der zweite hauptsatz und der unterschied von vergangenheit und zukunft

9

Click here to load reader

Upload: c-f-v-weizsaecker

Post on 06-Jun-2016

217 views

Category:

Documents


4 download

TRANSCRIPT

Page 1: Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft

C:. F. t?. TT'eizsacker. Der zioeite Hauptsatz UBIC. 275

Der xweite Hauptsatx und der Unterschied von Pergangenheit und Zukunft

Von C. F. v. WeimacFcer

1. Problematellung

Im praktisclien Leben ist es der wichtigste Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft, dafi das Vergangene unabanderlich ge- scl-iehen ist, das Zukunftige hingegen noch unbest,immt und durch unseren Willen beeinflufibar. Auch fur den bloBen Betrachter bleibt der Unterschied erhalten, denn er kann die Vergangenheit grundsatz- lich genau kennen, die Zukunft aber nicht. Im physikalischen Welt- bild tritt dieser Unterschied scheinbar nicht auf. Denn der Deter- minismus der klassischen Physik fisiert, wenn die Gegenwart bekannt ist, die Zukunft ebenso wie die Vergangenheit, und die nur statistischen Aussagen der Quantenmechanik machen umgekehrt den SchluB voni Gegenwartigen auf das Vergangene formal ebenso unbestimmt wie den auf das Zukunftige. Nur der zweite Hauptsatz der Thermodyna- mik zeichnet deutlich eine Zeitrichtung aus. Es ist das Ziel des vor- liegenden Aufsatzes, zu zeigen, dafi eben die statistische Deutung dieses Satzes die Stelle ist, an der sich die geschilderte Struktur der wirklichen Zeit im Weltbild der Physik BuBert; und zwar mull diese Zeitstruktur vorausgesetzt werden, wenn die Irreversibilitgt des Naturablaufes mit der zeitlichen Symmetrie der mechanischen Grund- gesetze vereinba,rt werden soll.

Gibbs hat diese Tatsache wohl als erster deutlich, wenn auch nicht leicht verstandlich ausgesprochenl) : ,,Wahrend aber die Unter- scheidung von fruheren und spateren Ereignissen in bezug auf mathe- matische Fiktionen unwesentlich sein kann, ist dies ganz anders in bezug auf die Vorgange der wirklichen Welt. Man darf nicht vergessen, dafi, wenn unsere Gesamtheit,en die Wahrscheinlichkeiten fur Vor- gange der wirklichen Welt erlautern sollen, zwar die Wahrscheinlich- keiten spaterer Ereignisse oft aus den Wahrscheinlichkeiten fruherer Ereignisse bestimmt werden kiinnen, aber nur selten Wahrscheinlich- keiten von fruheren Ereignissen aus denen der spateren; denn wir sind selten berechtigt, auf die Betrachtung der vorhergehenden Wahr- scheinlichkeit fruherer Ereignisse zu verzichten." Die nachfolgenden

I) J. W. Gibbs , Statistische Mechanik. Deutsch von E. Zermelo. Leipzig 1905. S. 153/154.

Page 2: Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft

276 dnnalen der I'h?ysik. 5. F o l p . B a d 36. 1939

Uberlegungen sind ein Versuch, diese Satze zu erlauternl). Physi- kalisch ist dabei das Ziel nur, einige in der statistischen Deutung des zweiten Hauptsataes gelegentlich auftretende Unklarheiten aus- zuschalten. Die Ergebnisse uber die Begriffe der Zeit und der Wahr- scheinlichkeit durften aber augerdem philosophisches Interesse haben.

2. Die zeitliche Symmetrie dee H-Theorems Wir betrachten im folgenden das Ergodenproblem als gelost,

das H-Theorem also in einer fur die jeweils behandelt'e Frage hin- reichenden Allgemeinheit bewiesen. Wir konnen also eine Entropie definieren und wissen, dafi ein abgeschlossenes System, dessen Entro- pie in einem bestimmten Zeitpunkt von ihrem grogten moglichen Wert abweicht, mit erdriickender Wahrscheinlichkeit in jedem benachbarten (iiberhaupt in jedem anderen) Zeitpunkt einen grol3eren Entropiewert besitzt.

Das H-Theorem zeichnet in dieser Fassung keine Zeitrichtung aus und kann es auch seiner Herleitung nach gar nicht. Denn sein Beweis setzt aufier dem Begriff der thermodynamischen Wahrschein- lichkeit, der sich jeweils auf einen einzelnen Zeitpunkt bezieht, nur die Gesetze der Jlechanik voraus, die bei Umkehrung der Zeitrichtung ihre Gestalt nicht andern. Man erkennt dies deutlicher, wenn man sich an den Beweisgang erinnert. Die mathematische Grundlage des H-Theorems ist nach Bo l t z m a n n das aul3erordentliche Anwachsen der statistischen Wahrscheinlichkeit, d. h. der Anzahl mikroskopischer Rdalisierungsmoglichkei t en eines makr oskopisch def inier t en Zus tandes bei der Annaherung an den Maximalwert der Entropie. Ein Zustand gegebener, nichtmaximaler Entropie hat daher eine sehr vie1 grol3ere Auswahl von Nachbarzustanden grol3erer Entropie als von solchen kleinerer Entropie. Wenn das Ergodenproblem gelost ist, d. h. wenn man voraussetzen darf, daB der stat'istisch wahrscheinlichere Zustand auch zeitlich haufiger vorkommt, so folgt, da13 ein vom Maximum abweichender Entropiewert eines Systems, iiber das weiter nichts bekannt ist, mit erdruckender Wahrscheinlichkeit gerade ein relatives zeitliches Minimum der Entropie darstellt und nicht etwa einer mono- ton an- oder absteigenden Folge von Entropiewerten angehort. Man kann daher mit erdruckender Wahrscheinlichkeit folgern, da8 die Entropie des Systems in einem spateren Zeitpunkt grol3er sein wird. Damit haben wir die iibliche Formulierung des H-Theorems. Mit der-

1) Sie sind angeregt durch die yon N. Bohr in Diskussionen vertretene und in seiner Faraday-Lecture (Journ. Chem. Soc. 1932, S. 349) angedeutete Inter- pretation der Gibbsschen Gedanken. Parallele 'tiberlegungen haben M. Bronstein und L. Landau (SOC. Phys. 4. S. 114. 1933) angestellt, b b e n aber falsche Fol- gerungen &us ihnen gezogen.

-- ___

Page 3: Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft

C. F. v. Weizsacker. Der xweite Hauptsatz uszu. 277

selben Wahrscheinlichkeit kann man aber auch schlielSen, daW die Entropie des Systems in einem fruheren Zeitpunkt gro13er war. Das widerspricht dem zweiten Hauptsatz, der auch fur die Vergangenheit fordert, daJ3 jedem Entropiewert eines abgeschlossenen Systems ein kleinerer oder hochstens gleicher voranging.

Der aweite Hauptsatz folgt also nicht unmittelbar aus dem H-Theorem. Er ist sogar nur dann niit ihm vereinbar, wenn nur die zukunftigen, aber nie die vergangenen Werte der Entropie eines momentan bekannten Systems nach dem H-Theorem ermittelt werden diirfen. Das ist die These von Gibbs , die wir nun in zwei Schritten zu begrunden suchen.

3. Die Auszeichnung einer Zeitrechnung bei menschlichen Experimenten

Wir behaupten zunachst : Bei allen von Menschen vorgenommenen Experimenten kann das H-Theorem nur zur Berechnung des zukunfti- gen Zustandes des Versuchsobjelrts verwendet werden. Auf den ver- gangenen Zustand schlieJ3t man nicht mit Wahrscheinlichkeitsargu- menten, denn man kennt ihn schon.

In der Tat beginnt jedes Experiment, iiber dessen Ablauf der zweite Hauptsatx eine Voraussage macht, mit einem Zustand, in den das Versuchsobjekt als abgeschlossenes System vom Zustand maxi- maler Entropie aus nie von selbst gekommen ware, z. B. Versuche uber Warmeleitung oder Warmekraftmaschinen rnit einer Temperatur- differenz, chemische Reaktionen mit einer Abweichung vom chemischen Gleichgewicht, Diffusion mit einer raumlichen Trennung der Substan- Zen. Diesen Anfangszustand mu13 man also, direkt oder indirekt, kunstlich herstellen. Man kennt somit den Weg seiner Entstehung und daher auch in hinreichender Naherung die Entropiekurve des Systems bis zum Beginn des Experiments. Nur die zukiinftige Entro- pieanderung ist unbekannt ; fur ihre Voraussage ist das Wahrschein- lichkeitsargument des H-Theorems angemessen.

Dasselbe gilt ubrigens nicht nur von Experimenten, sondern von allen Vorgangen des taglichen Lebens, denn allgemein kennt man das Vergangene oder kann es wenigstens in Erfahrung bringen, das Zu- kunftige aber nicht. Es ware widersinnig, zu fragen, wie wahrschein- lich es sei, daJ3 die chemische Energie, die in diesem Stuck Kohle steckt, schon fruher in ihr versammelt war. Denn ich weiJ3, seit wann die Kohle in meinem Keller liegt, und auf Wunsch wird mir mein Kohlenhandler Auskunft uber ihre friihere Geschichte seit dem Berg- werk verschaffen konnen : ich kenne die Vergangenheit dieser Energie, und es kann mir einerlei sein, wie wahrscheinlich sie ist. Werfe ich aber die Kohle in den Ofen, so bin ich hinsiehtlich ihres weiteren

Page 4: Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft

2713 .4nibnlera r J u Phys ik . 5 . Fol!ye. Band 36. 1939

Schicksals aufs Prophezeien angewiesen und nur die grol3e Sicherheit, der statistisch fundierten Thermodynamik erlaubt mir, die ersten Stufen der dabei auft,retenden Energiezerstreuung im voraus genau zu beschreiben.

4. Die Ausseichnung einer Zeitriohtung im Kosmos

Hisher wurde nur gexeigt , dalS fur diejenigen vergangenen Ereignisse, die wir kennen, keine Veranlassung zu dern Schlu13 besteht, die Entropie sei in fruheren ZeitpunBt8en gro13er gewesen als in spateren. Der zweite Hauptsatz geht in zwei Richtungen daruber hinaus. Erstens behauptet er, daS auch in der Vergangenheit sogar sicher die Entropie eines frulieren Zustandes kleiner (oder hijchstens gleich) war als die eines spateren. Zweitens behauptet er das auch fur den Teil der Vergangen- heit, der weder durch das Geda,cht,nis des einzelnen Physikers, noch iiberhaupt durch menschliche uberlieferung direkt bekannt ist.

Die erste Erweiterung ist der Ausdruck unmittelbarer Erfahrung. Die zweite ist die Art der Verallgemeinerung, die die Physik stets vollzieht. Macht man sie nicht rnit, so hat man auf den nicht direkt beliannten Teil der Vergangenheit mit demselben Recht wie auf die Zukunft das H-Theorem anzuwenden und schlie13t auf Brei, der unter Abkuhlung seiner Umgebung von selbst heiS wurde, und auf Sterne, die das Licht nicht ausstrahlten, sondern konzentrisch einsogen. Die Absurditat dieser Vorstellungen macht das Recht zu der Verallgemei- nerung vielleicht noch einleuchtender als die begriffliche Bemerkung, dalS es unmoglich ist, zwischen direkten und durch Theorie vermittel- ten Erfahrungsurteilen einen scharfen Schnitt zu ziehen.

Man mu13 den zweiten Hauptsatz also nicht das subjektive menschliche Wissen von vergangenen Ereignissen, sondern eine objektive und allgemeine Eigenschaft der Vergangenheit zugrunde legen. Der zu Anfang ausgesprochene Unterschied zwischen Ver- gangenheit und Zukunft ist dafiir hinreichend, wie im Abschnitt 7 nachgewiesen werden soll. Doch wird sich das Gefuhl vieler Physiker dagegen strauben, diesen Unterschied, der zunlichst eine Grund- t.atsache unseres BewuBtseins und Erkenntnisvermogens ist, als objektive Eigenschaft des physischen Geschehens vorauszusetzen. Wir prufen daher zunachst die einzige fur die Begrundung des aweiten Hauptsatzes hinreichende abweichende Formulierung uber die Ver- gangenheit, die vorgeschlagen worden ist.

Sie stammt von B o l t z m a n n und lautet in moglichst kurzen Worten: Der uns bekannte Teil der Welt hat sich vor sehr langer Zeit in einem statistisch sehr unwahrscheinlichen Zustand befunden. In der Naherung, in der man diesen Teil der Welt als ein abgeschlossenes

Page 5: Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft

C. F . (1. Tt'eixsdich-ey. I l e r a r c p i t p Hnuptsntx usw. 979

System ansehen darf, folgt daraus unmittelbar das Anwachsen der Entropie fur die ganze nachfolpende Zeit.

Der Inhalt dieser Behauptung ist sicher richtig. Problematiscli ist aber ihre Begrundung. Ehe wir darauf eingehen, wollen wir auf einen eigenartigen Zusammenhang hinweisen.

5. Folgerungen fur die physikalische Kenntnis der Vergangenheit und der Zukunft

Jler Begriff des Dokumentes eines vergangenen Ereignisses eeigt, da8 wir weit uber die Grenzen unseres Gedachtnisses hinaus mehr von der Vergangenheit als von der Zukunft wissen. Z. B. kann der Historiker aus einer alten Urkunde schlieflen, daB vor 1000 Jahren Menschen mit bestimmten Eigenschaften gelebt haben ; eine Ver- steinerung beweist, daB einmal lebende Wesen bestimmter Gestalt existierten, und der Bleigehalt eines Uranerzes 18Bt uns das genaue Alter jenes Fossils auf Jahrmillionen berechnen. Aus keinem der- artigen Fund folgt aber, daB in 1000 oder lo6 Jahren noch lebende Wesen auf der Erde existieren werden. Wer behauptet, vor 1000 Jahren sei die Erdoberflache durch eine kosmische Katastrophe abrasiert worden, kennt die Tatsachen nicht ; wer behauptet, dasselbe werde in 1000 Jahren geschehen, kann heute nicht widerlegt werden.

Warum gibt es also physikalische Dokumente der Vergangenheit, nicht aber Dokumente der Zukunft? Nur der zweite Hauptsatz zeichnet in der Physik eine Zeitrichtung aus, und in der Tat 1aBt sich diese Tatsache aus der Boltzmannschen Formulierung des zweiten Hauptsatzes ableiten. Die Fragestellung, die durch Dokumente be- antwortet wird, ist dieselbe, die zum Begriff der Wahrscheinlichkeit fuhrt. Kin Dokument ist stets etwas a priori Unwahrscheinliches, denn um Dokument sein zu konnen, mulS es so spezielle Eigenschaften haben, daB es mit praktischer Sicherheit nicht ,,durch Zufall" ent- standen sein kann. Ein unwahrscheinlieher Zustand ist nun nach dem zweiten Hauptsatz aus einem noch unwahrscheinlicheren hervor- gegangen und wird in einen wahrscheinlicheren ubergehen. Noch unwahrscheinlichere Zustande, aus denen er hervorgehen konnte, gibt es aber nur in geringer Zahl, daher folgt eine sehr spezielle Aussage uber die Vergangenheit. Dagegen ist fast jeder andere Zustand, den man sich ausdenken kann, ein ,,wahrscheinlicherer", und daher ist uber die Zukunft fast noch nichts behauptet. Im Beispiel: um ein beschriebenes Blatt Papier herzustellen, bedarf es eines so speziellen Gebildes wie eines Menschen mit bestimmten Fahigkeiten ; dagegen kann das Blatt nachher verbrennen, vermodern, in Wasser zergehen, und immer entsteht ein wahrscheinlicherer Zustand der Welt, der

Page 6: Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft

280 Annalen der l%ys ik . 5. Folye. Band 36. 1939

ebenso aussehen konnte, wenn es jenes B h t t Papier nie gegeben hatte. Das Wahrscheinliche ist das Gestaltlose, wir fragen aber nach der Gestalt.

Diese Eigenschaft der Dokumente erklart naturlich nicht das Gedachtnis als BewuBtseinstat,sache. Sie durfte aber immerhin eine notwendige physische Voraussetzung fur das Funktionieren des Gedachtnisses sein, vor allem, wenn man bedenkt, daB auch zwischen dem unmittelbaren Erinnern und dem, meist unbewuoten SchlieBen aus Dokumenten kein scharfer Schnitt gezogen werden kann.

6. Kritik der Boltsmannschen Formulierung

Die Bo l t zmannsche Formulierung ohne weitere Begrundung einfach hinzunehmen, ware vollig unbefriedigend. Sie charakterisiert selbst jenen fernen Zustand der Welt als sehr unwahrscheinlich und fordert dadurch die Frage heraus: wie ist es zugegangen, daB ein so unwahrscheinlicher Zustand realisiert wurde und die Voraussetzung alles uns bekannten Geschehens bildet, da doch andererseits die ganze statistische Begrundung der Thermodynamik auf der Voraussetzung berul-it, daB mit praktischer Sicherheit stets nur das Wahrscheinliche geschieht. Man fuhlt zwar sofort das Unangemessene die'ser Frage,. die von der Wahrscheinlichkeit eines unserer Kenntnis nach einmaligen Vorgangs redet ; hierin BuBert sich aber nur das trotz ihrer praktischen Brauchbarkeit begrifflich Unangemessene der B o 1 t zm a n n schen Formulierung. Will man die Frage als sinnlos abweisen, so muB man eine Charakterisierung der Vergangenheit wahlen, die den Begriff der Wahrscheinlichkeit gar nicht als Grundbegriff enthalt. Will man umgekehrt dem Wahrscheinlichkeitsbegriff die fundamentale Re- deutung lassen, die er in der Boltzm.annschen Formulierung hat, so mu13 man die Frage beantworten, man muB also versuchen, zu zeigen, daB bei richtig angestellter Statistik das Auftreten jenes Anfangs- zustandes durchaus au erwarten ist. Den ersten Weg, der uns der richtige zu sein scheint, schlagen wir im nachfolgenden Abschnitt ein. B o l t z m a n n hat aber den eweiten Weg gewahlt; es ist daher not- wendig, seinen Gedankengang zu priifen.

B o l t z m a n n betrachtet im $90 seiner Vorlesungen uber Gas- theorie die uns bekannte Welt als eine reale Schwankungserscheinung in einem raumlich und zeitlich sehr vie1 ausgedehnteren Universum. ,,XS miissen dann im Universum, das sonst uberall im Warmegleich- gewichte, also tot ist, hier und da solche verhaltnismafiig kleine Bezirke von der Ausdehnung unseres Sternenraumes (nennen wir sie Eineel- welten) vorkommen, die wahrend der verhaltnismaaig kurzen Zeit von donen erheblich vom Warmegleichgewichte abweichen, und zwar

Page 7: Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft

C. F . v. Weixsacker. Der xweite Hauptsatx usifi. 281

ebenso haufig solche, in denen die Zustandswahrscheinlichkeit gerade zu- als abnimmt. Fur das Universum sind also beide Richtungen der Zeit ununterscheidbar, wie es irn Raume kein Oben und Unten gibt. Aber wie wir an einer bestimniten Stelle der Erdoberflache die Richtung gegen den Erdmittelpunlrt als die Richtung nach unten bezeichnen, so wird ein Lebewesen, das sich in einer bestimmten Zeit- phase einer solchen Einzelwelt befindet, die Zeitrichtung gegen die unwahrscheinlicheren Zustande anders als die entgegengesetzte (erstere als die Vergangenheit, den Anfang, letztere als die Zukunft, das Ende) bezeichnen und vermoge dieser Benennung werden sich fur dasselbe kleine, aus dem Universum isolierte Gebiete ,,anfangs immer in einem unwahrscheinlichen Zustand befinden". DaB wir gerade diese extrem unwahrscheinliche Fluktuation beobachten, wird offenbar dadurch erklart, daU nur sie die Voraussetzungen fur den LebensprozeB bietet.

Die konsequente Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf dieses Weltbild fuhrt aber zu unannehmbaren Folgerungen. Be- trachten wir etwa einen Zustand unserer Einzelwelt, der nach unserer Reitrechnung etwas spiiter liegt als der Zustand tiefster Entropie. F:r ist nach dem H-Theorem schon sehr viel wahrscheinlicher als jener ,,Anfangszustand". Demnach muB es aber eine sehr viel grol3ere Anzahl von Einzelwelten geben, deren ,,Anfang" eben dieser ,,spatere" Rustand (mit allen seinen Einzelheiten) ist. Allerdings 'enthalt er znhlreiche ,,Dokumente" der zwischen dem ,,wahren Anfang" und ihm selbst vorgefallenen Ereignisse. Daraus folgt aber keineswegs, dai3 diese Ereignisse in allen Einzelwelten, in deren Geschichte er vorkommt ?

wirklich geschehen sein muBten. Denn es ist in der Tat statistisch sehr viel wahrscheinlicher, daB alle diese Dokumente durch eine Schwan- kung ents tanden sind, als daB die vorhergehenden Zustande geringerer Entropie, auf die wir aus ihnen schlieBen, tatsachlich realisiert waren. Unwahrscheinliche Zustande haben eben nur dann den Wert als Dolrumente, wenn man schon voraussetzen darf, dalS ihnen noch un- wahrscheinlichere Zustande vorangegangen sind. Mithin ist es stn- tistisch erdriickend wahrscheinlicher, daB nicht der zuerst postuliert P

Anfang, sondern irgendein spaterer Zeitpunkt das Entropieminimum war. Mit der weitaus groaten Wahrscheinlichkeit ist gernde die Gegen- wart das Entropieminimum und die Vergangenheit, auf die wir RUS

den vorhandenen Dokumenten schlieBen, eine Illusion1). -~ - ~-

1) Von etwas anderer Seite beleuchten M. B r o n s t e i n und L. L a n d a u (a. a. 0.) den Sachverhalt durch die Bemerkung, da13 ein beobachtendes Wesen ohne umgebende grol3ere Welt sehr viel hbufiger durch eine Schwankung ent- stehen muBte als die groDe Welt, die wir kennen; so daB keinesfalls erklart wird, rvarum wir gerade eine so enorme Schwankung wahrnehmen.

Page 8: Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft

282 ;4nnalen der Pl~ys i k . 5. Folge. Band 36. 1939

Der statistische SchluB auf die Vergangenheit fuhrt also auch irn Rahmen des B o l t zmannschen Bildes zu absurden Konsequenzen. Wir kehren daher zur entgegengesetzten Betrachtungsweise zuriicli.

7. Die tatskchliche Struktur der Vergangenheit

Zur Ableitung des zweiten Hauptsatzes reicht die folgende Voraussetzung hin: In jedem Augenblick ist alles Vergangene ein vollendetes Faktuni, das grundsatzlich als bekannt zu betrachten ist ; das Zukunftige hingegen ist noch unbestimmt und kann grundsatzlich mit Hilfe von statistischen Methoden mit dem diesen Methoden eigen- tiimlichen Grad von Unsicherheit vorausgesagt werden. Daraus folgt zunachst das Anwachsen der Entropie fur die Zukunft. Nun war aber jeder vergangene Augenblick einmal Gegenwart ; daraus folgt das Anwachsen der Entropie fur alles, was damals Zukunft wajr, also auch fur die Zeiten, die heute vergangen sind.

Eine andere hinreichende Ableitung ist die folgende : Man charak- terisiert irgendeinen weit zuruckliegenden Zustand der Wslt durch bestimmte physikalische Kedingungen. Wenii diese nur uberhaupt vom Warmegleichgewicht abweichen, so ist darnit der zweite Haupt- sa'tz fur die nachfolgende Zeit garantiert. Die Boltzmannsche For- mulierung erscheint hier gleichsam als abgeleitetes Resultmat ; denn jede realisierte Tatsache ist eine von sehr vielen moglichen und dadurch a priori statistisch unwahrscheinlich. Fur unsere heutigen Kenntnisse vom Kosmos wurde z. B. wahrscheinlich die Annahme genugen: vor rund lo1" Jahren bestand die Materie der Welt aus dunn ver teil tern, ruhendem Wasserstoff von konstanter raumlicher Dichte und der absoluten Temperatur Null.

In gewissem Sinne ist die zweite Ableitung nur die konkrete Ausdrucksweise der ersten. Ilenn inan wird ja nur einen solchen vergangenen Zustand voraussetzen, von dem man glauben kann, da13 er wirklich existiert hat. Interessiert man sieh nur fur eine nahe Vergangenheit, so lrann man sich bei der Bestimmung seiner Eigen- schaften auf die Erinnerung stutzen, fragt man nach der Geschichte des Kosmos im grofien, so schliefit man auf ihn mit Hilfe der heute vorhandenen Dokumente [z. 13. fur den oben angegebenen Vorschlag :tuf die Konstante der Entfernungs- Geschwindigkeits-Relation der Spiralnebel und die Hiiufigkeitsverhaltnisse der chemischen Ele- ment e ')I.

Diese Dokumente haben aber fur nns nur dokumentarischen weil wir die in der ersten Ableitung verwmdete Zeitstruktur voraussetzen. ~

1) Vgl. C. F.Y. Wcizsackcr , Phys.Ztschr. 39. S.633. 1938.

Wert, schon

Page 9: Der zweite Hauptsatz und der Unterschied von Vergangenheit und Zukunft

C. P. v. Weizsacker. Der zweite Hauptsatx useo. 283

Man kann aber das Verhaltnis nuch umkehren. Vielleicht' wird man einmal einen bestimmt,en vergangenen Zustand der Welt durch besondere Bedingungen auszeichnen konnen. Z. B. liegt es im Sinne der modernen kosmologischen Spekulationen, nicht nur die Natur- gesetze, sondern nuch die Anfangsbedingungen des Weltgeschehens durch die Forderung mathematischer Einfachheit einzuschranken. Dabei bleibt die Moglichkeit offen, dafl diese Bedingungen fur eine aller direkten Erfahrung entzogene Vergangenheit (und Zukunft) die Voraussetzungen fur die Anwendung des uns gelaufigen Zeitbegriffs aufheben. Fur die uns zuganglicht? Zeitspanne mussen hingegen fjberlegungen wie die im Abschnitt 4 angestellten formal von selbst zu dem Unterschied der Vergangenheit und Zukunft zuriickfuhren, den wir vorher vorausgesetzt haben; so wie die Quantenmechanik durch den Ubergang zu groflen Quantenzahlen die klassische Meclianik wieder ergibt, welche methodisch ihre Voraussetzung ist.

Beide Auffassungen stehen nicht in einem ausschlieBenden, sondern in einem komplementaren Verhaltnis. Einerseit,s gehort der geschilderte Unterschied zwischen Vergnngenheit und Zukunft zu den unzweifelhaften Bewufltseinstatsachen, welche Vorbedingungen jeder moglichen Erkenntnis und daher, methodisch gesehen, das einzig

'sichere Fundament der Wissenschaft sind. Ila der Begriff der Wahr- scheinlichkeit den der Erfahrung voraussetzt, und Erfahrung gar nicht definiert oder geschildert werden kann, ohne den Unterschied der Ver- gangenheit und Zukunft xu benutzen, ist die oben lrritisierte An- wendung des Wahrscheinlichkeit,sbegriffs auf die Verga,ngenheit im streng logischen Sinne sinnlos, was durch die absurden Konsequenzen nur besonders deutlich wird. Andererseits ist aber die auflere Wirk- lichkeit, deren Eigenschaften wir mit Hilfe der so met,hodisch fun- dierten Wissenschaft, wenngleich nur hypothetisch und schrittweise, erschIieBen, die physische Voraussetzung unserer eigenen Existenz. Es ist daher ein berechtigtes Verfahren, von ihr ausgehend die vorher methodisch vorausgesetzten Behauptungen inhaltlich zu begriiriden und auch in gewisse Gultigkeitsgrenzen einzuschlieflen. Erst im kornplementmLen Wechselspiel beider Verfahren konnen die Grenzen moglicher wissenschaftlicher Erkenntnis abgesteckt werden.

Z. Z. Mar i a fe ld , Meilen b. Zurich, 7. August 1939.

(Eingegangeri 8. August 1939)