 2,5 min, 40 kV; rechts: medio-lateraler

Strahlengang, Belichtung: 2 min, 40 kV. Pfeile: be-

sonders kräftig ausgebildete HARRIS-Linien.

Abb. 10: Vorderansicht des Halses des rechten

Oberschenkelbeins. Klammern: grobporöses Are-

al.

| 153 –

fernen Ende der Röhrenknochen (Metaphy-

sen) nachweisen lassen, repräsentieren Zo-

nen eines verzögerten Längenwachstums.

Als Ursache gelten hauptsächlich Mange-

lernährung („Hungerlinien“) oder länger an-

dauernde Infektionskrankheiten. Ist der kind-

liche Organismus hohen physischen, aber

auch psychischen Belastungen ausgesetzt,

kommt es aus kompensatorischen Gründen

zu einem Stillstand bzw. einer Verzögerung

des Wachstums. Da besonders das Län-

genwachstum der langen Röhrenknochen

betroffen ist, manifestiert sich der Wachs-

tumsstillstand – beispielsweise am Schien-

bein – an den quer zur Knochenlängsachse

angeordneten Wachstumsfugen, d. h. den

Epiphysenfugen. Die ursächlichen Faktoren

sind vielfältiger Natur. Darunter fallen vor

allem Hungerzustände und Infektionskrank-

heiten, aber auch Traumata, Schwanger-

schaft und perinatale Ereignisse sowie psy-

chologischer Stress.

Abb. 11: Dorsale Ansicht des linken Schienbein-

fragments des Jungen von Kayhausen. Pfeile:

Grubenförmige Ursprungstelle des Schollenmus-

kels (Musculus soleus) wohl aufgrund körperlicher

Überbelastung (Myotendopathie).

Abb. 12: Detailaufnahme des nekrotischen Be-

reiches der Muskelursprungsstelle (Klammer) aus

Abbildung 11. Die durch übermäßige Muskelbean-

spruchung entstandene Grube ist 45 mm lang und

bis zu 6 mm breit.

– 154 |

Bereits 1874, vor Erfindung der Röntgen-

technik, wurden HARRIS-Linien von Weg-

ner beschrieben (WEGNER 1874) und später

von Harris genau untersucht (HARRIS 1926;

1933). In der Folgezeit befassten sich zahl-

reiche Autoren mit dem Phänomen (z. B.

PARK 1954, WELLS 1964, ALLISON et al. 1974,

SCHULTZ 1978, HUNT & HATCH 1981, ODGEN

1984, MAAT 1984, MAYS 1985, BYERS 1991).

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass

HARRIS-Linien, die auch als „Wachstums-

stillstandslinien“ (OGDEN 1984) oder „Erho-

lungslinien“ (PARK 1954) bezeichnet werden,

zu den wichtigsten unspezifischen Stressin-

dikatoren zählen.

Am linken Schienbein des Jungen von Kay-

hausen lassen sich im körpernahen Bereich

(der körperferne Bereich ist nicht erhalten)

mehrere HARRIS-Linien unterschiedlicher

Stärke beobachten (Abb. 9). Es handelt

sich hier um die typischen, horizontal ver-

laufenden, linien- bis balkenartigen Struk-

turen im Bereich der Langknochenmetaphy-

sen. Die Linien sind zwar auch an anderen

Knochen zu beobachten, doch lassen sie

sich am besten am körpernahen und kör-

perfernen Ende der Schienbeine beurteilen

(vgl. z. B. SCHULTZ 1978).

Die Auswertung einer HARRIS-Linie ermögli-

cht auch die Bestimmung des Zeitpunkts,

zu dem sich ein Kind in einer solchen Peri-

ode der Überbeanspruchung befand. Die-

ser lässt sich berechnen (z. B. BYERS 1991,

FADJASCH 2008, HUNT & HATCH 1981, MAAT

1984), so dass es möglich ist, zu bestim-

men, in welchem Alter die Belastungspha-

sen stattfanden. G. Bolle und M. Schultz

entwickelten ein Skalensystem zur Bestim-

mung des Entstehungsalters der Linien am

Röntgenbild (s. FADJASCH 2008), bei dem der

Auswertungsmodus von SCHULTZ (1978) und

TEMPLIN (1993) mit herangezogen wurde. Bei

dem Fragment des linken Schienbeins des

Jungen von Kayhausen ergaben sich im an-

terior-posterior aufgenommenen Röntgen-

bild (Abb. 9: links) für den körpernahen Me-

taphysenbereich wenigstens sieben Linien,

die als HARRIS-Linien angesprochen werden

können. Diese lassen sich nach dem zuvor

beschriebenen Bestimmungsmodus in das

fünfte bis sechste, das sechste, das sieb-

te, das neunte, das zehnte und das elfte

Lebensjahr datieren. Im medio-lateral auf-

genommenen Röntgenbild (Abb. 9: rechts)

entfallen HARRIS-Linien auf das fünfte bis

sechste, das sechste bis siebte, das siebte

bis achte, das neunte, das zehnte und das

elfte Lebensjahr. Somit kam es vom fünften

bis zum elften Lebensjahr des Kindes we-

nigsten zu sechs Stresszuständen, die sich

in Wachstumsstillständen äußerten.

Schlussfolgerungen und Zusammen-

fassung

Die paläopathologische Untersuchung ei-

ner Moorleiche liefert häufig keine zufrie-

denstellenden Ergebnisse, da aufgrund der

destruktiven Lagerung im säurehaltigen

Moorboden das für die paläopathologische

Untersuchung diagnostisch besonders in-

formative Knochengewebe sehr stark ange-

griffen wird. Im Fall des Jungen von Kayhau-

sen lag noch ein weiterer, den Knochenerhalt

einschränkender Faktor vor: Die jahrelange

Lagerung des Körpers in einer wässerigen

Formalinlösung, welche die ursprünglich

sehr gut erhaltenen Weichgewebe konser-

vieren sollte, trug zusätzlich noch erheblich

zur Entkalkung des Skeletts bei.

Aus paläopathologischer Sicht ergab daher

die Untersuchung der Kayhausener Moorlei-

che nur wenige Ergebnisse, die zudem meist

| 155 –

nur als Verdachtsdiagnosen zu betrachten

sind, da in einigen Fällen keine ausreichend

aussagekräftigen Befunde erhoben wer-

den konnten. Doch selbst unter diesen er-

schwerten Umständen können Ergebnisse

vorgelegt werden, die zur Kenntnis der Le-

bensbedingungen des Jungen von Kayhau-

sen beitragen.

An einigen Stellen – beispielsweise beson-

ders ausgeprägt am linken Schienbein –

lassen sich rezente Schnittspuren im Sinne

eines Ausgrabungs- bzw. Bergungsarte-

faktes nachweisen.

Auf der Rückseite des linken Schienbeins

befindet sich im Ursprungsbereich des

Schollenmuskels (Musculus soleus) eine

deutlich ausgeprägte Grube, die aufgrund

eines nekrotischen Abbaus des Schaftkno-

chens infolge einer ausgeprägten Muskel-

Sehnenzerrung entstanden ist. Dieses mor-

phologische Merkmal ist als Hinweis auf

starken physischen Stress im Bereich der

Wadenmuskulatur anzusehen.

Die makroskopisch untersuchten Skelett-

überreste weisen – bei vorsichtiger Inter-

pretation – offenbar morphologische Spu-

ren einer Anämie auf, die möglicherweise

auf Mangelernährung (z. B. Proteinmangel,

Eisenmangel) oder auch auf Parasiten (z. B.

Würmer) bzw. Infektionskrankheiten, die

durch Einzeller verursacht werden (z. B. Mala-

ria), zurückgeführt werden können. Aufgrund

des auch schon in damaliger Zeit feuchten

Biotops und der historischen Überlieferung

bzw. Beobachtungen im Verlauf der letzten

zweihundert Jahre ist durchaus an eine chro-

nische Malaria zu denken, die bekanntlich bei

Kindern zu einer Knochenmarkhypertrophie

führen kann (vgl. SCHULTZ 1990).

Diskrete makromorphologische Hinweise

auf einen Entzündungsprozess im Bereich

des linken Schienbeins oder auch auf einen

chronischen Vitamin-C-Mangel (Skorbut)

lassen sich nicht zu einer verlässlichen Dia-

gnose verdichten, sollten aber zumindest als

„Stressmarker“ Beachtung finden.

In diesem Sinne sind auch die bei der Rönt-

genuntersuchung nachgewiesenen HARRIS-

Linien zu werten, die zu den aussagekräfti-

gsten unspezifischen Stressmarkern gehö-

ren. Sie liefern Informationen über die Stress-

situationen eines Kindes, die sich nicht nur

auf den Todeszeitpunkt, sondern auf die ge-

samte Kindheitsphase erstrecken. Der Junge

von Kayhausen war in seinem Leben (im Alter

zwischen fünf und elf) wenigstens sechs sol-

cher Stresssituationen ausgesetzt.

Abschließend ist zu bemerken, dass die ak-

tuelle Ergebnislage eine Revision früherer

Untersuchungen erlaubt. Die von H. Hayen

erwähnte Deformation des rechten Hüftge-

lenks (HAYEN 1964) kann nicht bestätigt wer-

den. Die beschriebene auffällige Formverän-

derung des rechten Oberschenkelknochens

ist nicht nachvollziehbar.

Danksagung

Die Autoren danken für die Anfertigung des

Knochendünnschliffs Herrn Michael Brandt,

Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin

Göttingen.

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Anschriften der Verfasser

Dipl. Biol. Edith Oplesch

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

| 157 –

Dipl. Biol. Susan Klingner

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

tingen.de

Dr. rer. nat. Jeannine Mißbach-Güntner

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Diagnostische Radiologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

und

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Hämatologie und Onkologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

Eilin Jopp, M.A.

Institut für Rechtsmedizin

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Butenfeld 34

22529 Hamburg

E-Mail: [email protected]

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. med. Klaus Püschel

Institut für Rechtsmedizin

Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf

Butenfeld 34

22529 Hamburg

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

und

Universität Hildesheim

Institut für Biologie und Chemie

Marienburger Platz 22

31141 Hildesheim

E-Mail: [email protected]

| 159 –

Untersuchung der sog. „Brusthaut“ der Moorleiche

„Mädchen aus dem Bareler Moor“

J. Zustin, I. Moll, J. Mißbach-Güntner, M. Schultz, K. Püschel, E. Jopp

schauungsmaterial an zahlreiche Institute,

Museen und Privatsammler (Königliche

Kunstkammer in Kopenhagen, Museum in

Clausthal, Gesellschaft zur Beförderung der

Künste und nützlichen Gewerbe in Hamburg,

Institute in Göttingen und St. Petersburg). Im

Laufe der Zeit sind die Asservate offenbar

fast alle verloren gegangen. Lediglich ein

Stück Haut – nach HAYEN (1961; 1987) die

rechte Brust – die sich ehemals in Kelps Pri-

vatbesitz befand und später an die Olden-

burger Apothekerin Dugend vererbt wurde,

wurde 1883 zum Teil an das Museum in Ol-

denburg übergeben.

Befund

Amtsarzt Kelp beschrieb die frisch gefun-

denen Leichenteile 1784 (PITISCUS 1791) als

„weich wie Lumpen, von brauner Farbe und

ohne Fäulnisgeruch, die sich mit einem Mes-

ser glatt schneiden ließen“. Fett- und Mus-

kelgewebe waren vergangen. Die Knochen

waren weich und entkalkt, lagen aber noch

in ihrer natürlichen Form vor. Haare, Finger-

nägel, Knorpel und Sehnen waren gut erhal-

ten. Das Lebensalter des Mädchens schätzte

Kelp aufgrund der anatomischen Merkmale

und erfahrungsbedingter Vergleiche auf etwa

14 bis 16 Jahre, ohne jedoch möglicherwei-

se die durch die Lagerung erfolgte Schrump-

fung des Gewebes zu berücksichtigen.

HAYEN (1987) zitiert aus PITISCUS (1791), dass

Ahlers beim nachgraben u. a. „die Haut der

Brust und des Leibes in einem Stück bis an

den Nabel“ fand und „die Haut des Brust-

stücks … fängt über den Schultern an und

gehet bis zum Nabel, … die Warzen der Brü-

ste sind deutlich sichtbar, und das ganze

Stück seihet beynahe wie eine Schürbrust

aus.“ (s. o.)

Das „Mädchen aus dem Bareler Moor“ (auch

Frau aus dem Bareler Moor) wurde 1784 im

Bareler Moor bei Dötlingen im niedersäch-

sischen Landkreis Oldenburg gefunden. Sie

zählt zu den frühesten Moorleichenfunden

von der noch Teile des Körpers vorhanden

sind. Eine 14C-Untersuchung ergab eine Da-

tierung in den Zeitraum zwischen 260 und

395 nach Chr. (Römischen Kaiserzeit, VAN DER

PLICHT et al. 2004).

Fund

Erste Überreste der Leiche – Teile des

Rumpfes, ein Bein mit Fuß sowie einen Un-

terarm mit der Hand – wurden von einem

Torfarbeiter in einer Tiefe von ca. 70-80 cm

entdeckt, freigelegt und in der Sonne ge-

trocknet. Die Leichenschau übernahm der

Oldenburger Amtsarzt Kelp. Ein Verbrechen

wurde ausgeschlossen, „da zur Zeit und

auch aus absehbarer Vergangenheit keine

vermisste Person aus der Umgebung gemel-

det oder bekannt war“ (HAYEN 1987). Amts-

arzt Kelp bewahrte daraufhin die Leichen-

teile in seiner privaten Kuriositätensamm-

lung in Oldenburg auf.

Die restlichen Teile der Moorleiche verblie-

ben zunächst im Moor bis sie etwas später

von dem Forstmeister Ahlers ausgegraben

wurden. Darunter der Hinterkopf, die Haut

des oberen Rumpfes bis zum Bauchnabel

sowie ein halbes Lenden- und Beinstück.

Diese Teile waren in der Zwischenzeit von

den Arbeitern und neugierigen Bauern völlig

zerstückelt worden. Auch Ahlers nahm alle

Teile mit zu sich nach Hause.

Da das Hauptinteresse damals vor allem

den konservierenden und gerbenden Ei-

genschaften des Moores galt, sandte Ah-

lers die lederartig gegerbten Stücke als An-

– 160 |

Untersuchung 1994 (Gutachten von Prof.

W. Bonte, IfR Düsseldorf, BOTH, FANSA 2011,

97 f.).

„Vorgelegt wird ein ungefähr trapezförmiges

Moorleichen-Hautstück mit den Ausmaßen

33 x 18 x 7 cm und maximal 1mm Dicke. Das

Hautstück hat eine tief-dunkelbraune Farbe

und erinnert an Leder. Die Konsistenz ist

aber nicht geschmeidig oder biegsam, son-

dern völlig steif und trocken. Der Rand ist

an der einen Längsseite geradlinig und glatt

und wirkt wie abgeschnitten, ähnlich auch

an der kürzeren Schmalseite und einem Teil

der längeren.

Das Hautstück ist im Zentrum ziemlich plan,

in den randlichen Bereichen auch teilweise

leicht gefältelt, besonders deutlich auf der

der glatt abgesetzten Längsseite gegenü-

berliegenden Seite, wo sich halbkreisför-

mig um das Zentrum herum angeordnete

Falten darstellen. Eine etwaige Vorwölbung

der zentralen Partie (vgl. Vorgeschichte) ist

jetzt nicht zu erkennen.

Die Oberseite ist relativ glatt, leicht glänzend,

mit feiner Narbung. Der Narben hat eine cha-

rakteristische plattenförmige Struktur. In der

Nähe des Zentrums vermeint man an einer

Stelle eine knapp linsengroße, deutlicher

glänzende und sich von der umgebenden

Narbung etwas abhebende Struktur zu er-

kennen. Es könnte sich um eine Brustwarze

handeln (vgl. Vorgeschichte). Sicher ist die-

ser Befund nicht, zumal ein Warzenvorhof

nicht auszumachen ist.“

Die histologische Untersuchung einer

kleineren Gewebeprobe von der kürzeren

Schmalseite ergibt, dass Epidermis und

subcutanes Fettgewebe vollständig fehlen.

„Erhalten ist ausschließlich das kollagene

Faserwerk des Coriums. In der äußeren (su-

bepithelialen) Schicht liegen die kollagenen

Faserbündel dicht gepackt. Die Einzelfa-

sern wirken verdickt und verquollen, teil-

weise verbacken, fast verschmolzen. In den

tieferen Schichten wirkt die Fasertextur lo-

ckerer, aber doch verdichteter, als im Frisch-

präparat. Eindeutig zu erkennen ist, dass die

Faserbündel räumlich unterschiedlich orien-

tiert sind und sich kreuzen.

Die Anfärbung der kollagenen Fasern ist in-

homogen und entspricht auch farblich nicht

ganz dem gewohnten Bild am Frischpräpa-

rat. In der HE-Färbung sieht man nur teil-

weise das klassische Rot. Manche Fasern

sind dunkelrot, andere fast lehmgelb. Mit

van Gieson stellt sich anstelle von Rot eher

ein leuchtendes Orange dar.

In der Elastica- und der Kombinationsfär-

bung sind elastische Fasern nicht auszu-

machen. Zellen oder Zellkerne stellen sich

in keiner Färbung dar. In den tieferen Schich-

ten sieht man vereinzelt nicht ganz vollstän-

dig zusammengedrückte Gefäße. Die Gefäß-

wände sind in den verschiedenen Färbungen

etwas dunkler angefärbt, als die kollagenen

Abb. 1: Rekonstruktion des erhaltenen Hautfragments (1: van der Sanden 1996, S. 40; 2:

Foto W. Kehmeier, 3: Zeichnung HAYEN 1987).

| 161 –

Fasern. Sie erhalten manchmal scholliges,

tiefbraunes Material, welches sich bereits im

ungefärbten Schnitt darstellt. Dieses Mate-

rial reagiert nicht auf die Eisenfärbung. Die

Gefäßlichtungen sind meist optisch leer.

Manchmal sieht man feinscholliges, bräun-

liches Material, welches sich in den ver-

schiedenen Färbungen wie das der Gefäß-

wände verhält.“

Bonte fasst zusammen, dass es sich bei

dem untersuchten Hautstück eindeutig um

menschliche Haut handelt.

„Daß es menschliche Haut ist, ergibt sich aus

der charakteristischen Narbung der Oberflä-

che. Speziell am Rumpf ist das Stratum reti-

culare plattförmig, allenfalls kammförmig ge-

staltet; entsprechend sind die Papillen des

Coriums wenig prominent, fast regelmäßig

verteilt. Genau dieser eher gleichmäßige und

feinstrukturierte Narben liegt vor.“

Bonte führt aus, dass es allein aufgrund

der morphologischen Befunde nicht sicher

zu entscheiden sei, von welchem Teil des

Rumpfes das Hautstück stammt. Eine ein-

wandfreie Identifizierung einer Brustwarze

ist nicht gelungen. Die halbkreisförmige Fäl-

telung könnte ein Hinweis auf eine weibliche

Brust oder die Schrumpfung des Präparats

sein. Eine mikromorphologische Identifizie-

rung wurde nicht durchgeführt, um das Prä-

parat nicht zu zerstören.

Auch bei späteren histologischen, elektro-

nenmikroskopischen und immunhistolo-

gischen Untersuchungen (BECHARA 2001,

STÜCKER et al. 2001) konnte keine Brustwar-

ze mehr erkannt werden.

Abschließend stellt Bonte – etwas fragwür-

dig – fest:

„ Unterstellt man einmal die Richtigkeit der

früheren Beschreibungen, dann ist der Re-

konstruktionsversuch von Hayen tatsächlich

überzeugend. Die Haut soll ja ursprünglich

bis etwa zum Bauchnabel gereicht haben. Die

größte Länge des Präparats legt nahe, daß

es teilweise Haut vom Hals includiert. Diese

dürfte durch die kürzere Schmalseite markiert

sein. Da das Präparat, welches bei Auffindung

noch die gesamte Brusthaut dargestellt ha-

ben soll, andererseits unzweifelhaft mit einem

geradlinigen Schnitt gezweiteilt wurde, kann

der geradlinige Rand nur der Brustmitte ent-

sprechen. Folglich kann es sich nur um die

rechte Hälfte der Brusthaut handeln.“

Untersuchung 2010

(Gutachten von Prof. I. Moll, UKE)

„Es handelt sich um ein fünfeckiges Haut-

stück mit einer Länge von 32 cm und einer

maximalen Breite von 20 cm mit zwei Nähten,

mehreren Sprüngen und feinen Löchern. Die

Farbe ist braun-schwarz, das Hautstück ist

von sehr harter und trockener Konsistenz. Es

ist unregelmäßig, teils stark gewellt. Die Ober-

fläche ist glatt, chagrinartig mit deutlichen

kleinen Unebenheiten, teils faltigen Verwer-

fungen und von einer netzartigen Zeichnung

überzogen. Diese Musterung reflektiert am

ehesten den retikulären Aufbau der Dermis.

Die Unterseite ist ebenfalls schwarz-braun,

stumpf und weist eine mehr rauhe Oberflä-

che auf. Hautadnexe oder andere Strukturen

lassen sich nicht erkennen.

Mikroskopisch zeigen sich nach verschie-

denen Färbungen Fasern, die verplumten

Kollagenfasern entsprechen. Dazwischen

sind Bindegewebszellen nicht erkennbar,

ebenso wenig die Epidermis und Adnexe

oder andere Epithelien. Zwischen den Kol-

lagenfasern sind verschieden wahrschein-

lich pflanzliche Anteile als myzelartige Struk-

turen oder Pflanzenzellreste zu erkennen

(Pfeilspitzen, Abb. 2E).

– 162 |

Insgesamt entspricht das Hautstück ver-

gerbten, dermalen kollagenen Fasern. Es

stammt aufgrund seiner Größe und Mono-

morphie am ehesten vom Körperstamm.

Eine genauere Lokalisation ist nicht auszu-

machen.“

Untersuchung 2010

(Gutachten von Dr. J Zustin, UKE)

Zur histopathologischen Untersuchung

wurde eine 6x3x3 mm große Gewebeprobe

vom Rand des vermeintlichen Hautpräpa-

rates eingesandt. Das Gewebe hatte eine

derbe elastische bis harte Konsistenz war

zudem sehr trocken. Es wies eine gleich-

mäßige dunkel braune bis schwarze Farbe

auf und es ließen sich darin keine charak-

teristischen Strukturen der menschlichen

Körperoberfläche wie Nägel, Wimpern oder

Haare erkennen. Die gesamte Oberfläche

des Teilstückes war unregelmäßig. Das Ge-

webe wurde vollständig eingebettet und

geschnitten mit Anfertigung von mikrosko-

pischen Präparaten mit Hämatoxylin-Eosin,

Elastika van Gieson, Toluidin Blau und Peri-

odic acid Schiff (PAS) Spezialfärbungen.

Mikroskopisch lassen sich lediglich unre-

gelmäßig durchflochtene, breite Fasern er-

kennen. Keine Hinweise für Reste von Blut-

gefäßen oder anderen morphologisch gut

Abb. 2: Bareler Moor. (A) Hautstück mit Falten und Nähten. (B) Netzartiges Muster der Oberfläche (Detail). (C) Verplumpte Fasern mit pflanzlichen

Bestandteilen (Pfeile; Goldner Färbung, kleine Vergrößerung). (D) Keine weiteren Gewebetypen (Blutgefäße, Epithelien) sind nachweisbar (Goldner

Färbung, stärkere Vergrößerung). (E) Befund von feingranulärem Detritus und braunen pflanzlichen Partikeln zwischen den Kollagenfasern (Pfeile, PAS

Färbung, Vergrößerung 400x). (F) Fokaler Nachweis von Pilzorganismen (Pfeile, PAS Färbung, Vergrößerung 400x).

| 163 –

definierten Hautstrukturen. Stattdessen

kommen zwischen den Kollagenfasern fein-

granuläre und kompakte Detritusfragmente

(Abb. 2E) und fokale Pilzkolonien (Abb. 2F)

zur Darstellung. Bei der Untersuchung un-

ter polarisiertem Licht zeigten sich zusätz-

lich mehrere kristalline Fremdpartikel.

Zusammenfassend würde das untersuchte

Gewebe gut zu vergerbten Kollagenfasern,

wie sie in der Unterhaut des Körperstammes

vorkommen, passen. Andere Strukturen

wie Blutgefäße, elastische Fasern und

Hautadnexe oder gar Oberflächenepithel

sind im vorliegenden Gewebestück nicht

mehr nachweisbar. Zusätzlich sieht man

zwischen den Kollagenfasern immer wieder

feingranulären Detritus und Pilzkolonien.

Untersuchung im März 2011

(Gutachten von Prof. Dr. Dr. M. Schultz

und Dr. J. Mißbach-Güntner, UMG)

Ergänzend zu den bisher vorliegenden Be-

gutachtungen wurden makroskopische, lu-

penmikroskopische, rasterelektronen- und

lichtmikroskopische (einschließlich Histo-

chemie und Polarisationsoptik) sowie vo-

lumen-computertomographische Untersu-

chungen vorgenommen. Da noch nicht alle

Befunde vorliegen, können zurzeit nur weni-

ge Ergebnisse vorgestellt werden.

Makroskopie und Lupenmikroskopie

Zweifelsfrei handelt es sich um ein Stück

Haut aus dem Körperstamm, wahrschein-

lich dem oberen ventralen Thoraxbereich:

Eine Brustwarze (Mamilla, Areola mammae)

war nicht erkennbar, obwohl sich der für eine

Brustdrüse verdächtige Bereich ein wenig

vorwölbt. Das könnte aber auch auf tapho-

nomische Ursachen zurückzuführen sein.

Die Haut ist trotz des Fehlens der äußeren

Schicht der Epidermis (auf jeden Fall des

Stratum corneum) sehr gut erhalten. Auf der

Hautunterfläche lassen sich lupenmikrosko-

pisch etwa in der Mitte des großen Haut-

lappens Weichgewebsreste beobachten, die

offenbar der Subcutis zuzuordnen sind. Hier

erhebt sich nun die Frage, ob es sich nicht

doch um Reste einer Brustdrüse handeln

könnte. Aufgrund der gut bestimmbaren

äußeren Hautfelderung und den porenähn-

lichen Vertiefungen, die makroskopisch und

lupenmikroskopisch mit der Anordnung der

Schweißdrüsenausführungsgänge oder ehe-

maliger Körperhaare in Verbindung gebracht

werden können, handelt es sich anatomisch,

d. h. makromorphologisch ganz sicher nicht

um Rückenhaut der Region zwischen dem

achten Brustwirbelkörper und dem Kreuz-

bein und wohl auch nicht um Bauchhaut. Es

ist also sehr wohl vorstellbar, dass hier Haut

aus der ventralen Thoraxregion – wohl ober-

halb der Brustwarze, da diese offenbar fehlt

– oder eventuell auch Haut aus der Leisten-

bzw. proximalen ventralen Oberschenkelre-

gion vorliegt. Noch weniger wahrscheinlich,

aber durchaus möglich, ist eine Zuordnung

der Haut in den dorsalen Schulterbereich.

Volumen-Computertomographie

Es ist eine deutliche Differenzierung der relativ

dicken Haut in drei Schichten zu beobachten.

Dies belegt – wenn man den lagerungsbe-

dingten Schrumpfungszustand berücksich-

tigt –, dass es sich nicht um einen Abschnitt

der Haut aus der Leisten- oder Oberschen-

kelregion handeln kann. Die dreidimensionale

Rekonstruktion der Haut über den volumen-

computertomographisch gewonnenen Da-

tensatz bringt die Hautmorphologie mit ihrer

Felderung und den porenähnlichen Vertie-

fungen hervorragend zur Darstellung.

– 164 |

Literatur

BECHARA, F. G. 2001: Histologische, elektronen-

mikroskopische, immunhistologische und IR-

spektroskopische Untersuchungen an der Haut

2000 Jahre alter Moorleichen. Medizinische

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BOTH, F., FANSA, M. 2011: Faszination Moorleichen.

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über die Kunst, Leder darin zu gerben. In: Blätter

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root/2004/JArchaeolScivdPlicht/2004JArchaeol

ScivdPlicht.pdf).

Anschriften der Verfasser

Priv. Doz. Dr. Jozef ZustinUniversitätsklinikum Hamburg-EppendorfInstitut für Pathologie,Haus O, 26 Raum 275Martinistr. 5220246 Hamburg

Prof. Dr. J. MollUniversitätsklinikum Hamburg-EppendorfInstitut für RechtsmedizinFachbereich Forensische AnthropologieButenfeld 3422529 Hamburg

Dr. rer. nat. Jeannine Mißbach-GüntnerUniversitätsmedizin GöttingenAbteilung Diagnostische Radiologie Robert-Koch-Str. 4037075 GöttingenundUniversitätsmedizin GöttingenAbteilung Hämatologie und Onkologie Robert-Koch-Str. 4037075 GöttingenE-Mail: [email protected]

Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael SchultzUniversitätsmedizin GöttingenZentrum AnatomieAG PaläopathologieKreuzbergring 3637075 GöttingenundUniversität HildesheimInstitut für Biologie und ChemieMarienburger Platz 2231141 HildesheimE-Mail: [email protected]

Prof. Dr. K. PüschelEilin Jopp, M.A.Universitätsklinikum Hamburg-EppendorfInstitut für RechtsmedizinArbeitsbereich Forensische AnthropologieButenfeld 3422529 Hamburg

| 165 –

Analyse des Hautfragments der Moorleiche „Bareler Moor“

mittels hochauflösender Computertomographie

J. Mißbach-Güntner, Chr. Dullin, J. Schirmer, F. Alves, M. Schultz

Hochaufgelöste Mikro-CT-Aufnahmen eines

ausgesägten ca. 1 cm3 großen Knochen-

stücks der rechten Tibia der Moorleiche

„Esterweger Dose“ dokumentierten eine

fortgeschrittene Osteomyelitis mit ausge-

prägten osteolytischen Veränderungen, re-

aktiven Knochenneubildungen und einem

typischen Fistelgang. Diese Erkrankung

in ihrer Schwere kann am ehesten für den

frühen Tod des jugendlichen Individuums

verantwortlich gemacht werden (MISSBACH-

GÜNTNER et al. 2010).

Die hohe Auflösung des Mikro-CT Daten-

satzes von bis zu 8 µm kann nur bei sehr

kleinen Präparaten erreicht werden, die sich

in einer entsprechend kleinen Objektkammer

befinden. Wie im Falle der „Esterweger Dose“

müssen die zu analysierenden Knochen dafür

zersägt werden. Damit ist ein wichtiges Krite-

rium für die röntgenologische Untersuchung

– die zerstörungsfreie Analyse des Knochen-

materials – nicht mehr gegeben.

Um aber auch größere Objekte scannen zu

können und dabei nicht auf eine hervorra-

gende Ortsauflösung verzichten zu müssen,

wird der Prototyp eines hochauflösenden,

präklinischen Flächendetektor-Volumen-

Computertomographen (fpVCT) eingesetzt,

der innerhalb weniger Sekunden auch grö-

ßere Objekte wie Schädel scannt und dabei

eine Ortsauflösung von 150 bis 200 µm er-

reicht. Mit Hilfe dieses fpVCT konnte unter

anderem die nahezu vollständig erhaltene

linke Tibia des „Jungen von Kayhausen“,

einer juvenilen, eisenzeitlichen Moorleiche

des Weser-Ems-Gebietes vollständig darge-

stellt und befundet werden. Besonders ein-

drucksvoll konnten bei dieser Untersuchung

Sedimenteinschlüsse im dorsalen Bereich

des Tibiakopfes festgestellt werden, die auf

eine mögliche Rückenlage der Moorleiche

unter der Liegezeit hinweisen. Aber auch so

Einleitung

Die moderne, nicht invasive Schnittbilddia-

gnostik stellt immer wieder einen lohnenden

interdisziplinären Ansatz bei paläopatholo-

gischen Fragestellungen dar, sowohl in der

Forensik als auch in der historischen An-

thropologie. Dabei eignet sich besonders

die hochauflösende Computertomographie

(CT) zur Darstellung von (prä)historischem

Knochenmaterial aufgrund des großen Kon-

trastes zwischen röntgendichten Hartgewe-

ben wie Knochen und Zähnen und der um-

gebenden Luft. CT generierte Datensätze

gestatten im Gegensatz zu konventionellen

Röntgenbildern zwei- und dreidimensionale

Abbildungen des Untersuchungsgutes in al-

len möglichen Betrachtungswinkeln ohne

die typischen Informationsüberlagerungen,

wie sie im klassischen Summationsbild

zwangsläufig entstehen.

Desweiteren können verschiedene Schnitt-

ebenen in verschiedenen Schichtdicken

festgelegt werden, die eine zerstörungs-

freie Analyse des Knochens ermöglichen.

Die gewonnene Informationsfülle bedingt

allerdings auch eine erhöhte Röntgendosis,

die bei der in vivo Bildgebung durchaus zu

bedenken, jedoch bei der Analyse archäo-

logischer Skelette und Mumienfunde zu ver-

nachlässigen ist.

Innovative Rekonstruktions- und Darstel-

lungs-Algorithmen erheben die Computer-

tomographie weiterhin von der einfachen

Abbildung des Untersuchungsgutes in den

Stand funktioneller Analysen, etwa bei der

Bestimmung der Knochenmineraldichte

beider Humeri der 800 Jahre alten Skelett-

Moorleiche „Esterweger Dose“. Hier deutete

die unterschiedliche Mineraldichte im Sei-

tenvergleich auf eine Rechtshändigkeit hin

(BARVENCIK et al. 2010).

– 166 |

genannte HARRISsche Linien als Merkmale

eines verzögerten Längenwachstums konn-

ten im Anschnitt erstmalig dreidimensional

als kräftig ausgebildete, röntgendichte und

damit von der übrigen Spongiosa gut diffe-

renzierbare Trabekelzüge abgebildet werden

(MISSBACH-GÜNTNER et al. 2011).

Während die CT-basierte Darstellung von

Knochen auch für historisches Material gut

etabliert ist, stellt die Abbildung von Haut

mittels CT-Technologien auch im klinischen

Kontext eine größere Herausforderung dar.

Die Haut selbst reichert kein Kontrastmit-

tel an und bietet durch die geringe Rönt-

gendichte des Weichgewebes auch kaum

eigenen Kontrast. Einige Tumore der Haut,

wie beispielsweise die so genannten Pilo-

matrikome, gutartige subkutane, mitunter

mineralisierende Neoplasien, die aus Haar-

Cortex-Zellen hervorgehen, lassen sich im

CT gut darstellen und werden auch mit die-

ser Technik diagnostiziert (LIM et al. 2007).

Häufiger sind allerdings dystope „Kalzifizie-

rungen“ (tatsächlich dürfte es sich um Mine-

ralisationserscheinungen handeln) der Cutis

und Subcutis im Zuge nicht heilender Ulce-

ra der Extremitäten. Auch hier entsteht ein

im CT-Bild gut sichtbarer Kontrast der Haut

durch mitunter massive „Kalkablagerungen“

(HEINIG und WOLLINA 2010).

Die Untersuchung der so genannten „Brust-

haut“ der Moorleiche „Bareler Moor“, die

in situ als lederig gegerbtes, völlig steifes,

schwarzes Hautstück imponiert, stellt somit

ein Novum in der röntgenologischen Analy-

se eines historischen Moorleichenfundes dar.

Der CT-Scan mittels fpVCT sollte dabei vor

allem die Frage klären, ob es sich bei dem

Hautstück tatsächlich um Brusthaut handelt.

2. Untersuchungsgut und Methode

Für die CT-Analyse stand das einzig, heu-

te noch erhaltene Fragment der im Bareler

Moor bei Dötlingen, Landkreis Oldenburg,

gefundenen Moorleiche zur Verfügung, die

aufgrund einer 14C-Untersuchung in die Rö-

mische Kaiserzeit datiert wurde (VAN DER

PLICHT et al. 2004). Dieses Hautfragment

(Abb. 1) der Größe von 35 x 20 x 2 mm wur-

Abb. 1: Links : Mit dem Darstellungsprotokoll „Moor“ kann der fpVCT-generierte Datensatz der Haut virtuell heller und damit besonders ihr struk-

turelles Relief hervorragend dargestellt und auch die grob vernähten Risse/Schnitte (Pfeile) kenntlich gemacht werden. Maßstab = 2 cm. In höheren

Auflösungen ist der netzartige Charakter einer typischen Felderhaut gut erkennbar. Mitte: Maßstab = 1 cm, rechts: Maßstab = 0,5 cm.

| 167 –

de nun im Zwei-Detektor-Betrieb zur größt-

möglichen Abdeckung des gesamten Frag-

mentes mit dem fpVCT gescannt, der eine

Entwicklung des General Electric Global Re-

search Centers (Niskayuna, NY, USA) ist.

Bei dem hier beschriebenen fpVCT führen die

Röntgenröhre und die Flächendetektoren in

einer geschlossenen Abtasteinheit (Gantry)

eine miteinander gekoppelte Drehbewegung

um ein gemeinsames Rotationszentrum aus.

Das fpVCT-System wird als Axialsystem

betrieben, d. h. die Datenerfassung erfolgt

längs der Systemachse in voneinander un-

abhängigen Einzelschritten jeweils während

einer 360° umfassenden Rotation der Rönt-

genröhre und des Detektorsystems um das

stationäre Untersuchungsobjekt. Anschlie-

ßend wird bis zur vollständigen Erfassung

des zu untersuchenden Objektvolumens

der Patientenlagerungstisch schrittweise

vorwärts bewegt. Während des Tischvor-

schubs erfolgt keine Exposition.

Der Scan mit einer Ortsauflösung von ca.

200 µm erfolgte mit folgenden Parametern:

Einzeldetektormodus, 80 kVp, 100 mA, 1000

Projektionen pro Rotation in vier Sekunden

und insgesamt fünf Schritte zur vollstän-

digen Abdeckung des Hautfragmentes. An-

schließend wurde der Datensatz mittels vox-

tools 3.0.64 Advantage Workstation 4.2 (GE

Healthcare) analysiert.

Da keine etablierten Darstellungsprotokol-

le für Auswertung von CT-Datensätzen der

Haut existieren, wurde ein eigenes Darstel-

lungsprotokoll „Moor“ etabliert, welches die

in situ schwarz verfärbte Haut virtuelle hell

abbildet. Desweiteren wurden auf bekann-

te Weichgewebsprotokolle wie „BW Lung“,

„Air Structure“ oder „BW Colon“ zurückge-

griffen, um einen sichtbaren Kontrast der

lederigen, röntgenschwachen Hautstruktur

zu erzeugen.

3. Beurteilung der Morphologie und

des Erhaltungszustandes

Trotz des 2-Detektor-Betriebs des fpVCT

konnte keine vollständige Abbildung des ge-

samten Hautstücks erreicht werden (Abb. 1).

Dennoch gibt die dreidimensionale Darstel-

lung des zentralen Hautbereiches mit Hil-

fe des Protokolls „Moor“ hervorragend die

Morphologie und das strukturelle Relief des

per se sehr röntgenschwachen Hautstücks

mit völlig integerer Oberfläche wieder. Die

Schnitt- respektive Risskanten des Objektes

sowie die groben Nähte zum Verschließen

dieser Risse, sind gut sichtbar. In der größt-

möglichen Auflösung wird die Feinstruktur

der Haut sichtbar: Kleine Poren ehemaliger

Haarbalgkanäle und Ausgänge von Talgdrü-

sen überziehen in dichter Formation die ge-

samte Haut, die dadurch einen netzartigen

Charakter aufweist (Abb. 1). Um die Näh-

te der Haut besser beurteilen zu können,

wurden auf einen dreidimensionalen Aus-

schnitt verschiedene Darstellungsprotokol-

le angewendet, die sowohl das Nahtmaterial

selbst, als auch den Hautriss unterschied-

lich kontrastieren (Abb. 2). So suggeriert in

diesem Zusammenhang das Protokoll „Air

Structure“, dass es sich bei dem benutzten

Nahtmaterial um einen innen hohlen, groben

Faden handelt.

Das Protokoll „Air Structure“ erlaubt wei-

terhin einen Blick in das Innere der Haut,

indem luftgefüllte Areale virtuell heller dar-

gestellt werden. „Bohrlöcher“ oder auch

„Bohrkanäle“, die im Zuge der Diagenese

durch Pflanzenwurzeln oder Pilzmyzelien in-

nerhalb der Haut entstanden sein können,

werden so als zusammenhängende hel-

le Linien abgebildet (Abb. 3). Eine Durch-

musterung des Objektes ergab prominente

Aufhellungen im Bereich der vermutlichen

– 168 |

Talgdrüsen- und Haarbalgausgänge, aber

auch großflächigere luftgefüllte Areale, die

am ehesten als leicht abgehobene Haut-

schichten angesprochen werden können

(Abb. 3). Ein möglicher, ca. 10 cm langer,

so genannter Bohrkanal, der sich parallel zu

einem vernähten Riss am Rand des Präpa-

rates befindet, konnte ebenfalls nachgewie-

sen werden. Kleine diskrete Kanälchen wa-

ren jedoch, möglicherweise aufgrund der für

diese Untersuchung zu geringen Auflösung

des Datensatzes, nicht sichtbar.

Um der Frage nach dem topographischen

Ursprung des Hautstücks als möglicher Teil

der Brusthaut nachzugehen, wurde das Prä-

parat von der äußeren Seite her in mehreren

Winkeln dreidimensional virtuell so darge-

stellt, dass die der Form der Brust durchaus

entsprechende Aufwölbung genau definiert

werden konnte (Abb. 4).

Im dreidimensionalen Anschnitt dieser kon-

vexen Struktur von der Innenseite aus be-

trachtet erscheint die Oberfläche nicht glatt-

Abb. 2: Unterschiedliche Darstellungsprotokolle kontrastieren verschieden Aspekte des Hautstücks: Links: Das Protokoll „BW Lung“ gibt nur wenig

Information über die Struktur der Haut, stellt aber das Nahtmaterial und den Schnitt (Pfeil) deutlich dar. Mitte: Das Darstellungsprotokoll „Colon“ kontras-

tiert im besonderen Maße die felderartige Oberfläche der Haut und verstärkt den Schnitt (Pfeile). Rechts: Das Darstellungsprotokoll „Air Structure“ erlaubt

einen Blick in die Haut und stellt luftgefüllte Bereiche hell dar (Pfeile). In dieser Darstellung erscheint das Nahtmaterial hohl (Pfeile). Maßstab = 1 cm.

Abb. 3: Die Durchmusterung des Hautstücks mit dem Protokoll „Air Structure“ erlaubt die

Beurteilung des Inneren des Präparates. Helle Bereiche können dabei als mit Luft gefüllt an-

gesprochen werden. Im Bereich der Talgdrüsen, respektive Haarbalgkanäle finden sich kleine,

luftgefüllte Strukturen (Sterne) aber auch im Bereich der Nähte verliert die Haut an Integrität und

ist belüftet (schwarze Pfeile). Sich heller abhebende, faserartige Bereiche suggerieren dagegen

das Ablösen ganzer Hautschichten (weiße Pfeile). Zusammenhängende, luftgefüllte Linien in der

Haut, die an großlumige „Bohrkanäle“ denken lassen (Pfeilspitzen), können ebenfalls beobachtet

werden. Maßstab = 1 cm.

| 169 –

wandig wie auf der Außenfläche, sondern

es imponieren einzelne, leicht abgehobene

Stränge, die möglicherweise Reste des sub-

kutanen Trägergewebes der Brustdrüse bzw.

eventuell sogar des Drüsengewebes reprä-

sentieren (Abb. 5). Sollte es sich tatsäch-

lich um Reste einzelner, konservierter Drü-

senläppchen handeln, wäre dies ein starkes

Indiz für die topographische Zugehörigkeit

des Hautstücks zur Brust. Zweidimensio-

Abb. 4: Die dreidimensionale Darstellung des Hautstücks in beliebigen Winkeln mit dem Protokoll „Moor“ zeigt deutlich die konvexe Aufwölbung

(Pfeile), die die Zugehörigkeit zur Brust suggeriert. Mamille und Areola dagegen sind nicht nachweisbar. Maßstab = 2 cm.

Abb. 5: Links: Betrachtung des Präparates von der Innenseite: Hier finden sich im dreidimensionalen Anschnitt des konvexen Areals einzelne Stränge

(Pfeile) locker assoziierten Materials, das an eingetrocknetes Drüsengewebe erinnert. Rechts: Die Abbildung verschiedener zweidimensionaler Schnitt-

ebenen zeigt die Stratifizierung der Haut mit einzelnen abgehobenen oder nur gering verbundenen Schichten (Pfeile), die der subkutanen Trägerschicht

der Brustdrüse oder sogar glandulärem Gewebe entsprechen könnten. Maßstab = 1 cm.

– 170 |

nale Anschnitte durch das konvexe Areal

lassen die sehr feine Stratifizierung der Haut

gut erkennen, wobei auch hier wieder auf

der Innenseite nur locker assoziierte Haut-

schichten auffallen, die eingetrocknetes,

glanduläres Gewebe darstellen könnten.

Letztendlich fehlt aber auch in den CT-ge-

nerierten Aufnahmen der überzeugendste

Hinweis auf die Brusthaut: Eine Mamille mit

umgebender Areola – beide konnten nicht

abgebildet werden.

4. Diskreter Befund einer Markierung

Nach Beurteilung von Morphologie und Er-

haltungszustand des „Bareler Hautstücks“

wurde dieses virtuell noch einmal mit ver-

schiedenen Abbildungsprotokollen durch-

mustert, um eventuelle Auffälligkeiten doku-

mentieren zu können. Bei der Betrachtung

der Innenseite des Präparates mit dem Pro-

tokoll „BW Lung“ fiel im oberen Drittel eine

unregelmäßig konfigurierte röntgendichte

Stelle auf, deren Zuordnung sich jedoch je-

der anatomischen Struktur entzog (Abb. 6).

Das röntgendichte Signal ist allein auf die

Innenseite des Objektes beschränkt und

von der Außenseite her nicht nachweis-

bar, weshalb eine Tätowierung, welche sich

aufgrund röntgendichter Farbpigmente gut

kontrastieren ließe, ausgeschlossen werden

kann. In der Vergrößerung ist eine mögliche

Beschriftung zu erkennen: Wahrscheinlich

wurde für die Aufschrift, die an die Namen

„Leah“ oder „Leni“ denken lässt, ein gra-

phithaltiger Stift verwendet, der für den gu-

ten Röntgenkontrast sorgt. Im zweidimensi-

onalen Anschnitt erkennt man deutlich die

nur auf die Innenseite beschränkten rönt-

gendichten Partikel, die der Hautoberfläche

anhaften (Abb. 6).

Diese Kennzeichnung des Hautstückes war

in der makroskopischen Betrachtung, sicher

aufgrund der dunklen Verfärbung, nicht auf-

gefallen.

Abb. 6: Links: Im oberen Drittel des Hautstücks und nur von der Innenseite aus betrachtet, imponiert mit dem Protokoll „BW Lung“ ein diskreter,

röntgendichter Bereich (Pfeil), der sich keiner anatomischen Struktur zuordnen lässt. Maßstab = 2 cm. Mitte: In der Vergrößerung findet sich ein, einer

Tätowierung ähnliches Signal (Pfeil), das sich aufgrund höherer Röntgendichte gut kontrastieren lässt. Die Lage auf der Innenseite des Präparates

schließt eine Tätowierung aus. Es handelt sich hierbei um die Inventarnummer des Landesmuseums Natur und Mensch Oldenburg, Nr. 1687. Maßstab

= 1 cm. Rechts: Der zweidimensionale Anschnitt weist durch die nur als Auflagerung imponierenden röntgendichten Partikel ebenfalls auf eine Bleistift-

markierung hin. Maßstab = 0,5 cm.

| 171 –

Die CT-Analyse erlaubte also schlussfol-

gernd eine umfassende Darstellung der

Oberflächen, aber auch einen Blick in die

Haut mit ihrer typischen Schichtung und

konnte darüber hinaus eine mögliche Be-

schriftung auf der Innenseite des Präparates

nachweisen.

Zusammenfassung

Das einzige, heute noch erhaltene Haut-

stück der Moorleiche des „Mädchens aus

dem Bareler Moor“, die in die Römische

Kaiserzeit datiert wird, wurde mittels hoch-

auflösender, nicht destruktiver Volumen-

Computertomographie untersucht. Zwei-

und dreidimensionale Aufnahmen der Haut

ermöglichten die Darstellung der Außenflä-

che der typischen Felderhaut der ventralen

Rumpfregion, aber auch der ursprünglich

mit einzelnen Strängen lockeren Gewebes

ausgekleideten Innenfläche, die an kon-

serviertes subkutanes oder gar glandu-

läres Gewebe denken lässt. Des Weiteren

gestattete der CT-Datensatz auch die Be-

urteilung luftgefüllter Areale im Inneren so-

wie eine gewisse Stratifizierung der Haut

im Querschnitt und erlaubte die Detektion

und Beurteilung diskreter, röntgendichter

Bereiche, die auf eine alte Beschriftung des

Präparates hinweisen.

Literatur

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der Moorleichen zwischen Weser und Ems. In:

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außergewöhnlichen Skelett-Moorleiche. Olden-

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rungen. Eine Komplikation bei Ulcera crurum.

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MISSBACH-GÜNTNER, J., DULLIN, C., ALVES, F., SCHULTZ,

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logisch bedeutsamer Alterationen der Knochen-

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(Hrsg.), Das Kind aus der Esterweger Dose – Do-

kumentation einer außergewöhnlichen Skelett-

Moorleiche. Oldenburg 2010, 39-44.

MISSBACH-GÜNTNER, J., DULLIN, C., KLINGNER, S., OP-

LESCH E., ALVES, F., SCHULTZ, M. 2011: Analyse des

Schienbeinschaftes des „Jungen von Kayhausen“

mittels hochauflösender CT. In diesem Band.

VAN DER PLICHT, J., VAN DER SANDEN, W. AERTS, A. T.

STREUERMANN, H.-J. 2004: Dating boy bodies by

means of 14C-AMS. Journal of Archaeological

Science 31, 2004, 471-491.

– 172 |

Anschriften der Verfasser

Dr. rer. nat. Jeannine Mißbach-Güntner

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Diagnostische Radiologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

und

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Hämatologie und Onkologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

Christian Dullin

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Diagnostische Radiologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

gen.de

Julia Schirmer

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Diagnostische Radiologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

und

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Hämatologie und Onkologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. med. Frauke Alves

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Hämatologie und Onkologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

und

MPI für experimentelle Medizin

Hermann-Rein-Str. 3

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

und

Universität Hildesheim

Institut für Biologie und Chemie

Marienburger Platz 22

31141 Hildesheim

E-Mail: [email protected]

| 173 –

Licht- und rasterelektronenmikroskopische Untersuchungen

an Hautproben der Moorleiche des „Mädchens Bareler Moor“

S. Klingner, E. Oplesch, M. Schön, M. Schultz

punkt der Auffindung – allerdings mit dem

bloßen Auge keine Brustwarze oder Reste

der Brustdrüse (mehr) zu erkennen waren,

galt mittlerweile die topographische Zuord-

nung der Hautstücke als unsicher. Neue Er-

kenntnisse vermitteln die von Jeannine Miß-

bach-Güntner und Mitarbeitern vorgestell-

ten Befunde, die offenbar doch den Brustbe-

reich als Herkunftsregion favorisieren (MISS-

BACH-GÜNTNER et al. 2011, in diesem Band).

Obwohl bereits andere Arbeiten über die

Untersuchungsergebnisse der Hautreste

des „Mädchens aus dem Bareler Moor“

vorgelegt wurden (MISSBACH-GÜNTNER et al.

2011, in diesem Band; ZUSTIN et al. 2011,

in diesem Band), waren die Autoren der

Meinung, dass es sich bei diesem Moorlei-

chenrest um einen besonderen Fund han-

delt, da Form, äußere und innere Oberflä-

chengestaltung sowie der als sehr gut zu

beschreibende Erhaltungszustand eine wei-

tere licht-, aber auch rasterelektronenmikro-

skopische Bearbeitung rechtfertigten. Diese

Überlegung wurde gestärkt durch die inte-

ressanten Ergebnisse der Volumen-Com-

putertomographie (MISSBACH-GÜNTNER et al.

2011, in diesem Band), denen auf dem Ge-

biet der mikroskopischen Strukturanalyse

nachgegangen werden sollte.

Material und Methoden

Vor Beginn der Untersuchung wurden bei-

de erhaltenen, anatomisch zusammen-

passenden Hautstücke (Abb. 1) – ein rela-

tiv großes (ca. 25 x 20 cm) und ein kleines

Stück (ca. 6,5 x 8,5 cm) der Rumpfwand

(vgl. MISSBACH-GÜNTNER et al. 2011, in die-

sem Band; ZUSTIN et al. 2011, in diesem

Band) – mit einem Industrieröntgengerät,

dem Vollschutzröntgengerät Faxitron (Hew-

Einleitung

Häufig ist die Haut das einzige Organ einer

Moorleiche, das bei äußerer Betrachtung

scheinbar am besten die Liegezeit überdau-

ert hat. Tatsächlich aber hat sich an Moor-

leichenfunden die äußere Hautschicht, die

Epidermis, so gut wie nie erhalten und auch

die Unterhaut (Subcutis) wurde bisher nicht

zuverlässig nachgewiesen (vgl. SCHÖN et al.

2011a, in diesem Band; ZUSTIN et al. 2011,

in diesem Band). Lediglich die Lederhaut

(Dermis) erhält sich im sauren Moorboden

in der Regel recht gut. Über den mikrosko-

pischen Aufbau der Moorleichenhaut, das

heißt der Dermis, sind – gerade in der letzten

Zeit – mehrere Beiträge erschienen, welche

die Aussagemöglichkeiten und die Grenzen

einer solchen mikroskopischen Hautunter-

suchung beleuchten (z. B. BECHARA 2001;

SCHÖN et al. 2011a, in diesem Band; SCHÖN

et. al. 2011b; SCHULTZ et al. 2011a, in die-

sem Band; SCHULTZ et al. 2011b; ZUSTIN et al.

2011, in diesem Band).

Die Moorleiche des „Mädchens aus dem Ba-

reler Moor“ ist der älteste bisher als Moorlei-

che bekanntgewordene Fund Norddeutsch-

lands (BOTH und FANSA 2011). Schon im Jah-

re 1784 wurde im Landkreis Oldenburg die-

se noch in großen Teilen nahezu vollständige

Moorleiche nördlich von Wildeshausen und

südlich von Delmenhorst im Bareler Moor

entdeckt (BOTH und FANSA 2011). Nach wech-

selvoller Geschichte sind die heute noch zur

Untersuchung vorliegenden Hautstücke, die

im Landesmuseum Natur und Mensch Ol-

denburg aufbewahrt werden, die letzten be-

kannten Reste dieser Moorleiche.

Beide erhaltenen Hautstücke, die an ihrem

Bruchrand gut aneinander passen, wurden

bisher meist der Haut der rechten Brustregi-

on zugeordnet. Da – im Gegensatz zum Zeit-

– 174 |

Abb. 1: Hautpräparate des „Mädchens aus dem Bareler Moor“: a) Außenansicht, b) Innenansicht.

a

b

| 175 –

lett & Packard), einem Gerät mit hochauf-

lösendem Focus, geröntgt, um eine Über-

sicht über die morphologische Qualität des

Fundes und seine Konsistenz zu erhalten.

Dabei fanden folienlose Filme (AGFA Struc-

turix D7) Verwendung.

Für die Probenentnahme zur Herstellung der

Schnittpräparate für die konventionelle Ge-

webeuntersuchung wurde von Seiten der

Museumspräparation Oldenburg leider nur

ein sehr kleines und schmales Hautstück

von einer Ecke des größeren Stückes ge-

nehmigt. Die Probe wurde nach der histo-

logischen Standardmethode entwässert,

in Paraffin eingebettet und mit histoche-

mischen und immunhistologischen Tech-

niken angefärbt (s. SCHÖN et al. 2011a, in

diesem Band).

Die Einbettung einer etwas größeren, eben-

falls dem großen Hautstück entnommenen

Probe sowie die Herstellung von Gewebs-

dünnschliffen erfolgte nach dem von Schultz

und Brandt entwickelten Verfahren (SCHULTZ

1988; SCHULTZ und DROMMER 1983). Wie üb-

lich wurden Gewebsdünnschliffe in den

Stärken von 50µm und 70µm angefertigt, die

im einfachen und polarisierten Durchlicht,

teilweise unter Verwendung eines Hilfsob-

jekts Rot 1. Ordnung (Quarz) als Kompen-

sator, untersucht wurden. Alle Proben wur-

den nicht gefärbt.

Die rasterelektronenmikroskopische Unter-

suchung einer dritten Probe, die von der

zweiten abgetrennt wurde, erfolgte nach der

Bedampfung mit Gold-Palladium mit dem

Rasterelektronenmikroskop DSM-960 der

Firma ZEISS.

Kurze makroskopische Beschreibung

des Fundes

In Ergänzung zu dem ausführlichen Bericht

von Frank Both und Mamoun Fansa, der den

aktuellen Stand der Forschung an der Haut

des „Mädchens aus dem Bareler Moor“ re-

präsentiert und auf den neuesten Ergebnis-

sen vor allem der Hamburger Arbeitsgrup-

pe um den Rechtsmediziner Klaus Püschel

basiert (BOTH und FANSA 2011), sollen hier

nur noch einige Ergänzungen nachgetragen

werden, soweit sie für das Verständnis und

die Interpretation der mikroskopischen Be-

funde von Belang sind.

Risse und Nähte

Das relativ brüchige Hautstück besteht

heute aus zwei Teilen: einem großen und

Abb. 2: Zwei Detailansichten der Hautaußenfläche mit „narbiger“ Oberflächengestaltung, die offenbar

die Papillenstruktur des Stratum papillare repräsentiert.

– 176 |

einem kleinen Stück, die an einigen Stellen

der Bruchflächen noch relativ gut zusam-

menpassen (Abb. 1). Die Brüchigkeit muss

schon vor geraumer Weile vorgelegen ha-

ben, da drei ehemals vorhandene Risse mit

einem mehrfach zusammengedrehten, gro-

ben, bindfadenähnlichen Faden (Hanf?) in

nicht gerade professioneller Weise vernäht

wurden (Abb. 1; vgl. MISSBACH-GÜNTNER et al.

2011, in diesem Band: Abb. 2). Keiner die-

ser alten Risse hat das ehemals einheitliche

Hautstück vollständig durchtrennt. Zusätz-

lich sind noch wenigstens sechs weitere

Risse neueren Datums zu erkennen, von

denen einer bereits in provisorischer Weise

mit einem unbekannten Klebstoff repariert (!)

wurde, während ein anderer Riss für die

bereits erwähnte Trennung der Haut in zwei

Stücke verantwortlich war.

Oberflächenveränderungen

Interessant für die Einordnung und Be-

wertung des mikroskopischen Erhaltungs-

zustandes ist die bereits von Jozef Zustin

und Mitarbeitern beschriebene äußere und

innere Oberflächengestaltung (ZUSTIN et al.

2011, in diesem Band) sowie die von Wolf-

gang Bonte in seinem Gutachten (zit. n. BOTH

und FANSA 2011) erwähnte „Narbung“ der

äußeren Oberfläche (Abb. 2 und Abb. 4b;

vgl. MISSBACH-GÜNTNER et al. 2011, in diesem

Band: Abb. 1), die offenbar unter anderem

Abb. 3: Spuren von nach der Ausgrabung erfolgten Beschädigungen auf der Hautinnenfläche: a) am

oberen Rand des großen Hautstückes (vgl. Abb. 1b), b) etwa in der Mitte des großen Hautstückes (vgl.

Abb. 1b).

Abb. 4: Röntgenaufnahme der Hautpräparate: a) Übersicht, b) Detail im Bereich der vermuteten früheren

Brustdrüse.

ba

ba

| 177 –

auch auf die Papillenbildung des Stratum

papillare zurückgeführt werden kann. Ergän-

zend ist zu vermerken, dass die Unterseite

unregelmäßig strukturiert ist, kleinere Abfet-

zungen erkennen lässt und zwei größere De-

fekte aufweist (Abb. 3), die als Spuren einer

nach der Ausgrabung erfolgten Beschädi-

gung anzusehen sind. Besonders das große

Hautstück weist in seiner äußeren Oberflä-

chengestaltung – abgesehen von den be-

reits erwähnten Papillenbildungen – ein be-

wegtes Außenrelief auf, das sich in Form

halbrund verlaufender, weitgehend parallel

angeordneter Falten (Abb. 1a und Abb. 4a)

darstellt und dem Hautstück ein geradezu

dreidimensionales Aussehen verleiht. Diese

Oberflächengestaltung ist auch im Röntgen-

bild (Abb. 4) sowie – und hier noch sehr viel

besser – in der dreidimensionalen Rekon-

struktion über den Volumen-Computerto-

mographen zu erkennen (MISSBACH-GÜNTNER

et al. 2011, in diesem Band: Abb. 5).

Nachweis einer Beschriftung

Die von Jeannine Mißbach-Güntner und Mit-

arbeitern mit dem Volumen-Computertomo-

graphen auf der Hautinnenfläche nachge-

wiesene Beschriftung (MISSBACH-GÜNTNER et

al. 2011, in diesem Band: Abb. 6), die auf

den ersten Blick an eine „Tätowierung“ er-

innert, ließ sich auch im analog angefertigten

Röntgenfoto nachweisen (Abb. 4a). Der un-

vollständige, da wohl teilweise abgeplatzte

Schriftzug wurde offenbar mit einer weißen,

röntgenstrahlendichten Farbe von pastöser

Qualität im Rahmen einer konservatorisch-

archivarischen Maßnahme auf die Hautin-

nenfläche aufgebracht (Abb. 5).*

Ergebnis der Röntgenuntersuchung

Die mit dem Faxitron analog durchge-

führte röntgenfotografische Darstellung

der Hautstücke entsprach in etwa der Qua-

Abb. 5: Reste einer Beschriftung im rechten Drit-

tel auf der Hautinnenfläche (vgl. Abb. 1b).

Abb. 6: Mikrotomschnitte durch einen Randbereich der Haut: schlechter Erhaltungszustand der Kolla-

genstruktur: a) Elastika-Färbung, Vergr. 10x; b) H.E.-Färbung, Vergr. 10x.

ba

– 178 |

lität der Bildrekonstruktion des mit dem

Volumen-Computer-Tomographen erstell-

ten Röntgenbildes (MISSBACH-GÜNTNER et al.

2011, in diesem Band), wies aber doch zum

Teil noch feinere Details auf (Abb. 4). Weitere

Aussagen waren auch an den mit dem Fa-

xitron erstellten Röntgenfotos – abgesehen

von den bereits oben beschriebenen Befun-

den – nicht möglich.

Ergebnisse zum mikromorpholo-

gischen Strukturerhalt der Haut

Im Großen und Ganzen entspricht der über

die Lichtmikroskopie erschlossene Struk-

turerhalt der Haut des „Mädchens aus dem

Bareler Moor“ den bereits an anderen Moor-

leichen (z. B. „Junge von Kayhausen“) beob-

achteten Verhältnissen (SCHÖN et al. 2011a,

in diesem Band; SCHULTZ et al. 2011a, in die-

sem Band; SCHULTZ et al. 2011b; ZUSTIN et

al. 2011, in diesem Band) und soll deshalb

hier nicht noch einmal in Einzelheiten wie-

derholt werden. Spuren der Diagenese, das

heißt der durch Mikroorganismen (z. B. Pilze,

Algen, Bakterien) und durch andere Boden-

einwirkungen (z. B. Pflanzenwurzeln, Bo-

dendruck) während der Lagerung im Moor-

boden erfolgten Zersetzung des Gewebes,

waren nur an wenigen Stellen nachweisbar

(makroskopisch: Abb. 3; lichtmikroskopisch:

Abb. 7).

Abb. 7: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 70µm). Übersicht: Hautaufbau und Stellen des Substanzver-

lustes (Pfeile). Vergr. 16x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht; b) im polarisierten

Durchlicht; c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz); d)

Betrachtung mit dem Mikroskop im einfachen Durchlicht. Vergr. 25x.

ba

dc

| 179 –

Schnittmikroskopie

Die nach der konventionellen Gewebeun-

tersuchung mit dem Mikrotom hergestellten

Schnittpräparate zeigten – wider Erwarten –

keine gute Qualität des Erhaltungszustandes

(Abb. 6), obwohl die Haut makroskopisch ei-

nen hervorragenden Erhaltungszustand auf-

zuweisen schien (Abb. 1). Es ließen sich le-

diglich Reste kollagener Faserbündel erken-

nen. Dies ist sicherlich nicht auf den Erhalt

der gesamten Haut zu übertragen, da die

Dünnschliffe einen sehr guten Strukturer-

halt aufweisen, sondern auf den konserva-

torischen Umstand, dass die Probe aus dem

äußersten Randbereich des Hautstückes

entnommen werden sollte, um – wie zuvor

schon ausgeführt – möglichst wenig Mate-

rial des wertvollen Fundes zu vergeuden. Es

ist leicht nachvollziehbar, dass der Außen-

bereich eines solchen Hautstückes in der

Regel immer durch die verschiedensten

Noxen physikalisch-biochemischer Art ge-

schädigt ist (z. B. mechanisch Abreibung und

Aufspleißung der Schichten, Feuchtigkeit,

von außen erfolgte Besiedlung des Rand-

bereichs des Hautstückes durch Mikroorga-

nismen und Pflanzenwurzeln). Die hier verar-

beitete Probe führte also leider – wie erwartet

– zu keinem auswertbaren Ergebnis.

Dünnschliffmikroskopie

Sehr gute Ergebnisse hat hingegen die

Dünnschliffuntersuchung ergeben. Der

Schliff aus der Rumpfhaut zeigt eine – mit

Ausnahme der weiter unten erwähnten De-

fekte im Innenbereich der Haut – überwie-

Abb. 8: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 70µm). Innerer Hautbereich mit Stellen einer erheblichen Verdi-

ckung der sehr dünnen Innenschicht (Stern). Vergr. 100x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen

Durchlicht; b) im polarisierten Durchlicht; c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts

Rot 1. Ordnung (Quarz).

aa

cb

– 180 |

gend gut erhaltene Struktur. Wie bereits

bei anderen Moorleichen beobachtet (z. B.

SCHÖN et al. 2011a, in diesem Band; SCHÖN

et al. 2011b; SCHULTZ et al. 2011a, in die-

sem Band; SCHULTZ et al. 2011b; ZUSTIN et

al. 2011, in diesem Band), fehlt die äußere

Hautschicht, die Epidermis, so dass nur die

Dermis untersucht werden konnte. Schon

bei der Betrachtung des Dünnschliffes in der

Übersichtsvergrößerung (16x) ist eine rela-

tiv dünne, aber sehr dichte Außenschicht zu

erkennen (Abb. 7), der eine nach innen zu

relativ dicke, das heißt im Schliffbild breite

Zone eng gepackter kollagener Faserbündel

folgt (Abb. 7). In der mittleren Vergrößerung

(100x) stellen sich die kollagenen Faserzüge

dieser mittleren, sehr dichten Schicht, die

den Hauptanteil des gesamten Präparates

einnimmt und keine Differenzierung in ein

Stratum papillare bzw. in ein Stratum reti-

culare erlaubt, sehr gut dar (Abb. 8). Diese

mittlere Schicht weist allerdings im Schliff-

bild – wie oben schon erwähnt – an einigen

Stellen einen ganz erheblichen Substanz-

verlust auf, der sich in etwa von der Mitte

des Hautlängsschliffs bis an die innere Be-

grenzung des Präparates ausdehnt und ei-

nen fleckartigen Charakter besitzt (Abb. 7:

Pfeile). Diesen umschriebenen Zonen eines

Substanzverlustes dürften die von Jean-

nine Mißbach-Güntner und Mitarbeitern im

Volumen-Computertomogramm beschrie-

benen luftgefüllten Strukturen entsprechen

(MISSBACH-GÜNTNER et al. 2011, in diesem

Band: Abb. 3). Als Ursache sind Dekompo-

sitionsprozesse (Verwesung) anzunehmen.

Abb. 9: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 70µm). Innerer Hautbereich mit Stellen einer erheblichen Ver-

dickung (Stern) der sonst sehr dünnen Innenschicht. Vergr. 100x. Betrachtung mit dem Mikroskop: a) im

einfachen Durchlicht; b) im polarisierten Durchlicht; c) im polarisierten Durchlicht unter Verwendung eines

Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).

aa

cb

| 181 –

Schweißdrüsen oder deren Ausführungs-

gänge, Talgdrüsen und Haarfollikel wurden

– wie auch schon bei andern Moorleichen-

untersuchungen (z. B. SCHÖN et al. 2011a, in

diesem Band; SCHÖN et al. 2011b; SCHULTZ

et al. 2011a, in diesem Band; SCHULTZ et al.

2011b; ZUSTIN et al. 2011, in diesem Band) –

nicht beobachtet.

Eine in großen Abschnitten sehr dünne In-

nenschicht (Abb. 8), die an einigen Stellen

eine erhebliche Verdickung aufweist (Abb.

9 bis Abb. 11), beschließt die Dreigliede-

rung der Brusthaut dieser Moorleiche. Die-

se innere Schicht ist bei den Hautpräparaten

anderer Moorleichen nicht zu beobachten

(SCHÖN et al. 2011a, in diesem Band; SCHÖN

et al. 2011b; SCHULTZ et al. 2011a, in die-

sem Band; SCHULTZ et al. 2011b; ZUSTIN et al.

2011, in diesem Band). Deshalb ist zu disku-

tieren, ob diese Schicht möglicherweise der

von Jeannine Mißbach-Güntner und Mitar-

beitern beschriebenen Struktur entspricht,

die möglicherweise als Rest der Brustdrüse

oder zumindest deren bindegewebigen Trä-

gerschicht anzusehen ist (MISSBACH-GÜNTNER

et al. 2011, in diesem Band).

Ein wünschenswerter Abgleich der Ergeb-

nisse der Dünnschliffuntersuchung mit den

Ergebnissen der konventionellen histolo-

gischen Gewebeuntersuchung (Mikrotom-

schnitte) konnte aufgrund der misslichen

Probenentnahme für letzteren Untersu-

chungsschritt leider nicht durchgeführt wer-

den, hätte aber möglicherweise etwas zur

Abb. 10: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 70µm). Innerer Hautbereich mit Stellen einer erheblichen

Verdickung (Stern) der sonst sehr dünnen Innenschicht; hier: mit deutlichem Trennspalt. Vergr. 100x. Be-

trachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht; b) im polarisierten Durchlicht; c) im polarisierten

Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).

aa

cb

– 182 |

Klarheit über die Herkunft bzw. die Zuord-

nung dieser inneren Schicht beitragen kön-

nen.

Rasterelektronenmikroskopie

Im Rasterelektronenmikroskop ist zu erken-

nen, dass – im Gegensatz zum lichtmikro-

skopischen Befund – die äußere Hautober-

fläche an einigen Stellen doch relativ stark

mit den Resten kleiner Lebewesen bzw. de-

ren Hinterlassenschaften (z. B. Bakterien,

Pollen, Pilzsporen) bedeckt ist (Abb. 12).

Diese Faktoren der Dekomposition und der

Diagenese haben sicherlich auch die rela-

tiv ausgeprägte und oben schon beschrie-

bene Brüchigkeit bedingt (Abb. 13) sowie

die bereits bei der Besprechung der lichtmi-

kroskopischen Ergebnisse erwähnten um-

schriebenen Zonen eines Substanzverlustes

verursacht (Abb. 7).

Abb. 11: Dünnschliff der Bauchhaut (Stärke 50µm). Innerer Hautbereich mit Stellen einer erheblichen

Verdickung (Stern) der sonst sehr dünnen Innenschicht; hier: Verdickung eng anliegend. Vergr. 100x. Be-

trachtung mit dem Mikroskop: a) im einfachen Durchlicht; b) im polarisierten Durchlicht; c) im polarisierten

Durchlicht unter Verwendung eines Hilfsobjekts Rot 1. Ordnung (Quarz).

Abb. 12: Rasterelektronenmikroskopisches Prä-

parat. Außenfläche der Haut mit aufliegenden

pflanzlichen Resten (z. B. Pilzsporen, Bakterien).

Vergr. 1.000x.

aa

cb

| 183 –

Weiterhin liefert die rasterelektronenmi-

kroskopische Untersuchung einen überra-

schenden Befund, der bisher offenbar noch

bei keiner Moorleiche beobachtet wer-

den konnte. Die Außenfläche der Haut des

„Mädchens aus dem Bareler Moor“ zeigt an

vielen Stellen die papillenförmige Oberflä-

chengestaltung (Abb. 14), die auch schon

in der lupenmikroskopischen Untersuchung

auffiel (Abb. 2) und dieser oberen Schicht

der Dermis ihren Namen gegeben hat (Stra-

tum papillare). Diese Papillenstruktur ist

letztlich auch für eine enge Verzahnung des

Stratum papillare mit der darüber liegenden

Hautschicht, der Epidermis, verantwortlich.

Zwischen den Papillen des Stratum papillare

finden sich kleine runde Löcher (Abb. 14b),

die auch schon in der schwachen Vergrö-

ßerung (Vergr. 25x) sichtbar sind und durch

die offenbar zu Lebzeiten Haare der Körper-

behaarung oder eventuell auch Blutgefäße

hindurchtraten (Abb. 15). Eine postmortal

im Zuge der Dekomposition erfolgte Ent-

stehung diese Löcher kann sicher ausge-

schlossen werden.

An einer Stelle auf der Außenfläche der Haut

konnte auch ein menschliches Haar nach-

gewiesen werden (Abb. 16), das offenbar

aus einer Hautfalte austritt und regelrecht –

wohl infolge des Dekompositionsprozesses

– mit seiner Unterfläche in die äußere Haut-

oberfläche eingesintert ist (Abb. 16b). Dieser

Umstand ist sicherlich auch dafür verant-

wortlich, dass sich das Haar an dieser Stel-

Abb. 13: Rasterelektronenmikroskopisches Prä-

parat. Randbruchfläche der Haut mit deutlicher

Stratigraphie der kollagenen Strukturen und kleine-

ren Substanzverlusten. Vergr. 60x.

Abb. 14: Rasterelektronenmikroskopische Präpa-

rate. Äußere Hautoberfläche mit papillärer Struktur

(Oberfläche des Stratum papillare): a) Übersicht.

Vergr. 10x; b) Papillen und kleine Kanaldurchtritte

(Pfeile). Vergr. 25x.

a

b

b

– 184 |

le erhalten hat. Der morphologische Erhal-

tungszustand ist als ausgezeichnet zu be-

schreiben (Abb. 16c), da alle Einzelheiten

der Haaroberfläche (z. B. Schuppen) sehr

gut zu beurteilen sind.

Zusammenfassung

Es wurden drei ausgewählte Hautproben der

Moorleiche des „Mädchens vom Bareler

Moor“ licht- und rasterelektronenmikrosko-

pisch analysiert, um den mikromorpholo-

gischen Aufbau der Gewebe zu überprüfen

und Hinweise auf den Zustand der unter-

suchten Gewebe zu erhalten.

Es haben sich nur die Abschnitte der Leder-

haut erhalten. Eine Gliederung in ein Stratum

papillare und ein Stratum reticulare konn-

te nicht durchgeführt werden. Fleckartige

Substanzverluste, die überwiegend in der

inneren Hälfte der Dermis gefunden wur-

den, gehen offenbar auf Dekompositions-

prozesse zurück, ohne dass deren typische

Verursacher wie Pflanzenwurzelreste, Pilze,

Algen oder Bakterien lichtmikroskopisch

nachgewiesen werden konnten. Allerdings

ließen sich in der rasterelektronenmikrosko-

pischen Betrachtung auf der äußeren Haut-

oberfläche Reste von Bakterien und Pilzen

(z. B. Hyphenreste und Sporen) sowie Pollen

beobachten, die möglicherweise aber erst

bei bzw. nach der Bergung auf die Haut ge-

langten bzw. sich dort entwickelten.

Abb. 15: Rasterelektronenmikroskopisches Prä-

parat. Äußere Oberfläche des Stratum papillare: Ka-

nallumen für Haardurchtritt oder Gefäß. Vergr. 80x.

Abb. 16: Rasterelektronenmikroskopisches Prä-

parat. In die äußere Hautoberfläche eingesintertes

Haar: Haarschaft mit Schuppen in sehr gutem Er-

haltungszustand: a) Haaraustritt. Vergr. 500x; b)

Haarschaftoberfläche. Vergr. 500x; c) Haarschaft-

oberfläche. Vergr. 1.000x.

a

b

c

| 185 –

Erstmals konnten mit dem Rasterelektro-

nenmikroskop an dem Hautpräparat einer

Moorleiche die Papillenstruktur des Stratum

papillare und mögliche Haardurchtrittsöff-

nungen bzw. mögliche Gefäßkanäle nach-

gewiesen werden. An einer Stelle der raster-

elektronenmikroskopischen Probe konnte

ein Haar begutachtet werden, das hervor-

ragend erhalten ist.

Die licht- und rasterelektronenmikrosko-

pische Untersuchung der Haut des „Mäd-

chens aus dem Bareler Moor“ belegt somit

einen außerordentlich guten Erhaltungszu-

stand.

Danksagung

Die Autoren danken Herrn Michael Brandt

und Frau Ingrid Hettwer-Steeger, beide

Zentrum Anatomie der Universitätsmedizin

Göttingen, für die Anfertigung der Knochen-

dünnschliffe bzw. der rasterelektronenmi-

kroskopischen Präparate.

Anmerkung

* Bei der Beschriftung handelt es sich um die In-

ventarnummer des Landesmuseums Natur und

Mensch Oldenburg, Nr. 1687.

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kroskopische, immunhistologische und IR-spek-

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MISSBACH-GÜNTNER, J., DULLIN, C., SCHIRMER, J., ALVES,

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SCHÖN, M. P., BENNEMANN, A., EMMERT, S., SCHULTZ,

M. 2011a: Histologische Untersuchungen der

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diesem Band.

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M. 2011b, im Druck: Ergebnisse der histolo-

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SCHULTZ, M., ZUSTIN, J., NOVÁČEK, J., JOPP, E., PÜ-

SCHEL, K., KLINGNER, S., OPLESCH, E. 2011a: Licht-

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SCHULTZ, M., JULIA GRESKY, J., NOVÁČEK, J. 2011b im

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proben der Moorleiche „Moora“. In: „Moora“ – Das

Mädchen aus dem Uchter Moor. Eine Moorleiche

der Eisenzeit aus Niedersachsen II. Materialhefte

zur Ur- und Frühgeschichte Niedersachsens, Rah-

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SCHULTZ, M., DROMMER, R. 1983: Möglichkeiten der

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bereich für die makroskopische und mikrosko-

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ZUSTIN, J., MOLL, I., MISSBACH-GÜNTNER, J., SCHULTZ,

M., PÜSCHEL, K., JOPP, E. 2011: Untersuchung der

sog. „Brusthaut“ der Moorleiche „Mädchen aus

dem Bareler Moor“. In diesem Band.

– 186 |

Anschriften der Verfasser

Dipl. Biol. Susan Klingner

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

tingen.de

Dipl. Biol. Edith Oplesch

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. med. Michael P. Schön

Universitätsmedizin Göttingen

Abteilung Dermatologie, Venerologie und

Allergologie

Robert-Koch-Str. 40

37075 Göttingen

E-Mail: [email protected]

gen.de

Prof. Dr. med. Dr. phil. nat. Michael Schultz

Universitätsmedizin Göttingen

Zentrum Anatomie

AG Paläopathologie

Kreuzbergring 36

37075 Göttingen

und

Universität Hildesheim

Institut für Biologie und Chemie

Marienburger Platz 22

31141 Hildesheim

E-Mail: [email protected]