"bettlerhauptstadt". bedrohungs- und feindbilder in der berichterstattung über...
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"Bettlerhauptstadt": Bedrohungs- undFeindbilder in der Berichterstattung uber
Armutsmigrant_innen
STEFAN BENEDIK 1
Betteln wird in der allgemeinen Wahrnehmung als eine Erscheinung der StraBe,als ein soziales Phanomen des offentlichen Raums, verstanden. In diesem Beitrag
behaupte ich, dass das nur zum Teil stimmt und dass wir unseren Blick auf dievielfaltigen Formen, in denen Diskussionen uber Betteln ausgetragen werden,richten mussen, um zu verstehen, warum die Gegenwart von Bettler_innen imoffentlichen Raum zu einem dermaBen brisanten Thema in zentraleuropaischen
Gesellschaften geworden ist. Dafur konnen youtube-Clips genauso entscheidendwerden wie Parlamentsdebatten - fur unsere Wahrnehmung sind diese Schauplatzeoft weitaus pragender als Erfahrungen aufder StraBe oder konkrete Begegnungen
Fur die kritische Lekture dieses Beitrags danke ich Daniela Karner und Gernot
Reinisch sehr herzlich. Fur die Scharfung der Argumentation und Uberarbeitung des
Textes waren Anmerkungen von Katharina Scherke ungemein hilfreich.
In den folgenden FuJ3noten, in denen ich auf das hegemoniale cffentlich-mediale
Sprechen verweise, fuhre ich aus Platzgrunden immer nur ein Beispiel exempla
risch an. Mehrere Belege fur Auftreten und Verwendungsvarianten bestimmter
Diskursformationen oder Narrative liste ich in der Monographie "Die imaginierte
Bettlerflut" auf, aus der ich die meisten der hier aus den Grazer Medien analysier
ten Fallen bezogen habe; ich danke Heidrun Zettelbauer und Barbara Tiefenbacher.
Vg!. Stefan Benedik, Barbara Tiefenbacher, Heidrun Zettelbauer, Die imaginier
te .Bettlerflut''. Temporare Migrationen von Roma/Romnija. Konstrukte und
Positionen, (= drava diskurs), Klagenfurt/Celovec 2013, S. 35-81.
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mit Bettlerjnnen, Schlielllich werden in ihnen alte Vorurteile aktiviert unddureh seheinbare Fakten untermauert und uns somit eine Brille zur Verfugunggestellt, dureh die hindureh wir dann konkrete Alltagssituationen (etwa im offentliehen Raum) sehen und deuten. Deshalb untersuehe ieh in diesem kurzenBeitrag Material aus der offentlich-medialen Beriehterstattung, Aussendungen
politischer Parteien , aber aueh Mal3nahmen der Verwaltung und von NGOs, diesich mit Migrant_innen in der Gegenwart beschaftigen und frage danaeh, welcheGeschiehte die darin verwendeten Argumente haben. Ich gehe dabei aufzwei versehiedene Stadte ein, Salzburg und Graz, urn zu ergriinden , wie wir erklaren konnen, warum ein- und dasselbe Phanomen so untersehiedlich dargestellt wird. Inbeiden dieser Stadte nimmt Betteln heute einen grol3enStellenwert in der Arenader gesellschaftspolitisehen Diskussionen ein, das ist aber nieht das erste Mal inder Gesehiehte so. Durch die Tradition der Vorurteile, die dabei verbreitet werden,und ihren Allgemeingiiltigkeitsanspruch, sind Vorstellungen von Bettler_innenin der Offentlichkeit untrennbar mit Mythen verbunden, die inzwischen so gelaufig sind, dass sie mit ganz alltaglichen Begriffen verknupft sind. Vollig neutraleWorte wie "organisiert" genugen in diesem Zusammenhang sehon, urn ganz spezifische Geschiehten abzurufen . Selbstverstandlich organisieren sieh Bettler_innenfur Fahrgemeinschaften, Quartiere, Verpflegung.' Das ist aber - seheinbar ganz
selbstverstandlich - nicht gemeint, wenn von "organisiertem Betteln" gesprochen wird. "Organisation" wird stattdessen als gleiehbedeutend mit "kriminellerOrganisation" gehandhabt. Aueh der Rassismus hinter dieser Gleichsetzung ist
kaum versteckt: In den offentlichen Diskussionen wird unausgesprochen vorausgesetzt, dass es sieh bei den Bettlerjnnen urn migrierende .Roma" handeln wurde. Unterstellt wird dann, dass eine Organisation bei einer solehen Gruppe nurkriminell sein konne, ohne dass das naher erklart oder gar bewiesen werden muss
te. Entspreehend wertend lassenjene Formulierungen, die im Zusammenhang mitBetteln verwendet werden, jede Neutralitat vermissen (die Rede ist dann davon,dass ein "Capo" oder .Bandenboss" .Kruppel" "herkarren" und "abkassieren"wurde), In diesem Beitrag werde ich soIche Erzahlungen und Spraehbilder mitBeispielen aus Salzburg und Graz kurz vorstellen, ihre Herkunft und Funktionthematisieren. Ieh tue das aus der Perspektive eines Kulturwissensehafters,der sieh dafur interessiert, warum bestimmte Themen in Vergangenheit undGegenwart Aufregung verursachen, Aggressionen weeken. Wenn ieh mieh dabeimit Darstellungs- und Erzahlweisen beschaftige, bedeutet das nicht, dass das dieerfahrbare Welt aussehliel3en wurde . Auseinandersetzungen uber Betteln in derStadt Salzburg zeigen beispielsweise sehr deutlieh, dass Diskussionen untrenn-
2 Vg!. zu Forrnen der Selbstorganisation unter Bettler_innen Benedik , Tiefenbacher,
Zettelbauer, Die irnaginierte .Bettlerflut" , S. 28, S. 33.
" BETTLERHAUPTSTAOT" - BEOROHUNGS- UNO F EINDBILDER IN OER B ERICHTERSTATTU NG I77
bar mit Handlungen verbunden sind: Die stete Radikalisierung der Meinungenlibel' Betteln in Medien und Politik ab 2012 fuhrte dazu, dass auf Facebook sogar gefordert wurde , Bettler_innen in Mauthausen zu vergasen, ' und mundetesehliel3lieh im Fruhjahr 2014 aueh darin , dass die improvisierten Quartiere vonBettler_innen angezundet und diese auf offener Stral3e gewalttatig angegriffenwurden .' Zu diesem Zeitpunkt waren sehon zwei Jahre lang Ubergriffe gegenRoma (Manner) und Romnija (Frauen) im Land Salzburg aktenkundig geworden.'Das ist genau jener Zeitraum , in dem Betteln zu einem der zentralen politischenThemen geworden war. Attaekiert wurden aber nieht nur bettelnde Mensehen.
Vielmehr stand dahinter ein offener Rassismus , del' sieh dezidiert verbal und tatlieh gegen eine ,ethnisehe Gruppe' riehtete. AIs in Graz wie in Salzburg die Turenvon Notsehlafstellen, in denen Bettler_innen iibernaehteten, mit der Forderung
besehmiert wurden , die NS-Verniehtungspolitik wieder aufzunehmen ("Romains Gas" oder "KZ"), waren das Ziel der Mordphantasien nieht Bettler_innen,sondern Rom_nija ganz pauschal." SoIche Handlungen sind Teil del' Diskurse sie haben ihren Ursprung und ihren Ort in den Medien, werden in diesen dannverurteilt, entsehuldigt, besproehen, interpretiert, heruntergespielt, bekampft .'Spreehen und Handeln sind also unmittelbar miteinander verstriekt, aueh in allenfolgenden Beispielen.
BETTELN ALS AUSNAHMEZUSTAND - POPULlSTISCHE
INSTRUMENTALlSIERUNG VON ARMUT
Mediale Diskussionen von Betteln liegen am Sehnittpunkt der offentlichenAuseinandersetzung mit ,Fremdheit' und Armut. Sie traten in den .westeuropa
isehen' Medien mit der zunehmenden Effektivitiit sozialstaatlicher Strukturennach dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer mehr in den Hintergrund und
3 Vg\. Salzburger Nachrichte n, 1.5.2014.
4 Vg\. Standard , 28.4 .2014.
5 Die Selbstvertretungsorganisation Rorna Service listet auf ihrern Blog alle diese
Gewalt- und Hetztaten auf, vg!. dROMa-Blog, 3.5.2014. Vg!.dazu auch salzburg .orf.at,
2.5.2014.
6 Vg\. Stefan Benedik, ,Zigeunerlieder' und Viehwaggons . Verweise auf historische
Diskursforrnationen in Debatten urn Grazer Bettler_innen seit 1989, in: Historisches
Jahrbuch der Stadt Graz 42 (2012), S. 503-532, hier S. 521-523.
7 Vg\. dazu grundsatzlich Claudia Breger, Ortlos igkeit des Frernden. "Zigeunerinnen"
und .Z igeuner" in der deutsch sprachige n Literatur urn 1800, (= Literatur-Kultur
Geschlecht 10), Koln 1998, S. 366.
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kommen erst in den letzten Jahren, in denen die soziale Ungleichheit innerhalb
Zentraleuropas wieder stark angestiegen ist, erneut aufs Tapet. Ein wesentliches
Merkmal dieser offentlichen Auseinandersetzungen ist, dass sie nicht vorrangig
als Sozialdebatten gefuhrt werden, sondern als Diskussionen iiber Migration, die
stark von Rassismen gepragt sind. Entsprechend pendelt die offentlich-mediale
Auseinandersetzung mit Betteln haufig zwischen den Positionen migrations
feindlicher politischer Parteien und jenen von Akteur_innen der Zivilgesellschaft
oder von NGOs. Die Diskussionen lassen sich dabei nicht einfach entlang des
Schemas politischer Ideologien oder bestimmter Medienformate einordnen. An
der pauschalen Darstellung von Betteln als kriminelle, bedrohliche Tatigkeit
haben sich Boulevardzeitungen genauso beteiligt wie offentlich-rechtliche
Rundfunkanstalten oder Qualitatsmedien. Sie verwenden dafiir unterschiedli
che Sprache, doch die verbreiteten Erzahlungen weichen wenig voneinander ab.
Einflussreich sind dabei besonders Leserjnnenbriefe und Kommentare, wah
rend umfangreichere Recherchen ein komplizierteres, meist weniger rassisti
sches Bild vermitteln, unabhangig vom Medium.Wie in alien langer offentlich gefuhrten Diskussionen sind auch fur das
Sprechen iiber Betteln unausgesprochene Vorannahmen entscheidend, die vor
ausgesetzt werden, ohne dass sie erklart werden miissen. Eine solche Annahme
ist die Definition von Betteln als Problem. Sie stand am Anfang der gesellschaft
liche Verhandlung iiber Betteln in Graz vor mehr als einem Vierteljahrhundert,
genauso aber auch in Salzburg vor wenigen Jahren: Im Zuge dessen wurde
die Aufmerksamkeit nicht auf die Probleme gelenkt, die Armut verursachen
oder die durch Armut verursacht werden. Stattdessen wurden die Armen zum
Problem erklart, In Salzburg geschah dies durch die Regionalpolitik, deren
Vertreter_innen bekanntgaben, "das Bettlerproblem in Salzburg ist virulent."!
In Graz begann der mediale Konflikt 1989 mit der rhetorischen Frage einer
Leserinnenbriefschreiberin, ob es notwendig sei, dass die Grazer "Altstadt
belagert ist mit Bettlem. " Hinter dies en unterschiedlichen Formulierungen
steckt die gemeinsame Vorstellung eines Ausnahmezustandes, einer Situation,
in der rasches (und gegebenenfalls auch hartes) Durchgreifen notwendig sei.
Beachtenswert ist das deshalb, weil diese Aufforderungen genauso wie die zahl
reiehen folgenden so gut wie nichts iiber das Betteln aussagen. Stellungnahmen,
die behaupten, dass es eine akute Gefahr gabe, fuhren nie aus, worin diese ei
gentlich zu suchen sei. Politiker_innen ordnen in Osterreich Bettelverbote meist
im Bereich der Sicherheitsgesetze ein, ohne zu erortern, wessen Sicherheit da
mit gemeint und in welcher Form diese gefahrdet ist. "Sicherheitszonen" war
8 Vizebiirgermeister Harry Preuner (GVP) in Salzburg24.at, 4.5.2010.
9 Leserinnenbrief, Kleine Zeitung , 24.3.1989.
"BETTLERHAUPTSTADT" - B EDROHUNGS- UND F EINDBILDER IN DER B ERICHTERSTATTUNG 179
die Wortschopfung, mit der eine Partei in der Salzburger Stadtregierung 2014
offentlich fur Bettelverbotsbereiche warb.'?
Zu dieser Darstellung als Bedrohung passt, wenn in Zeitungsreportagen
iiber Betteln durch die Verwendung polizeilicher Sprache der Eindruck vermit
telt wird, dass Betteln gefahrlich sei: 2010 ging die Polizei in Salzburg erstmals
gegen Menschen in Elendsquartieren vor. Nachdem es zu diesem Zeitpunkt kei
ne Notschlafstelle gab, in der Migrant_innen kurzfristig unterkommen konnten,
mussten Bettlerj nnen in leerstehenden Hausern oder in Zelten iibernachten.
Dabei handelt es sich im schlimmsten Fall urn Verwaltungsiibertretungen, fur
die die renommierten Salzburger Nachrichten die Formulierung verwendeten,
dass die Beamten .fundig" geworden waren und .funf Rumanen stellen" konn
ten. Der Eindruck eines Verbrechens, das eine schnelle Reaktion erfordert, ent
steht hier nur durch die Wortwahl: "Die Polizei inspektion iibernahm die notigen
Sofortmafmahmen,'?' Abgesehen davon, dass iiberhaupt zu fragen ware, wel
che polizeilichen "Mal3nahmen" hier notig gewesen sein soliten, entsteht durch
Ubertreibungen und Betonungen der Eindruck besonderer Gefahrlichkeit, So
dringlich kann ein Problem nur sein, wenn von ihm eine akute Bedrohung ausgeht.
Ein niichterner Blick zeigt hingegen, dass nachvollziehbare Gefahren meist nur fur
die Bettelnden bestehen. Durch die Umkehrung der Perspektive wird allerdings
den Lesenden die Opferrolle angeboten, wie das Beispiel eines anderen Berichts
iiber ein desolates Haus in Salzburg zeigt, in dem mutmal3lich bettelnde Migrant_
innen untergebracht waren. Medien attestierten dabei ganz allgemein "Gefahr im
Verzug". Eigentlich hatten die dort einquartierten Menschen in Sicherheit gebracht
werden miissen, dargestellt wurde das aber so, als wiirde eine (nicht naher definier
te) Gefahr fur .die Einheimischen' , ja fur ganz Salzburg bestehen. "
In der sozialen Praxis entsteht aus dem Betteln keine Gefahr - die meis
ten real en Bedrohungen sind fur die Bettlerjnnen selbst gegeben. Fiir sie sind
Praktiken von Polizei und Behorden, beispielsweise in Wien bedrohlich, wo
Eingriffe in die Intimsphare von Bettler_innen und Gewalt in den Polizeistuben
haufig dokumentiert, ja sogar als Regelfall kr itisiert wurden." Fiir Passant_in-
10 Vg\. Mein Bezirk, 11.5.2014.
11 Salzburger Nachrichten, 4.5.2010.
12 Vg\. ORF Salzburg, 10.6.2012. Die dahinterstehende Opfer-Taterinnen-Umkehr
zahlt zum klassische n Repriisentat ionsrepertoire von Migration , wie sich an den ver
festigten Topoi uber "Elendsquart iere" oder .J llegale Fluchtlingslager" ganz allge
mein als "Argernis" oder "Zumutung" bzw. .Bedrohung'' der "Einheimischen" zeigt.
13 Vg\. Ferdinand Koller, Brauchen wir Bettelverbote, in: Monik a Jarosch et a\. (Hg.),
Gaismair-Jahrbuch 2015. Gegenstimmen, Innsbruck-Wien-Bozen 2014, S. 34-40,
hier S. 39.
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nen mag Betteln unangenehm sein, aber nicht gefahrlich, In den Medien wird
es dennoch als Gefahr prasentiert - ein Widerspruch, den der Mainstream der
Berichterstattung mit kriminalisierenden Etiketten ubertuncht." Als Synonyme
fur .Bettler" werden am haufigsten "Bande" und "Mafia" verwendet, in
Zeitungsinterviews ist es Passanten aber auch nicht zuviel, sie als "Gauner" zu
bezeichnen." Verurteilungen in diesem Stil gehen jedoch nicht auf aggressive
"kleine Leute" zuriick, die als .Mob' iiberschieJ3end auf Migrationen reagieren.
Besonders drastisch zeigt sich die pauschale Unterstellung, dass Bettler_innen
kriminell seien, namlich bei Vertreter_innen von Polizei oder Politik, die be
tont bedauernd zu Protokoll geben, dass es "keine Handhabe" gabe, bettelnde
Menschen einfach zu vertreiben oder zu bestrafen." Die Offenheit, mit der
diese eklatante Missachtung von Menschenrechten eingestanden wird - allen
voran die Behandlung von Unbescholtenen als Kriminelle" - erinnert verbluf
fend an die Erste Osterreichische Republik, in der sich Landesregierungen wie
derholt lautstark dariiber beschwerten, dass die Grundrechte in der Verfassung
der Republik ihren Plan verhinderten, jene Menschen einfach samt und sonders
aus dem eigenen Zustandigkeitsbereich abzuschieben, die als "Zigeuner" oder
"Zigeunerinnen" betrachtet wurden."
14 Vg!. Nando Sigona, Nidhi Trehan, The (re)Criminalization of Roma Communities in
a Neoliberal Europe, in: Salvatore Palidda (Hg.), Racial crirninalization of migrants
in the 21st century, (= Advances in Criminology), Farnham-Burlington 2011, S. 119
132;Nando Sigona, Locating "The Gypsy Problem", The Roma in Italy, Stereotyping,
Labelling and "Nomad Camps", in: Journal of Ethnic and Migration Studies 31
(2005), S. 741-756.
15 Vg!. Kurier, 24.8.2012. Vg!. dazu auch: Hi1de Bohm, Der Armut ins Gesicht sehen,
Megaphon Nr. 20 (1997), S. 4.
16 Vg!. Mein Bezirk, 25.7.2012; Wortliches Protokoll der 30. Sitzung des Wiener
Landtags in der 18. Wahlperiode, 26.3.2010.
17 Zur Beurteilung von bettelfeindlichen Politiken in der Praxis aus einer men
schenrechtlichen Perspektive vg!. Wolfgang Benedek, Das Bettelverbot in der
Steiermark aus mensclienrechtlicher Sicht, in: Beatrix Karl et a!. (Hg.), Steirisches
Jahrbuch fur Politik 2011, Graz 2012, S. 77-81; Barbara Weichselbaum, Betteln als
Verwaltungsstraftatbestand - die grundrechtliche Sicht am Beispiel des Verbots
"gewerbsmiiJ3igen Bettelns", in: Journal fur Rechtspolitik 19 (2011), S. 93-109;
Barbara Weichselbaum, Die Bettelverbote in der Judikatur des VfGH, in: Gerhard
Baumgartner (Hg.), Jahrbuch Offentliches Recht 2013, Wien 2013, S. 37-75.
18 Vg!. zB Amt der niederosterreichischen Landesregierung Z. L.A. 1/6a - 1967/61
14 V171 NHnc10 Si170na Nidhi Trehan. The (re)Criminalization of Roma Communities in
"BETTLERHAUPTSTAOT" - BEOROHUNGS- UNO FEINOBILOER IN OER BERICHTERSTATTUNG I81
Die pauschale Unterstellung, Bettler_innen seien kriminell, ist aber nicht
das einzige Standbein, auf das die Behauptung gestellt wird, dass Betteln ein
"Sicherheitsrisiko" sei. Eine andere Gruppe von Sprachbildern kleidet dieses
soziale Phanomen in die Hiille des Militarischen, Etwa wird ganz ausdriicklich
unterstellt, dass Bettler_innen "generalstabsmaJ3ig geplant" "rekrutiert" wurden,
damit eine .Bettler-Armee" ihre "Invasion" durchfuhren konne." Mit solchen
Formulierungen kann das Bild von Menschen, die urn Hilfe bitten, sehr rasch vom
Eindruck in den Hintergrund gedrangt werden, dass die .eigene' Stadt angegriffen
wiirde. Aus Hilfesuchenden werden dann Titter_innen. Zu dieser Gruppe der mili
tarischen Bilder gehort iibrigens auch der haufig zu findende Ausdruck, Bettler_in
nen wiirden die Stadt oder einzelne StraJ3en "besetzen".20 Formulierungen dieser
Art schaffen konkrete Bedrohungsbilder, die wiederum ihrerseits dazu dienen,
besonders harsche MaJ3nahmen zur "Bekampfung" zu rechtfertigen. Auf diese
Weise wirkt die Vorstellung eines Ausnahmezustands, der durch Migrationen
herbeigefuhrt wird genauso wie die oben beschriebene Klassifikation als
"Sicherheitsthema": Wenn Betteln gefahrlich ist, sind auch harte MaJ3nahmen da
gegen bzw. iiberhaupt eine Einschrankung nicht nur angebracht, sondern sogar un
umganglich. Im Europa der Gegenwart werden so konstruierte Szenarien auch als
Rechtfertigung fur pogromartige Ausschreitungen verwendet, in denen Romani
Siedlungen niedergebrannt und Rom _nija wahllos attackiert werden."
Nun stellt sich die Frage, wie solchen verdrehten Darstellungen begegnet
werden kann. Die Auseinandersetzungen iiber Betteln in Graz konnen darauf
Antworten geben, tritt dort doch schon seit 1996 eine NGO mit katholischem
Hintergrund bettelfeindlichen Berichten in den Medien entgegen. Durch ver
mittelte Interviews mit Bettlern, Reportagen aus der Notschlafstelle und regel
mafiige Antworten auf problematische Berichte und Leser_innenbriefe ist ein
deutlich vielschichtigeres Bild in den Medien entstanden und eine Anderung
in der Haltung vieler Grazer_innen zum Betteln eingetreten. Am offensicht
lichsten wurde das 2011, als gegen ein geplantes generelles Bettelverbot im
Land Steiermark mehr als 10.000 Menschen unterschrieben haben. Manche
nahmen erstmals in ihrem Leben an einer Demonstration teil, zum Beispiel,
weil sie zu einem bestimmten Mann, den sie als "ihren Bettler" vereinnahm
ten, iiber die Jahre hinweg eine Verbindung aufgebaut, Verstandnis und
Verantwortungsgefuhl entwickelt hatten. NGOs kann es mit Lobbyarbeit in
den Medien also gelingen, Migration als Erfahrung einzelner Menschen zu-
19 Steirerkrone, 5.12.1996; Der neue Grazer, 29.4.1999; Der neue Grazer, 2.12.2005.
20 Grazer im Bild, 2.12.2005.
Rt:dlrlt:fL'rgung-l\lr- pbgnlm'ii'mge-Ausscnrermrigen' verwenner; -tIf oenen Komam
Siedlungen niedergebrannt und Rom _nija wahllos attackiert werden."
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ganglich zu machen und Betroffenheit auszulosen . Das bedeutet aber nicht,
dass Stereotype und Vorurteile verschwinden. Vielmehr haben sich in der
Grazer Berichterstattung durch die jahrzehntelange offentliche Diskussion
neue Unterscheidungen gebildet, beispielsweise zwischen "unseren bekann
ten Bettlern" und den "rumanisch-bulgarischen Roma-Gruppen.t'" Die ers
te Gruppe wird als hilfsbedurftig betrachtet, die zweite dient weiterhin als
Zielscheibe fur alle bekannten und neuen Anfeindungen, aber eben auch al s
Rechtfertigung fur weitere Beschrankungen und "MaJ3nahmen"Y
CAS "BETTLERPROBLEM" - WIE AUS MIGRANT _ INNEN
"RUMANEN", "BETTLER" UNO "ROMA" WEROEN
Diese medialen Verzerrungen zielen nicht aufEinzelpersonen ab, sie inszenieren
nicht eine einzelne Bettlerin oder einen einzelnen Bettler als Gefahrenquelle.
Zugrunde liegt all diesen Vorstellungen eine extrem verallgemeinernde Sicht
auf be stimmte Menschengruppen . Die Rede ist dann nur von ,einer Gruppe',
hinter der Per sonen vollig unsichtbar werden." Damit hangen mehrere Prozesse
zusammen: Erstens werden alle Be ttler_innen als eine einheitliche, zusammen
gehorige Erscheinung dargestellt , die zweitens die gleiche Geschichte hat und
drittens wird behauptet, dass die Community der Rom _nija mit der Gruppe der
Bettler_innen deckungsgleich sei."1996, als diese Gleichsetzung in Graz langsam begann, gab es noeh kei
ne Sprache fur die offentliche Auseinandersetzung mit Betteln, Sprachbilder
22 Der neue Grazer, 7.4.2013.
23 Das ist selbstverstandlich eine verkiirzte Zusammenfassung des hegemonialen
Sprechens. Weiterhin sind die Positionierungen und Narrative ambivalent und fragil ,
es lasst sich aber fur die zentralen, einflussreich sten Texte der Zeit ab 2010 eine ge
wisse Verdichtung entlang der hier angefiihrten Dichotomien nachweisen .
24 Vg\. Rogers Brubaker, Ethnici ty without groups , in: Montserrat Guibernau, John
Rex (Hg.), The Ethnicity Reader. Nationalism, Multiculturalism and Migration,
Cambridge-Maiden 2010, S. 33-45.
25 Vg\. zu diesen Rassifizierungsprozessen ausfiihrlicher: Stefan Benedik, Define the
Migrant , Imagine the Menace . Remarks on Narratives in Recent Roma ni Migrations
to Graz, in: Helmut Konrad, Stefan Benedik (Hg.), Mapping Contemp orary Histor y II,
25 Years of Contemporary Histor y Studies at Graz University 125 Jahre Zeitgeschichte
an der Universitat Graz, Wien-Koln-Weimar 2010, S. 159-176 . Zur Analyse soIcher
zu sammeif: Efsfens· werae"tfarie*emer~:lhn(:"ii"ats-eine-elll tteifficne,-i iisammengehorige Erscheinung dargestellt, die zweitens die gleiche Geschichte hat und
" B ETTLERHAUPTSTAOT" - BEOROHUNGS- UNO FEINOBILOER IN OER BERICHTERSTATTUNG I83
mussten erst erfunden und ausgehandelt werden. So wurden die Migrant_in
nen genauso .Roma" genannt wie .Z igeuner und Sandler"." Als in Salzburg
Betteln siebzehn Jahre spater zur groJ3en Proj ektionsflache fur weltanschauli
che Auseinandersetzungen wurde, war langst schon ein zentrales Etikett zur
Beschreibung gefunden: "organisiert". "Di e organisierten Bettlerbanden" lautet
der Uberbegriff, der am haufigsten eingesetzt wird, urn die Bettler_innen als ein
heitliche Gr uppe vorzustellen , aber auch, urn eine ,ethnische' Herkunft anzudeu
ten. Diese steckt auch hinterdem so oft angegebenen Herkunftsland Rumanien, das
nicht nur tatsachlich ein Staat mit einer groJ3en Romani Community ist , sondern
vor allem so klingt, als wiirde seine Bezeichnung aufRom_nija verweisen (auch
wenn sie es nicht tut). Das passiert unabhangig von der tatsachlichen Herkunft:
In Salzburg stammten .R umanen" auch schon aus der Slowakei oder Ungarn,"
in Graz wurden Wohnwagen mit gut sichtb arem belgischem Kennzeichen schon
als "rumanisch" beschrieben, nur weil sie Sinti_zze gehorten, Schnell werden
auch Menschen, die Osterreich nie verlassen haben, zu Mitgliedern einer "siid
osteuropaischen Bande" oder .Osteuropaer", sobald sie bettelnd in Zeitungen
abgebildet werden." An diese Herkunftsvorstellungen werden auch rassistische
Bilder geknupft, Zu Prominenz brachte es erstens die Idee der Bande, mit der
auf Geschichten von Ausb eutung und Abhangigkeit angespielt wird, und zwei
tens jene von vorgespielten Behinderungen. In Osterreich speisen sich aus dies em
Reservoir (wie in den meisten europaischen Fallen) " so gut wie alle bettelfeind
lichen Darstellungen. Beide Erzahlungen entstehen durch eine Vermischung von
extrem stereotypen Ideen von ,Rasse', Geschlecht, Migration, Korper, und dem
europaischen ,Osten'. Rassistische Zuschreibungen werden aber genauso in bet
telfreundlichen Kommentaren und Berichten verbreitet, die zeigen wollen, dass
Betteln ein Beruf sei, und folglich legitim und nicht kriminell. Ich stelle hier nicht
in Frage, dass Betteln analytisch als Form von Erwerb sarb eit eingeordnet werden
kann, aber wenn die bettelfreundlichen Kommentare zu erklaren versuchen, dass
die angebliche Ausbeutung von Bettelnden als "typisch" fur die Kultur der Rom_
nija zu sehen ist oder aber behauptet wird, Bettl er_ innen wurden eben in grolieren
Gruppen auftreten, weil das die "traditionelle Clanstruktur" erz winge, ist das ein
fach die Wied ergabe rassistischer Feindbilder unter umgekehrten Vorzeichen."
26 Vg\. Salzburger Nachrichten, 28.11.1996; Steirerkrone, 18.6.1996.
27 Vg\. Wiener Zeitung , 17.10.2012.
28 Vg\. Steirerkrone, 16.12.2006.
29 Vg\. Benedik , Tiefenbacher, Zett elbauer : Die imaginierte .Bettlerflut'', S. 39-40.
30 Ich nenne hier jeweil s die ersten Erscheinungsformen dieser Leg itimatio nsstrategien
aUl"(Jt;SCnn;nn!nnvbI'I Au s'\jelnling una Aon ang'lgKelt' arigespiett wi ra , uno zwel
tens jene von vorgespielten Behinderungen. In Osterreich speisen sich aus diesem
84 ISTEFAN BENEDIK
Durch die permanente gemeinsame Erwahnung verweisen ganz unter
schiedliche Begriffe auf das Phanomen Betteln. In Graz ist der Name des
Dorfes, aus dem in der popularen Vorstellung alle Bettler_innen stammen, zum
Schlagwort geworden." Wie problematisch diese enge Verknupfung werden
kann, zeigt auch die Berichterstattung uber einen Mord im Land Salzburg Ende
2012. Die Tatverdachtigen werden quer durch alle Medien bis hin zur fur genaue
Recherchen bekannten Suddeutschen Zeitung als .Rumanen", oder "Bettler"
bezeichnet, obwohl das Verbrechen nicht in Zusammenhang mit Betteln, son
dern mit einem Uberfall begangen wurde." In der Abendzeitung Munchen kul
minierte der gedachte Zusamrnenhang schlieBlich in der Schlagzeile "Bettel
Mafia totet Rentnerin':" womit sowohl die Mafia-Erzahlung wiederholt wird,
als auch die Gefahrlichkeit von Betteln und dessen Nahe zur Kriminalitat
scheinbar bestatigt wird. Betteln wird nicht mehr als Tatigkeit betrachtet, son
dern als Eigenschaft, vielleicht sogar als bestimmendes Charakteristikum einer
ganzen Gruppe.
WOHER OAS ALLES KOMMT - HISTORISCHE UNO
ANOERE VERWEISE
Mit einem solchen Blick auf die Debatte stellt sich die Frage, wie es uberhaupt
moglich ist, dass dermal3en krasse Fehleinschatzungen quer durch die gesam
te Berichterstattung verbreitet sind. Hier kann eine Perspektive helfen, die in
die Vergangenheit gerichtet ist und die Diskussion uber die konkrete Region hi
naus verbreitert. In den Diskussionen uber Betteln haben wir es einerseits oft
mit Bildern zu tun, die als "antiziganistisch" bezeichnet werden konnen, also
mit Stereotypen gegenuber als "Zigeunerinnen" oder "Zigeunern" bezeichneten
Menschen. Andererseits werden diese Vorstellungen aber hier nur deshalb so
wirkmachtig, weil sie mit etablierten Images uber Migration, den Osten oder
(Post-)Kommunismus verbunden werden.
Sprache und Darstellung haben eine Geschichte, die oft erst ihre aktuelle
Wahrnehmung erklart - genau dasselbe gilt fur Handlungen. Im Bereich von
Behorden und Exekutive lassen sich zahlreiche Beispiele fur eine kontinuierli
che, sehr langfristige Verfolgungspolitik finden: 2010 forderte der Salzburger
Vizeburgerrneister, dass das osterreichische Innenministerium ein "zentrales
31 Vg\. Kleine Zeitung, 17.7.1999.
32 Vg\. heute [Tageszeitung], 23.1.2013; Suddeutsche Zeitung, 21.1.2013.
33 Abendzeitung Munchen, 24.1.2013.
. B ETTLERHAUPTSTADT" - BEDROHUNGS- UND FEINDBILDER IN DER BERICHTERSTATTUNG I85
Bettelregister" anlegen solle." Das war keine neue Idee - die bayrische Polizei
fuhrte selbst in den 1990er-Jahren noch eine Kartei, die explizit Rom_nija er
fasste." Auch in Osterreich hatte schon einmal eine "Zigeunerkartothek"
existiert, angelegt wurde sie noeh in der demokratischen Ersten Republik, die
N'S-Behorden zogen sie als Grundlage fur Deportationen in Konzentrations
und Vernichtungslager heran." Diese Listen erklaren unter anderem, wa
rum von den osterreichischen Rom_ nija nur ein aulierst geringer Anteil die
Verfolgungsmal3nahmen der NS-Herrschaft uberlebte." Bei der Forderung nach
einem .Bettelregister'' 2010 fallt aber ein weiterer Aspekt auf. Als (vermeintli
che) Begrundung fur die polizeiliche Registrierung gab der Vizeburgerrneister
die vorbeugende Bekampfung von kriminellen Banden an. Das erinnert - ohne
dass dieser Bezug dem Urheber bewusst gewesen sein muss - unmittelbar an
jenen Scheingrund, mit dem die Nationalsozialist_innen rechtfertigten, dass
sie Menschen, die sie als .Zigeuner" oder "Zigeunerinnen" klassifizierten, in
Konzentrationslager einwiesen - als Ursache fur die Inhaftierung nannten sie
.vorbeugende Verbrechensbekampfung"."
Einen ahnlichen historischen Kontext hat die Darstellung von Rom_nija
als .Parasiten", Wenn Bettler_innen als "richtiggehende Heimsuchung'?? oder
"einfallende"40 "Schwarme"11 beschrieben wurden, fuhrt uns das erstens zuruck
zu nationalsozialistisch gepragten Sprachbildern (gegen Jiidinnen/Juden und
34 Vizeburgerrneister Harry Preuner (OVP) in Salzburger Nachrichten, 4.5.2010.
35 Vg!. Sybil Milton, Sinti and Roma in Twentieth-Century Austria and Germany, in:
German Studies Review 23 (2000), S. 317-331, hier S. 317.
36 Vg!. Heimo Halbrainer, Gerald Lamprecht, Ursula Mindler, unsichtbar. NS
Herrschaft. Widerstand und Verfolgung in der Steiermark, Graz 2008, S. 89-90.
37 Florian Freund, Gerhard Baumgartner, Harald Greifeneder, Veroffcntlichungen
der Osterreichischen Historikerkommission. Verrnogensentzug wahrend der NS
Zeit sowie Ruckstellungen und Entschadigungen seit 1945 in Osterreich, Bd. 2312,
Verrnogensentzug, Restitution und Entschadigung der Roma und Sinti, Wien 2002,
S. 50-55; Florian Freund, Gerhard Baumgartner, Der Holocaust an den osterreichi
schen Sinti und Roma, in: Michael Zimmermann (Hg.), Zwischen Erziehung und
Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts,
Stuttgart 2007, S. 87-95.
38 Sybil Milton weist auf exakt diese Analogie in der Institutionalisierung der
Kriminalisierung von Rom_nija im Bayem der 1990er-Jahre hin. Vg!. Milton, Sinti
and Roma, S. 317.
39 Steirerkrone, 8.7.1999.
40 Ebda.
41 Steirerkrone, 5.12.1996.
86 j STEFAN BENEOIK
"Zigeunerinnen"/"Zigeuner"), zweitens zu Vorurteilen aus der wissenschaftli
chen "Zigeunerforschung" und drittens zu allgemein verbreiteten Bildern des
"Schmarotzens". Vermittelt wird der Eindruck, eine .gute', .wertvolle' Gruppe
wurde von einer anderen Gruppe .ausgesaugt', die folglich nur ,schlecht' und
.wertlos' sein kann." Solche vermeintlich eindeutigen Unterschiede konnen nur
hergestellt werden, indem auf die Biologie und deren Vokabular zurtickgegriffen
wird: Uber die Auswirkung eines Parasiten kann es keine geteilten Meinungen
geben. Grundsatzlich ist dieser Angriff nicht auf Rom_nija beschrankt, sondern
lasst sich allgemein gegenuber Migrant_innen oder armen Menschen feststel
len. In der osterreichischen Diskussion ist besonders haufig die Rede davon,
dass das osterreichische Sozialsystem von Bettler_innen ausgebeutet wurde,
was in sich widerspruchlich ist, da Menschen ja eben betteln mussen, weil we
der Wirtschaftssystem noch Transferleistungen in den Herkunftslandern ein
Uberleben errnoglichen und Migrant_innen der Zugang zum Sozialstaat im
Zielland verwehrt bleibt. Auch im folgenden Zitat erfindet die dahinter stehende
Salzburger Stadtpartei Plane, Steuermittel fur Bettler_innen einzusetzen, nur als
Schreckensszenario. Mit dem Bild, dass der Staat auf das Geld der Leser_innen
zugreife, verschleiert sie, dass Betteln auf Freiwilligkeit und zivilgesellschaftli
chem Engagement beruht: "Sicher ist nur, dass die Belastigungen enorm zunehmen werden und unsere Steuerzahler die Zeche des ganzen Blodsinns werden
blechen mussen,"?
Viele populate Bilder, die eine lange Tradition in rassistischen, migrations
feindlichen Kampagnen haben, werden gegen Bettler_innen in einer speziel
len Form eingesetzt. Wenn davon die Rede ist, dass Bettier_innen in .Wellen"
auftreten wurden, oder gar eine .Bettlerflut'' zu beobachten sei, dann wird
damit wie auch schon bei den vorhin beschriebenen Bildern das Individuum
unsichtbar gemacht hinter einer anonymen Masse." Zusatzlich dazu wird mit
Begriffen wie "Lawinen"45 oder "Uberschwemmung"46 der schon beschriebene
Ausnahmezustand ganz konkret, die Bedrohung wird greifbar in der Vorstellung
eines besonders massenhaften, riesigen Phanomens. Unterstutzt wird das durch
die Behauptung, dass es Bettlerjnnen "an jeder StraBenecke" gabe." Betteln
42 Vg!. Markus End, Antiziganismus in der deutschen Offentlichkeit. Strategien und
Mechanismen medialer Kommunikation, Heidelberg 2014, S. 150, S. 216.
43 Presseaussendung GVP Salzburg, 4.10.2013.
44 Vg!. Leo R. Chavez, Covering Immigration, Popular images and the politics of the
nation, Berkeley-Los Angeles 2001, S. 71.
45 Graz im Bild, 28.12.2006.
46 Steirerkrone,5.12.1996.
47 Krone Salzburg, 5.5.2014.
"BETTLERHAUPTSTAOT" - BEOROHUNGS- UNO FEINOBILOER IN OER BERICHTERSTATTUNG I87
erscheint damit nicht mehr als menschengemacht, sondern als naturhaft und ka
tastrophenartig. So lasst sich auch eine unmenschliche politische Antwort rechtfertigen."
"REICHE PFLASTER" - WAS MAN NUR BEl EINER
NABELSCHAU SIEHT
All den Begriffen und Bildern, Vorstellungen und Schreckensszenarien,die bisher erortert wurden, ist gemeinsam, dass sie sich wie erwahnt auf
eine eindeutige, ganz klar abgegrenzte Gruppe beziehen: die gedachten
.Anderen', Wirklich verstehen lassen sich die extremen Emotionen, die mit
der Berichterstattung uber verarmte Migram_innen hervorgerufen werden,
aber nur, wenn wir auch diejenige Gruppe berucksichtigen, die sich durch die
se Gegenuberstellung selbst bestatigt: Den .Anderen' gegenuber steht ein eindeutiges und klares ,Wir'.49 Das .eigene' Selbstverstandnis, also Vorstellungen
davon, was die ,eigene Gesellschaft' ausmacht und ausmachen sollte, wovon
sie sich abgrenzen kann und wie sie sich entwickeln sollte, sind oft entschei
dender als das, was im Zusammenhang mit Migration tatsachlich passiert.
Sichtbar wird das an Vorstellungen, was denn die ,eigene Stadt' sei, oder, ge
nauer gesagt, welche Eigenschaften del' ,eigenen Stadt' denn durch das Betteln
sichtbar werden: Schon 1998 bundelte die Ortsparteigruppe del' Gra,zer FPO
die zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre lang kolportierten Ubertreibungen und
Bedrohungsvorstellungen in der Formel von Graz als .Bettlerhauptstadt"."
Gemeint ist mit diesem dystopischen Negativ-Stadtmarketing, dass Graz beson
ders naiv oder zu menschenfreundlich sei. Die zugrundeliegende Behauptung,
48 Vg!. dazu ausfuhrlicher Benedik, Tiefenbacher, Zettelbauer, Die imaginierte
.Bettlerflut", S. 46-56.
49 Vg!. dazu grundsatzlich die Klassiker von Julia Kristeva, Fremde sind wir uns
selbst, (= Edition Suhrkamp), Frankfurt am Main 1990; Hall, Stuart, Old and New
Identities, Old and New Ethnicities, in: Anthony King (Hg.), Culture, Globalisation
and the World-System. Contemporary Conditions for the Representation of Identity,
Minneapolis 1997, S. 31-68; Elisabeth Bcck-Gernshcim, Wir und die Anderen.
Kopftuch, Zwangsheirat und andere Miflverstandnisse, Frankfurt am Main '2007;
Mario Erdheim, Das Eigene und das Fremde . Ob er ethnische Identitat, in: Andrea
Wolf (Hg.), Neue Grenzen. Rassismus am Ende des 20. Jahrhunderts, Wien 1997,
S.99-124.
50 Unser Bezirk Heute [Mitteilungen der FPG Stadtpartei], 10/1998; Unser Bezirk
Heute,3/1999.
88 IS TEFAN BENEDIK
dass es in Graz mehr Bettler_innen gabe als anderswo, ist nicht das Ergebnis se
rioser Vergleiche, sondern einer Selbsteinschatzung, wie ein Vergleich mit den
Selbstwahrnehmungen anderer Stadte vor Augen fuhrt, Die Bundeshauptstadt
reklamiert fur sich ebenso den Status als die Stadt mit den meisten Bettler in
nen Osterreichs." Dass die Formulierung in Graz so viel fruher auftaucht liegt
an den in Graz sehr fruh eingespielten temporaren Migrationen zum Betteln
- besonders Rom_nija aus der Siidslowakei kommen seit 1996 regelrnafiig nach
Graz und werden hier seither auch in Notschlafstellen fur die wenigen Wochen,
die sie in der Steiermark verbringen, urn durch Betteln Geld zu verdienen, ver
sorgt. Das konkrete Bild der .Bettlerhauptstadt" hat sich ausgehend von Graz
dann iiber ganz Osterreich verbreitet, aber nicht dariiber hinaus." Auch wenn
anderswo die angebliche "Uberzahl" von Bettelnden auch eine Rolle spielt, ent
wickelt sich kein solcher Negativwettlaufunter einzelnen Gemeinden und regi
onalen Medien. In Osterreich hingegen wanderte diese Bezeichnung zuerst von
Graz nach Salzburg," bis 2014 die Kronen Zeitung im Rahmen einer Kampagne
auch fur die Hauptstadt Oberosterreichs warnte, "Linz verkommt zur Bettler
Hauptstadt"." Diese Selbsteinschatzungen bestatigen neben Boulevardmedien
auch die Unterstiitzer_innen von Bettler_innen, wenn sie fur dringliche
HilfsmaBnahmen Aufmerksamkeit gewinnen wollen. NGOs treten dann auchmit der Behauptung gegenuber der Lokalpolitik auf, dass eben an diesem be
stimmten Ort ihrer Tatigkeit besonders viele Menschen ihre Betreuung brau
ehen wiirden und die Politik deshalb in dieser aulsergewohnlichen Lage ge
fordert sei, zu helfen. Dabei wird unterschlagen, dass Betteln fur keine dieser
Regionen typisch ist und Betteln in den meisten Zusammenhangen sehr ver
gleichbar ablauft, Ein Blick iiber die jeweils eigenen Stadte hinaus wiirde offen
baren, dass es sich bei Betteln urn ein europaisches Phanornen handelt. Diese
Regel gilt auch fur die Herkunftsregionen von migrierenden Bettler_innen, in
denen genauso Menschen vor Superrnarkten und in EinkaufsstraBen urn eine
Spende bitten. Auch die Aufforderung, die Migrant_innen mogen in Rumanien,
Bulgarien oder der Slowakei auf der StraBe sitzen, geht also ins Leere.
Auch wenn der ironische Titel der "Bettlerhauptstadt" kein konsensfahiger Begriff ist, verweist er also auf einen scheinbaren Gemeinplatz, auf
den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Positionen zum Betteln in einer
51 Vgl. Kurier, 3.7.2014.
52 Mit der einzigen Ausnahme einer Bezugnahme in einem Blog eines Volontars
des Berliner Kuriers . http://blogs.berliner-kurier-online.de/volldasleben/?p= 125
[10.10.2014].
53 Vgl. Kurier, 19.10.2012.
54 Krone Oberosterreich, 17.5.2014.
" BETTLERHAUPTSTADT" - B EDROHUNGS- UND F EINDBILDER IN DER B ERICHTERSTATT UNG I89
osterreichischen Stadt, dass namlich Betteln gerade hier, gerade in diesem
Fall besonders prasent, besonders relevant sei (gleichgtiltig, welche Region
das ist). Daraus lassen sich leicht Vorstellungen von Bedrohung ableiten, wie
ich sie schon angesprochen habe. Genauso ist diese Idee von der Stadt, die
fur Bettlerjnnen besonders attraktiv sei, aber auch einfach abzuwandeln ineine Erklarung, die besonders weit von der Realitat von Migrationen abweicht.
Sowohl Regionalpolitiker in Wien , Graz wie auch Salzburg rechtfertigten sich
offentlich fur bettelfeindliche Positionen mit der Behauptung, dass die .ver
fehlte Integrationspolitik Osteuropas" oder die .Probleme der Rorna" nicht in
der jeweiligen osterreichischen Stadt gelost werden konnten. " Die europaische
Perspektive wird also eingesetzt, aber nur, um zu behaupten, dass die eige
ne Stadt am starksten "belastet" sei. Im Versuch, eine verantwortungsvolle
Position zu signalisieren, wird Betteln als Ergebnis von Armut angesprochen,
gleichzeitig aber die Bedingungen, mit denen das dem Migrationsdiskurs un
tergeordnet wird, nicht verandert, Offen signalisiert wird mit dies en Aussagen,
dass es um Armut geht, die man den Armen schlecht zum Vorwurf machen
kann. Gleichzeitig wird aber betont, dass es sich um eine ,fremde' Armut
handelt, fur die man eben unzustandig sei. Ignoriert wird damit iibrigens,
dass strukturelle Probleme in den postkommunistischen Staaten mit einem
Wirtschaftssystem zusammenhangen, das moglichst niedrige Steuersatze u.a.
durch die Reduktion von Transferleistungen finanziert, wovon osterreichische
Firmen direkt profitiert haben. Der Umstand, dass beispielsweise Menschen
mit Behinderung in Bulgarien weder arbeiten noeh von Renten iiberleben kon
nen oder dass die slowakischen Familienbeihilfen regelmaflig weiter gekiirzt
werden, hat auch viel mit internationalen Zusarnmenhangen zu tun. Daraus
konnte auch eine politische Verantwortung von .westeuropaischen' Staaten fur
die monierten "sozialen Missstande" im Postkommunismus abgeleitet werden,
doch stattdessen werden diese mit teils rassistischen und den Osten Europas
abwertenden Pauschalformulierungen scheinbar begriindet: "Die Roma" sind
ein Problem und "der Osten" produziert Probleme.
55 Vgl. pars pro toto fur Graz die Aussage von Landeshauptrnann Voves (SPO):
Steirerkrone, 3.5.2011;fur Salzburg das Statement von Burgermeister Schaden (SPO):
Salzburger Nachrichten, 25.4.2014.
90 I STEFAN BENEOIK
Diese Selbstwahrnehmung von Stadten karikierte das graz .museum, indem es
fureine Ausstellung 2011eine Ortstafel mit der Aufschrift.Bettlerhauptstadt" aus
stellte. Nicht ironisch war hingegen die genau gleiche Form der Darstellung durch
die Salzburger GVP im Gemeinderatswahlkampf 2014 gemeint. Dort wurde der
Spitzenkandidat mit einer Ortstafel, auf der "Organisierte Bettlerbanden" durch
gestrichen wurde, inszeniert oder ein solches Verkehrsschild mit der Aufschrift
"Salzburg / Stadt der organisierten Bettlerbanden?" affichiert." Die Wanderung
dieses Begriffs von Graz nach Salzburg zeigt , wie sieh solche Etikettenbegriffe
entwickeln, wie sie durch unterschiedliche Bereiche der Diskussionen weiterge
reicht und akzeptierter werden . Selbst fur die FPG-Stadtpartei in Graz war der
"Bettlerhauptstadt"-Begriffnur fur die Uberschrift einer Parteizeitschrift geeig
net. Rund zwanzig Jahre spater ist er also osterreichweit verbreitet und findet sich
als zentraler Aufhanger von politischen oder medialen Kampagnen wieder. Das
lasst sich vor allem mit der Zeit erklaren, die seither vergangen ist und in der das
Thema Betteln zu einem der am heftigsten diskutierten Gegenstande offentlicher
Auseinandersetzung wurde.
Die linke Kritik an diesen Ubertreibungen und an den teilweise sehr ag
gressiv gefiihrten politischen Konflikten, die damit begrundet werden, hat
sich in Salzburg ebenso stark an den etablierten Stadtbildern or ientiert. Urn
polemisch gegen Bettelverbote zu argumentieren, wurde vor allem behaup
tet, es gehe den Bettelfeind_innen lediglich urn das touristische Image, urn
Salzburg als groBe barocke Idylle, die nicht durch sichtbare Armut gestort wer
den durfe. Das trifft in gewisser Hinsicht zu , wenn man die Stellungnahmen
von Kaufleuten in Medien berucksichtigt, die Bettler_innen zwar als nicht
"geschaftsschadigend", aber trotzdem "nicht gut fur das Altstadtbild'" ? ein
schatzen, Dabei wird auch die Oberflache der Stadt in den Vordergrund ge
ruckt, aber es ist unklar, ob sich das nur auf den Vermarktungswert als
Reiseziel bezieht. In der kritischen Auseinandersetzung mit bettelfeindlichen
Stellungnahmen wurde hervorgehoben, dass in Salzburg Betteln oft als asthe
tische Krankung betrachtet wurde, als Schonheitsfleck, der dem Stellenwert
als Mozartstadt schaden wurde . Mit dies er Betonung wird ein lokales
Spezifikum der Salzburger Auseinandersetzung ubersehen: Geschaftsleute ge
ben bei Interviews in Zeitungen namlich eher zu Protokoll, dass sie sich urn
die Attraktivitat der Stadt fur Kund_innen sorgen, von Tourismus sprechen
sie dabei ausdrucklich nicht." Jene Salzburger Lokalpolitiker schlieBlich, die
56 OVP-Werbematerial zur Gemeinderatswahl am 9.3.2014, vg!. auch Salzburger
Nachrichten, 26.2.2014.
57 Kurier, 24.8.2012 .
58 Vg!. Salzburger Nachrichten, Lokalausgabe Salzburg Stadt , 13.4.2014.
" B ETTLERHAU PTSTAOT" - BEOROHUNGS- UNO FE INOBILOER IN OER BERICHTERSTATT UNG 191
Bettler_innen am scharfsten angegriffen haben, betonen, dass Betteln nicht
des Tourismus wegen ein Problem sei, sondern wegen der "Beschwerden von
Salzburgern"." An der Salzach erscheinen die Bettler_innen also eher als
Argernis fur die Einheimischen denn fur die bezahlenden Fremden, zumindest
in der politischen Argumentation. Diese feinen Unterschiede mochte ich zum
Ausgangspunkt fur einen Vergleich nehmen, weil die Konstellation in Graz
eine ganz andere war. Wahrend sich in Salzburg die meisten Diskussionen urn
Behinderung und angebliche Kriminalitat drehten, wurde in der steirischen
Landeshauptstadt die Optik des Bettelns zum zentralen Streitpunkt in bettel
feindlichen AuBerungen erhoben. Das Grazer Stadtbild wurde durch "organi
siertes Bettlerwesen verschandelt'"? oder "gestOrt ".61 Die Auseinandersetzung
urn die Bettlerjnnen fand ihren symbolischen Mittelpunkt schon sehr bald
in der Frage, wieviele Menschen in der Herrengasse urn Hilfe bitten durften.
Die Herrengasse wird dabei als Aushangeschild der Stadt betrachtet, das durch
die Anwesenheit von Bettler_innen besonders arg in Mitleidenschaft gezogen
wurde, Warum aber war die Aufregung daruber, dass vermeintlich ,schmutzi
ge' Bettler_innen auf die .schone' Stadt abfarben konnten, in der Steiermark so
viel grofler als in Salzburg? In beiden Fallen sind Vorstellungen vom ,drecki
gen Zigeuner' und .hasslicher Armut' wohl gleich weit verbreitet." In beiden
Fallen sind die sozialen Praktiken des Bettelns sehr ahnlich, trotzdem wird
es nur in Graz als tatsachliche Bedrohung fur das Image der Stadt gesehen.
Ausgerechnet die etablierte Tourismusstadt Salzburg regt Betteln nicht als
fremdenverkehrsfeindlich auf. Genau diese Widerspruche legen sehr deutlich
frei, dass Betteln in offentlich-medialen Diskussionen zur Reibungsflache
wird, an der Unsicherheiten in den eigenen Gesellschaften, schmerzhafte
Diskussionen uber die eigene Position, Beflirchtungen und Irritationen aus der
eigenen Geschichte offenliegen. Die Migrant_innen und ihre Sichtbarkeit in
der Offentlichkeit sind die Folie, auf die ,wir' das projizieren, wessen wir ,uns
selbst' nicht sicher sind . Salzburg muss nicht urn seine Position als beruhmtes
Tourismusziel kampfen, deshalb entzundet sich auch die Auseinandersetzung
nicht vordergrundig daran. Graz hingegen ist noch nicht lange im Wettbewerb
urn den Stadtetourismus, dementsprechend treten in den Leser_innenbrie
fen seit den 1990er-Jahren immer "auslandische Gaste", .Besucher'' oder
59 salzburg.orf.at, 7.4.2014; Salzburg Krone, 8.4.2014.
60 Leserbrief, Steirerkrone, 16.12.2006.
61 Grazer im Bild, 14.4.2006.
62 Vg!. End, Antiziganismus, S. 124-133, S. 200 ; Michail Krausnick, Daniel Straull,
Von Antiziganismus bis Zigeunerrnarchen. Informationen zu Sinti und Roma in
Deutschland, Neckargemiind 2008, S. 73.
92 ISTEFAN BENEOIK
"Touristen" als Referenzgrofie auf. Wenn diese sich beschweren, so lautet der
Vorwurf, sei allerhochste Zeit zum Handeln.
Gesellschaften orientieren sich aber nicht nul' an aktuellen okonornischen oder
kulturellen Bediirfnissen, sondern auch am kulturellen Gedachtnis, Fur Stadte
wie Salzburg oder Graz speisen sich daraus ganz unterschiedliche sinnstiftende
Erzahlungen: In Salzburg mogen es Elemente wie .Festspiel- und Musikstadt"
oder ahn liche Etiketten sein, die das Selbstverstandnis ausmachen, Eben diese
Stichwor te finden sich auch in Bette ldebatten wieder, aber die wirk liche Emporung
entziindet sich eher am "Mafia"-Vorwurf, weil doeh sicher scheint , dass die ba
rocke Stadtfassade nicht an den Bettlerjnnen zerbrockeln wird und die Stadt urn
ihre Position, ihren Reichtum nicht furchten muss . "Die Stadt Salzburg gilt als be
sondel's attraktiv, weil hohe Betrage zu holen sind ,"?' So klingt dementsprechend
auch die zentrale Vorstellung von Salzburg als wohlhabende, gut situierte Stadt.
In einem solchen Zusammenhang muss die Mafiageschichte im Zentrum stehen,
schlieJ3lich wurde sich in Salzburg das Geschaft lohnen, auch fur angeblich kri
minelle Bettelorganisationen. In Graz stutzt das regionale kulturelle Gedachtnis
das Selbstbewusstsein auf ganz andere Weise, namlich mit martialischen
Bedrohungsszenarien, wie den .Bollwerkv-Mytben, die die steirische Hauptstadt
im 19, Jahrhundert als belagerte und gefahrdete Aul3enfestung des .Deutschtums'
prasentierten. Vor diesem Hinte rgrund entzundet sieh die Disk ussion uber Betteln
in Graz an anderen Angsten. In Graz wur de del' Strei t von Befurchtungen in Gang
gebracht, die Stadt konnte einer .Verbalkanisierung" zum Opfer fallen." Auch
wenn militarische Metaphern in diesem Zusammenhang immer wieder verwendet
wurden, urn die Anwesenheit von Bettler_innen als gefahrlich darzustellen, war
das nicht der Aspekt, del' Betteln als "balkanisch" erscheinen liel3. Vielmehr wur
de das Aussehen und die optische Wirkung der Bettler_innen bzw. der Gegensatz
zwischen der .schonen' Stadt und sichtbar armen Menschen als Grund genannt,
del' die Reputation del' Stadt gefahrden wurde, ja eben die Position von Graz als
,westliche' Stadt in Frage stellen wurde, Was in del' Geschichte die vorgestellte
Gefahrdung durch ,slawische Horden' war; " dem entspricht in del' Gegenwart die
Konjunktur von "Ostbanden" in den Leser_innenbriefen.
63 Krone Salzburg, 19.1.2014.
64 Vgl. Leserbrief, Kleine Zeitung, 24.4.1993.
65 Vgl. Heidernarie Uhl , .Bollwerk deutscher Kultur". Kulturelle Reprasentationen und
"nationale" Politik in Graz urn 1900, in: Heidernarie Uhl (Hg.), Kultur - Urbanitat
- Moderne. Differenzierungen del' kulturellen Moderne in Zentraleuropa urn
1900, (=Studien zur Moderne 4), Wien 1999, S, 39-81; Heidrun Zettelbauer, "Die
Liebe sei Euer Heldentum", Geschlecht und Nat ion in volkischen Vereinen del'
Habsburgerrnonarchie, Frankfurt am Main-New York 2005, S, 113-120.
" B ETT LERHAUPTSTAOT" - BE OROHUNGS- UNO F EINOBILOER IN OER B ERICHTERSTATTUNG I93
Diese Gegenuberstellung zeigt deutlich, dass Betteln nicht der Bettler_in
nen wegen zum Gegenstand hitzig gefiihrter offentlich-medialer Auseinan
dersetzungen wird. AIs Phanomen liegt es am Schnittpunkt zweier Tabus del'
vorherrschenden gesellschaftlichen Wahrnehmung: offentlich gezeigte Armut
und ,Fremdheit', Zweifelsohne ist es die Anwesenheit von Bettler_innen, die
diese in Frage stellt, an ihnen ruttelt, in die etablierte Wahrnehmung del' Stadt
interveniert. Entscheidend fur die Geschichten und Bilder, die dann uber die
se Menschen erzahlt werden, sind aber die Angste und Konflikte in ,unseren'
Gesellschaften.
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