der einfluss des faktors alter beim fremdsprachenlernen

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Technische Universität Dresden Fakultät für Sprach-, Literatur und Kulturwissenschaften Institut für Germanistik Seminar: Faktor Alter beim Fremdsprachenerwerb (SoSe 2015) Prof. Annette Berndt Der Einfluss des Faktors Alter beim Fremdsprachenlernen Laura Santoni Keglerstr. 14, Dresden Email: [email protected] Germanistik (HF)/Anglistik (HF); MA (Doppeldiplom) 2. Semester Matrikelnummer: 4125765 Kombinierte Arbeit: 234210

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Technische Universität Dresden Fakultät für Sprach-, Literatur und Kulturwissenschaften Institut für Germanistik Seminar: Faktor Alter beim Fremdsprachenerwerb (SoSe 2015) Prof. Annette Berndt

Der Einfluss des Faktors Alter beimFremdsprachenlernen

Laura SantoniKeglerstr. 14, Dresden Email: [email protected] Germanistik (HF)/Anglistik (HF); MA (Doppeldiplom)2. Semester Matrikelnummer: 4125765Kombinierte Arbeit: 234210

Inhaltverzeichnis.

1. Einleitung.

2. Die "kritische Phase" für den Fremdsprachenerwerb.

2.1. "Critical period" und "sensitive period": Definitionen.

2.2. Empirische Befunde: Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen.

2.2.1. Spracherwerb im Kindesalter.

2.2.2. Geseuerter vs. ungesteuerter Erwerb.

2.2.3. Interindividuelle Varianz.

2.2.4. Muttersprachliche Kompetenz und Endstand ("ultimate attainment").

2.3. Existiert eine kritische Phase für den Fremdsprachenerwerb?

3. Gerontologische Aspekte des FSL.

3.1. Fremdsprachengeragogik: das FSL im Altern.

3.2. Die Charakteristiken des "älteren" Fremdsprachenlerners.

3.3. Ontogenetische Veränderungen im Alter: Sensorik, Intelligenz und Gedächtnis.

3.4. Das Konzept der "Optimierung durch Selektion und Kompensation" und einige

didaktische Schlussfolgerungen der Fremdsprachengeragogik.

4. Schluss.

5. Literatur.

1. Einleitung.

Wie Grotjahn und Schlak behaupten, ist die Erforschung des Zusammenhangs zwischen Alter

und Spracherwerb einer der wichtigsten Arbeitsgebieten der internationalen

Spracherwerbsforschung und der Neurowissenschaften (vgl. Grotjahn/Schlak 2010: 1).

Dimroth und Haberzettl definieren der Einfluss des Alters auf das menschliche

Spracherwerbsvermögen als "eines der spannendsten, aber auch umstrittensten Themen der

Spracherwerbforschung" (Dimroth/Haberzettl 2008: 227). Zu diesem Thema gibt es wirklich

zahlreiche Ansätze und Studien, die unterschiedliche und oft auch widersprüchliche Thesen

unterstützen. Es handelt sich meistens um Querschnittstudien, deren Ergebnisse also für die

untersuchten Individuen gelten und nicht generalisierbar sind.

Bevor man sich mit dem Einfluss des Faktors Alter auf das Fremdsprachenlernen beschäftigt,

sollte eine wichtige Frage beantwortet werden, und zwar: Was versteht man unter dem Begriff

"Alter"? Die Antwort ist nicht so einfach und eindeutig, wie man denken könnte. Es geht

nämlich um einen sehr komplexen Faktor, der unter unterschiedlichen Dimensionen betrachtet

werden kann, zum Beispiel:

– Chronologische Dimension: Anzahl der Lebensjahre (z.B. Anna ist 50 Jahre alt. Sie ist

im Jahr 1965 geboren).

– Biologische Dimension: Physische Gesundheit (z.B. Anna ist so aktiv und fit, dass sie

als eine 30-Jährige aussieht).

– Psychologische Dimension: wie man das eigene Alter wahrnimmt (z.B. Anna ist 50,

aber sie fühlt sich wie eine 20-Jährige).

– Soziale Dimension: Erwartungen an einem bestimmten Alter (z.B. Tobias ist 8, aber er

benimmt sich wie ein Erwachsener).

Es ist interessant zu sehen, wie diese verschiedenen Altersdimensionen zusammenhängen:

z.B. das chronologische Alter kann mit dem biologischen/psychologischen/sozialen Alter

übereinstimmen (oder nicht).

Kommen wir nun zu einer zweiten wichtigen Beobachtung. Das menschliche Leben kann in

unterschiedlichen "Phasen" unterteilen werden, die man in Untersuchungen zum Thema

"Alter und Fremdsprachenlernen" als Bezugspunkte anwenden kann (konventionell spricht

man von: Säuglingsalter, frühe Kindheit, mittlere und späte Kindheit, Adoleszenz, frühes

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Erwachsenealter, mittleres Erwachsenealter und spätes Erwachsenealter). Jede menschliche

Lebensphase hat bestimmte Merkmale und Charakteristiken, die von der Psychologie der

Lebensspanne erforscht werden. Eine der wichtigsten Kernannahmen der Psychologie der

Lebensspanne (auf English: "life span psychology") ist die Idee, dass die menschliche

Entwicklung nach dem Erreichen des Erwachsenealters nicht zu Ende kommt, wie man in

diesem Zitat von Baltes lesen kann :

Life span developmental psychology, now often abbreviated as life span psychology, deals

with the study of individual development (ontogenesis) from conception into old age. A

core assumption of life span psychology is that development is not completed at adulthood

(maturity). Rather, ontogenesis extends across the entire life course and lifelong

adaptive processes are involved. [...] life span researchers expect each age period of the life

span (e.g., infancy, childhood, adolescence, adulthood, old age) to have its own

developmental agenda and to make some unique contribution to the organization of the past,

present, and future in ontogenetic development.

(Baltes et al. 2006: 569-570)

Die Psychologie der Lebensspanne versucht Modelle und Konzepte erfolgreiches Alterns zu

entwickeln, die Älterung als einen dynamischen Prozess zwischen Wachstum und Abbau

beschreiben. Sie baut außerdem viele der Stereotypen ab, die in unserer Gesellschaft

existieren und meist negative Vorstellungen vom Älterwerden vermitteln.

Im Bezug auf das Verhältnis zwischen Alter und Fremdsprachenlernen listet Grotjahn die

folgenden Beispiele von Stereotypen und Volksweisheiten auf:

1. Sehr junge Kinder können eine Sprache schnell und mühelos erwerben.

2. Ältere Erwachsene (im Alter 50-60) können im Vergleich zu jüngeren

Erwachsenen nur noch sehr eingeschränkt eine Sprache erlernen.

3. Was man als Kind nicht gelernt hat, kann man als Erwachsener häufig

nicht mehr lernen.

4. Es gibt eine kritische Phase ("critical period"), nach deren Abschluss

sowohl die Muttersprache als auch weitere Sprachen nicht mehr perfekt

erlernt werden können.

(Grotjahn 2003: 32)

Einer der wichtigsten Problemen ist, dass man leider diese falschen Stereotypen auch in den

fremdsprachenpolitischen und fremdsprachendidaktischen Argumenten von Politikern,

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Wissenschaftlern und Eltern findet (vgl. Grotjahn 2003: 32), was sich natürlich nachteilig auf

die Fremdsprachendidaktik auswirkt.

2. Die "kritische Phase" für den Fremdsprachenerwerb.

Die Existenz einer "kritischen Phase" für den Spracherwerb (die sog. "critical period

hypothesis") ist eine der wichtigsten Fragestellungen des Forschungsgebiets, das den

Zusammenhang zwischen Alter und Spracherwerb erforscht. In den nächsten Kapiteln werden

die wichtigsten Forschungsergebnisse zum Thema beschrieben und man wird sehen, ob das

Konzept der "kritischen Phase" auch für das Fremdsprachenlernen anwendbar ist.

2.1. "Critical" and "sensitive" period: Definitionen.

Die Existenz einer "kritischen Phase" für den Spracherwerb ("critical period hypothesis")

wurde ursprünglich in der neurolinguistischen Literatur von Penfield und Roberts (1959)

vorgeschlagen und später von Lenneberg (1967) aufgenommen und entwickelt (vgl. Hakuta

u.a. 2003: 31). Nach Lenneberg kann die Sprache nur in einer bestimmten "kritischen Phase"

erworben werden, die ungefähr von dem 2. Lebensjahr bis zur Pubertät (10-15 J.) dauert. Der

Begriff "kritisch" bezieht sich auf die Tatsache, dass diese Altersgrenze im Fall vom L1-

Erwerb (Erstsprachenerwerb oder Muttersprachenerwerb) absolut ist. Theoretisch könnte

man also nach dieser "kritischen Phase" nicht mehr eine Sprache lernen (vgl. Patkowski 1980:

449; Johnson/Newport 1989: 60). Als empirischer Beweis für diese Annahme wurden oft die

Beispiele von den sogenannten "Wolfskindern" erwähnt, Kinder, die aus verschiedenen

Grunden (z.B. Opfer von Gewalt, Brutalität, Verlassen, usw.) in extreme Isolation und ohne

sprachlichen Input die ersten Jahre ihres Lebens verbracht haben. Viele von diesen Kindern

blieben psychologisch, motorisch und sprachlich stark behindert und waren nie mehr in der

Lage, sich korrekt und vollständig in einer Sprache auszudrücken (trotz

Sprachrehabilitationsversuche). Besonders berühmt wurde der Fall von dem 13-jährigen

Mädchen Genie, die vielen Jahre in fast totaler Isolation verbracht hatte, Opfer eines

wahnsinnigen Vaters. Als weiterer Beweis für die Critical Period Hypothesis (CPH) wurden

Beispiele von Aphasikern benutzt, die nicht mehr in der Lage waren, ihre Sprachfähigkeit

wiederzugewinnen, wenn die Hirnbeschädigung post-pubertär war (vgl. Ioup u.a. 1994: 74).

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Viele Forscher haben die Anwendbarkeit der CPH auf den Fremdsprachenerwerb untersucht.

Einige haben den Begriff "sensitive period" ("sensible Phase") vorgeschlagen, der sich auf die

Tatsache bezieht, dass es nach einem bestimmten Zeitfenster (nicht so fest wie beim L1-

Erwerb) besonders schwierig ist, eine native-like Kompetenz in der L2-Sprache (in allen

sprachlichen Bereichen: Phonologie, Morphosyntax, usw.) zu erreichen (vgl. Patkowski 1980:

450; Johnson/Newport 1989: 97 ; Ioup et al. 1994: 74):

Many researchers have examined the applicability of the CPH to L2 acquisition. The term

sensitive period has been proposed as a means of indicating that the critical period is not an

abrupt or absolute criterion after which L2 acquisition is impossible but rather a gradual

process within which the ultimate level of L2 attainment becomes variable. Within this

framework reasearchers have proposed the maturational state hypothesis (Long 1990), which

predicts that not only will there be differences between children and adults acquiring L1, but

also children learning L2 will find their task easier than adults.

(Ioup et al. 1994: 74)

Es ist jedoch umstritten, ob Kinder wirklich "bessere" Fremdsprachenlerner als Erwachsene

sind.

2.2. Empirische Befunde: Unterschiede zwischen Kinder und Erwachsene.

Nach Grotjahn und Schlak ist es in erster Linie wichtig, einige Grundkonzepte zu präzisieren,

und zwar:

1. Die Altersstufen, auf welche sich die verschiedenen Studien beziehen. Angaben wie

"Kinder" oder "Erwachsene" sind nach ihnen viel zu ungenau. Nach Grotjahn gilt ein

Lerner als erwachsen, "wenn er den Anfang der Pubertät, d.h. ein Alter von ca. 10-15

Jahren, erreicht hat" (Grotjahn 2003: 32).

2. Womit sich die Untersuchungen beschäftigen: mit dem erreichten/erreichbaren

Sprachstand, mit der Schnelligkeit des Erwerbs oder mit den Lern- und

Verarbeitungsprozessen? Und was genau gemeint ist: die Kompetenz oder die

Performanz?

3. Den Kontext, in dem der Spracherwerb passiert: findet das Lernen unter

unterrichtlichen oder außerunterrichtlichen Bedingungen statt?

(Grotjahn/Schlak 2010: 2)

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Im Folgenden werden die wichtigste empirische Befunde in Bezug auf die obergenannten

Kriterien erläutert, die die Unterschiede im Fremdsprachenlernen zwischen Kindern und

Erwachsenen zeigen.

2.2.1. Spracherwerb im Kindesalter.

Unter normalen Bedingungen gelangen Kinder zur perfekten Beherrschung ihrer

Erstsprache(n) (vgl. Dimroth/Haberzettl 2008: 227). Wenn genug Sprachkontakt/Input

gegeben ist, können sie auch eine zweite (dritte, vierte, usw.) Sprache bis zur Perfektion

lernen und muttersprachliche Kompetenzen in der L2 erreichen, was bei erwachsenen Lernern

nur selten passiert (vgl. ebd., S. 227). Diese empirische Beobachtungen haben zur

Formulierung des weit akzeptierten Slogans "the younger – the better" geführt, nach dem der

L2-Erwerb umso erfolgreicher verläuft, je größer die zeitliche Nähe zum L1-Erwerb ist (vgl.

ebd., S. 227). Nach dieser akzeptierten These, wären also jüngere Kinder "bessere"

Fremdsprachenlerner als ältere Kinder und Erwachsene.

Wie aber Grotjahn und Schlak behaupten, ist der Spracherwerb im Kindesalter viel langsamer

und mühevoller als oft gedacht wird, und das gilt für den Erstsprachenerwerb ebenso wie für

den Zweitsprachenerwerb (Grotjahn/Schlak 2010: 4). Als Beweis für diese Annahme könnte

u.a. die Studie von Dimroth und Haberzettl (2008) genannt werden, die zu dem Ergebnis

gekommen ist, dass jüngere L1-Lerner (Alter: 1;5 - 2;4) das Präsensparadigma regelmäßiger

deutschen Verben langsamer als ältere L2-Lerner (Alter: 7;8 - 8;10) erwerben. Diese

Untersuchung vergleicht den L1-Erwerb mit dem L2-Erwerb älterer Kinder in einem

Kernbereich der deutschen Grammatik (die Verbflexion), nach einem bestimmten Kriterium:

die Erwerbsdauer. Man hat auf die Erwerbsdauer fokussiert (und nicht auf den erreichten

Endstand), weil sich die Kinder am Ende des Beobachtungszeitraums in diesem Bereich nicht

mehr unterscheiden. Man kann also nur wissen, wer schneller war.

Dimroth und Haberzettl nehmen an, dass der Erfolg der 7-9 jährigen L2-Lerner im Vergleich

mit den L1-Lernern, sowie mit den erwachsenen L2-Lernern, aus einer Kombination

vorteilhafter Lernvoraussetzungen und -strategien abhängt, und zwar:

– präzise Input-Imitation ("Formel-Lernen" oder "chunks learning"): Lernstrategie, die

auch bei Erwachsenen Lerner vorkommt, bei Kindern aber generell stärker ausgeprägt

ist. Es geht um die Reproduktion von Bausteinen aus dem Input, so wie sie gehört

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werden (auch wenn sie unvollständig oder fehlerhaft verstanden werden).

– weniger Einfluss der L1: Sprachverarbeitungsmechanismen, die Rezeption und

Produktion der L1 zugrunde liegen, mit zunehmendem Alter stärker eingeschliffen und

schwerer zu verändern sind. Mit wachsender Automatisierung können solche L1

abhängigen Mechanismen der effizienten Verarbeitung des L2-Inputs immer stärker

im Wege stehen.

– kognitive Reife: die fortgeschrittenen kognitiven Fähigkeiten der älteren Kinder

ermöglichen, Muster in kleineren Datenmengen zu erkennen, und somit schneller zu

abstrahieren und zu generalisieren.

– Erfahrung bei der Input-Ananlyse: erwachsene Lerner und ältere Kinder haben sie aus

dem bereits erfolgten Erstspracherwerb.

(Dimroth/Haberzettl 2008: 235-236)

Die erwähnte Studie spricht gegen den Slogan "the youger – the better" und gegen die These,

dass kleine Kinder sowohl ihre L1 als auch andere L2 mühelos und schnell erwerben.

Besonders schwer und langsam ist bei Kindern der Erwerb der bildungssprachlichen

Kompetenzen, auf Englisch: "Cognitive Academic Language Proficiency" (CALP). Die

"Basic Interpersonal Communicative Skills" (BICS), d.h. die alltagssprachlichen

Kompetenzen, werden dagegen müheloser und schneller erworben (vgl. Grotjahn/Schlak

2010: 4).

2.2.2. Gesteuerter vs. ungesteuerter Erwerb.

"Erwachsene erwerben Sprachen vor allem unter unterrichtlichen ("gesteuerten")

Bedingungen schneller als Kinder", wie Grotjahn behauptet (Grotjahn 2003: 33). Dies gilt

aber nicht in Bezug auf die Aussprache: Mit dem Altern wird die Diskriminisierungsfähigkeit

(d.h. die Fähigkeit, Laute zu differenzieren), und folglich auch die Aussprachekompetenz, aus

physiologischen Grunden schlechter. Aus diesem Grund und wegen einem größeren Transfer

von der L1 auf die L2 wird die Möglichkeit, eine native-like Aussprache zu entwickeln, sehr

gering. Die Effekte des Alterns auf das menschliche Sprachvermögen werden aber im Teil

"Gerontologische Aspekte des FSL" erklärt.

Noch in Bezug auf die Aussprache, sind einige Studien zu dem Ergebnis gekommen, dass

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auch Erwachsene mithilfe geeigneter unterrichtlichen Maßnahmen ähnliche hohe Leistungen

wie Kinder erreichen können (vgl. u.a. Neufeld 2001 und Pennington 1998, zit. in Grotjahn

2003: 34). Außerdem dokumentiert eine zunehmende Zahl von Einzelfallanalysen, dass

erwachsene Lerner auch ohne unterrichtliche Maßnahmen ein muttersprachliches

Fähigkeitenprofil in einer L2 erreichen können (z.B. die Studie von Ioup u.a., 1994). Auch

was den ungesteuerten Erwerb der L2 betrifft, sind nach Grotjahn und Schlak (jüngere)

Erwachsene anfänglich im Vorteil.

Nach Grotjahn und Schlak "lassen sich die Vorteile älterer Lerner in bestimmten [...]

Sprachbereichen anhand [einer größeren kognitiven Reife und eines] größeren Sprach- und

Weltwissens erklären" (Grotjahn/Schlak 2010: 5).

2.2.3. Interindividuelle Varianz.

Wie Grotjahn behauptet, zeigen erwachsene Lerner eine größere interindividuelle Varianz

(d.h. personelle Differenzen unter einzigen Individuen) in der L2 als Kinder. Mit

zunehmendem Alter werden auch Variablen wie z.B. Qualität des Inputs,

Persönlichkeitsmerkmale, usw. immer bedeutsamer (vgl. Grotjahn 2003: 34).

Auch eine relevante Studie von Johnson und Newport ist zu diesem Ergebnis gekommen.

Fokus der Untersuchung war die Existenz einer kritischen Phase für den L2-Erwerb. Als

Subjekte wurden 46 Koreaner und Chinesen gewählt, die mit unterschiedlichem Alter (3 bis

39 Jahren) in den USA eingewandert sind.

(Bild 1). Grafik von den Testleistungen im Bezug auf den Einwanderungsalter für Subjekte die vor vs. nach der

Pubertät in den USA eingewandert sind. Quelle: Johnson&Newport (1989). "Critical Period Effects in Second

Language Learning: The Influence of Maturational State on the Acquisition of English as a Second Language".

In: Cognitive Psychology, 21, S. 80.

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Die Ergebnisse der verschiedenen Tests zeigten einen deutlichen Vorteil der jüngeren

Einwanderer, im Vergleich zu denen, die mit einem höheren Alter eingewandert sind. Vor der

Pubertät waren die Testleitungen höher und eng mit dem Einwanderungsalter verbunden.

Nach der Pubertät waren sie niedrig, sehr uneinheitlich und unabhängig von dem

Einwanderungsalter, wie die Autoren der Studie berichten:

Before age 15, and most particularly before age 10, there are very few individual differences

in ultimate ability to learn language within any particular age group; success in learning is

almost entirely predicted by the age at which it begins. For adults, later age of acquisition

determines that one will not become native or near-native in a language; however, there are

large individual variations in ultimate ability in the language, within the lowered range of

performance.

(Johnson&Newport 1989: 80-81)

2.2.4. Muttersprachliche Kompetenz und Endstand ("ultimate attainment").

Wenn der L2-Erwerb unter ähnlichen Bedingungen wie bei der L1 erfolgt, dann sind Kinder

Erwachsenen normalerweise überlegen, vor allem im Bereich der Aussprache und der

Morphosyntax (vgl. Grotjahn 2003: 33-34). "Ab einem Alter von ca. sechs Jahren nimmt

[nämlich] die Wahrscheinlichkeit ab, ein muttersprachliches Kompetenzprofil [im Bereich der

Aussprache] zu erreichen" (Grotjahn/Schlak 2010: 6). Trotzdem bleibt es umstritten, ob

erwachsene Lernende in der Lage sind, ein native-like Niveau in der Fremdsprache zu

erreichen. Einige Studien berichten von besonders motivierten und talentierten Lernenden, die

muttersprachliche Kompetenzen in einer Fremdsprache erreicht haben. In diesen Fällen

spielen die sogenannten affektiven Faktoren (z.B. Motivation, Einstellungen zur L2,

Selbstvertrauen, fremdsprachenspezifische Angst, usw.) eine sehr wichtige Rolle: sie können

sogar eine neurophysiologisch bedingte Einschränkung (wie eine "sensible Phase" beim

Fremdsprachenlernen) teilweise abschwächen. Ioup und ihre Kollegen zeigen das Beispiel der

Engländerin Julie, die einen Ägypter verheiratet hat. Trotz sie erst mit 21 Jahren in Kontakt

mit dem Arabischen gekommen ist, hat sie im natürlichen (ungesteuerten) Kontext diese

Sprache vollständig und "muttersprachenidentisch" erworben. Der Grund für ihren Erfolg lag

bei der starken Motivation, Arabisch zu lernen, um in die ägyptische Kultur und Gemeinschaft

integriert zu werden (und sicher auch bei einer besonderen Sprachlerneignung und -Talent!).

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Nach Bialystok ist Julie jedoch kein Einzelfall:

[...] the documented cases of perfect mastery of a second language achieved by late learners

are not anomalous exceptions to a biological law or extraordinary feats by rare individuals

with an unusual and prodigious talent. Rather, they are quite ordinary occurences that emerge

when conditions are favourable.

(Bialystok 1997: 134, zit. in Traoré 2000: 235)

2.3. Gibt es eine kritische Phase für den Fremdsprachenerwerb?

Wie man aus den obergenannten Studien und Forschungsergebnissen sehen kann, hat die

Spracherwerbforschung zum großen Teil die Hypothese einer zeitlich fixierbaren und

biologisch basierten "kritischen Phase" beim L2-Lernen ausgeschlossen (vgl. Grotjahn 2003:

34). Die meisten Studien bestätigen jedoch die Existenz einer "sensiblen" oder "optimalen"

Phase für den Fremdsprachenlernen, d.h. ein Zeitfenster nach dem es schwieriger ist, eine

native-like Kompetenz in der Zielsprache zu erreichen. Das bedeutet, dass man in allen den

Phasen des Lebens eine Fremdsprache erlernen kann, wenn man genug motiviert ist und die

geeignete Lernstrategien benutzt. Das folgende Kapitel ist dem Fremdsprachenlernen im

Altern gewidmet, ein sehr aktuelles Thema im Bereich der Gerontologie.

3.1. Fremdsprachengeragogik: das Fremdsprachenlernen im Altern.

"Eine immer wichtigere, in der Forschung jedoch bisher vernachlässigte Gruppe sind die so

genannten "älteren" Fremdsprachenlerner" (Grotjahn 2003: 36). Die soziodemographische

Veränderungen in allen Industrieländern (rapide Abnahme von Geburten mit dem

kontinuierlichen Ansteigen der Lebenserwartung), haben zu einer Umformung der

Bevölkerungspyramide geführt, wie Berndt behauptet (vgl. Berndt 2007: 470). Die

Bevölkerung ist tatsächlich älter geworden. Zu dieser quantitativen Änderung kommt auch die

Tatsache, dass ältere Menschen ein immer höheres Bildungsniveau vorweisen, was ein

wesentlicher Indikator für Weiterbildung im Alter ist (vgl. ebd., S. 470). Nach Grotjahn ist es

außerdem zu erwarten, dass "die Nachfrage nach Fremsprachenlernangeboten für ältere

Lerner ansteigen wird" (ebd., S. 36), auch wegen einer tendenziell größeren Mobilität.

Genau in diesem Kontext hat sich die so genannte Gerontologie entwickelt, die Wissenschaft

vom Alter und Altern. Baltes und Baltes haben die folgende Definition von "Gerontologie"

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formuliert und vorgeschlagen:

Gerontologie beschäftigt sich mit Beschreibung, Erklärung und Modifikation von

körperlichen, psychischen, sozialen, historischen und kulturellen Aspekten des Alterns und

Alters, einschließlich der Analyse von altersrelevanten und alterskonstituierenden Umwelten

und sozialen Institutionen.

(Baltes & Baltes 1992: 8)

Gerontologie ist also ein multidisziplinäres Feld, wie es sich auch aus diesem Schema

verstehen lässt:

(Bild 2). Der Beitrag von Wissenschaft und Praxis zur Gerontologie. Quelle: Reimann&Reimann (1994). "Das

Alter. Einführung in die Gerontologie". Stuttgart: Enke, 1994, S.11.

Im Bereich der Fremdsprachenforschung ist die Disziplin der "Fremdsprachengeragogik"

entstanden, die Berndt als "Fremdsprachenmethodik und -didaktik für Menschen ab ca. 60

Jahren" definiert (Berndt 2007: 470). Im nächsten Kapitel werden die wichtigsten

Charakteristika des älteren Fremdsprachenlerners und die spezifischen ontogenetischen

Veränderungen im Alter (in Bezug auf Sensorik, Intelligenz und Gedächtnis)

zusammengefasst.

3.2. Die Charakteristiken des "älteren" Fremdsprachenlerners.

Lerner im höheren Alter (ab ca. 50-60 Jahren) wurden zu oft der Gruppe der Erwachsenen

allgemein zugeordnet (vgl. Berndt 2007: 470) und das stellt ein wichtiges Problem dar.

Natürlich gibt es Ähnlichkeiten zwischen diesen zwei "Kategorien" von Lernern, aber es gibt

vor allem Unterschiede, die genau betrachtet werden sollten, wenn man sich z.B. mit der

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Fremdsprachengeragogik beschäftigt. "Ältere" Fremdsprachenlerner sollten nämlich als eine

spezifische Gruppe erkannt werden, die bestimmte Eigenschaften und Charakteristiken hat.

In erster Linie zeigen sie eine größere interindividuelle Varianz in ihren Leistungen (vgl.

Grotjahn 2003: 36). Wie schon im Kapitel 2.2.3. mithilfe der Studie von Johnson und

Newport gezeigt worden ist, nimmt dieser Faktor mit dem Altern zu. Wichtige

psychologische, physische und soziale Veränderungen (z.B. Pensionierung, Isolation, usw.),

die normalerweise in dieser Phase des Lebens stattfinden, tragen auch dazu bei, die

interindividuelle Varianz unter den verschiedenen Lernern zu erweitern. Wegen dieser

Vielfältigkeit der Lebenserfahrungen und der Dispositionen nimmt auch die Bedeutsamkeit

eines Ansatzes zu, der die Individualität des Lerners (mit seinen individuellen kognitiven,

affetiven und sozialen Dispositionen) betrachtet und schätzt (vgl. die

"Einzelgängerhypothese" von C. Riemer). Diese individuelle Unterschiede zwischen

Lernenden (Motivation, Lernziele, Einstellungen, usw.) sollten dann auch in didaktischen

Entscheidungen überführt werden.

Was die Motivation betrifft, kann man feststellen, dass sie bei älteren Fremdsprachenlernern

besonders hoch ist, weil sie primär im sozialen und persönlichen Bereich liegt. Unter den

verschiedenen Motivationen gehören zum Beispiel, nach Berndt:

– Kompensatorische Erwägungen: nach der Pensionierung finden ältere Menschen

erstmals ausreichend Zeit, sich dem Erlernen einer Fremdsprache zu widmen.

– Wunsch nach sozialem Kontakt mit anderen Menschen gleichen Alters.

– Konkrete Anwendung der Fremdsprache im Zielland (oft mit touristischem

Hintergrund): der in den letzten Jahrzehnten gestiegene Lebensstandard älterer

Menschen eröffnet nämlich die Möglichkeit zur Mobilität.

– "Wiederlernen" einer Sprache: ältere Fremdsprachenlerner möchten oft ein in früheren

Jahren begonnenes Lernprojekt weiterführen.

(Berndt 2007: 470-471)

Durch bereits gemachte Lernerfahrungen besitzen ältere Fremdsprachenlerner einen

Strategienapparat, der allerdings stark von den Methoden der Zeit abhängig ist, in der die

früheren Fremdsprachenlernerfahrungen gesammelt worden sind (vgl. Berndt 2001: 82). Es

handelt sich meistens um Grammatik-Übersetzungs-Methoden, die sich von der heutigen

kommunikativen Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts unterscheiden (vgl. Berndt 2001:

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82). Die unterschiedlichen Motivationen, Lernerfahrungen und -Dispositionen, so wie die

Tatsache, dass ältere Lerner Kurse oft nicht regelmäßig besuchen, führen zu einer allgemeinen

Inhomogenität der Lerngruppe (vgl. Berndt 2007: 471), von der die Lehrfigur bewusst sein

muss. Der Kursleiter sollte außerdem in der Lage sein, spontan auf unerwartete Situationen

und Fragen zu reagieren (ebd., S. 471) und mit einem ungewöhnlichen "Rollenwechsel" (in

dem ältere Menschen wieder "Schüler" werden) zu rechnen.

3.3. Ontogenetische Veränderungen im Alter: Sensorik, Intelligenz und Gedächtnis.

Wie Berndt behauptet, ist das Altern ein dynamischer Prozess: "Bestimmte Merkmale bleiben

über das gesamte Leben mehr oder weniger konstant [...], [andere modifizieren sich oder sind]

nur über bestimmte Zeitspannen vorhanden" (Berndt 2001: 77-78). Im Folgenden werden die

wichtigsten Veränderungen im Bereich der Sensorik, Intelligenz und Gedächtnis behandelt,

die die Lerndisposition im Alter modifizieren. Sie gelten nicht unbedingt nur für Menschen ab

50-60 Jahren. Manchmal finden sie auch früher statt, bei jüngeren Menschen: in diesem

Bereich spielt nämlich das biologische Alter eine sehr wichtige Rolle.

Veränderungen der Sensorik.

"Die eklatantesten Veränderungen im Bereich der Sensorik beziehen sich auf das akustische

Hören" (Berndt 2007: 471). Ein wichtiger Problem stellt die sogenannte "primäre

Presbyakusis" dar, die zu einem deutlichen Absinken der Hörgrenze für höhere Töne führt.

Außerdem findet in der Regel eine rapide Hörverschlechterung bei Hintergrundgeräuschen

statt. Wie Grotjahn behauptet, sollte die Aufbereitung des Unterrichts und des Lernstoffes

diese Einschränkungen der sensorischen Möglichkeiten berücksichtigen (vgl. Grotjahn 2003:

37), was leider nicht immer der Fall ist. Man sollte zum Beispiel vermeiden, Hörmaterialien

zu benutzen, die ein zu schnelles Tempo haben oder in denen die Einzeleinheiten nicht

deutlich diskriminierbar sind.

Veränderungen im Sehbereich (z.B. Altersweitsichtigkeit) sind nicht so problematisch, weil sie

einfach durch optischen Hilfen gelöst werden können (vgl. Berndt 2007: 471; Berndt 2001:

79). Man muss aber auch damit rechnen, dass die Retina mit dem Altern an Transparenz

verliert, so dass das Auge wenigere Helligkeit wahrnimmt (vgl. ebd., S. 79).

Im Hinblick auf die Psychomotorik kann man eine allgemeine Verlangsamung der

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psychomotorischen Prozesse feststellen (vgl. Berndt 2007: 472). Ältere Menschen haben

normalerweise längere Reaktionszeiten und ihre Fähigkeit, mehrere Reize gleichzeitig zu

verarbeiten (multitasking), nimmt ab. Auch ihre Schreibgeschwindigkeit wird allmählich

geringer.

Veränderungen der Intelligenz.

Wie Berndt betont, waren Intelligenz- und Gedächtnistests über Jahrzehnte das

Hauptinstrument gerontopsychologischer Forschung, um Altersunterschieden zu erheben (vgl.

Berndt 2001: 79). Dies hat zu dem so genannten Defizit-Modell geführt, nach dem die

Intelligenz- und Gedächtnisfunktionen ein stetiges Abbau im Alter erleiden. Das Problem bei

diesen Querschnittuntersuchungen (die Leistungen unterschiedlich alter Menschen zum

gleichen Zeitpunkt messen) ist, dass der sogenannte "Kohorteneffekt" nicht beachtet wurde

(vgl. ebd. S. 79). Nach diesem Prinzip haben die unterschiedlichen "Kohorten" (d.h. Gruppen

von Personen, die gemeinsam ein bestimmtes längerfristig prägendes Ereignis erlebt haben,

z.B. den zweiten Weltkrieg) unterschiedliche Ergebnisse in den Intelligenztests, weil sie auch

unterschiedliche Lernbedingungen gehabt haben. Insbesondere kann man eine große

Diskrepanz zwischen den Ergebnissen der älteren Generationen und der Generation der heute

Jungen, die natürlich mehrere Lernchancen und eine bessere Ausbildung zur Verfügung hatte.

Neuere Längschnittuntersuchungen und die Aufteilung der Intelligenz in pragmatischen und

mechanischen Komponenten (kristalline vs. fluide Intelligenz) haben zu einer differenzierten

Sicht der Intelligenz im Alternsprozess geführt (vgl. Baltes/Lindenberger u.a. 1995, zit. in

Berndt 2001: 79). Während die fluide Komponente (universelle, biologisch determinierte

Basisprozesse der Informationsverarbeitung) eine defizitäre Entwicklung im Laufe der Jahren

erleidet, bleibt die kristalline Komponente (bildungs- und übungsabhängiges faktisches und

prozedurales Wissen) weitgehend konstant (vgl. Grotjahn 2003: 37). Wie Grotjahn behauptet,

können bestimte Defizite in der fluiden Komponente durch ein hohes Strategiewissen sowie

durch Übung und Training teilweise kompensiert werden (ebd., S. 37), was auch mit der

sogenannten Plastizitäts-Hypothese übereinstimmt. Der Begriff "Kompensation" wird genauer

im Kapitel 3.4. geklärt, wo das Konzept der "Optimierung durch Selektion und

Kompensation" eingeführt wird.

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Veränderungen des Gedächtnisses.

Das Gedächtnis ist "ein weiterer kognitiver Leistungsbereich, der sich im Laufe der Alterung

stark verändert" (Berndt 2007: 472). Aktive Gedächtnisleistungen wie das gezielte Lernen und

der Abruf von Informationen unterliegen einem Altersabbau, der mit der Verlangsamung

kognitiver Prozesse, mit der Abnahme der sensorischen Leistungen und mit den Problemen

bei der selektiven Aufmerksamkeitssteuerung erklärt werden kann (vgl. Grotjahn 2003: 37).

Insbesondere kann man Defizite im Primärgedächtnis (Funktion kurzfristiger Präsentation

von Informationen) und im aktiven Sekundärgedächtnis (verantwortlich für das langfristige

Behalten neuer Gedächtnisinhalten) feststellen, während das passive Sekundärgedächtnis

(Erinnerungsfunktion von lange eingespeichertem Wissen) weitgehend altersstabil bleibt (vgl.

ebd., S. 472).

3.4. Das Konzept der "Optimierung durch Selektion und Kompensation" und einige

didaktische Schlussfolgerungen der Fremdsprachengeragogik.

Die Fremdsprachengeragogik sollte versuchen, die durch sensorischen Problemen erschwerte

Informationsverarbeitung zu erleichtern und das Sprachenlernen so angenehm wie möglich zu

gestalten. "Die Geragogik als Pädagogik für ältere Menschen hat im Zusammenhang mit ihren

Theorien zum erfolgreichen Altern das Modell der Optimierung durch Selektion und

Kompensation (OSEKO) entwickelt" (Berndt 2001: 83), dessen Ziel ist, die Defizite im Alter

zu kompensieren. Dieser Ansazt besteht aus drei Phasen, die mit den folgenden

Schlüsselwörtern zusammengefasst werden können:

– Optimierung: Möglichkeit zur Verbesserung (wie schon gesagt, finden im

Alternsprozess zahlreiche biologische/kognitive/usw. Veränderungen statt, die zu

Defiziten in unterschiedlichen Bereichen führen).

– Selektion: Auswahl von Lerngegenständen und -vorgängen, die den älteren Menschen

zur Verfügung stehen und von defizitären Entwicklungen weniger belastet sind (z.B.

Lesenkompetenz statt Hörverstehen).

– Kompensation: das Ersetzen von Defiziten in einem Bereich durch Kompetenzen in

einem anderen Bereich (z.B. Problemen bei der selektiven Aufmerksamkeit →

Rückgriff auf Bekanntes).

(vgl. ebd., S. 83)

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4. Schluss.

Wie es sich aus diesem Bild verstehen lässt, spielt der Faktor Alter eine sehr wichtige Rolle

bei dem Erlernen einer Fremdsprache. In dieser Arbeit wurden insbesondere zwei wichtige

Probleme zusammengefasst: die Existenz einer "kritischen Phase" für den

Fremdsprachenerwerb und die gerontologischen Aspekte des Fremdsprachenlernen.

Was den ersten Punkt betrifft, schließt die Mehrheit der Forschungen die Existenz einer

"kritischen Phase" für den L2-Erwerb ("critical period hypothesis") aus. In Bezug auf den

erreichbaren Endstand spricht man lieber von einer "sensiblen Phase", d.h. ein optimales

Zeitfenster für den Fremdsprachenerwerb, in dem man bessere Chancen hat, ein

muttersprachlisches Niveau in bestimmten Bereichen (Phonologie, Morphologie, usw.) der

Zielsprache zu erreichen. Die genaue Grenzen dieser hypothetischen "sensiblen Phase" sind

noch nicht genau und eindeutig formuliert werden, weil die unterschiedlichen Studien

unterschiedliche Altersangaben vorschlagen (10 Jahren? 15 Jahren? 6 Jahren? usw.). Die

Mehrheit dieser Forschungen stimmt jedoch mit der Annahme überein, dass erwachsene

Lernern nur selten ein muttersprachliches Kompetenzenprofil erreichen (die Studie von Ioup

u.a., 1998 zeigt jedoch eine Ausnahme). Viele dieser Studien bauen außerdem Mythen und

Volksweisheiten ab, wie z.B. das Slogan "the younger-the better" (vgl. die Studie von

Dimroth und Haberzettl). Es gibt keine Phasen des Lebens nach denen es unmöglich ist, eine

Fremdsprache zu erlernen: man muss einfach das Lernen an das Alter anpassen, die Vorteile

einer bestimmten Phase ausnutzen und eventuelle Defizite mit bestimmten Strategien

kompensieren.

Das zweite Teil dieser Arbeit zeigt einige Ergebnisse in Bereich der Fremdsprachengeragogik,

ein Teil der Gerontologie, der den Zusammenhang zwischen dem Fremdsprachenlernen und

dem Altern erforscht. Die unterschiedlichen altersbezogenen Veränderungen im Bereich der

Sensorik, der Intelligenz und des Gedächtnises müssen im Fremdsprachenunterricht mit

älteren Menschen immer berücksicht werden, so wie die Tatsache, dass die interindividuelle

Varianz im Alter zunimmt. Eines der wichtigsten Konzepten im Bereich der

Fremdsprachengeragogik ist die sogenannte "Optimierung durch Selektion und

Kompensation" (OSEKO), nach der Defizite in bestimmten Bereichen (z.B. im sensorischen

Bereich) mit Fähigkeiten und Kompetenzen in anderen Bereichen (z.B. Vorwissen)

kompensiert werden können.

Aus diesem ganzen Bild lässt sich verstehen, dass das Fremdsprachenlernen nur dann wirklich

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erfolgreich ist, wenn es sich nach den Eigenschaften der unterschiedlichen Lebensphasen

richtet.

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