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Milka Car (Zagreb) Brüderlichkeitsdiskurse im Spiegel der Rezeptionsgeschichte im kroatischen Nationaltheater in Zagreb um 1918 „Unter den Vertretern der österreichischen Moderne nimmt Arthur Schnitzler einen hervorragenden Platz ein“, 1 konstatiert anlässlich der kroatischen Erst- aufführung der Liebelei von Arthur Schnitzler im November des Jahres 1898 der Rezensent der Agramer Zeitung, einer von 1848 bis 1912 in Zagreb publizierten deutschsprachigen Zeitung. An erster Stelle hebt der Rezensent den hohen Status des Wiener Autors hervor, der als erster Repräsentant der Wiener Mo- derne auf der damaligen Zagreber Bühne, dem einzigen Nationaltheater auf kroatischem Boden aufgeführt wird. Jedoch ist der Ton der Theaterrezension im Weiteren nicht nur positiv: „Die Novität hat einen sehr schönen SuccȖs da- vongetragen, wir wählen das Fremdwort absichtlich, denn ein so ganz voller Erfolg war es nicht, woran freilich weder der Verfasser noch die Darstellung oder das Publicum die Schuld trägt.“ 2 Der Rezensent versucht Erklärungen für die ambivalente Rezeption des bedeutenden modernistischen Dramas anzubieten. Vor allem hebt er hervor, dass dieses Drama des „besten jungen Bühnendichters Wiens“ trotz seiner Modernität doch „viel zu sehr im heimatlichen Boden“ verwurzelt sei – es zeige „ein Stück Wiener Leben“, sodass „trotz manchem verwandtschaftlichen Zuge der Wiener und der Agramer Bevölkerung“ das Publikum den geschilderten „Wiener Typen“ doch „kein volles Verständnis entgegenbringen“ könne. Offensichtlich weist gerade das fremde Wort – SuccȖs – auf das Grundproblem hin, nämlich auf die kulturell und sozialgeschichtlich vielfach belasteten Kontakte mit der deutschsprachigen Dramatik und damit implizit auch auf Versuche, an die anderen, v.a. slawischen Theatermodelle anzuknüpfen, die dem Publikumsprofil mehr entsprächen. Das in der Rezension des S-n., wahrscheinlich unter Pseudonym schreibenden Ivan Souvan, eines damals einflussreichen Theaterkritikers, zum Ausdruck gebrachte Unbehagen entstammt v.a. dem „fremden Gewande und […] fremder Umgebung“ und ist nicht in bühnenästhetischen oder textimmanenten Verhältnissen zu suchen. 1 S-n.: ,Kunstchronik-Landestheater‘, in: AGRAMER ZEITUNG 257, 09. 11. 1898, S. 4. 2 Ebd.

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Brüderlichkeitsdiskurse im Spiegel der Rezeptionsgeschichteim kroatischen Nationaltheater in Zagreb um 1918

„Unter den Vertretern der österreichischen Moderne nimmt Arthur Schnitzlereinen hervorragenden Platz ein“,1 konstatiert anlässlich der kroatischen Erst-aufführung der Liebelei von Arthur Schnitzler im November des Jahres 1898 derRezensent der Agramer Zeitung, einer von 1848 bis 1912 in Zagreb publiziertendeutschsprachigen Zeitung. An erster Stelle hebt der Rezensent den hohenStatus des Wiener Autors hervor, der als erster Repräsentant der Wiener Mo-derne auf der damaligen Zagreber Bühne, dem einzigen Nationaltheater aufkroatischem Boden aufgeführt wird. Jedoch ist der Ton der Theaterrezension imWeiteren nicht nur positiv : „Die Novität hat einen sehr schönen Succ�s da-vongetragen, wir wählen das Fremdwort absichtlich, denn ein so ganz vollerErfolg war es nicht, woran freilich weder der Verfasser noch die Darstellung oderdas Publicum die Schuld trägt.“2 Der Rezensent versucht Erklärungen für dieambivalente Rezeption des bedeutenden modernistischen Dramas anzubieten.Vor allem hebt er hervor, dass dieses Drama des „besten jungen BühnendichtersWiens“ trotz seiner Modernität doch „viel zu sehr im heimatlichen Boden“verwurzelt sei – es zeige „ein Stück Wiener Leben“, sodass „trotz manchemverwandtschaftlichen Zuge der Wiener und der Agramer Bevölkerung“ dasPublikum den geschilderten „Wiener Typen“ doch „kein volles Verständnisentgegenbringen“ könne. Offensichtlich weist gerade das fremde Wort – Succ�s– auf das Grundproblem hin, nämlich auf die kulturell und sozialgeschichtlichvielfach belasteten Kontakte mit der deutschsprachigen Dramatik und damitimplizit auch auf Versuche, an die anderen, v. a. slawischen Theatermodelleanzuknüpfen, die dem Publikumsprofil mehr entsprächen. Das in der Rezensiondes S-n., wahrscheinlich unter Pseudonym schreibenden Ivan Souvan, einesdamals einflussreichen Theaterkritikers, zum Ausdruck gebrachte Unbehagenentstammt v. a. dem „fremden Gewande und […] fremder Umgebung“ und istnicht in bühnenästhetischen oder textimmanenten Verhältnissen zu suchen.

1 S-n.: ,Kunstchronik-Landestheater‘, in: AGRAMER ZEITUNG 257, 09. 11. 1898, S. 4.2 Ebd.

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Vielmehr wird in seiner Rezension, wie es in damaligen Theaterrezensionen sehroft der Fall ist, eine mehr oder weniger explizite Opposition zwischen der ,un-seren‘, ,nationalen‘, ,slawischen‘ auf der einen und der ,fremden‘ wienerischenbzw. deutschsprachigen Kultur auf der anderen Seite hergestellt, die dann auchdie Rezeption maßgeblich steuert. In der hier angeführten, für die Zeit exem-plarischen Rezension, ist die für das kroatische Theater in der ersten Hälfte des20. Jahrhunderts charakteristische ambivalente Einstellung gegenüber derdeutschsprachigen Dramatik erkennbar. Die Ambivalenz geht aus der Tatsachehervor, dass das Nationaltheater in Zagreb starken Einflüssen der deutsch-sprachigen Dramatik unterliegt, zugleich aber im Zuge der Artikulation natio-naler Identität große gesellschaftliche Integrationskraft bekommt.

Dass solche langfristig existierenden und immer wieder aufbrechenden Op-positionen allmählich mit einer genuin mythopoetischen Struktur der „Brü-derlichkeit“ in Zusammenhang gerückt werden, ist insbesondere in der Zeitunmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg und nach der Gründung des KönigreichSHS zu beobachten. Bereits zu Beginn des Jahrhunderts ist die Tendenz be-merkbar, slawische Stücke wegen der „zerrissenen Lage“3 in der Heimat stark zubevorzugen, so dass z. B. das Drama Zimsko sunce („Winterliche Sonne“)4, ein„Bild aus dem Leben in Istrien“ des modernistischen kroatischen Autors ViktorCar Emin 1903 mit Begeisterung in allen Zeitungen als bedeutendes patrioti-sches Drama angekündigt wurde. Aufgabe des Nationaltheaters, so hebt einRezensent in der Zeitung Obzor angesichts der Uraufführung dieses Dramashervor, sei es, den „Geist der Liebe“ zu pflegen, und zwar „nicht der ,platoni-schen‘, ,tischrednerischen‘ oder ,humanen‘“, sondern der „lebendigen Liebe, diedas ganze Volk zu Brüdern macht“.5 Zur gleichen Zeit erfolgt die Aufführung desbekannten Schauspiels Das Vermächtnis von Arthur Schnitzler. Allerdings istder Aufführung Schnitzlers unter Regie von Gavro Savic kein „allzugroßer Er-folg“6 beschieden. In der Rezension der Agramer Zeitung wird bemängelt, dassdas „eigentliche Animo“ fehle, wahrscheinlich infolge „des schwachen Besuches[…], den die Vorstellung aufzuweisen hatte“.7 Der Grund für den unerwartet

3 „Da i nije nepreporne pjesnicke ciene, ono bi za cielo vec kao etnoloski prilog bilo odneprocjenjive vriednosti za medusobno zblizenje, pa drzim, da je stoga upravo duznostnasega Zagreba, koji se rado smatra ponosnim ,caput regni‘, da jednakom djelotvornomljubavi prati svako kulturno nastojanje diljem citave nam raztrgane domovine.“ Anonym:,Zimsko sunce od Emina Cara‘, in: OBZOR 199, 30. 08. 1902, S. 5.

4 Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen aus dem Kroatischen insDeutsche von der Autorin.

5 „Careva je drama jasno dokazala da nema ljubavi domovine bez ljubavi – naroda, i to ne,platonske‘, ,nazdravicarske‘ ili ,humane‘ ljubavi, nego one zive ljubavi, koja od citava narodacini bracu.“ ar.: ,U cem je snaga Careva ,Zimskog sunca?‘, in: OBZOR 7, 10. 01. 1903, S. 1.

6 Anonym: ,Landestheater‘, in: AGRAMER ZEITUNG 61, 16. 03. 1903, S. 5 – 6.7 Ebd.

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spärlichen Besuch wird verschwiegen, die oppositionellen Zeitungen gehen je-doch auf diesen Umstand ausführlich und kritisch ein. Es wird der Theaterlei-tung vorgeworfen, diese interessante und attraktive Novität ausgerechnet amselben Abend des „patriotischen Konzerts“ für die patriotische Gesellschaft„Ciril und Metod“8 angesetzt zu haben, so dass das Theaterhaus „halb leer“gewesen sei, bzw. nur diejenigen anwesend waren, die ins Konzert „nicht wolltenoder aus ,höheren‘ Gründen nicht durften“ – wie der Theaterleitung in derZeitung Obzor vorgeworfen wurde.9 Aus dem um die Zeitschrift Hrvatsko pravoversammelten Lager der kroatischen Nationalisten erfolgen scharfe Attacken aufdie regimetreue Agramer Zeitung, die den „alten fremden-schwäbisch-magj-arischen Geist“10 nicht aufgeben kann und das patriotische Konzert,11 dieses„Fest der Vaterlandsliebe“, einfach verschwiegen habe. So wird mit diesemKonzert, das dem „grundsätzlichen nationalen Zweck“ der Anerkennung derunter italienischer Herrschaft in Istrien lebenden kroatischen Ethnie gewidmetist, die Rezeption Schnitzlers infolge der Leere und der „Begräbnisatmosphäre“im Theater12 einerseits als negativ markiert, andererseits werden gerade anhandder Opposition gegenüber dem fremden ,schwäbisch-magjarischen Geist‘ diepatriotisch aufgeladenen Brüderlichkeitsdiskurse als ästhetische Figurationendes Politischen im Theater aktiviert.

Darin sind die gleichen Mechanismen erkennbar, die die Institution Theaterunmittelbar mit dem nationalbildenden Diskurs verknüpfen und in ein Ho-

8 „Kazalistna uprava htjela je preksinoc stvoriti cudo: primamiti naime publiku na premieruSchnitzlerova ,Amaneta’ i odvratiti ju tim nacinom od koncerta u korist druzbe sv. Cirila iMetoda. Ali nije uspjela ni na pola, jer je kuca bila skoro prazna, a i ono malo obcinstva, kojeje predstavi prisustvovalo, sacinjavali su oni, koji na koncert nisu smjeli ili nisu htjeli – iz,visih’ razloga, te novinari i stranci. Vrlo je sgodno neki dan primjetio jedan ovdasnjidnevnik, da bi bilo umjestno preksinoc ne davati nikakove predstave, a jos manje premieru ito iz obzira prama patriotskoj svrsi koncerta za istarsku druzbu, no kazalistna uprava kao daje to previdila ili joj je stigao ferman s visoka.“ Anonym: ,Amanet‘, in: HRVATSKA 61, 16. 03.1903, S. 3.

9 „Kad se radi o takvim obcenarodnim svrhama, kojima se sluzi n. pr. nasa istarska druzba,onda bi nasem misljenju i hrvatsko kazaliste moralo prema ovakvoj svrsi imati duzni obzir.[…] upravo zievalo prazninom. Neko sprovodno razpolozenje vladalo je u subotu u nasemkazalistu.“ Anonym: ,Amanet‘, in: OBZOR 61, 16. 03. 1903, S. 154.

10 „[…] docim je duh lista, ostao onaj stari, mi cemo odmah dodati tudjinsko – svabsko –magjarski. To se najbolje vidjelo iz njezinog jucerasnjeg broja. Znade o svemu i svacem nadugo i siroko klafrati, ali o hrvatskom slavlju u kazalistu i na ulici prigodom predstave„Zimskog sunca“ na dan sv. Tri kralja ni slovceta.“ Anonym: ,Agramericino izvjescivanje‘,in: HRVATSKO PRAVO, 2147, 08. 01. 1903, S. 2.

11 Die Gesellschaft Druzba sv. Cirila i Metoda za Istru wurde im Jahre 1893 in Pula gegründet,mit dem Ziel, das kroatische und slowenische Schulwesen in Istrien zu gründen und diekroatische Allgemeinbildung voranzutreiben. Sie wird u. a. als ein Ausdruck der kroatischenWiederbelebungstendenzen in Istrien im Rahmen der kulturell-aufklärerischen Tendenzenverstanden.

12 Anonym 61, 16. 03. 1903, S. 154.

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mogenisierungsprojekt überführen. So werden zehn Jahre vor Ausbruch desErsten Weltkriegs die Stücke je eines österreichischen und eines kroatischenVertreters der Moderne völlig unterschiedlich in entscheidender Abhängigkeitvon exogenen, zeitpolitischen und ideologiegebundenen Faktoren rezipiert. Inseinem einflussreichen Aufsatz unter dem Titel Wer braucht Identität? erinnertStuart Hall daran, dass Identitäten „vor allem auf der Grundlage von Differenz“konstruiert werden. Demzufolge brauchen sie das „konstitutive Außen“.13 ImFalle der kroatischen Nationalidentität ist diese Rolle fortwährend doppelt be-setzt : einerseits ist es eine überwiegend nicht-slawische Umgebung, innerhalbderer die Genese der nationalen Identität im 19. Jahrhundert erfolgt, anderer-seits existiert ein ambivalentes Konkurrenzverhältnis zur nachbarlichen slawi-schen Umgebung „ineinander verschränkter Peripherien“14 in der ersten Hälftedes 20. Jahrhunderts. Der Brüderlichkeitsdiskurs wird eingesetzt, um dieseBrüche im Projekt einer neuen slawischen Nation zu kitten.15

Dass gerade das Theater als Institution unmittelbar gesellschaftlichen undpolitischen Erschütterungen ausgesetzt ist, ist hinreichend bekannt. Deshalbsollen in dieser Arbeit die exogenen Bedingungen dargestellt werden, um die imRahmen der Monarchie wirkenden integrativen Mechanismen der damals neuenjugoslawischen Ideologie im Theater verfolgen zu können. Rekonstruiert wirdein historisch bedingter Erfahrungshorizont, in dem die ihm zugrunde liegen-den Mechanismen der Integration und nationalen Mobilisierung im Diskurs derBrüderlichkeit aktualisiert werden, um das Theater als primäres kulturellesMedium im Sinne der Mobilisierung, Stärkung und Betonung einer einheitli-chen ideologischen Position zu funktionalisieren. Dies führt zur Frage nach demspezifischen Status des Nationaltheaters zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der imersten Teil der Arbeit historisch umrissen wird, um im zweiten Teil die expo-nentielle Verbreitung von Brüderlichkeitsdiskursen und die damit verbundeneAblehnung der deutschsprachigen Dramatik zu analysieren. Darüber hinaus soll

13 Die einmal unhinterfragt angenommenen Kategorien von Identität, Nation und Kollektivsind deshalb als Effekte von sozialen Praktiken und Diskursen zu deuten: „Die Gesellschafterscheint so […] nicht als eine dem Einzelnen gegenüberstehende Größe, sondern alskonstituierendes Element seiner selbst. Identität, auch Ich-Identität, ist immer ein gesell-schaftliches Konstrukt und als solches immer kulturelle Identität.“ Hall, Stuart: ,Wer brauchtIdentität?‘, in: Ders.: Ideologie. Identität. Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hamburg2004, S. 167 – 187, hier S. 171.

14 Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts.München 2007, S. 625.

15 Zu Brüchen und Unstimmigkeiten im Projekt einer jugoslawischen Nation vor Vereinigungu. a. : Jovic, Dejan: ,Neki aspekti hrvatsko-srpskih odnosa u Slavoniji uoci i nakon stvaranjajugoslavenske drzave‘, in: Cubrilovic, Vasa (Hg.): Stvaranje jugoslavenske drzave 1918. go-dine. Beograd 1989, S. 263 – 274.

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das Thema dieser Arbeit sein, wie kulturelle Narrative im Theater erzeugt undimaginiert werden.

In der für das 19. Jahrhundert in kroatischen Landen typischen Situationpolitischer Unterdrückung und wirtschaftlicher Rückständigkeit steht die Kul-tur im Dienste der Herausbildung einer spezifischen nationalen Identität – indiesem Modell ist die nationale Identität immer auf die kulturelle angewiesen. Sosieht sich auch die Institution Theater dem romantisch-nationalen Mythos16 derEinheit von Kultur und Politik verpflichtet. Das Ringen um die Etablierungnationaler wissenschaftlicher und kultureller Institutionen ist nicht nur eineFrage der Forderung der Nationalkultur, sondern steht in direktem Zusam-menhang mit dem Ausbau der bürgerlichen Gesellschaft. Insofern kam demNationaltheater eine identitätsstiftende Rolle zu. Die oft gebrauchte Wendungvom Sendungsbewusstsein und von der privilegierten Rolle des Theaters re-flektiert das vom ersten Intendanten des neu eröffneten kroatischen National-theaters in Zagreb und bedeutendsten Theaterreformer Stjepan Miletic über-nommene und weitergeführte Programm der patriotischen Pädagogik aus derMitte des 19. Jahrhunderts. Seine Definition des Publikumsprofils in Kroatienliefert die Gründe dafür, da es von „Beamten, Schülern und einigen Literaten“17

gebildet werde, während das Bürgertum vollständig fehle. Zagreb hatte im Jahre1895 etwa 60 000 Einwohner und das neue Theatergebäude verfügte über 900Plätze, die oft nicht vollständig besetzt werden konnten. Auch andere Angabenkönnen helfen, das Bild von der Aufnahmebereitschaft der Öffentlichkeit ab-zurunden – in der Zeit um 1895 waren 84,53 % der kroatischen Bevölkerungnoch in der Landwirtschaft tätig, 66,9 % waren Analphabeten.18 Der Prozess derEntstehung eines repräsentativen Repertoires geht Hand in Hand mit der Ent-faltung und Konsolidierung des Bildungsbürgertums, das nicht nur im 19.,sondern auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in „vorindustriellen Bevölke-rungsverhältnissen“19 lebte.

Die einheitsstiftende Rolle der Kultur einer im Entstehen begriffenen Nationwird mit Hilfe der Arbeit am nationalen Kanon realisiert. Die Herausbildungeiner nationalen Theaterkultur bürgerlichen Zuschnitts, in der die moralischeund nationale Identität mittels ,ästhetischer Erziehung‘ gesichert werden soll,steht im Mittelpunkt aller Bemühungen um das Nationaltheater. Das Theater

16 Zu diesem aus Frankreich importierten Modell der nationalen Homogenisierung vgl. Sup-pan, Arnold: ,Cuius regio eius natio‘, in: Ders.: Oblikovanje nacije u gradanskoj hrvatskoj(1835 – 1918.). Zagreb 1999, S. 21 – 37.

17 Miletic, Stjepan: Iz raznih novina. Odabrani sastavci o kazalistu, umjetnosti i knjizevnosti.Bd. 2. Zagreb 1909, S. 186.

18 Sidak, Jaroslav / Gross, Mirjana / Karaman, Igor / Sepic, Dragovan: Povijest hrvatskognaroda 1860 – 1914. Zagreb 1968.

19 Gross, Mirjana: Poceci moderne Hrvatske. Zagreb 1985, S. 353.

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erweist sich in dieser Perspektive als Medium für ideologische und nationaleInhalte, wobei ausdrücklich gefordert wird, die gerade erst erworbene südsla-wische Identität abzusichern. Die Sendung des kroatischen Nationaltheaters, dieaus dem Schwung der illyrischen Bewegung hervorgeht, wird für die Bestätigungder nationalen Repräsentationsbedürfnisse mit nationalen und integrativenElementen aufgeladen, was ein langfristiger Prozess ist, der die ganze erste Hälftedes 20. Jahrhunderts kennzeichnet. Die klaffenden Unterschiede zwischen demindustrialisierten Zentrum und den unterentwickelten Randgebieten derHabsburger Monarchie verschärfen die ungelösten nationalen Fragen. Die In-nenpolitik erschöpft sich in Versuchen, jegliche Form nationaler Emanzipationzu verhindern. Dadurch aber werden gerade die Autonomiebestrebungen derVölker zusätzlich verstärkt. Als Antwort auf die Machtpolitik Wiens und dieDurchsetzung imperialistischer Ziele nach dem 1879 geschlossenen Bündnis derMonarchie mit dem Wilhelminischen Deutschland – als „Drang nach Osten“bezeichnet und gefürchtet20 – werden die pro-slawischen Tendenzen immerstärker. Die Idee der Zusammengehörigkeit wird dadurch virulent.

Zurückgegriffen wurde dabei auf bestimmte, in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts entstandene Ideen der illyrischen Bewegung, die sich in der Ent-wicklung aller südslawischen Völker als kulturelle und nationalpolitisch-kon-stitutive geschichtliche Kraft21 erwiesen hatten und auch nach dem Ende diesergeschichtlichen Periode beharrlich weiterlebten. In Kreisen der gebildeten Elitenformierten sich soziale Gruppen, die bestrebt waren, die Imagination der na-tionalen Gemeinschaft voranzutreiben und zum historischen Träger des Na-tionalbewusstseins zu werden.22 Die Illyristen, junge gebildete Nationalisten,sahen im Nationalstaat die Voraussetzung jeglichen Fortschritts. Ihr Ziel war dieKonsolidierung einer einheitlichen slawischen Nation in einem eigenen Ver-fassungsstaat, um sich der aus Wien kommenden Assimilierungstendenzen zuerwehren. Die unter verschiedenen Fremdherrschaften lebenden Südslawenmussten sich als Kulturnationen erst formieren, wobei dem Konzept des ,inte-gralen‘ Nationalismus eine entscheidende Rolle zukam. Die illyrische Bewegungwird dabei als eine Ausprägung des so genannten integralen Nationalismus(Charles Mauras) innerhalb der „slawischen Renaissance“23 gedeutet. In ihr wird

20 Als eine imperiale Gefahr wird es ausdrücklich von Ante Trumbic bezeichnet, in: Trumbic,Ante: ,Proglas Jugoslovenskoga odbora Britanskom narodu‘, in: Sisic, Ferdo: Dokumenti opostanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914.–1919. Zagreb 1920, S. 46 – 47.

21 Vgl. dazu eine klassische historiographische Studie zur illyrischen Frage: Sidak, Jaroslav :Studije iz hrvatske povijesti 19. stoljeca. Zagreb 1973.

22 Zur illyrischen Ideologie vlg.: Coha, Suzana: ,Mitom stvorena i mitotovorbena ideologijahrvatskoga narodnog preporoda, ilirizma i romantizma‘, in: Uzarevic, Josip: Romantizam ipitanja modernoga subjekta. Zagreb 2008, S. 377 – 426.

23 Kann, Robert A.: Geschichte des Habsburgerreiches 1526 – 1918. Wien-Graz 1977, S. 226.

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das Bild der Nation als einer Gemeinschaft mit gemeinsamer Kultur als Kern-punkt entworfen, die Entwicklung dieser Nationalkultur ist die Voraussetzungder ,Erweckung‘ des Nationalbewusstseins. Die Kultur wird somit zum ent-scheidenden Faktor der nationalen Integration – die kulturelle Homogenisie-rung soll auch die politische vorantreiben. In einer von der Mobilisierungs-ideologie24 bestimmten Kultur haben sich sämtliche Teilbereiche diesem fest-stehenden Sinn unterzuordnen. So sieht man auf kroatischer Seite den Haupt-feind der kulturellen Integration, die der nationalen Integration in der fremden –also deutschen Kultur – vorangehen soll. Zwei Drittel des Zagreber Repertoiresentfallen auf romanische und germanische Dramen, zählt Fran Hrcic in derZeitschrift Savremenik25 auf und fordert eine stärkere gemeinsame Produktionsüdslawischer Autoren. Neo-illyrische Tendenzen kommen stärker zum Tragen.Den Unterschied zur Bewegung des Illyrismus im 19. Jahrhundert beschreibtMilan Marjanovic so: „Es ist nicht eine Nation, die erwacht, sondern eine, dieerst im Entstehen begriffen ist.“26 Die südslawische Idee der Einheit wird zueiner kulturellen und nationalpolitisch-konstitutiven geschichtlichen Kraft. DasKonzept des integralen Nationalismus ist somit eng mit der organischen Na-tionenvorstellung verbunden, wie sie im 20. Jahrhundert in der Sphäre der Fa-milie domestiziert wird, um ihr mythopoetisches Potential entfalten zu können.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildeten sich aus den vagen illy-rischen Ideen von slawischer Solidarität unterschiedliche politische Strömun-gen heraus, die das politische Leben in Kroatien in den nächsten Jahren be-stimmen sollten. Das neue ideologische System des Jugoslawismus setzte sichvom illyrischen Namen ab und sah im Slawentum die Bedingung für die Existenzauch der kroatischen Nation. Die Ziele der neuen Nationalideologien warennicht nur die Schaffung einer bürgerlichen Hochkultur, sondern auch die Mo-bilisierung der Bevölkerung zur beschleunigten Modernisierung der kroati-schen postfeudalen Gesellschaft.27 Auf der einen Seite regte die jugoslawischeIdee liberales Bürgertum und gebildete Priestereliten zu politischen und kul-turellen Aktionen an, auf der anderen Seite vertraten die Ideologen des kroati-schen historischen Staatsrechts mit der Idee des exklusiven kroatischen Natio-nalismus die Interessen noch nicht ausdifferenzierter kleinbürgerlicherSchichten, die in den 80ern endgültig an Einfluss gewinnen sollten. BeideIdeologien, die des Jugoslawentums und die des Kroatentums, beeinflussten allekulturellen Bemühungen dieser Zeit in wechselndem Ausmaß. Insbesondere der

24 Ebd., S. 267.25 Hrcic, Fran: ,O uzajamnosti proizvodnje juznoslovjenskih autora‘, in: SAVREMENIK 1, 1906,

S. 419.26 Gross, Mirjana: ,Nacionalne ideje studentske omladine u Hrvatskoj uoci I. svjetskog rata‘, in:

Historijski zbornik XXI – II, Zagreb 1968/69, S. 132.27 Gross, Mirjana: Die Anfänge des modernen Kroatiens. Wien 1993, S. 264.

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Jugoslawismus hatte eine komplizierte Struktur, weil er das Kroatentum und dasSlawentum im unterschiedlichen Ausmaß miteinander kombinierte. Im Jahre1903 war die Krise des Dualismus schließlich voll entbrannt und der „Natio-nalismus wurde zum Phänomen des Alltags“.28 In Kroatien hatte die Revisiondes Finanzausgleichs mit Ungarn 1902 zu Massenkundgebungen geführt. ImJahre 1903 kam es nach der Ermordung eines Demonstranten in Zapresic zu fastrevolutionsartigen Ausschreitungen, in deren Folge Banus Khuen-H�derv�ry,nach dem Fehlschlagen seines Auftrags in Kroatien, am 23. Juni 1903 nach Wienabberufen wurde. Aus der Krise der Monarchie und dem daraus resultierendenErstarken der jugoslawischen Einigungsbestrebungen entstand die Politik des„Neuen Kurses“. Die Vereinigung aller südslawischen Gebiete in einen Staatwurde von ihr zum Programm erhoben. Die Idee einer trialistischen Neukon-struktion der Monarchie verlor an Kraft, da es kein durchführbares trialistischesProgramm gab. Die führenden kroatischen Politiker des ,Neuen Kurses‘, FranoSupilo und Ante Trumbic, versuchten ein föderalistisches Konzept der jugo-slawischen Vereinigung mit Erhaltung und Erstarkung der nationalen Identi-täten durchzusetzen. In der Resolution von Fiume 1905 wurden zum ersten Maldie gemeinsamen Interessen der Kroaten und Serben u. a. als „Versprechen desFriedens und der Brüderlichkeit“29 definiert. Mit der Bildung der serbisch-kroatischen Koalition 1906 fiel eine Entscheidung der kroatischen Politik für diejugoslawische Idee und die neue jugoslawische Nation wurde als „Brudernati-on“, in Anlehnung an die Ideale der „französischen Revolution“,30 entworfen.Die Verbindung der jugoslawischen Ideologie mit Brüderlichkeitsdiskursen gehtaus der Proklamation vom Dezember 1905 hervor, in der ausdrücklich betontwird, „dass die Koalition die Überzeugung vertreten muss, Serben und Kroatenseien nicht zwei Völker, sondern Teile eines Volkes“.31

Von der raschen Verbreitung solcher Brüderlichkeitsdiskurse zeugt die Tat-sache, dass in der Genfer Deklaration des Jugoslawischen Komitees vom9. November 1918 die neue Regierung als „brüderlich“ bezeichnet wird. DasKraftfeld der Politik breitete sich auch auf das Theater aus, wo nun eine starkepro-jugoslawische Kampagne einsetzte. Der bedeutende kroatische Theater-

28 Rumpler, Helmut: Österreichische Geschichte 1804 – 1914. Eine Chance für Mitteleuropa –bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Wien 1997, S. 490.

29 Trumbic, Ante: ,Naknadni memoar Jugoslovenskog odbora, predan francuskoj vladi‘, in:Sisic, Ferdo: Dokumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914.–1919. Zagreb1920, S. 50 – 58, hier S. 56.

30 Trumbic, Ante: ,Izjava Jugoslovenskog odbora prigodom krunisanja cara i kralja karlaHabsburskoga‘, in: Sisic, Ferdo: Dokumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca1914.–1919. Zagreb 1920, S. 82 – 85, hier S. 83.

31 „Da je koalicija stala na glediste, da Srbi i Hrvati nisu dva naroda, vec dijelovi jednog istognaroda.“ Zit. nach: Budisavljevic, Srdan: Stvaranje Drzave Srba, Hrvata i Slovenaca. Povo-dom cetrdesetgodisnjice jugoslovenskog ujedinjenja. Zagreb 1958, S. 60.

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historiker Nikola Batusic formuliert die These von der untrennbaren Verbun-denheit geschichtlicher und geopolitischer Faktoren in der Entwicklung deskroatischen Theaterlebens.32 In diesem Sinne wird betont, dass Stücke mit„nationaler Tendenz“33 weit relevanter für die kroatische Bühne seien. So wird1903 in der Zeitschrift Obzor vor Saisonbeginn die Rolle des Theaters rekapi-tuliert, indem seine „Aufgabe“ als „kulturelle Institution“ erörtert wird, als eine„in der ersten Linie kroatische und slawische Kulturinstitution“. Damit ver-bunden ist die Notwendigkeit, „uns von der fremden Abhängigkeit zu emanzi-pieren“.34 Dem Dramaturgen des Zagreber Nationaltheaters Nikola Andric,einem ausgezeichneten Kenner der deutschen literarischen Produktion, wirdvon den damaligen Theaterkritikern vorgehalten, sein Repertoire zu offen-sichtlich am Vorbild des Wiener Burgtheaters auszurichten. Er mache aus demZagreber Theater eine „Filiale des deutschen Theaters“.35

Damit prägt die Genese des pro-jugoslawischen Gedankens die Theaterre-zeption und ist insbesondere in der Ablehnung deutschsprachiger Stücke klarablesbar. Politisch wird sie als Opposition zum „deutschen Imperialismus“ ge-rechtfertigt, sodass gerade die Rezeption deutschsprachiger Dramatik eineProjektionsfläche für die Entfaltung der neuen, heterogenen Idee der südsla-wischen Einheit bietet. In der der nationalintegrativen Ideologie entspringendenablehnenden Einstellung gegenüber deutschsprachigen Stücken, kommen ty-pische Mechanismen von Inklusion und Exklusion zum Tragen, gestützt von derAufgabe, eine neue Identität zu stiften, indem das Fremde mit negativem Vor-zeichen versehen wird. Somit gewinnt der Brüderlichkeitsdiskurs eine „poli-tisch-legitimative Funktion“,36 die einerseits eine neue Politik der Identität si-gnalisiert, andererseits ihre Kraft aus einer archaischen Symbolebene schöpft.Die Verflechtung theatergeschichtlicher Normen mit einer durch Spannungenzwischen südslawischer Vision und kroatischem Inhalt gekennzeichnetenIdeologie bleibt charakteristisch für diese Periode.

Die geschichtlich verankerte Rolle des Theaters wird in Hinblick auf dessenzukünftige Mission im Projekt der einheitlichen südslawischen Nationenbil-dung37 umformuliert. Insbesondere in der Vorkriegs- und Kriegszeit kommt es

32 Batusic, Nikola: Povijest hrvatskoga kazalista, Zagreb 1978, S. 89.33 Grado, Artur : ,Mlada Hrvatska‘, in: MLADOST 1, 15. 02. 1898, S. 178.34 „A mi treba da se postavimo na samostalne noge, i da se od tudjinske ovisnosti eman-

cipujemo svuda, na svim poljima, a napose u kulturnom.“ Dezman-Ivanov, Milivoj: ,U ocinove kazalisne sezone‘, in: OBZOR 267, 01. 09. 1903, S. 4.

35 „Sadasnji g. dramaturg slavenskih literatura naprosto ne pozna […] te ce kazaliste ostat kao iza prof. Milera filijalka njemackog pozorista.”, Ebd.

36 Cipek, Tihomir : ,Politike povijesti u Republici Hrvatskoj. Od ,puska puce‘ do „Hristos serodi“‘, in: Cipek, Tihomir / Milosavljevic, Olivera: Kultura sjecanja. 1918. Povijesni lomovi isvladavanje proslosti. Zagreb 2007, S. 13 – 27, hier S. 14.

37 Zu verwickelten Antagonismen und Einheitlichkeitsdiskursen vgl. Kann, Robert A.: Das

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zu einer Verbindung mit den virulent gewordenen Brüderlichkeitsdiskursen. Sowird der Krieg als ein „Kampf für die Befreiung und Vereinigung aller unsererunfreien Brüder Serben, Kroaten und Slowenen“38 gedeutet.

Dabei wird deutlich, dass das Postulat einer ästhetischen Erneuerung auf dieOmnipräsenz der Vergangenheit mit der traditionellen Forderung nach Wahr-nehmung ihrer pädagogisch-aufklärerischen Rolle stößt, die die Funktion desNationaltheaters in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in entscheidenderWeise definiert. Das Theater zollt dem patriotischen Utilitarismus den schul-digen Respekt, seine Doppelgesichtigkeit zwischen dem Streben nach Autono-mie einerseits und der nationalen Selbstverpflichtung anderseits prägt insbe-sondere die Rezeption der Kriegszeit. Dieses Dilemma beschreibt der zeitge-nössische Kritiker Zdenko Vernic wie folgt: „Unser Landestheater ist schon anund für sich so fremdartig gebaut und im Inneren so sonderbar geschmückt, daßes wohl billigsten Internationalismus darbietet. […] Und hier, auf der Bühneselbst, vermissen wir unsere eigene nationale Note.“39

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verliert die alte Angst vor akuterGefährdung der eigenen Kultur durch die deutsche Sprache nach und nach anBedeutung, zumal die deutsche Dramatik immer mehr von der als patriotischwichtiger eingestuften slawischen Dramatik verdrängt wird – dem „demokra-tischen und slawischen Fundament“40 des Theaters. So wird das Theater voneinem spezifischen Sendungsbewusstsein dominiert, dessen Wurzeln bis tief ins19. Jahrhundert reichen. Wie dieses Sendungsbewusstsein mit der organizisti-schen Vorstellung von Nation im Diskurs der „Brüderlichkeit“ verschränkt wird,soll im Weiteren anhand einiger exemplarischer Theaterrezensionen vor 1918gezeigt werden. Der Diskurs der „Brüderlichkeit“ ist dabei als Element im na-tionalen Mobilisierungsprogramm zu verstehen: einerseits stiftet er Gruppen-kohäsion in einer chronotopischen, langfristigen Dimension, andererseits un-terstreicht er die Rolle des Einzelnen – des Bruders – im neuen ideologischen

Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Geschichte und Ideengehalt der natio-nalen Bestrebungen vom Vormärz bis zur Auflösung des Reiches im Jahre 1918. 2. Bände.Graz/Köln 1964.

38 ,Program londonskog Odbora zasigurno je racunao s izjavom srbijanske vlade 1914, koju jeodobrila Narodna skupstina, da rat Srbije s Austro-Ugarskom Monarhijom ujedno znaciborbu za oslobodenje i ujedinjenje sve nase neslobodne brace [Hervorhebung durch dieAutorin] Srba, Hrvata i Slovenaca‘, in: Kristo, Jure: ,Slusanje dobroga ili zlog andela. Svi-banjska deklaracija 1917. i propast srednjoeuropske Monarhije‘, in: Matijevic, Zlatko (Hg.):Godina 1918. Prethodnice, zbivanja, posljedice. Zbornik radova s medunarodnoga znanst-venog skupa odrzanog u Zagrebu 4. i 5. prosinca 2008. Zagreb 2010, S. 73 – 89, hier S. 76.

39 Vernic, Zdenko: ,Ein kritischer Rückblick. Der erste Monat der Theatersaison‘, in:AGRAMER TAGBLATT 228, 04. 10. 1913, S. 1 – 3.

40 „[…] postavi na demokratski i slavenski temelj. To je izhodna tocka.“ Anonym: ,U oci novekazalistne sezone I‘, in: OBZOR 196, 29. 08. 1903, S. 1.

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Gefüge und mobilisiert die individuell verankerte Solidarität mit dem kollekti-ven Leiden der Nation.

Vor dem Ersten Weltkrieg gibt es in Zagreb kein deutschsprachiges Theatermehr ; trotzdem sind bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts Reminis-zenzen bezüglich der deutschen Übermacht unter so stereotypen Formeln wie,Germanisierungsgefahr‘, ,Zentralismus‘, ,Assimilierungstendenzen‘ oder ,Un-terdrückung der kroatischen Sprache‘ zu beobachten. Weltanschauliche Dis-positionen zur Rezeption der deutschsprachigen Dramatik werden auch alsAusgangspunkt für die Profilierung der neuen Ideologie im Theater benutzt.Während Russland als „brüderliche“ Nation bezeichnet wird, sind die „Deut-schen, Ungarn und Türken“ die Ur-feinde der Familie, in der „Slowene, Kroate,Serbe, die Söhne einer Mutter sind“, wie es in der Proklamation der „Adria-Legion“41 von 1915 heißt. Im Manifest des Jugoslawischen Komitees vom Mai1915 wird der Erste Weltkrieg als der „auferlegte Bruderkrieg“42 bezeichnet. Derkroatische Dramatiker bearbeitet das Thema vom „brüdermörderischen Krie-ge“ in seinem Drama Osloboditelji (Die Befreier), das daraufhin im Jahre 1918mehrmals aufgeführt wird.

Bis zur Julikrise 1914 ist zu lesen, das Zagreber Theater sei das „Zentrum desgeistigen Strebens aller Südslawen“ und „Vermittler zwischen den Slowenen undSerben“43 und müsse deshalb mit seinen künstlerischen Leistungen an der Spitzeseiner Zeit bleiben. Zagreb sei „die kulturellste Stadt in den südslawischenLändern“ und dürfe seine integrative Führungsposition nicht hergeben, wird imFeuilleton des Agramer Tagblattes fordernd behauptet. Diese hohe Einschätzungder eigenen Position findet ihre Rechtfertigung in der geschichtlichen Rolle, diees im Kampf um die kulturelle Emanzipation und Homogenisierung der Nationgespielt hat.44 Anlässlich des 20jährigen Jubiläums der Eröffnung des neuenTheatergebäudes im Jahre 1915 wird das Theater „nicht nur als Tempel unsererBildung, sondern auch unseres nationalen und politischen Bewusstseins“45 ge-

41 ,Upravni odbor ,Jadranske legije‘ Jugoslovenima. London-Rim 1915‘, in: Sisic, Ferdo: Do-kumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914.–1919. Zagreb 1920, S. 15 – 17.! wer ist Autor?

42 Trumbic, Ante: ,Manifest Jugoslavenskoga odbora Britanskom narodu i parlamentu‘, in:Sisic, Ferdo: Dokumenti o postanku Kraljevine Srba, Hrvata i Slovenaca 1914.–1919. Zagreb1920, S. 36 – 37.

43 Z. R.: ,Literarische Revuen‘, in: AGRAMER TAGBLATT 28, 05. 02. 1914, S. 1 – 2.44 Vgl. dazu: Suppan, Arnold: Oblikovanje nacije u gradanskoj Hrvatskoj. 1835 – 1918. Zagreb

1999.45 „Hrvatsko nas je kazaliste probudilo, osvjestilo kulturno i nacijonalno, otreslo zauvijek

tudjinstine iza tezkog doba absolutizma i pokazalo nama i cielom svietu i onima, koji su nasbarbarima zvali, da je i hrvatski duh i hrvatski jezik dorastao za velika umjetnicka djela.Hrvatsko narodno kazaliste je dakle ne samo hram prosvjete nase, nego i sviesti nase nasenacijonalne i politicke.“ Miodragovic, Lj. : ,Proslava dvadesetogodisnjice nove kazalistne

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, 1914)
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es ist ein Gruppenautor, eben dieser Ausschuss Upravni odbor 'Jadranske legije": 'Upravni odbor 'Jadranske legije' - Jugoslovenima.

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feiert. Zieht man zudem die in der Öffentlichkeit gepflegten Brüderlichkeits-diskurse heran, so entsteht ein Deutungsmuster für die Emotionalisierung undAktivierung der nationalen Solidarität in krisengeschüttelten Zeiten. Exem-plarisch für diese Tendenz ist ein Artikel der Zeitung Novosti zur neuen Bal-kankrise 1913, in der der Sieg „unserer Brüder aller drei Konfessionen“46 nachder „fünfhundertjährigen Periode türkischer Versklavung“ gefeiert wird. Einanderes Beispiel für die Mobilisierung der kulturellen Institution findet im Jahre1914 mit dem Gastspiel des Zagreber Nationaltheaters in Sarajevo statt, um„dem Brudervolke“47 Orientierung anzubieten und um kulturelle Entwick-lungshilfe zu leisten. Fast gleichzeitig wird die bedeutendste Klassiker-Auffüh-rung der Kriegsjahre in Zagreb, das Regie-Debüt Branko Gavellas, der als stu-dierter Germanist und Wiener Philosophie-Doktorand im Jahre 1914 SchillersDie Braut von Messina inszeniert, schlicht als „kultur-historisches Dokumentder Deutschen“48 abgeschrieben. Ähnlich verläuft die Rezeption der im Herbst1916 aufgeführten spätnaturalistischen Tragikomödie Gerhard Hauptmanns DieRatten. Dass das Stück prägende „tiefe Mitleid“49 bringt dem Verfasser denEhrentitel eines „deutschen Tschechows“ ein. In der Rezension wird auch eineimaginäre „slawische Komponente“ bei Hauptmann erwähnt, die seine deutsche„Korrektheit und Trockenheit“ mildere. Als aus dem „festlichen Anlaß“ des25jährigen Jubiläums im Jahre 1916 der Einakter-Zyklus Anatol von ArthurSchnitzler erstmals vollständig inszeniert wird, attestiert man dem Zyklus eine„halbslawische literarische Sentimentalität“ mit für slawische Völker typischen„zarten und feinfühligen Sichtweisen“50. Damit werden mentalitätsgeschichtlichbedingte Stereotype bemüht, um die Unterschiede zwischen dem Fremden unddem Eigenen wettzumachen: uns stehen „Bahr, Schnitzler und Altenberg weit-

zgrade‘, in: HRVATSKA. Glavno glasilo stranke prava za sve hrvatske zemlje 1187, 15. 10.1915, S. 1.

46 „Nasa braca svih triju vjeroispovijesti na Balkanu oslobodjena su iz turskog jarma poslijerobovanja od petstotina godina.“ Anonym: ,Nova kriza na Balkanu‘, in: NOVOSTI, 29. 05.1913/142, S. 1 f.

47 „[…] da se udomi medju nasom bracom na jugu spremi sto dostojniji dom“ Anonym:,Zagreb i Sarajevo‘, in: NARODNE NOVINE 65, 20. 03. 1914, S. 4.

48 „[…] da je “Mesinska nevjesta” samo kulturno-historijski dokument Nijemaca.” J. D.:,Mesinska nevjesta od Schillera‘, in: SLOBODNA RIJEC 65, 20. 03. 1914, S. 3.

49 „I sami njemacki kriticari cesto spominju neku “slavensku natruhu” u Hauptmannovimdjelima, no to mu ne spocitavaju, nego upravo isticu kao prednost, koja ublazava njemackukorektnost i suhoparnost.”, Vavra, Nina: ,Parcovi‘, in: NARODNE NOVINE 245, 25. 10. 1916,S. 1 – 2.

50 „Stari Bajovari, Markomani, Kvadi i Vindobonci zacijelo bijehu Slaveni, jer im potomcizadrzase iste one njezne i tankocutne poglede na zivot kao i mi Liburnijci, Panonjani iDalmate.” Benesic, Julije: ,A. Schnitzler. Anatol‘, in: NARODNE NOVINE 24, 31. 01. 1916, S. 4.

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aus näher als der schwere, ferne und mystische Swedenborg“51. Mit einem Hauchvon Verklärung wird Wien mit seiner literarischen Atmosphäre beschworen:„Seit jeher hat uns diese Stadt angezogen, und wie!“52 Aus dem Diagramm 1. istein leichter Anstieg deutschsprachiger Stücke in Kriegszeiten abzulesen. DieseTatsache ist in vielerlei Hinsicht der politischen Kriegspropaganda zu verdan-ken, was auch die Anwesenheit des regierenden Banus Skerlecz bei einer Lie-belei-Reprise im Jahre 1916 belegt.

Auf diese Weise wird ein weiteres Mal die ideologische und identitätsstiftendeFunktion des Theaters unterstrichen, die nach dem Muster der Abgrenzung vomFremden eingesetzt wird. Dass dazu die Brüderlichkeitsdiskurse mit der ihneninnewohnenden mythopoetischen Funktion aktiviert werden, um die archai-sche Kraft der Solidarität zu nutzen, ist Teil des Programms. Ein Beispiel dafürliefert der einflussreiche kroatische Dramatiker der Moderne Ivo Vojnovic53 mitseiner Wiederbelebung des Kosovo-Mythos in seinen Dramen. Die Aufführungseiner Tragödie Smrt majke Jugovica (Der Tod der Jugovic-Mutter) wird em-phatisch gefeiert: „Wohl sind wir ins Theater gekommen, um mit dem Kunst-erlebnis der Tragödie eine nationale Feier zu verbinden, um zu betonen, wie wiruns hier in der Metropole Kroatiens mit unseren serbischen Brüdern eins fühlen,wie die Geschichte ihres Golgatha unsere Geschichte, ihr ethischer damaligerund jetziger Triumph zugleich unser Triumph ist.“54 Im gleichen Ton wird in derZeitung Novosti der „neue Volksgeist“ als eine „Volksfeier“ und „Fest der Ver-söhnung und Liebe“55 deklariert. Im Agramer Tagblatt werden anlässlich derwiederholten Aufführung die mythopoetischen Elemente direkt angesprochen:es handele sich im Drama um „die alten Göttinen des Slaventums“56, die dieAufgabe haben, die „Größe des Slaventums“ zu feiern, insbesondere die „altenGöttern der Freiheit und der Kraft“.

Damit wird im Theater plakativ das Programm der Einheit propagiert, dasder politischen Idee eines gemeinsamen Nationalkörpers entspricht und ins-

51 Anonym: ,Bahr, Schnitzler i Alternberg, jer ova tri imena su nama bliza nego tezki, daleki imisticni Swedenborg‘, in: Ebd.

52 „Kako nas je taj grad vazda privlacio!” Anonym: ,Anatol‘, in: JUTARNJI LIST 1386, 30. 01.1916, S. 2.

53 Repräsentativ für ihre Entstehungszeit folgende Studie: Prohaska, Dragutin: O pjesnikuslobode: studija o knjizevnom radu Ive Vojnovica povodom njegove sezdesetogodisnjice.Osijek 1918.

54 Vernic, Zdenko: ,Die gestrigen Manifestationen im Landestheater‘, in: AGRAMER TAG-BLATT 285, 28. 10. 1918, S. 3.

55 „Nikad nije nase kazaliste bilo kao sinoc. Nikad nije odisalo toliko novim narodnim duhom.[…] To sinoc nije bilo kazaliste, nego narodna slava! Bila je to vecer slave i ljubavi!”, *:,Narodna slava u kazalistu. Repriza ’Majke Jugovica’ od Iva kneza Vojnovica‘, in: NOVOSTI288, 28. 10. 1918, S 2.

56 M.T.: ,Smrt Majke Jugovica. Die Vorstellung des Nationaltheaters zu Ehren des Krsno Imedes Königs‘, in: AGRAMER TAGBLATT 274, 14. 12. 1918, S. 3.

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besondere durch die von serbischer Seite vertretenen Idee des Vaterlandes(otadzbina) dominiert wird. Sie wird von Serbien ausgehend zu Beginn desKrieges im öffentlichen Diskurs verbreitet und knüpft an die These vom ,drei-namigen‘ Volk mit einer integralen ,Volksseele‘ an. Anschaulich wird mit demNarrativ der Nation als Familie das Kollektiv individualisiert, was Identifikationund damit auch Aktivierung erst möglich macht. In der meinungsbildendenZeitung Obzor57 wird die Proklamation des Nationalrats veröffentlicht, in der dasganze „Volk mit einem Blute und einer Sprache, mit einem Geist und einer Seele“eingeladen wird, in ein „brüderliches Reigen“ zu treten. Damit können die po-litisch definierten „Prinzipien der Volkstümlichkeit“ der „Einheit“ und der„nationalen Volkseintracht der Slowenen, Kroaten und Serben“58 verinnerlichtwerden. So sprechen die Politiker in Kroatien im 1917 von einer dringenden„nationalen Konzentration“, damit ein „einheitliches Programm zur nationalenVereinigung“59 durchgeführt werden könne. Als der kroatische PolitikerDragutin Hrvoj aus der kroatisch-nationalistischen Starcevic-Partei im kroati-schen Sabor am 14. Mai 1918 die Unumgänglichkeit des gemeinschaftlichenHandelns betont, um einen „freien brüderlichen Staat“ zu gründen, der als„brüderliche föderative Union“60 nach Schweizer Vorbild zu gestalten ist, wirdauch die geteilte kroatische Öffentlichkeit von der Einheitsidee überzeugt. Injedem Falle sind sich die führenden Politiker der Notwendigkeit der propa-gandistischen Mobilisierung der Massen bewusst. Um nur ein Beispiel zu nen-nen: so schreibt Boskovic an Nikola Pasic in einer Depesche vom 12. Mai 1915,dass die immer noch ungewisse Vereinigung südslawischer Gebiete „haupt-sächlich von der Stimmung und der Energie der Volksmassen“61 abhänge.

Die Reflexe einer „nationalen südslawischen Kulturpolitik“62 werden insbe-sondere seit der Proklamation von Korfu, einem von der serbischen Regierungund dem Jugoslawischen Komitee am 20. Juli 1917 in Korfu unterzeichnetenManifest der zukünftigen südslawischen Vereinigung, im kroatischen Natio-naltheater in Zagreb manifest. Die integrative und identitätsstiftende Rolle desTheaters wird als „die große Mission der Volksbildung bei einem werdenden

57 „Narodno vijece poziva cjelokupni nas narod jedne krvi i jezika, jedne duse i srca […] ubratsko kolo“, in: Anonym: ,Objava Narodnog vijeca Slovenaca, Hrvata i Srba‘, in: OBZOR238, 23. 11. 1918, S. 3.

58 Krizman, Bogdan: ,Hrvatski sabor i ujedinjenje 1918‘, in: Cubrilovic, Vasa (Hg.): Stvaranjejugoslavenske drzave 1918. godine. Beograd 1989, S. 51 – 72, hier S. 62 f.

59 Über die Entwicklung der Kräfte während des Krieges und Genese des jugoslawischenGedankens aus historiographischer Sicht noch immer maßgeblich: Krizman, Bogdan:Raspad Austro-Ugarske i stvaranje jugoslavenske drzave. Zagreb 1977, hier S. 20.

60 Ebd., S. 22.61 Sepic, Dragovan: Sudbinske dileme radanja Jugoslavije. Italija, Saveznici i jugoslavenskog

pitanje 1914 – 1918. Pula/Rijeka 1989, S. 213.62 Vernic, Zdenko: ,Theaterpolitik‘, in: AGRAMER TAGBLATT 28, 16. 03. 1920, S. 4.

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Kulturvolk“ beschrieben, wobei „seine Tätigkeit einen integrierenden, höchstwichtigen Bestandteil der Kulturarbeit am Volke“63 bilde. Stärker denn je wirdeine slawische Ausrichtung der Bühne gefordert. Gerade vor dem Theater findenim Jahre 1918 projugoslawische Demonstrationen statt. Der Historiker BogdanKrizman berichtet, dass unter Jubelrufen der Solidarität auch „illyrischeKampflieder“ gesungen werden. Besonders oft erklingt ein Refrain, in dem dieBrüderlichkeitsdiskurse angesprochen werden: „Slowene, Serbe und Kroate –für immer Brüder!“64 („Slovenac, Srb, Hrvat – za uvijek brat i brat!“). Die pro-jugoslawisch orientierte Zeitung Novosti berichtet mit Emphase von den„großartigen Manifestationen für den jugoslawischen Staat in Zagreb“65, inderen Rahmen vor dem Theater der Politiker Dr. Grga Budislav Angjelinovicdem Nationalrat des SHS Treue schwört. Ähnlich notiert Srdan Budisavljevic,einer der führenden projugoslawischen Politiker der Zeit, dass zum 50sten Ju-biläum des Zagreber Theaterhauses am 10. Juni 1918 ein Schreiben aus Prag Andie lieben jugoslawischen Brüder!66 eingetroffen ist. Im Agramer Tagblatt istanlässlich des Jubiläums zu lesen:

Die Zeit der hohen nationalen Hoffnungen und heißen Kämpfe erweckt imgroßen Brudervolke an der Vltava die stolze Erinnerung an eine ähnliche nichtallzu ferne Epoche […] Wir Südslaven, das dreieinige Volk der Slovenen,Kroaten und Serben, fühlen uns ein einig Volk von Brüdern, mit dem gleichengemeinsamen Ziele.67

Nach der am 1. Dezember 1918 erfolgten Gründung des Königreiches der Ser-ben, Kroaten und Slowenen wird deklarativ die Befreiung „von der Atmosphäredes Habsburger-Südslavenhasses“, der „alles Südslawische mit blindem Hasseverfolgte“68 proklamiert, worin emotionalisierende Propagandadiskurse zumTragen kommen. So verfasst der damalige Theaterintendant Guido Hreljanovicin Novosti ein Schreiben, in dem nicht nur die Loyalität gegenüber dem neuenMachtinhaber ausgesprochen wird, sondern auch die Brüderlichkeitsdiskurse inihrer legitimierenden Funktion aktiviert werden. Erinnert wird an die ge-meinsamen „illyrischen Großväter“69, die „zusammen und brüderlich“ das

63 Ebd.64 Krizman 1977, S. 68.65 Anonym: ,Velicanstvena manifestacija za jugoslav. drzavu u Zagrebu‘, in: NOVOSTI 282, 22.

11. 1918, S. 4.66 Budisavljevic 1958, S. 106.67 Anonym: ,Treue um Treue! 16.V.1868 – 16.V.1918‘, in: AGRAMER TAGBLATT 240, 15. 10.

1918, S. 6.68 Vernic, Zdenko: ,Zum Theaterjubiläum‘, in: AGRAMER TAGBLATT 255, 15. 10. 1920, S. 5.69 „Hrvatsko narodno kazaliste u Zagrebu stvoreno je u doba nasih ilirskih djedova za-

jednickim i bratskim radom Srba i Hrvata. […] U radu Hrvatskog narodnog kazalistaozivotvoreno je bilo od prvih pocetaka pa sve do danasnjeg dana bratskim sudjelovanjemSrba, Hrvata i Slovenaca na kulturnom polju ideja ujedinjenja.“ Hreljanovic, Guido:

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Nationaltheater in Zagreb gegründet haben. Daraufhin bedankt sich der RegentAleksandar in der gleichen Zeitung für diese „patriotische Gratulation“70 undbetont die Idee der Gemeinsamkeit und Eintracht des „dreinamigen Volkes“. Im27. April 1919 bekommt das Zagreber Theater den Namen Nationaltheater desKönigreichs SHS in Zagreb und wird stolz zum „ersten im Königreiche“71 erklärt.

Die programmatische Aktivierung der kulturellen und politischen Eini-gungstendenzen spiegelt sich sogleich auch im Repertoire des Zagreber Theaterswieder. Indikativ im Sinne der Exklusion des Fremden, um das neue Eigene zubehaupten, ist die Tatsache, dass die Vereinigung von einem völligen Ver-schwinden deutschsprachiger Stücke begleitet wird. Die Zäsur im Jahre 1918veranschaulicht Diagramm 1.

Die quantitative Darstellung deutschsprachiger Stücke im Repertoire zeigteine Amplitude, die den politischen Wandlungen folgt und den rapidenSchwund der Stücke deutschsprachiger Autoren nach 1918 augenfällig macht.Auf der horizontalen Achse ist das Jahr abzulesen, die vertikale Achse bezeichnetdie Anzahl der Aufführungen. Der größte Rückgang erfolgte nach dem Jahr1918, also unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs und parallel zur Auf-lösung der Monarchie. Im Schwinden deutschsprachiger Stücke werden Ten-denzen sichtbar, die sich einerseits als Emanzipation vom deutschsprachigenVorbild deuten lassen und andererseits deutlich das Bestreben zeigen, die neueslawische Identität einer „imaginären Ethnogemeinschaft der Südslawen“72 zupropagieren. Die slawische Zugehörigkeit wird betont, an die Stelle deutsch-sprachiger Autoren treten slawische. Im Agramer Tagblatt wird die Entschei-dung „für die Entwicklung der südslawischen Literatur“ betont, um „eine ent-scheidende Vertiefung in nationaler und künstlerischer Hinsicht“73 zu erfahren.Damit erlebe Zagreb „die begeisterte große nationale Zeit der Tage des Illyris-mus“74 wieder, hob der Rezensent hervor, um die identitätsbildende Kontinuitätabzusichern.

Man spricht sogar von einem Trend wahrer „Russophilie“.75 So gibt es in den

,Hrvatsko kazaliste Regentu. Njegovom kraljevskom Visocanstvu Regentu Aleksandru‘, in:NOVOSTI 327, 06. 12. 1918, S. 2.

70 Anonym: ,Regent Aleksandar hrvatskom kazalistu‘, in: NOVOSTI 333, 12. 12. 1918, S. 2.71 Anonym: ,Unser Theater am Schluß der Saison‘, in: AGRAMER TAGBLATT 163, 19. 06. 1919,

S. 5.72 Matkovic, Stjepan: ,Prijelomna 1918. u hrvatskoj politici‘, in: Cipek, Tihomir / Milosavljevic,

Olivera (Hg.): Kultura sjecanja. 1918. Povijesni lomovi i svladavanje proslosti. Zagreb 2007,S. 77 – 91, hier S. 80.

73 Anonym: ,Smrt majke Jugovica. Zur gestrigen Aufführung‘, in: AGRAMER TAGBLATT 244,28. 10. 1918, S. 3.

74 Ebd.75 Badalic, Josip: ,K nekrologu minule kazalisne sezone‘, in: JUTARNJI LIST 3388, 06. 07. 1921,

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Jahren von 1919 bis 1921 keine einzige Premiere deutschsprachiger Stücke – derGrund ist in den genannten politischen und ideologischen Faktoren zu suchen.

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Diagramm 1: Das Repertoire der deutschsprachigen Stücke im Nationaltheater in Zagreb.

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In der nachfolgenden Periode fällt das deutschsprachige Repertoire76 quantitativauf den dritten Platz aller übersetzten Stücke77 zurück und wird seine ehemalsdominante Position von nun an nicht mehr behaupten können. Dass die sla-wische Dramatik als ein Instrument der Integration angesehen wird, ist aus demRepertoirebild abzulesen. Dominiert wird es von Miroslav Krleza, Ivan Cankarund dem populären serbischen Komödienautor Branislav Nusic, der am17. Dezember 1918 in Zagreb die Uraufführung seines Dramas Hadzi-Loja ausdem Anlass des Besuches des Regenten Alexander Karadordevic feiert und mit77 Wiederholungen seines Erfolgsstückes Gospodja ministarka der meistge-spielte Autor der unmittelbaren Nachkriegszeit ist.

Die südslawische dramatische Produktion wird im Diskurs der Brüderlich-keit hochstilisiert und dient dazu, die Vorstellung der organischen Einheit derslawischen Nation zu inszenieren, während die deutschsprachige Dramatik, dieeine lange Zeit als Muster und Anregung der einheimischen Theaterproduktionfungierte, nunmehr zum Feind deklariert wird. So wird der Theaterleitungvorgeworfen, Shakespeare immer noch nach deutscher Vorlage zu spielen. Derdamalige Dramaturg Nikola Andric wird in der Presse wegen seiner kriegsbe-dingten Anlehnung an das deutschsprachige Repertoire heftig angegriffen. Dassdie deutschsprachige Dramatik während des Krieges als Orientierung benutztwurde, wird jetzt als Negativum gesehen. Damit bezichtigt die jugoslawischePropaganda das kroatische Theater, dem deutsch-österreichischen Kulturpa-radigma verpflichtet zu sein. Gerade das „kann und darf kein Vorbild für unsereBühne“78 sein. Der zeitgenössische kroatische Diskurs steht somit unter demEindruck einer starken südslawischen Agitation, die jede Erinnerung an eine„gemeinsame Vergangenheit“ im monarchistischen Kulturraum als uner-wünscht abtut. In der zeitgenössischen Presse häufen sich Forderungen, Stückeslawischer Provenienz zu inszenieren. Stürmisch wird 1922 auf den Titelseitender führenden Zeitungen das erste Gastspiel eines Ensembles des MoskauerKünstlertheaters von Stanislawski mit „Zdravstvujte!“ begrüßt, der neue „sla-wische“ Psychologisierungsstil wird der deutschen „pathetischen Deklamati-onstradition“ entgegengesetzt und ihr vorgezogen. In der Jubiläumsausgabe derZeitung Obzor schreibt Branko Livadic, „dieses große Gastspiel [habe] die

76 Zur Übersicht des Repertoires: Hecimovic, Branko (Hg.): Repertoar hrvatskih kazalista1840 – 1860 – 1980. Bd. 1. Zagreb 1990.

77 Vgl. dazu: Kosutic-Brozovic, Nevenka: ,Hrvatsko dramsko prevoditeljstvo u meduratnomrazdoblju‘, in: Dani hvarskog kazalista. Meduratne godine. Grada i eseji o hrvatskoj drami iteatru. Split 1982, S. 272 – 338.

78 „Njemacka nam ne moze i ne smije biti uzor u tom pogledu.” Anonym: ,Repertoir nasegakazalista‘, in: OBZOR 195, 01. 09. 1918, S. 2.

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Schönheit der slawischen Kunst und die Ideale des szenischen Realismus auf dieBühne gebracht“,79 womit auch eine neue Ära im Theater angekündigt wird.

Die hier angesprochenen Rezeptionsprozesse lassen erkennen, dass sowohlder Modernisierungsprozess innerhalb der Gesellschaft als auch der Prozess derNationenwerdung von Brüderlichkeitsdiskursen begleitet werden. Diese Pro-zesse können mit Eric J. Hobsbawm als ,protonational‘ bezeichnet werden, dennAufgabe des Theaters bleibe es, „bestimmte Spielarten kollektiver Zugehörig-keitsgefühle [zu] mobilisieren“.80 Insbesondere Theaterinszenierungen sind es,die als Artefakte unmittelbar auf die Mechanismen und Machtstrategien ver-weisen, durch die kulturelle Identitäten konstruiert und reifiziert werden. Diedamalige intellektuelle Elite, die Trägerin des Homogenisierungsprojektes, istsich der instabilen Lage einer polyglotten, von ungleichen Machtverhältnissengeprägten Gemeinschaft bewusst. Das Theater ist den Erschütterungen in an-deren sozialen und kulturellen Bereichen unmittelbar ausgeliefert, sodass dasPostulat größerer künstlerischer Autonomie in dieser Periode keine Umsetzungerfährt. Aus politisch-ideologischen Gründen müssen mythopoetische Struk-turen einer verklärten Familie die fehlende Gemeinschaft und Solidarität imneuen Staatsgebilde ersetzen. Alles in allem ist das Theaterleben um das Jahr1918 vom Lavieren zwischen manifestem kulturpolitischem Druck und ideo-logisch aufgeladenen Brüderlichkeitsdiskursen geprägt.

Aus den Rezensionen lässt sich der Prozess der Identitätsbildung in der In-stitution Theater als polyphoner und dialogischer Austauschprozess ablesen, indem die Sedimente der Vergangenheit mit der Gegenwart verschmelzen undzugleich die Aufgabe haben, zukunftsweisend zu wirken. Dabei erweist sich dasNarrativ der Brüderlichkeit als eine in sich „gespaltene-und-doppelte[n] Formder Gruppenidentifikation.“,81 wie es Homi K. Bhaba in seinem grundlegendenAufsatz „Wie das Neue in die Welt kommt“ hervorhebt. Dass sich trotz pro-klamiertem Ziel einer nationalen Homogenisierung die Nationen als „identitäreHybride“82 erweisen, führt die Grenzen des essentialisierenden Brüderlich-keitsdiskurses einer nie vollständig integrierenden Ethnogenese in aller Deut-lichkeit vor Augen. Mit Ruth Wodak kann er als „Dissimilationsstrategie“ be-schrieben werden, die „eine bestimmte nationale Identität aufzubauen und zu

79 Livadic, Branko: ,Hrvatsko kazaliste‘, in: Dezman, Milivoj / Maixner, Rudolf (Hg.): Obzorspomen-knjiga 1860 – 1935, Zagreb 1936, S. 139.

80 Hobsbawm, Eric J. : Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780. Frankfurt/New York 2004, S. 59.

81 Bhabha, Homi K.: ,Wie das Neue in die Welt kommt‘, in: Ders.: Die Verortung von Kultur.Tübingen 2000, S. 317 – 353, hier S. 346.

82 Wodak, Ruth: ,Zum Nationsverständnis: Staatsnation – Kulturnation – nationale Identität‘,in: Dies. : Zur diskursiven Konstruktion nationaler Identität. Frankfurt/M. 1998, S. 19 – 78,hier S. 61.

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etablieren [versucht], indem sie sprachlich direkt oder indirekt zu Unifikation,Identifikation, Solidarität, aber auch zu Abgrenzung“83 führt. Ist die Etablierungder Nation im 19. Jahrhundert erst aus einem lang anhaltenden Prozess agonalerKräfte zu verstehen, lassen sich die langfristigen Folgen solcher Antagonismenvon den oft stereotyp wiederholten Brüderlichkeitsdiskursen doch nicht ver-decken. So schreiben die Historiker von einem Blutbad in Zagreb am 5. De-zember 1918, das von der damaligen Regierung rasch als „Ausbruch von Mili-tärunruhen“84 vertuscht und erst nachträglich kontrovers diskutiert wird. InNovosti85 wird trocken notiert „Ruhe und Ordnung müssen und werden wohlerhalten werden“, womit zugleich die bisher feierlich proklamierten Brüder-lichkeitsdiskurse in ihrem propagandistischen Charakter enthüllt werden, derdie immerfort präsenten unterschiedlichen nationalen Positionen zusammenbringen sollte. Die in der letzten Sitzung des kroatischen Parlaments am29. November 1918 gebrachten Beschlüsse von einer Vereinigung auf Basis der„absoluten Gleichheit“86 aller Völker, werden damit grundsätzlich in Frage ge-stellt, so dass es im Königreich SHS nicht zu einer gehofften föderalistischenLösung kommt.

Dass die Unzufriedenheit mit dem monarchistischen und unitaristischenModell des neuen Staates zunimmt, bezeugt eine im Jahre 1928 erschieneneprogrammatische Schrift unter dem Titel Hrvatsko pitanje (Die kroatischeFrage), in der die bisher immer noch angenommenen Brüderlichkeitsdiskursebrüsk abgelehnt werden. Im Theater signalisiert im gleichen Jahr ein Gastspieldes Wiener Burgtheaters87 mit seiner Rezeption die tiefe Spaltung der Öffent-lichkeit und markiert das symbolische Ende einer Phase, in der die Brüder-lichkeitsdiskurse die Illusion von Solidarität suggerierten. Somit kann in denvermeintlich homogenen Brüderlichkeitsdiskursen um 1918 eine gespalteneund fast abgründige – da konfliktgeladene – Position im Projekt der Einheitinnerhalb des Königreichs der SHS detektiert werden.

83 Ebd., S. 76.84 Den Verlauf beschreibt der Historiker B. Krizman im letzten Kapitel seines Buches (Fn. 58).

Eine Innensicht anhand seiner Erinnerungen auf die Vorfälle notiert siehe Budisavljevic(Vlg. Fn. 15). Zur neueren kroatischen Behandlung des Themas: Matijevic, Zlatko (Hg.):Godina 1918. Prethodnice, zbivanja, posljedice. Zbornik radova s medunarodnoga znanst-venog skupa odrzanog u Zagrebu 4. i 5. prosinca 2008. Zagreb 2010.

85 “Nekoliko nahuskanih i neodgovornih elemenata pokusalo je jucer oruzanom silom pore-metiti red i mir.“ Anonym: ,Mir i red moraju biti i bit ce uzdrzani‘, in: NOVOSTI 328, 07. 12.1918, S.4.

86 Anonym:,Sjednica 29. 11. 1918‘, in: NARODNE NOVINE 29. 11. 1918/248, S. 1.87 Car, Milka (2001): ,Das Burgtheater in Zagreb 1928. Gastspiele als Konzept kultureller Be-

gegnungen‘, in: Bobinac, Marijan. (Hg.): Porträts und Konstellationen 1. Deutschsprachig-kroatische Literaturbeziehungen. Zagreber Germanistische Beiträge. Beiheft 6, S. 55 – 75.

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Literatur

Anonym: ,Unser Theater am Schluß der Saison‘, in: AGRAMER TAGBLATT 163, 19. 06.1919, S. 5.

Anonym: ,Smrt majke Jugovica. Zur gestrigen Aufführung‘, in: AGRAMER TAGBLATT244, 28. 10. 1918, S. 3.

Anonym: ,Treue um Treue! 16.V.1868 – 16.V.1918‘, in: AGRAMER TAGBLATT 240, 15. 10.1918, S. 6.

Anonym: ,Landestheater‘, in: AGRAMER ZEITUNG 61, 16. 03. 1903, S. 5 – 6.Anonym: ,Amanet‘, in: HRVATSKA 61, 16. 03. 1903, S. 3.Anonym ,Agramericino izvjescivanje‘, in: HRVATSKO PRAVO 2147, 08. 01. 1903, S. 2.Anonym: ,Anatol‘, in: JUTARNJI LIST 1386, 30. 01. 1916, S. 2.Anonym: ,Sjednica 29. 11. 1918‘, in: NARODNE NOVINE 248, 29. 11. 1918, S. 1.Anonym: ,Zagreb i Sarajevo‘, in: NARODNE NOVINE 65, 20. 03. 1914, S. 4.Anonym: ,Regent Aleksandar hrvatskom kazalistu‘, in: NOVOSTI 333, 12. 12. 1918, S. 2.Anonym: ,Mir i red moraju biti i bit ce uzdrzani‘, in: NOVOSTI 328, 07. 12. 1918, S. 4.Anonym: ,Velicanstvena manifestacija za jugoslav. drzavu u Zagrebu‘, in: NOVOSTI 282,

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