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Viele Welten in einer Welt Eine Betrachtung über die menschliche Realität (Materialien zur Abschiedsvorlesung am 12.4.2002) Hans Sillescu 1. Vorbemerkungen Es ist nicht selbstverständlich, daß ein Physikochemiker nach vielen Fachpublikationen einen Text über den Begriff der Realität verfaßt. Daher soll kurz der biographische Hintergrund skizziert werden, vor dem die nach- folgende Betrachtung zu sehen ist. Die pietistische Frömmigkeit, von der meine ganze Jugend geprägt war, hat schon früh zum Nachdenken über die Wahrheit geführt. Auch wenn man nicht jedem Menschen jede Wahrheit sagen kann, ohne ihn zu verletzen oder sich selber zu schaden, so wollte ich doch auf keinen Fall Unwahrheiten von mir geben. Und mir selber gegen- über meinte ich rückhaltlos ehrlich zu sein, zumal ich mich als ein der Ver- gebung bedürftiger Sünder verstand. Um so tiefer war die Erschütterung, als sich in meinem Innern eines Tages das Gewebe eines massiven Selbstbetrugs zu erkennen gab. Ich mußte schließlich einsehen, daß unser Unbewußtes um so raffiniertere Strategien der Selbsttäuschung entwickelt, je höher der inne- re Anspruch an Wahrhaftigkeit sich selber gegenüber gehängt wird - eine Zwickmühle, aus der kein Ausweg zu sehen war. Zunächst schien es weniger problematisch, das Phänomen des Selbstbetrugs, oder besser der Selbsttäu- schung, gleichsam aus der Dritte-Person-Perspektive an anderen Menschen zu studieren. Doch dabei ergaben sich Schwierigkeiten, die ganz unabhängig vom Zusammenhang zwischen Unwahrheit und Sünde das allgemeine Pro- blem der Erkenntnis von Wahrheit betreffen, mit dem sich seit der Antike alle bedeutenden Philosophen befaßt haben. Natürlich kannte ich dieses Problem schon vor dem oben erwähnten Erlebnis. Nur war es damals eher ein Spiel meiner Gedanken gewesen, das nicht wirklich existentiell unter die Haut ging. Doch jetzt mußte ich die Einsicht akzeptieren, daß jedes Selbst- bildnis meines Bewußtseins essentielle und für mein Handeln und Denken wesentliche Teile meiner Persönlichkeit verschleiert und verfälscht. Als gläu- biger Christ war ich psychologisch bei Sören Kierkegaard angekommen. 2 Daneben wuchs aber auch das neue Bewußtsein eines erwachsen ge- wordenen autonomen Menschen, der mehr und mehr zu einer agnostischen Sicht des Daseins fand. "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" - diesen Satz des Protagoras verstand ich für mich selber als Ausdruck menschlicher Be- scheidenheit: Dem Menschen steht leider kein besseres Maß zur Verfügung. Im Josephsroman von Thomas Mann entdeckte ich den im Hinblick auf die Realität eigentümlichen Schwebezustand, in dem die Erzväter und ihr Gott zueinanderfinden. Als ich danach den Konstruktivismus kennenlernte, kam mir das alles schon sehr vertraut vor, und ich wunderte mich, daß dessen Vertreter sich kaum auf Schopenhauer und Nietzsche berufen, von denen doch Thomas Mann seine Methoden zur Erfindung der Wirklichkeit gelernt hatte. Die Entwicklung der Quantentheorie und ihre Bedeutung für Phy- siker und Philosophen haben mich verständlicherweise zeitlebens fasziniert. Welche Folgen sich daraus für den Realitätsbegriff ergeben, wird im folgen- den unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet werden. Eine wirklich neue Wendung erhielten meine Gedanken vor etwa drei Jahren bei der Lektüre einiger Bücher von Oliver Sacks 1 , der mich in die Welt der Neurologen und Hirnforscher einführte. Dem Interessierten bietet sich ja heute in jedem besseren Buchladen ein Blumenstrauß von Angeboten, in denen das Gehirn aus Blickwinkeln der Zoologie, Neurologie, Psycholo- gie, Philosophie bis hin zur Esoterik beleuchtet wird. Dabei gibt es neue Zweckbündnisse zwischen traditionell verfeindeten Disziplinen, die einen erfreulichen Abbau von Sprachbarrieren zwischen Natur- und Geisteswissen- schaften mit sich bringen. Als Leser fühlt man sich einbezogen in einen neu- en Aufbruch zu uralten Menschheitsfragen, auf die es bisher immer nur zeit- bedingte Scheinantworten gegeben hat. Daß ein Naturwissenschaftler sich für die historischen Wurzeln seines Tuns und die Grenzen zu anderen menschlichen Aktivitäten interes- siert, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Da es über Begriffe der menschlichen Realität bereits eine überwältigende Vielfalt von mehr oder 1 Oliver Sachs, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte und Eine Anthropo- login auf dem Mars, rororo Sachbuch, Rohwohlt 1990

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Viele Welten in einer Welt

Eine Betrachtung über die menschliche Realität

(Materialien zur Abschiedsvorlesung am 12.4.2002)

Hans Sillescu

1. Vorbemerkungen

Es ist nicht selbstverständlich, daß ein Physikochemiker nach vielen Fachpublikationen einen Text über den Begriff der Realität verfaßt. Daher soll kurz der biographische Hintergrund skizziert werden, vor dem die nach-folgende Betrachtung zu sehen ist. Die pietistische Frömmigkeit, von der meine ganze Jugend geprägt war, hat schon früh zum Nachdenken über die Wahrheit geführt. Auch wenn man nicht jedem Menschen jede Wahrheit sagen kann, ohne ihn zu verletzen oder sich selber zu schaden, so wollte ich doch auf keinen Fall Unwahrheiten von mir geben. Und mir selber gegen-über meinte ich rückhaltlos ehrlich zu sein, zumal ich mich als ein der Ver-gebung bedürftiger Sünder verstand. Um so tiefer war die Erschütterung, als sich in meinem Innern eines Tages das Gewebe eines massiven Selbstbetrugs zu erkennen gab. Ich mußte schließlich einsehen, daß unser Unbewußtes um so raffiniertere Strategien der Selbsttäuschung entwickelt, je höher der inne-re Anspruch an Wahrhaftigkeit sich selber gegenüber gehängt wird - eine Zwickmühle, aus der kein Ausweg zu sehen war. Zunächst schien es weniger problematisch, das Phänomen des Selbstbetrugs, oder besser der Selbsttäu-schung, gleichsam aus der Dritte-Person-Perspektive an anderen Menschen zu studieren. Doch dabei ergaben sich Schwierigkeiten, die ganz unabhängig vom Zusammenhang zwischen Unwahrheit und Sünde das allgemeine Pro-blem der Erkenntnis von Wahrheit betreffen, mit dem sich seit der Antike alle bedeutenden Philosophen befaßt haben. Natürlich kannte ich dieses Problem schon vor dem oben erwähnten Erlebnis. Nur war es damals eher ein Spiel meiner Gedanken gewesen, das nicht wirklich existentiell unter die Haut ging. Doch jetzt mußte ich die Einsicht akzeptieren, daß jedes Selbst-bildnis meines Bewußtseins essentielle und für mein Handeln und Denken wesentliche Teile meiner Persönlichkeit verschleiert und verfälscht. Als gläu-biger Christ war ich psychologisch bei Sören Kierkegaard angekommen.

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Daneben wuchs aber auch das neue Bewußtsein eines erwachsen ge-wordenen autonomen Menschen, der mehr und mehr zu einer agnostischen Sicht des Daseins fand. "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" - diesen Satz des Protagoras verstand ich für mich selber als Ausdruck menschlicher Be-scheidenheit: Dem Menschen steht leider kein besseres Maß zur Verfügung. Im Josephsroman von Thomas Mann entdeckte ich den im Hinblick auf die Realität eigentümlichen Schwebezustand, in dem die Erzväter und ihr Gott zueinanderfinden. Als ich danach den Konstruktivismus kennenlernte, kam mir das alles schon sehr vertraut vor, und ich wunderte mich, daß dessen Vertreter sich kaum auf Schopenhauer und Nietzsche berufen, von denen doch Thomas Mann seine Methoden zur Erfindung der Wirklichkeit gelernt hatte.

Die Entwicklung der Quantentheorie und ihre Bedeutung für Phy-siker und Philosophen haben mich verständlicherweise zeitlebens fasziniert. Welche Folgen sich daraus für den Realitätsbegriff ergeben, wird im folgen-den unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet werden.

Eine wirklich neue Wendung erhielten meine Gedanken vor etwa drei Jahren bei der Lektüre einiger Bücher von Oliver Sacks1, der mich in die Welt der Neurologen und Hirnforscher einführte. Dem Interessierten bietet sich ja heute in jedem besseren Buchladen ein Blumenstrauß von Angeboten, in denen das Gehirn aus Blickwinkeln der Zoologie, Neurologie, Psycholo-gie, Philosophie bis hin zur Esoterik beleuchtet wird. Dabei gibt es neue Zweckbündnisse zwischen traditionell verfeindeten Disziplinen, die einen erfreulichen Abbau von Sprachbarrieren zwischen Natur- und Geisteswissen-schaften mit sich bringen. Als Leser fühlt man sich einbezogen in einen neu-en Aufbruch zu uralten Menschheitsfragen, auf die es bisher immer nur zeit-bedingte Scheinantworten gegeben hat.

Daß ein Naturwissenschaftler sich für die historischen Wurzeln seines Tuns und die Grenzen zu anderen menschlichen Aktivitäten interes-siert, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Da es über Begriffe der menschlichen Realität bereits eine überwältigende Vielfalt von mehr oder

1 Oliver Sachs, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte und Eine Anthropo-login auf dem Mars, rororo Sachbuch, Rohwohlt 1990

weniger wissenschaftlichen Betrachtungen aus den verschiedensten Ansätzen heraus gibt, wird niemand für die Abfassung eines weiteren Textes zu dieser Thematik eine besondere Begründung erwarten. Am Rande der eigenen Fachdisziplin ist dies freilich immer eine Gratwanderung zwischen fröhli-chem Dilettantismus und der Angst, vor Experten dumm dazustehen. Für mich persönlich war es jedoch eine besonders reizvolle Aufgabe, am Ende meiner beruflichen Tätigkeit Ergebnisse eines langjährigen meta-professionellen Gedankenspiels in eine möglichst gut verständliche sprachli-che Form zu bringen. Aus dem alten Brauch der Abschiedsvorlesung ergibt sich die erfreuliche Gelegenheit, dies mit dem Abschluß meiner Lehrtätigkeit zu verbinden.

2. Die Eigenwelt des Individuums

In jedem Menschen entwickelt sich schon im Säuglingsalter eine ganz persönliche eigene Welt, die bestimmt und geprägt wird durch die Ei-genheiten seiner Anlagen wie seiner personellen und materiellen Umwelt. Es entsteht dabei wohl zuerst ein gewisses Selbstgefühl und besonders in der Konfrontation mit den Forderungen der Eltern ein eigener Wille, der zu-mindest in unserer westlichen Kultur zu einem selbstbewußten Ich führt, das sich gegen Ende des zweiten Lebensjahrs zum ersten Mal sprachlich artiku-liert. In der neueren Philosophie hat man in diesem Zusammenhang den Begriff der Erste-Person-Perspektive geprägt, die sich im frühen Kleinkind-alter ausbildet, und aus der heraus der Mensch die Welt als seine eigene er-lebt. Von den Psychologen und Pädagogen, die sich mit der frühkindlichen Entwicklung beschäftigen, können wir lernen, daß hier faszinierende Paralle-len zur Phylogenese des homo sapiens bestehen. Der vorgeschichtlichen Periode, in der die Märchen und Mythen entstanden sind, entspricht in der Kindesentwicklung die "magische Phase", in der die Welt ganz selbstver-ständlich von Fabelwesen bevölkert ist, die dem Kind genauso real erschei-nen wie die Wirklichkeit den Erwachsenen. Doch eines Tages entdeckt das Kind, daß der Weihnachtsmann in Wirklichkeit nur der Onkel Franz mit umgehängtem Bart ist. Manche Kinder erleben hier ihre erste tiefgreifende Enttäuschung, an die sie sich bis an ihr Lebensende erinnern. Andere mögen dieses Erlebnis weniger dramatisch empfinden. Bei allen beginnt jedoch jetzt

die Entfaltung einer neuen, wirklichen Welt, in die nur aufgenommen wird, wer oder was einer kritischen Überprüfung seiner Wirklichkeit standhält. Besonders Ingenieure und Naturwissenschaftler bleiben manchmal zeitlebens in dieser vermeintlich objektiven Realität gefangen, weil sie ihnen eine ähnli-che Geborgenheit und Sicherheit verleiht wie ihr Kinderglaube, den sie zu-sammen mit dem Weihnachtsmann ins Reich der Fabel vertrieben haben.

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Jean Piaget, der in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts die Entstehung des Realitätsbewußtseins während der frühkindlichen Entwick-lung studierte,2 hat damit auch eine neue philosophische Richtung begrün-det, die als Konstruktivismus bezeichnet wird. Die grundlegende Annahme, aus der heraus die neue "genetische Erkenntnistheorie" entwickelt wurde, kann man etwa wie folgt formulieren: Jeder Mensch ist der Konstrukteur seiner eigenen Welt, und zusammen mit allen anderen Menschen erfindet er die jeweils existierende Wirklichkeit. Die Behauptung, daß nur diese Wirk-lichkeit existiert, hat als radikaler Konstruktivismus 3 den Widerspruch an-derer Philosophen herausgefordert. Natürlich ist das Wasser schon bergab geflossen, lange bevor in der Evolution ein homo sapiens entstanden ist, der sich dies per Konstruktion in seine Wirklichkeit eingebaut hat. Zu der phi-losophischen Diskussion, die an den alten Streit zwischen Idealisten und Realisten erinnert, kann ich mich nicht fachkompetent äußern. Ich möchte jedoch Carl Friedrich von Weizsäcker zitieren, der ganz sicher kein Anhän-ger des Konstruktivismus ist, zumal er deren führende Vertreter in seinen Büchern kaum erwähnt. Im Hinblick auf den von Konrad Lorenz eingeführ-ten Begriff eines hypothetischen Realismus 4 schreibt er folgendes:5

"Lorenz ist offenbar der Meinung, daß es Realisten und Idealisten gibt, und daß die Realisten die Außenwelt für real halten, die Ideali-sten aber für eine bloße Vorstellung. Da zwischen zwei so definierten Ansichten offenbar keine empirische Entscheidung möglich ist - denn das entscheidende empirische Faktum wäre wieder für den Realisten

2 J.Piaget, La construction du réel chez l'enfant, Neuchâtel 1937 3 Ernst von Glasersfeld, Radikaler Konstruktivismus , Suhrkamp 1997

5 C.F.v.Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, Carl Hanser, München 1977, Kap.II,2

4 K.Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, Piper, München 1973

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real, für den Idealisten bloße Vorstellung - nennt Lorenz seinen Rea-lismus eine Hypothese. In der Wissenschaft aber pflegt sich eine Hypothese wenigstens grundsätzlich der empirischen Kontrolle zu stellen. Ich schlage statt dessen die Ansicht vor, daß die hier verwende-ten Worte 'real' und 'Realität' sinnlose Vokabeln sind, durch deren vollständige Elimination sich an allen positiven Erkenntnissen der Na-turwissenschaft überhaupt nichts ändert. Das sollte klar werden, wenn wir bedenken, daß Realität, von der wir wissen können, Realität für uns ist, und Realität, von der wir nicht wissen können, per definitio-nem in unserem Wissen nicht vorkommt. Sprechen wir sinnvoll von Realität, so sprechen wir von Realität; spricht niemand von Realität, so ist von Realität nicht die Rede."

Was von Weizsäcker hier schreibt, steht nach meinem Verständnis nicht im Widerspruch zu der oben formulierten Grundannahme des Konstrukti-vismus. Auch für ihn ist jede Realität eine menschliche Realität. Ob es daneben eine wenn auch hypothetische objektive Realität gibt, ändert "an allen positiven Erkenntnissen der Naturwissenschaft überhaupt nichts." Viel mehr will ich im folgenden gar nicht sagen. Daß das Wenige, was ich sagen will, dennoch nicht ganz sinnlos ist, hoffe ich allerdings. Das heißt, ich folge nicht von Weizsäckers Rat, die Begriffe real und Realität zu eliminieren. Vielmehr möchte ich dafür plädieren, den Begriff einer vermeintlich objekti-ven Realität als menschliche Realität zu verstehen. Zunächst möchte ich Ihnen jedoch ein Beispiel vortragen, das illustrieren soll, welche Konsequen-zen die Vorstellung individueller Eigenwelten für den Realitätsbegriff haben kann.

Hans und Gretel, beide jung und unerfahren, erleben ihre erste gro-ße Liebe. In der Welt von Hans ist Gretel zunächst identisch mit der Frau seiner Träume. Nach einiger Zeit beobachtet er jedoch an seiner Gretel Ei-genheiten, die ganz anders sind als erwartet. Je länger die Geschichte andau-ert, desto deutlicher gewinnt eine andere, vermeintlich wirkliche Gretel an Konturen in seiner Welt, in der eine zeitlang zwei Gretel existieren, eine die er liebt, und eine andere, die ihn immer wieder enttäuscht. Wenn sich Ähnli-ches auch in Gretels Welt abspielt, dann sind an dieser Geschichte jetzt schon sechs Personen beteiligt; denn jeder der beiden trägt ja noch ein Bild

von sich selbst in sich. Nun gibt es aber noch die Eltern und Freundinnen von Gretel, in deren Welt Hans als Gretels erster Freund eingetreten ist. In der Welt ihres Vaters ist Hans vielleicht ein Rivale, der ihm seine Tochter streitig macht, während die Mutter in Hans einen Schwarm ihrer eigenen Jugend wiedererkennt. Freundin Luise unternimmt alles, um Gretel über ihre Geschmacksverirrung aufzuklären, weil sie Hans als häßliches Ekel sieht. Ganz anders sieht Freundin Katrin zu ihrem großen Kummer in Hans ihren eigenen Traummann. Zu dieser Vielfalt der Hänse und Gretchen kommen aber jetzt noch der Hans und die Gretel, die im Einwohnermeldeamt regi-striert sind und denen der Zahnarzt ganz reale Zähne plombiert. Ist dies jetzt die objektive Welt, die all die vielen aufgezählten Innenwelten individu-eller Menschen umfaßt? - Keineswegs, denn ich habe diese Geschichte ja frei erfunden mit all den vielen Personen, die bis vor kurzem nur in meiner eige-nen Innenwelt existiert haben. Dennoch haben wir wohl alle den Eindruck, daß ich eine wahre Geschichte erzählt habe, die sich unter den Menschen immer wieder so oder ähnlich ereignet hat. Insofern handelt sie von der menschlichen Realität, die im folgenden noch unter weiteren Aspekten be-trachtet werden soll.

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3. Die Welt des Pythagoras

Der Urvater dessen, was wir heute in den exakten Naturwissenschaf-ten unter objektiver Realität verstehen, ist die legendäre Gestalt des Pytha-goras von Samos (ca. 580 - 500 v.Chr.)6. Der nach ihm benannte Satz, nach dem im rechtwinkligen Dreieck das Hypotenusenquadrat gleich der Summe der beiden Kathetenquadrate ist, war schon tausend Jahre vor ihm bekannt, und Pythagoras hat ihn zweifelsohne auf seinen ausgedehnten Reisen durch die antike Welt kennengelernt. Denn überall interessierte er sich für die in vielen Generationen von Priestern, Sterndeutern und Landvermessern ge-wonnenen Kenntnisse der Mathematik. Was wir ihm verdanken, ist also nicht der Satz des Pythagoras, sondern sein Beweis. Nach allem, was wir

6 Über den historischen Pythagoras ist wenig bekannt. Das hier gezeichnete Bild (vergl. Simon Singh, Fermats letzter Satz , dtv München 2000) entspricht verschiedenen Legen-den aus der Zeit des Neuplatonismus im 3. Jahrh. n. Chr.

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wissen, gab es vor ihm allenfalls Vorformen von dem, was wir heute unter einem mathematischen Beweis verstehen. Mathematische Kenntnisse und Fertigkeiten wurden vom Vater dem Sohn, vom Lehrer dem Schüler weiter-gegeben wie die Kenntnisse des Brotbackens. Für Pythagoras aber war der Beweis etwas Göttliches. Man kann Pythagoras durchaus als Religionsstifter ansehen, dem ein neuer Weg zur göttlichen Wahrheit offenbart wurde. An-geblich ließ er den Göttern zum Dank hundert Ochsen opfern, als ihm der Beweis seines berühmten Satzes eingefallen war. Es ist bemerkenswert, daß bis in unsere Zeit große Mathematiker und Naturforscher Begriffe aus dem Bereich des Religiösen verwenden, wenn sie versuchen zu beschreiben, was in ihnen vorgeht, wenn ihnen eine bedeutende Erkenntnis einfällt. Als Beispiel sei Carl Friedrich Gauß zitiert, der sich zwei Jahre lang vergeblich um den Beweis eines Satzes bemüht hat und der nach dessen Entdeckung an seinen Freund schreibt: "Endlich vor ein paar Tagen ist’s gelungen - aber nicht meinem mühsamen Streben, sondern bloß durch die Gnade Gottes möchte ich sagen. Wie der Blitz einschlägt, hat sich das Rätsel gelöst; ich selbst wäre nicht im Stande, den leitenden Faden zwischen dem, was ich vorher wußte, dem, womit ich die letzten Versuche gemacht habe, - und dem, wodurch es gelang, nachzuweisen." 7 Ausgerüstet mit der Methode des mathematischen Beweises machten sich Pythagoras und seine Schüler daran, die Welt der Zahlen zu erforschen. Gemeint sind die positiven ganzen Zahlen, denn nur diese gab es in der da-maligen Welt. Als Beispiel seien die vollkommenen Zahlen betrachtet, die dadurch definiert sind, daß sie gleich der Summe ihrer Teiler sind. Zum Beispiel sind 6 = 1+2+3 und 28 = 1+2+4+7+14 die ersten vollkom-menen Zahlen, auf die in immer größeren Abständen 496, 8128 und 33550336 folgen. Welche Bedeutung diese erstmals von Pythagoras er-kannte mathematische Vollkommenheit in der nachfolgenden Kulturge-schichte hatte, können wir aus dem folgenden Zitat aus dem Gottesstaat von Augustinus erkennen: "Die 6 ist an und für sich eine vollkommene Zahl, doch nicht, weil Gott alle Dinge in sechs Tagen erschaffen hätte. Das Ge-genteil ist wahr: Gott schuf alle Dinge in sechs Tagen, weil diese Zahl voll-

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7 Zitiert nach H.Primas in Der Pauli-Jung-Dialog, Hrsg.: H.Atmanspacher et al., Springer, Berlin 1995, S. 205-238.

kommen ist. Und sie würde vollkommen bleiben, selbst wenn das Werk der sechs Tage nicht existierte." 8 Kein Wunder also, daß man danach die pytha-goreische Methode des Beweisens auch auf die Existenz Gottes anwandte. Allerdings wurden diese Gottesbeweise spätestens von Immanuel Kant als Ergebnisse menschlicher Unvollkommenheit erkannt, während die Voll-kommenheit der vollkommenen Zahlen bis heute von niemandem angezwei-felt wurde. Die unabänderliche Richtigkeit mathematischer Sätze läßt seit-her immer wieder Menschen an die Existenz einer absoluten Wahrheit glau-ben, die für alle Zeiten unabänderlich bestehen bleibt. Auch Platons Ideen-lehre ist in diesem Sinne pythagoreisch. Wie viele seiner Nachfolger ist schon Pythagoras einer Illusion erle-gen, die von C.G.Jung als psychische Inflation bezeichnet wurde. Er war nämlich so erfüllt von der Wahrheit und Heiligkeit der ganzen Zahlen, daß er glaubte, jede Zahl könne als echter Bruch zweier ganzer Zahlen dargestellt werden, obwohl er dies ja noch gar nicht bewiesen hatte. Fragt man aber nach der Länge der Hypotenuse eines gleichseitigen rechtwinkligen Dreiecks, deren Katheten die Länge eins haben, so erhält man die Wurzel aus zwei. Es wird erzählt, ein Schüler von Pythagoras mit dem Namen Hippasus habe entdeckt, daß diese Zahl nicht als echter Bruch dargestellt werden kann. Doch in der Welt des Pythagoras gehörten die ganzen Zahlen gleichsam zum Allerheiligsten. Daß es daneben noch andere irrationale Zahlen geben könne, war ein Sakrileg. Daher verurteilte Pythagoras seinen Schüler Hippa-sus zum Tode durch Ertränken. Zweihundert Jahre später hat Euklid mit der von Pythagoras erfundenen Methode des Widerspruchsbeweises (es wird bewiesen, daß das genaue Gegenteil des behaupteten Satzes zu einem logi-schen Widerspruch führt) einen ganz einfachen Beweis für die Irrationalität der Wurzel aus zwei gefunden, der noch heute in den Gymnasien gelehrt wird. In der Zwischenzeit hatte etwas stattgefunden, was man heute als Pa-radigmenwechsel bezeichnen würde. Die Zahlenwelt des Pythagoras war nicht wirklich zusammengebrochen; was Pythagoras streng bewiesen hatte, stimmte noch immer. Aber es stimmte innerhalb einer erweiterten Zahlen-welt, zu der später noch die komplexen Zahlen hinzukamen. Die Illusion des Pythagoras bestand darin, daß er meinte, mit der Zahl den Schlüssel zum

8 Zitiert nach Simon Singh, loc. cit.

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4. Selbstbezüglichkeit Plan Gottes in der Hand zu haben: "Alles, was man erkennen kann, läßt sich auf eine Zahl zurückführen." Tatsächlich fand er auf der Suche nach ganzen Zahlen in der Natur das vielleicht erste quantitativ überprüfbare Naturge-setz. Wenn man eine Saite in den Verhältnissen 1:2 , 2:3 , 3:4 , 4:5 und 5:6 teilt, so erklingen die Oktave, die Quinte, die Quarte, die große und die kleine Terz. Die Harmonie der Töne gehorcht also einfachen Beziehungen zwischen ganzen Zahlen. In kühner Extrapolation entwarf er daraus eine Kosmologie mit Sphärenklängen in einer Harmonie der Welt, der Welt des Pythagoras. Irrationale Zahlen dagegen gehörten in das Reich des Bösen, das bekämpft werden mußte; daher mußte Hippasus sterben. In ihren Grundzü-gen hat sich diese Geschichte später immer wieder nach dem gleichen Mu-ster wiederholt: Eine schöne mathematische Struktur harmoniert in verfüh-rerischer Weise mit Naturerscheinungen. Obwohl nur eine partielle und näherungsweise Übereinstimmung nachgewiesen werden kann, wird sie zur Weltformel , einer Theory of Everything erklärt und Ungläubige werden in das Reich des Bösen verdammt. Die letzten beiden Sätze in Stephen Haw-kings Buch A Brief History of Time zeigen, daß sich an dem Phänomen der psychischen Inflation seit Pythagoras nichts geändert hat: "Then we shall all, philosophers, scientists, and just ordinary people, be able to take part in the discussion of the question of why it is that we and the universe exist. If we find the answer to that, it would be the ultimate triumph of human reason - for then we would know the mind of God." Erinnert das nicht an die Schlange im Paradies? Diese sagt (Gen. 3,5): "ERITIS SICUT DEUS SCIENTES BONUM ET MALUM. Ihr werdet sein wie Gott, Wissende des Gu-ten (Wahren) und Bösen (Falschen)."

Die eigentliche Sprache der Mathematik ist die Logik, deren Ent-wicklungsgeschichte parallel und eng verbunden mit der Geschichte der Ma-thematik verlaufen ist. Schon im Altertum wurden logische Paradoxa, Apori-en und Antinomien entdeckt, die auch die scheinbar heile Welt der Mathe-matik bedroht haben. Die letzte Bastion der Mathematiker, in der Aussagen, die zu logischen Widersprüchen führen konnten, einfach verboten wurden, war das System der Principia Mathematica von Whitehead und Russel. Kurt Gödel konnte jedoch 1931 nachweisen, daß selbst dieses Bollwerk nicht sicher ist gegenüber dem Circulus vitiosus der Selbstbezüglichkeit. Dem ignorabimus von Emil Dubois-Reymond (1818-1896) hatte David Hilbert (1862-1943) ein trotziges Wir müssen wissen, wir werden wissen entge-gengehalten, das er sogar auf seinen Grabstein meißeln ließ. Doch der Glau-be, daß es in der Mathematik absolut sicheres Wissen gibt, war jetzt an einer besonders empfindlichen Stelle getroffen worden. Man hatte nämlich die Principia Mathematica zu diesem sicheren Wissen gezählt und mußte jetzt feststellen, daß man sich getäuscht hatte. Zu dem Problem der Selbstbezüg-lichkeit kam jetzt noch das der Selbsttäuschung, dem das nächste Kapitel gewidmet ist.

Die Entdeckung der aus der Selbstbezüglichkeit resultierenden logi-schen Paradoxie wurde in der Antike dem Kreter Epimenides (6. Jahrh. v. Chr.) mit seinem Ausspruch "Kreter sind Lügner" zugeschrieben9. Da er selber Kreter ist, hat er also gelogen, und das Gegenteil ist wahr, was aber der wahren Aussage widerspricht. Andere anschauliche Beispiele sind der Barbier von Sevilla, der alle Bürger von Sevilla rasiert, die sich nicht selbst rasieren, oder der Katalog aller Kataloge, die sich nicht selbst auflisten. Der logische Widerspruch besteht immer darin, daß eine Negation nicht sowohl wahr als auch falsch sein kann.

Eine Welt mit einem in der Sprache der Mathematik geschriebenen Plan Gottes, das ist die Welt des Pythagoras. In dieser Welt gibt es eine Wahrheit, die inneren Halt verleiht, ein sicheres Fundament, auf das seit der Aufklärung immer mehr Menschen ihre individuelle Eigenwelt gegründet haben und die heute auch als objektive Realität verstanden wird.

9 C.F. von Weizsäcker kritisiert die Formulierung "alle Kreter sind Lügner", deren Vernei-nung auch "nicht alle Kreter sind Lügner" heißen kann, und schreibt: "Der Kreter: 'Was ich soeben sage, ist falsch.' " (C.F.v.Weizsäcker, Zeit und Wissen, Carl Hanser, München 1992, S.641)

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Im Kern der Überlegungen von Kurt Gödel steht die Übersetzung der Kreter-Paradoxie in das System der Principia Mathematica. Zum Bei-spiel werden hier innerhalb der Regeln der Arithmetik, die ja auf Zahlen anzuwenden sind, auch die Regeln selbst mit Gödelschen Zahlen numeriert. Diese spielen dann die Rolle des trojanischen Pferds, mit dem die Selbstbe-züglichkeit hereinkommt. Daraus folgt am Ende ein Satz über die Existenz wahrer Sätze, die man nicht beweisen kann. Zum Beispiel kann der Satz "Diese Aussage kann nicht bewiesen werden" nicht bewiesen werden.8 Wäre die Aussage falsch, dann könnte sie bewiesen werden, was aber ihr selbst widerspricht. Gödels Unentscheidbarkeitssatz hatte dramatische Folgen für die Beweistheorie. Zum Beispiel wäre es ja möglich gewesen, daß der be-rühmte Fermatsche Satz zu diesen wahren, aber unbeweisbaren Sätzen ge-hört. Glücklicherweise gelang Andrew Wiles mehr als dreihundert Jahre nach Fermat 1994 doch noch der Beweis dieses Satzes. Bei anderen mathemati-schen Vermutungen wird aber nie zu entscheiden sein, ob sie wahr oder falsch sind.

Die Erfahrung der Selbstbezüglichkeit reicht mit ihren Wurzeln bis in mythische Zeitalter, in denen sich die spätere Subjekt-Objekt-Trennung zum Beispiel als siegreicher Kampf mit dem Drachen vorgeprägt findet. Der Drache verkörpert jedoch auch die ‘Tücke des Objekts’, indem er sich in vielfältigen Formen verkörpert, zu denen auch der Ouroboros (Abb.1) ge-hört, unter anderem als Symbol der ewigen Wiederkehr oder des Kreislaufs vom Werden und Vergehen. Er findet sich auch in der Form von zwei Dra-chen, die sich gegenseitig verschlingen und gebären. Aus diesen werden zwei Fische und schließlich das Yin-Yang Symbol (Abb.1), das die eine Welt in ihrer eigentümlichen Verschlingung von Hellem und Dunklem zeigt. Beim Vergleich mit der Kreter-Paradoxie, in der Negation und Affirmation in einem logischen Widerspruch verbunden werden, sollte ein wichtiger Unter-schied nicht übersehen werden. In der Booleschen zweiwertigen Logik ergibt nicht nur die Aufeinanderfolge zweier Affirmationen, sondern auch diejenige zweier Negationen jeweils eine Affirmation. Diese Unsymmetrie ist weder im Yin-Yang-Symbol, wo die beiden Farben austauschbar sind, noch im Ouroboros aus zwei Drachen zu finden.

Abb.1. Ouroboros. (Aus W.Just, in Der Pauli-Jung-Dialog, siehe 7).Entstehung des Yin-Yang-Symbols aus dem Zwei-Drachen-Ouroboros. (Aus H.Gebelein, Alchemie, Diederichs, München 1991).

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Der berühmte Satz "Ich weiß, daß ich nichts weiß" sieht vordergründig aus wie die Kreter-Paradoxie; denn ich weiß ja etwas, wenn ich nichts weiß, näm-lich daß ich nichts weiß, was der Aussage des zweiten Halbsatzes wider-spricht. Dies ist schon den Skeptizisten der Schule des Pyrrhon von Elis (um 360-240 v.Chr.), des Vaters der Agnostiker, aufgefallen. Der wahre Agnostiker weiß nämlich weder, ob er etwas weiß, noch, ob er nichts weiß. Der Satz "Ich weiß, daß ich nichts weiß" kann jedoch auch im Sinne von Goethes Faust gedeutet werden, wo im Eingangsmonolog steht: "Und sehe, daß wir nichts wissen können, das will mir schier das Herz verbrennen." Die erste Satzhälfte hat hier die Bedeutung einer Einsicht, während in der zwei-ten Hälfte ein "Wissen" im Sinn des Hilbert-Zitats gemeint sein kann. Man bezeichnet Begriffe, die sich auf sich selbst anwenden lassen, auch als Begrif-fe zweiter Ordnung. Zum Beispiel kann ich lernen zu lernen und habe Be-wußtsein von meinem Bewußtsein. Oder ich verstehe, daß ich verstanden habe, z.B., daß hier das tertium non datur der Logik nicht gilt, da ich auch verstehen kann, daß ich nicht verstanden habe. Während im Zwei-Drachen-Ouroboros wie im Yin-Yang-Symbol auf eigentümliche Weise die Zweiheit mit der Einheit der Welt verknüpft wird, scheint der Ein-Drachen-Ouroboros eine auf sich selbst bezogene Einheit darzustellen. Doch indem er sich selbst verschlingt und gebiert und dabei in kontinuierlicher Bewegung in sich ruht, ist er dennoch ein Symbol für die Vereinigung von Gegensätzen, wie ja auch in der Kreter-Paradoxie die Ge-gensätze von Negation und Affirmation verknüpft werden. Man kann hier schon die Grenzen der klassischen Logik in der Welt der menschlichen Rea-lität erkennen.

5. Selbstbewußtsein und Selbsttäuschung

Die Fragen "Wo komme ich her, wer bin ich, wo gehe ich hin?" und "Existiere ich wirklich oder ist mein Ich eine Illusion?" gehören in allen menschlichen Kulturen zu den "letzten Fragen", die in jeder Generation neu gestellt und beantwortet oder auch nicht beantwortet werden. Die Entwick-lung einer Neurologie des Gehirns hat in zweierlei Hinsicht einen neuen Kontext für diese Fragen geschaffen. Zum einen hat seit Darwin das Para-

digma der Evolution zu einem neuen Geschichtsbewußtsein geführt. Das Gehirn des Menschen, das die "letzten Fragen" stellt, hat sich aus primitive-ren Gehirnen entwickelt, die diese Fragen nicht gestellt haben. Weiterhin besteht unter Neurologen die begründete Erwartung, daß neurale Korrelate höherer Bewußtseinszustände gefunden werden, die sich in naturwissen-schaftlichem Sinne verstehen lassen. Darunter wird meist eine Reduktion auf chemische und physikalische Gesetzmäßigkeiten verstanden bzw. der Nachweis, daß zur Erklärung des Selbstbewußtseins kein besonderes Etwas, zum Beispiel von der Art einer vis vitalis, notwendig ist. Allerdings kann verstehen auch in wissenschaftlichen Betrachtungen je nach Kontext ver-schieden verstanden werden. Sogar im gleichen Kontext können verschiedene Menschen unter einem augenscheinlich gleichen Sachverhalt etwas Verschie-denes verstehen, da er in den Tiefenschichten des Unbewußten eine jeweils andere Rolle spielen kann. Im Bild der individuellen Eigenwelt dient jedes neue Verständnis der inneren Absicherung und Konsolidierung von bereits Verstandenem - gleichsam als Mörtel, mit dem neue Bausteine in das indivi-duelle Weltgebäude eingebaut werden.

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Neben anderen hat sich besonders Antonio Damasio darum bemüht, philosophische Aspekte zu analysieren, die sich in bezug auf das Selbstbe-wußtsein aus dem neuen neurobiologischen Kontext ergeben. Er hat ein de-tailreiches Modell einer Evolutionsgeschichte des Selbstbewußtseins entwor-fen, in dem die Evolutionsvorteile eines sich selbst bewußten Organismus herausgearbeitet werden. In seinem Buch The Feeling of what Happens 10 beginnt er mit der Evolution der Zelle, deren selbststabilisierende Regelme-chanismen einen Evolutionsvorteil bilden. Das Gehirn als Netzwerk von Nervenzellen bildet eine Weiterentwicklung dieses Strukturprinzips, das Überleben begünstigt: "Brains permit the life urge to be regulated ever so effectively and, at some point in evolution, knowingly." Das Gehirn ist dabei nur ein Teil des Körpers; denn es geht ja um die Evolution des ganzen Or-ganismus in einer Art von Selbstorganisation, für die Maturana und Varela den Begriff Autopoiese geprägt haben11. In einem neueren Aufsatz12 schreibt

11 H.R.Maturana, F.J.Varela, Der Baum der Erkenntnis, Scherz-Verlag, Bern 1987

10 A.Damasio, The feeling of what happens, Vintage, London 2000

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Damasio: "Ein solcherart umgemünztes Selbst-Wissen fügt der sich entwik-kelnden Geistestätigkeit wichtige Informationen hinzu. Insbesondere stellt es innerhalb der Geistestätigkeit die Information dar, daß der Organismus der Eigner des mentalen Vorgangs ist. Es beantwortet spontan eine nie ge-stellte Frage: Wem geschieht dies? Auf diese Weise wird im Akt des Wissens ein Ich-Gefühl erzeugt, das die Grundlage der für bewußtes Leben charakte-ristischen subjektiven Perspektive bildet." Der Evolutionsvorteil des auf diese Weise spontan entstandenen Selbstbewußtseins wird von Damasio an Hand zahlreicher Beispiele illustriert. Schon in seinem früheren Buch Des-cartes Error hat Damasio die Cartesianische Spaltung in Körper und Geist als folgenschweren Fehler bezeichnet. Nach dem Evolutionsprinzip hat der homo sapiens als ein Ganzes überlebt, in dem der selbstbewußte Geist nur einen Teil der untereinander vielfältig vernetzten und überwiegend unbe-wußten Hirnaktivitäten ausmacht. Zweifellos befindet sich Damasio mit dieser Auffassung in der Nachbarschaft zur Philosophie Schopenhauers und Nietzsches. Unter den lebenden Philosophen steht ihm Thomas Metzinger besonders nahe, der auch die Implikationen der Selbstbezüglichkeit mit gro-ßem Scharfsinn analysiert13.

Besonders reizvoll erscheint es mir, in diesem Zusammenhang das Phänomen der Selbsttäuschung zu betrachten. Wörtlich genommen führt der Begriff Selbst-Täuschung zu einem logischen Paradox, wenn man vor-aussetzt, der Täuscher müsse wissen, daß der Getäuschte sich täuscht. Dann nämlich muß bei der Selbsttäuschung auch der Getäuschte wissen, daß er sich täuscht, was er aber als Getäuschter gerade nicht wissen darf. Ähnlich wie der wahre Agnostiker nicht wissen kann, ob er etwas weiß oder nichts weiß, muß man auch bei der Selbsttäuschung voraussetzen, daß dem ge-täuschten Selbst die eigentlichen Ursachen der Täuschung verborgen sind. Tatsächlich paßt das Phänomen der Selbsttäuschung hervorragend in das Bild von der Eigenwelt, die in jedem menschlichen Individuum existiert. Im Paradigma der Evolutionstheorie kann man mit Damasio argumentieren, daß die Existenz der Eigenwelt einen Evolutionsvorteil bildet. Dazu muß sie

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12 A.Damasio, in: Spektrum der Wissenschaft, Digest 2/2001, S.6 13 Th.Metzinger, Subjekt und Selbstmodell, Mentis, Paderborn 1999

zwar flexibel auf plötzliche Veränderungen der Umwelt reagieren können. Sie muß aber auch Mechanismen besitzen, die ihren Fortbestand sichern. Wird daher die Eigenwelt durch äußere Ereignisse oder auch durch eigene revolutionäre Gedanken in ihrer Existenz bedroht, so laufen weitgehend unbewußte Vorgänge zur Selbststabilisierung ab, die unter anderem auch Selbsttäuschungen implizieren können. Daß zumindest im gegenwärtigen Stadium der Hirnforschung Selbsttäuschungen der Hirnforscher nicht aus-zuschließen sind, ist ganz offensichtlich. Gerade das Selbstbewußtsein ist ja immer auch das eigene Bewußtsein des Forschers, das von ganz persönlichen unbewußten Wunschvorstellungen und Ängsten bestimmt wird. Man er-kennt dies leicht an der auffälligen Neigung zu Zukunftsprognosen, die das Gewünschte vorwegnehmen. So schreibt Damasio am Ende des zitierten Aufsatzes12; "Es ist unsinnig, über den künftigen Weg wissenschaftlicher Entdeckungen zu spekulieren. Trotzdem scheint sicher, daß sich bis 2050 so viel Wissen über biologische Phänomene ansammeln wird, daß die über-kommenen dualistischen Trennungen von Körper und Gehirn, Körper und Seele, Gehirn und Geist verschwinden werden." Im gleichen Heft endet ein kurzer Artikel von Francis Crick und Christof Koch14 mit dem Satz: "Das schwierige Problem des Bewußtseins mag dann in einem ganz neuen Licht erscheinen - oder vielleicht sogar wie von selbst verschwinden." Solche Sätze erinnern an das oben zitierte "Wir müssen wissen, wir werden wissen" von David Hilbert und man kann nach der Erfahrung mit den Principia Mathe-matica leicht vorhersagen, daß die mit Selbstbezüglichkeit gepaarte Selbst-täuschung die Erforschung des Selbstbewußtseins noch für lange Zeit be-gleiten wird.

Als Beispiel für die eigene Welt, in der jeder lebt, und in der man Selbsttäuschungen keineswegs nur als Mangel an aufgeklärtem Selbstver-ständnis sehen sollte, möchte ich meinen Namensvetter ‘Hans im Glück’ anführen und als besondere Pointe im Rahmen meiner Abschiedsvorlesung das Märchen als Bild eines glücklichen Alters zeichnen, in dem einer mit einem Goldklumpen auf der Schulter in den Ruhestand eintritt und am En-de mit leeren Händen bei seiner Mutter (natürlich der Mutter Erde) an- 14 Warum die Neurowissenschaft das Bewußtsein vielleicht doch erklären kann, loc. cit. S.15

kommt. Während Hans in den Augen seiner Mitmenschen ein Bild unüber-bietbarer Dummheit darbot, als er seinen Goldklumpen gegen ein Pferd, sein Pferd gegen eine Kuh, seine Kuh gegen ein Schwein, sein Schwein gegen eine Gans und am Ende diese gegen einen schadhaften Wetzstein und einen ganz gewöhnlichen Feldstein eintauschte, war er in seiner eigenen Welt von der ersten bis zur letzten Zeile des Märchens der "Hans im Glück". Als seine letzten Tauschobjekte in den Brunnen gefallen waren, heißt es dort: "Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freuden auf, kniete dann nieder und dankte Gott mit Tränen in den Augen, daß er ihm auch diese Gnade noch erwiesen und ihn auf eine so gute Art und, ohne daß er sich einen Vorwurf zu machen brauchte, von den schweren Steinen befreit hätte, die ihm allein noch hinderlich gewesen wären. 'So glücklich wie ich', rief er aus, 'gibt es keinen Menschen unter der Sonne.' Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun fort, bis er daheim bei seiner Mutter war." - Wer könnte glücklicher sein als ein Mensch, der in dieser Haltung sein Eigenheim gegen einen Platz im Altersheim eintauscht und am Ende seines Lebens mit leeren Händen, aber "mit leichtem Herzen und frei von aller Last" zuhause ankommt - er ist ja dann wirklich glücklich heimgegangen.

6. Bewußtseinsspaltung und Ich-Auflösung

Ein Selbst, das sich täuschen und das getäuscht werden kann, muß existieren. Doch die Existenz eines einheitlichen Selbst bedarf zunächst einer konsensfähigen Begriffsbestimmung, die es nicht gibt. Damasio unter-scheidet sogar deren drei, core self, proto-self und autobiographical self, von denen nur das letztere mit höheren Bewußtseinszuständen (extended cons-ciousness ) verknüpft ist.10 Vor einer weiteren Erörterung möchte ich kurz einige Phänomene schildern, die zum Teil erst durch die neuere Hirnfor-schung ins allgemeine Bewußtsein gelangt sind.

Jede Mutter, die mehr als ein Kind geboren hat, weiß, daß sich ein Säugling schon mit dem ersten Schrei als unverwechselbare Persönlichkeit präsentiert. Ein Selbstbewußtsein hat dieses Individuum noch nicht. Erst gegen Ende des zweiten Lebensjahres entsteht mit dem Ausdruck eines

selbstbewußten Willens auch ein Ich-Bewußtsein, das zusammen mit dem sich gleichzeitig entwickelnden episodischen Gedächtnis beginnt, eine eigene Identität in einer eigenen Welt zu konstruieren. Spätestens während der Adoleszenz spüren viele Menschen, daß sich ihnen mehrere verschiedene Identitäten aufdrängen. In der Deutschstunde wird vielleicht Goethes Faust mit seinen "Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust." behandelt. Daß sich bei normalen Menschen eine einheitliche Identität mit einem zeitlich stabi-len Ich-Bewußtsein herausbildet, ist nicht selbstverständlich. So mancher fragt sich nach einer schweren persönlichen Krise, ob er noch der gleiche ist wie vorher. In vielen Kulturen gibt es feste Riten, die eine "Wiedergeburt" zu einem neuen Menschen begleiten. Obwohl jeder dabei unverwechselbar der-selbe bleibt, erweitert sich das Bewußtsein der eigenen Identität.

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Als krankhaft werden Störungen des Ich-Bewußtseins angesehen, die zu einer Bewußtseinsspaltung führen, in der das Ich zwischen verschiedenen Identitäten hin und her wechselt (Multiple Personality Disorder). Ein Klas-siker dieser Bewußtseinsspaltung ist die Erzählung "Dr.Jekyll and Mr.Hyde" von Robert Louis Stevenson. Hier bewohnen zwei völlig verschiedene Per-sönlichkeiten denselben Körper. Zur wechselseitigen Verwandlung bemüht Stevenson eine Droge, vielleicht um im 19. Jahrhundert dem Arzt Dr.Jekyll die Schuld an den Untaten des Mr.Hyde zuweisen zu können. Heute sind zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen Verwandlungsdrogen keine Rolle spielen. Häufig entsteht die Persönlichkeitsspaltung in früher Kindheit als Folge von sexuellem Mißbrauch. Offenbar hilft hier die Ausbildung einer zweiten Identität (und danach oft weiterer Identitäten) bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse. Dabei unterscheiden sich die verschiedenen Per-sönlichkeiten in einem Körper nicht nur in ihrem geistigen Bewußtsein. Es gibt Fälle, in denen das eine Selbst kurzsichtig ist oder auf andere Stoffe allergisch reagiert als das zweite Selbst15. Die Frage, welches Selbst etwa für Straftaten zur Verantwortung gezogen werden soll, vermeidet man vor Ge-richt durch Einweisung der natürlichen Person in eine Klinik.

15 V.S. Ramachandran, Phantoms in the Brain, Fourth Estate Paperbacks, London 1999. (Deutsch: Die blinde Frau die sehen kann, Rohwohlt 2000.)

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Wenn man unter Schizophrenie ganz allgemein eine gestörte Bezie-hung zur Realität versteht, sollte man sich fragen, was in diesem Zusam-menhang unter Realität zu verstehen ist. Jede Selbstbeobachtung impliziert ja schon eine Spaltung in ein Subjekt und ein Objekt der Beobachtung. Kann ich diesem Objekt eine Realität zusprechen? Das Problem wird noch deutli-cher bei der Erfahrung, daß ich mich etwas sagen höre, das nicht zu mir paßt, meinem Verständnis der Identität mit mir selbst widerspricht. Das kann so weit gehen, daß einer sich nicht nur fragt, wer in ihm etwas gesagt hat, sondern wer etwas getan hat, wer etwa soeben jemanden vergewaltigt oder erwürgt hat. Solange dergleichen nur in Gedanken geschieht, in der Innenwelt des Betreffenden, muß noch kein Fall von Schizophrenie vorlie-gen. Die Grenze zwischen gedachter und tatsächlicher Realität kann jedoch auf dem Weg zur Krankheit immer verschwommener werden, bis sie sich völlig auflöst. Damit muß noch keine Ich-Auflösung verbunden sein. Doch das Ich verliert seinen Realitätsbezug, es kann nicht mehr unterscheiden zwischen gedachten und echten Erlebnissen und Handlungen, die oft einem Es zugeschrieben werden, das mit dem Ich nicht mehr identisch ist. Wo die Grenze zwischen krankhaft verfälschter und unverfälschter Realität liegt, entscheiden in einer psychiatrischen Klinik die Ärzte, im Zweifel der Chef. Eine gewisse Willkür ist dabei nicht zu vermeiden. Der Begriff einer objekti-ven Realität scheint hier völlig fehl am Platze, obwohl es in einfachen Fällen Möglichkeiten zu einer eindeutigen Entscheidung geben kann, ob eine be-stimmte Wahrnehmungsstörung vorliegt oder nicht.

Neben der zu "multiplen Persönlichkeiten" führenden Bewußtseins-spaltung gibt es verschiedene andere Bewußtseins- bzw. Persönlichkeitsstö-rungen, die unter dem Sammelbegriff Schizophrenie zusammengefaßt wer-den. Dazu gehören Wahnvorstellungen, Halluzinationen und Störungen der Ich-Identität, die häufig von dem Betroffenen nicht als krankhaft empfunden werden. Im Grenzbereich zur Schizophrenie findet man Genies, Heilige, Menschen mit ausgeprägtem religiösem oder politischem Sendungsbewußt-sein, die sich als Medium eines Höheren empfinden, das sich durch sie hin-durch der Menschheit zuwendet. Unter Umständen betrachten derartige Menschen ihre Erste-Person-Perspektive als Ausdruck des Fleisches, das von dem Geist in ihnen überwunden wird, der ihnen Zugang zu einem höheren kosmischen Bewußtsein gewährt.

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Das Phänomen der Ich-Auflösung läßt sich an Alzheimer-Patienten beobachten und es wird seit Jahren mit allen der modernen Hirnforschung zur Verfügung stehenden Mitteln studiert. Man kann sich etwa einen Pati-enten Ronald Reagan vorstellen, der sich noch erkennbar freut, weil ihm eine Frau mit ihrer Hand liebevoll über seine noch immer nicht grauen Haare streicht. Aber er hat vergessen, daß dies seine Frau Nancy ist, die Jahrzehnte an seiner Seite verbracht hat. Er hat auch vergessen, daß er Präsident der Vereinigten Staaten war. Schließlich vergißt er alles, was früher seine Identi-tät bestimmt und was er als Ich-Bewußtsein verstanden hat. Alles, was er erlebt und empfindet, vergißt er in wenigen Minuten. Zwar ist er noch im-mer für alle Besucher die unverwechselbare Persönlichkeit des Ronald Rea-gan. Doch ein Selbstbewußtsein hat er so wenig wie ein Säugling nach seiner Geburt. Die in seinen ersten Lebensjahren entstandene Eigenwelt hat sich aufgelöst. Ob sie in Form einer unsterblichen Seele weiterlebt und zu wel-chem Zeitpunkt diese seinen Körper verläßt, läßt sich mit keinem diagnosti-schen Verfahren der heutigen Medizin feststellen. Der Begriff der Seele war im alten Israel mit dem Odem (hebr.: ruah)Gottes verbunden, der, einem Erdenkloß eingehaucht, denselben zum Leben erweckt und der mit dem letz-ten Atemzug zu Gott zurückkehrt. Daneben entstand im Orient die Vorstel-lung von einer unsterblichen Seele, die nach dem Tod im Himmel, in der Hölle oder auf dem Weg einer Seelenwanderung in einem anderen Lebewe-sen weiterlebt. Im folgenden möchte ich den Begriff der Eigenwelt auf ein Ich beschränken, dessen Existenz wenigstens im Prinzip mit neurologischen Verfahren feststellbar ist. Ein zwingender Grund für eine derartige Be-schränkung läßt sich selbstverständlich nicht angeben.

7. Das Maß aller Dinge

In der abendländischen Geistesgeschichte lassen sich einige wichtige Strömungen in ihren Wurzeln bis zu den Vorsokratikern zurückverfolgen. Die bei Pythagoras (bzw. den Pythagoräern) beginnende Linie haben wir schon betrachtet. Sein Verständnis der Mathematik als Weg zur Wahrheit und der von Parmenides eingeführte Begriff eines unveränderlichen Seins bilden die Grundpfeiler der Platonschen Ideenlehre, die sich durch das ganze Altertum bis zu dem von Plotin (205 - 270 n.Chr.) begründeten Neuplato-

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nismus weiterentwickelte und von bedeutendem Einfluß auf das frühe Chri-stentum (Augustinus) war. In der Entwicklung der Naturwissenschaften haben besonders die Elemente des Euklid eine entscheidende Rolle gespielt. Kopernikus, Kepler und Galilei haben die Harmonie der Welt des Pythago-ras mit der von Euklid vollendeten antiken Mathematik als Offenbarung Gottes in der Natur verstanden. So stellt Galilei der Bibel das in der Sprache der Mathematik geschriebene Buch der Natur gegenüber. Im 20. Jahrhundert haben besonders Einstein, Bohr, Heisenberg und C.F. von Weizsäcker die Wurzeln ihres Verständnisses der modernen Physik bei Pythagoras, Parme-nides und Platon gefunden. Einsteins Gott, der nicht würfelt, ist der Gott des Wahren, Schönen und Guten, dessen Verwandtschaft mit Platons ober-ster Idee des Guten nicht zu übersehen ist. Auch heute fasziniert der Traum von der Einheit des Universums (Steven Weinberg) noch viele, die darauf hoffen, daß die Weiterentwicklung der Hochenergiephysik und der Astro-physik die einheitliche mathematische Struktur des Kosmos erkennen lassen, an die der legendäre Pythagoras als erster geglaubt hat.

Dieser Sicht der Dinge möchte ich eine Weltanschauung gegenüber-stellen, die vielleicht bei den dunklen, fast noch mythischen Sätzen Heraklits beginnt: "Alles fließt, nichts besteht." - "Wir können nicht zweimal in den-selben Fluß steigen." Später setzt Demokrit seine Atome in den leeren Raum, in das von den Platonikern als undenkbar abgelehnte Vakuum. Auch die bei Platon unsterbliche Seele besteht bei Demokrit aus Atomen, die sich nach dem Tode zerstreuen. Protagoras schließlich wird zum Begründer des Agnostizismus mit dem Satz: "Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen, weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind." Noch folgenreicher ist sein Homo-mensura-Satz "Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind" , dem Platon (in den Gesetzen) sein "Gott ist das Maß aller Dinge" gegen-überstellt. Doch Protagoras läßt die Welt der Götter, über die er ja als Phi-losoph nichts wissen kann, bestehen16. Sein Homo-mensura-Satz erkennt also die Grenzen einer epistemisch orientierten Philosophie (als Lehre von dem, was man wissen kann) durchaus an, wohingegen Platon diese über-

schreitet. In Politeia bemängelt er, daß Homer und andere den Göttern Ei-genschaften andichten, die er nicht akzeptieren kann. Da in Platons Ideen-lehre die höchste Idee die Idee des Guten ist, kann ein Gott nur gute Eigen-schaften haben. Der Gedanke, daß er ja selber diese Ideenlehre erfunden haben könnte und damit auch Gott an seinen eigenen Ideen mißt, ist ihm fremd. Dagegen glauben die Skeptiker, die in Pyrrhon von Elis ihren geisti-gen Vater sehen, man könne dem ewigen Hin und Her des Zweifels nur durch die Unerschütterlichkeit der Ataraxie entgehen, einer Haltung, in der man sich jeder Meinung enthält. In dem Streit zwischen den philosophi-schen Schulen, besonders den Stoikern und Epikureern, wurden letztere zusammen mit den Sophisten und Pyrrhonisten als gottlos und moralisch verwerflich verdammt. Ihre Bekämpfung, die mit der Vernichtung ihrer Schriften einherging, hat sich über den Ausgang des Mittelalters hinaus bis in die Neuzeit fortgesetzt.

16 G. Romeyer-Dherbey, in: J. Brunschwig, G. Lloyd (Hrsg.), Das Wissen der Griechen, S. 663, Wilhelm Fink Verlag, München 2000

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Erst die britischen Empiristen (Locke, Berkeley, Hume) haben wie-der begonnen, ähnliche Gedanken wie Protagoras zu äußern. Auch Kant ver-tritt die Auffassung, daß das menschliche Denken grundsätzlich in der Welt der "Erscheinungen" befangen ist und daß man von dem "Ding an sich" hin-ter der Erscheinung empirisch nichts wissen kann. Selbst "synthetische Ur-teile a priori" (Raum, Zeit, Kausalität etc.), die "notwendige Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungen" sind, gehören bei ihm zur subjektiven Erkenntnis innerhalb der Welt der Erscheinungen. Allerdings glaubt er, daß man an der Existenz von Dingen an sich nicht zweifeln kann, "denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint." Dies ist ein Kausalschluß von einer Wirkung (Erschei-nung) auf eine Ursache (Ding an sich). Da die Kausalität aber nach Kants eigener Lehre nur für Erscheinungen gilt, ist sein Kausalschluß auf die Exi-stenz von "Dingen an sich" nicht begründet, wie ihm später von F.H.Jacobi und anderen vorgehalten wurde.17

Arthur Schopenhauer bleibt in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung innerhalb der Grenzen des menschlichen Horizonts. Er

17 H.J.Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, W.Kohlhammer, Stuttgart 1990 (Fischer Tb)

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Wahrscheinlich hat Jean Piaget als erster das Evolutionsprinzip zum Ausgangspunkt einer neuen genetischen Erkenntnistheorie gemacht und ist damit zur Vaterfigur des Konstruktivismus geworden. In seinem Buch Radi-kaler Konstruktivismus3 beschreibt Ernst von Glasersfeld ausführlich, wie Piaget "die Konstruktion des Reellen beim Kinde" 2 analysiert. Er beginnt mit der Entwicklung des Objektbegriffs und seiner "Re-Präsentation" im Bewußtsein und kommt über die Objekt-Permanenz zu weiteren Begriffen wie Identität, Wandel, Raum, Zeit etc. Die Ontogenese des Wissens erfolgt also schrittweise und parallel zur Entwicklung der Methoden des Denkens. Es ist bei kleinen Kindern gut zu beobachten, wie sie offenbar unreflektiert grammatische Regeln (und damit deren Logik) erfassen und anwenden, z.B., an Sätzen wie "Ich habe geesst" (statt gegessen). Beim Entstehen einer Ei-genwelt des Kindes zeigt sich besonders in den Frühstadien, wie die Wirk-lichkeit sich fortwährend wandelt und der Wandel solange nicht wahrge-nommen wird, bis es zum Erlebnis der ersten großen Enttäuschungen kommt, in dem etwa, wie schon oben erwähnt, hinter der Wirklichkeit des Weihnachtsmannes der Onkel Franz mit umgehängtem Bart entdeckt wird. Danach beginnt die Suche nach einer nicht mehr hinterfragbaren objektiven Realität. Der Gedanke, daß sich die phylogenetische Entwicklung des Den-kens in der Spezies homo sapiens in der Kindheit jedes Menschen (wenn

auch unter anderen Randbedingungen) wiederholt, führt in der Umkehrung zu der genetischen Erkenntnistheorie der Konstruktivisten. Aus dem Evolu-tionsprinzip folgt, daß die Wirklichkeit des Menschen eine optimal angepaß-te Wirklichkeit ist, die nicht einer wie auch immer gearteten Wahrheit ent-sprechen muß. Die Sehnsucht nach einer absolut zuverlässigen Wahrheit hat wohl eher mit den tiefen Erschütterungen zu tun, die in menschlichen Ge-sellschaften immer wieder erfahren wurden, wenn eine in Generationen ge-wachsene Wirklichkeit, auf die man sich glaubte verlassen zu können, plötz-lich durch Naturkatastrophen, Seuchen oder Kriege zerstört wurde. Tatsäch-lich ist es sehr erstaunlich, wie hartnäckig sich auch nach Darwin neben der virtuellen Wirklichkeit im Menschen die Vorstellung einer zumindest hypo-thetischen Realität außerhalb des Menschen gehalten hat.

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sagt, wenn es überhaupt eine Wahrheit a priori gebe, dann diejenige, daß die Welt in der Vorstellung des Menschen existiere. Bei Schopenhauer ist jedoch die entscheidende Triebkraft, der letztlich auch die Vorstellungen gehor-chen, der Wille, insbesondere der Wille zum Leben. Er impliziert damit ei-nen Realitätsbegriff, der den Satz des Protagoras wesentlich verallgemeinert. Zwar ist der Mensch das Maß aller Dinge, aber der Maßstab liegt verborgen im Unbewußten des Menschen, das dem Bewußtsein je nach den Bedürfnis-sen des Willens verschiedene Maße in die Hand geben kann. Wenn man den Willen als Überlebenswillen interpretiert, ist man schon sehr nahe bei dem survival of the fittest, mit dem Charles Darwin ab 1859 einen grundlegen-den Wandel auch in der Philosophiegeschichte eingeleitet hat. Darwin war Naturforscher, und er hat sein Evolutionsprinzip mit Beobachtungen in der Natur begründet, die sich auf diese Weise zwanglos beschreiben lassen. Tat-sächlich wurde es von vielen als Naturgesetz verstanden, das eine objektive Realität beschreibt.

Die Idee eines hypothetischen Realismus wurde besonders nach-drücklich von Konrad Lorenz verfochten, der sich dabei in Übereinstim-mung mit der Philosophie von Karl Popper sah. Wie wenig hypothetisch seine Realität aussah, zeigt sich z.B. an folgendem Zitat:4 "Ich verstehe nicht, wie man daran zweifeln kann, daß hinter den Phänomenen, die von so vielen unabhängig voneinander arbeitenden Apparaten wie von verläßlichen unabhängigen Zeugen in übereinstimmender Weise gemeldet werden, tat-sächlich dieselben außersubjektiven Realitäten stecken!" - Tatsächlich kann man dieses Verständnis von Realität als Paradigma ansehen, das zur Zeit von allen führenden Biologen, die sich mit der Evolution des Menschen und der Entwicklung des Gehirns und seiner Funktionen beschäftigen, akzeptiert wird. Besonders deutlich wird dies in dem Buch von Gerhard Roth Das Ge-hirn und seine Wirklichkeit 18 erkennbar. Darin führt Roth auf der Basis einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie den Begriff einer Wirklichkeit ein, in der das Ich als Zentrum Teil dieser Wirklichkeit und damit wie diese ein Konstrukt des Gehirns ist. Hier unterscheidet er sich nicht wesentlich von Konstruktivisten wie Ernst von Glasersfeld.3 Er vertritt jedoch zusätz-lich die Überzeugung, daß man vom wirklichen Gehirn ein reales Gehirn unterscheiden muß, welches die Wirklichkeit hervorbringt. Er begründet die Notwendigkeit dieser Unterscheidung (in Kap.13) damit, daß sonst ein

18 G.Roth Das Gehirn und seine Wirklichkeit , Suhrkamp 1996

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logischer Widerspruch unvermeidlich sei: "Würde ich beide Gehirne mitein-ander identifizieren, so käme ich zu der Schlußfolgerung, daß mein Gehirn sich als echte Teilmenge enthält. Ich wäre nämlich dann zugleich in mir und außer mir, und der Operationssaal (in dem in Roths Gedankenexperiment das geöffnete Gehirn sich selbst beim Denken beobachten kann), in dem ich mich dann befinde, wäre zugleich in meinem Gehirn, und das Gehirn in dem Operationssaal." Er vermeidet also die Kreter-Paradoxie durch das Postulat einer Subjekt-Objekt-Trennung in eine subjektive Wirklichkeit und eine objektive Realität. Dies erinnert wieder an die Principia Mathematica von Whitehead und Russel, wo versucht wurde, vergeblich, wie Gödel später nachwies, das Kreter-Paradoxon durch ein willkürliches Verbot auszuschlie-ßen. Doch Gerhard Roth bekennt sich auch in seinem neuen Buch19 zu der Existenz einer "hypothetischen bewußtseinsunabhängigen Realität".

Während fast alle Biologen fest auf dem Boden der hypothetischen Realität von Konrad Lorenz stehen, gibt es unter vielen Physikern einen differenzierteren Umgang mit dem Realitätsbegriff. Zweifellos hängt dies mit dem Zusammenbruch des klassischen Weltbilds der Physik im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts zusammen. Während im 19. Jahrhundert die Existenz eines Äthers als Träger der elektromagnetischen Wellen denknot-wendig schien, mußte man jetzt akzeptieren, daß Felder im Vakuum existie-ren können. Die in einer nichteuklidischen Geometrie formulierten relativi-stischen Feldgleichungen eröffneten neue Denkmöglichkeiten, die zur Vor-stellung eines endlichen, aber unbegrenzten Kosmos in einer vierdimensiona-len Raumzeit führten. Noch dramatischer gestaltete sich der Einbau von Quantenphänomenen in ein neu zu schaffendes physikalisches Weltbild. Aus Experimenten mit Elektronenstrahlen folgte zweifelsfrei, daß Elektronen sowohl Eigenschaften von Wellen als auch von Teilchen haben mußten. Dar-aus schien zu folgen, daß das Elektron sowohl Welle als auch Teilchen ist, was zu jahrzehntelangen Diskussionen über den Realitätsbegriff führte, die zumindest in der Physik heute der Vergangenheit angehören. Man hat sich inzwischen daran gewöhnt, daß das Elektron weder eine Welle noch ein Teilchen ist. Die "Wellennatur" des Elektrons ist der Ausdruck von Quan-

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19 G.Roth, Fühlen, Denken, Handeln , Suhrkamp 2001

tenkorrelationen, die in anderen Experimenten noch atemberaubendere Kon-sequenzen haben. Hier ist besonders ein Experiment zu nennen, das 1935 von Einstein, Podolski und Rosen (EPR) vorgeschlagen wurde mit dem Ziel, die Unvollständigkeit der Quantentheorie zu beweisen, weil das nach der Theorie zu erwartende Ergebnis nicht mit Einsteins Vorstellung der objektiven Realität übereinstimmte. Einstein forderte:20 "Aber das, was wir als existierend ('wirklich') denken, soll irgendwie zeit-räumlich lokalisiert sein. D.h., das Reale in einem Raumteil A soll (in der Theorie) irgendwie unabhängig 'existieren' von dem, was in einem anderen Raumteil B als real gedacht wird." Dem widersprechen die Ergebnisse des EPR-Experiments, das seither in verschiedenen Varianten realisiert wurde, und das sogar die Grundlage zukünftiger Anwendungen in einer abhörsicheren Nachrichten-übertragung (Quantenkryptographie) bildet. Mit diesem Ziel sind schon optische Zwei-Quanten-Zustände in Lichtleitfasern erzeugt worden, die in voller Übereinstimmung mit der Quantentheorie "EPR-Korrelationen" über Distanzen von vielen Kilometern enthalten. Diese Experimente lassen sich nur verstehen, wenn man den klassischen Begriff einer objektiven Realität, wie Einstein sie verstanden hat, aufgibt.

Ein heute von vielen Physikern akzeptierter Realitätsbegriff impli-ziert zunächst, daß eine physikalische Theorie lediglich ein Modell der Wirklichkeit beschreibt und unter Umständen andere Modelle möglich sind, die ebenfalls in Übereinstimmung mit der experimentellen Erfahrung sind. Bei der Behandlung von Quantensystemen kann durch einen Heisenberg-Schnitt 7 ein zu beobachtendes System von den Meßapparaturen (den Beob-achtungsmitteln) abgetrennt werden. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit zur Unterscheidung zwischen einer ontischen Realität, die das noch unge-störte zu beobachtende System betrifft, und einer epistemischen Realität, die durch Experimente aus diesem System erzeugt wird.21 In der ontischen Realität gibt es Quantenkorrelationen (Kohärenzen, Entanglements), die im Rahmen klassischer Realitätsbegriffe nicht zu fassen sind. Zum Beispiel gibt

20 Albert Einstein Max Born Briefwechsel 1916 - 1955 , Nymphenburger Verlag, München 1969, S. 218 21 Z.B.: H.Atmanspacher, F.Kronz, in: H.Atmanspacher et al. (Hrsg,), On Quanta, Mind and Matter, Kluver, Dordrecht 1999 und die dort zitierte Literatur.

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es in dem oben betrachteten Zwei-Photonen-Zustand zunächst keine zwei Photonen, sondern diese entstehen erst im Experiment und sie haben dann diejenigen Eigenschaften (z.B. einen bestimmten Polarisationsdrehsinn), die in der experimentellen Anordnung gemessen werden können. Ähnlich läßt sich das scheinbare Paradoxon des sogenannten "Welle-Teilchen-Dualismus" beschreiben. In dem ungestörten Elektronenstrahl gibt es weder Wellen noch Teilchen. Erst im Interferometer werden "Wellen" und im Teilchendetektor "Teilchen" erzeugt. Das heißt, durch das Experiment entsteht eine dem Ex-perimentator zugängliche epistemische Realität, in der es tatsächlich "Wel-len" und "Teilchen" gibt. In einem wohlverstandenen Sinne kann man noch immer von einem "Welle-Teilchen-Dualismus" sprechen, der das Tertium non datur der zweiwertigen Logik nicht enthält.

Die ontische Realität der Quantenphysik kann auch als Denkmodell für die Verbindung potentieller Eigenschaften innerhalb einer gedachten holistischen Welt dienen, in welcher der Cartesische Schnitt zwischen Geist und Materie noch nicht vollzogen wurde. Es gibt Versuche, diese ontische Realität mathematisch zu modellieren und zu untersuchen, welche überprüf-baren Folgen aus einer bestimmten Spaltung resultieren.22 In einem Aufsatz Über dunkle Aspekte der Naturwissenschaft 7 hat Hans Primas die Cartesi-sche Unterscheidung der res cogitans von der res extensa als "primordiale Symmetriebrechung" bezeichnet, in der zum Zwecke der Erkenntnis die eine Welt gespalten wird: "Bewußtwerdung bedeutet demnach nicht Trennung sondern Erschaffung und Veränderung von Subjekt und Objekt. ... Des-cartes hat die res extensa nicht gefunden sondern gemacht." Demnach ist die objektive Realität der Natur keine von Menschen unabhängige Wirklichkeit, sondern ein Konstrukt, von Menschen geschaffen in Verfolgung des alten Ziels, sich "die Welt untertan" zu machen und zu beherrschen.

8. Grenzen menschlicher Logik

Wenn wir irgendein komplexes System verstehen wollen, suchen wir zuerst nach logischen Zusammenhängen, nach Strukturen, die uns bekannt

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22 H.Atmanspacher. "Mind and matter as asymptotically disjoint, inequivalent representa-tions with broken time-reversal symmetry." (im Druck)

und vertraut sind, die eine Reduktion auf einfachere, besser überschaubare Strukturen zulassen. Manchmal tasten wir uns in verschiedenen Richtungen voran, um etwas Begreifbares zu finden. Tatsächlich folgen wir uralten Grundmustern menschlichen Verhaltens, nach denen schon unsre frühesten Vorfahren in eine unbekannte vielleicht bedrohliche Landschaft eingedrun-gen sind. Überschauen, begreifen, gedanklich bewältigen, das waren damals Überlebensstrategien, in denen Fähigkeiten, die wir heute als logisches Den-ken bezeichnen, sich entwickelt haben.

Heute ist es nicht mehr das unbekannte Land, das wir einnehmen und besiedeln wollen, sondern das ganze Universum, mit allem, was darinnen ist. Die Methoden des logischen Denkens haben sich im Laufe der Zeit im-mer weiter verfeinert. Während über viele Jahrhunderte Logik einfach die Logik des Aristoteles war, gibt es heute nicht nur innerhalb der Philosophie verschiedene Ausdeutungen dieses Begriffs, sondern auch Mathematiker und Physiker verstehen darunter jeweils etwas Verschiedenes. C.F. von Weizsä-cker hat in Zeit und Wissen,23 seinem letzten großen "Kreisgang" durch den "Garten des Menschlichen"5 mehrere hundert Seiten der Logik gewidmet, wo er unter verschiedenen Gesichtspunkten ausführt, daß "sowohl zwischen der Logik und den Wissenschaften wie zwischen der Mathematik und den empi-rischen Wissenschaften ein Verhältnis gegenseitiger methodischer Abhän-gigkeit besteht."24 Die Quintessenz seiner Ansichten hat er in vier Thesen formuliert:25 " 1. Logik ist die Mathematik von Wahrheit und Falschheit. 2. Mathematik ist die Theorie der Strukturen. 3. Theorie ist die Kunst des Wahren und Falschen. 4. Kunst ist die Wahrnehmung von Gestalten durch die Schaffung von Gestalten." Seine Überlegungen zu den Grundlagen der Quantentheorie haben zu einer "zeitlichen Logik" geführt, die u.a. berück-sichtigt, daß "zeitliche Aussagen" wie "es regnet" je nach Situation wahr oder falsch sein können und die jeweilige Situation sich mit der Zeit ändert. Da-zu kommt, daß ja auch das logische Denken in der Zeit geschieht, eine Tat-sache, die in der Booleschen zweiwertigen Logik unberücksichtigt bleibt. Bei

23 loc. cit. (Fußnote 9) 24 loc. cit. S. 119 25 loc. cit. S. 174, S. 241.

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dieser formalen Logik handelt es sich um eine mathematische Struktur (dis-tributiver Verband), in der Untermengen (bzw. Elemente) einer Menge durch bestimmte Relationen miteinender verknüpft werden. Welche Bedeu-tungen den Untermengen zugeordnet werden, ist für den logischen Kalkül irrelevant. Auch die Begriffe wahr und falsch haben lediglich eine relationale Bedeutung. (z.B.: Wenn A wahr, folgt B wahr oder nicht-B wahr.)

Untersuchungen über die Grundlagen der Mathematik, wie sie seit Ende des 19. Jahrhunderts von Mathematikern und Philosophen (G. Frege, B. Russel, K. Gödel, P. Lorenzen u.a.) unternommen wurden, haben nicht nur die Basis der mathematischen Wahrheit erschüttert, sondern auch die Logik hinterfragt und problematisiert. Bei der Anwendung der Logik auf sich selbst zeigen sich wieder die Probleme der Selbstbezüglichkeit, die in Kap. 4 angesprochen wurden. L. Wittgenstein hat die Logik als Teil der menschlichen Sprache erkannt und damit die Tür zu einem wichtigen Zweig der Sprachphilosophie geöffnet, die ihrerseits den Begriff einer neu verstan-denen Logik beeinflußt hat. Schon an der Wende zum 20. Jahrhundert hatte C.S. Peirce ein verändertes Logikverständnis eingeführt. Bei ihm wird etwa neben der Deduktion und der Induktion die Abduktion als neue Art logi-schen Schlußfolgerns definiert, die aus dem Horizont beliebiger Gedanken eine sinnvolle Hypothese hervorruft, die dann durch Deduktion aus wahren Aussagen bewiesen oder widerlegt werden kann. An der TH Darmstadt wird von Rudolf Wille und Mitarbeitern seit Jahren das Projekt einer "Allgemei-nen Mathematik" verfolgt, in dem auch kommunikative (intersubjektive) Aspekte einer an Peirce orientierten Logik untersucht werden, die zu einer neuen Analyse des mathematischen Denkens und seiner Anwendung in pri-mär nichtmathematischen Bereichen führen26. Im folgenden werde ich den Begriff Logik in seiner klassischen Bedeutung verwenden. Die Logik ist da-nach eine Methode, aus wahren Aussagen andere wahre Aussagen abzuleiten bzw. zu entscheiden, ob eine (hypothetische) Aussage wahr oder falsch ist. In diesem Sinne kann man auch fragen, ob die Welt in ihrer Struktur grund-sätzlich logisch kohärent ist, wie es bei der Suche nach einer "Weltformel" oder einer "Theorie für Alles" unterstellt wird. 26 R.Wille, in: K.Lengnink et al. (Hrsg), Mathematik und Mensch, S.141, Verlag Allgemei-ne Wissenschaft, Mühltal 2001

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Wer als gebildeter Laie versucht, die Fortschritte der Astrophysik in der Zeitung zu verfolgen, gewinnt den Eindruck, ein gigantisches Puzzle-Spiel zu beobachten. Die Teile dieses Puzzles stammen aus Daten, die mit Hilfe von "Fernrohren" gesammelt und durch weitere physikalische Geräte (Spektrometer etc.) charakterisiert werden. Nach Spielregeln, über die größ-tenteils Einigkeit besteht, soll aus diesen Teilen eine logisch konsistente Struktur gebildet werden, die so weit wie möglich in Übereinstimmung mit den derzeit bekannten physikalischen Gesetzen ist. Unbestreitbar hat es in diesem Spiel bisher spektakuläre Erfolge gegeben. Dazu gehört die 1967 entdeckte kosmische Hintergrundstrahlung, deren Spektrum mit höchster Präzision dem Planckschen Strahlungsgesetz gehorcht, und deren Tempera-tur von 2.7 K der Rotverschiebung in einem expandierenden Universum entspricht, das vor etwa 15 Milliarden Jahren eine Temperatur im Bereich von Milliarden Kelvin hatte. Damit wurde die Hintergrundstrahlung zu ei-ner der stärksten Stützen der Urknall-Hypothese. Darüber hinaus bestätigt sie die Annahme, daß seit dem Urknall die gleichen physikalischen Gesetze gelten. Seit 1967 wurde jedoch die zunächst übersehene winzige Anisotropie (∼ 0.01 %) der Hintergrundstrahlung mit immer größerer Genauigkeit ver-messen, und damit wurden neue Teile des Puzzle-Spiels erzeugt, die z.Zt. noch nicht in ein konsistentes Bild passen wollen. Überhaupt unterscheidet sich das Kosmologie-Puzzle von den üblichen Spielzeug-Puzzles dadurch, daß immer neue Teile dazukommen und keineswegs sicher ist, ob eine Lö-sung existiert, oder ob es vielleicht sogar zu viele Lösungen gibt, zwischen denen keine konsensfähige Entscheidung getroffen werden kann. Doch selbst wenn es nur eine Lösung gäbe, könnte sie uns eine "optische Täu-schung" zeigen, ein verzerrtes Bild, das eher den Schatten in Platons Höh-lengleichnis als einer wie auch immer gearteten Realität gleicht. Der von Konrad Lorenz propagierte Glaube, daß das menschliche Gehirn in seiner Anpassung an die Umwelt sich auch deren Struktur angepaßt habe, die dem-zufolge den Gesetzen der Logik gehorchen müsse, ist ja in der Kosmologie noch weniger begründet als auf der Erde, wo die Evolution des Lebens statt-gefunden hat. Schon hier ist dieser Schluß keineswegs zwingend. Zum einen gibt es noch keine logisch nachvollziehbaren Modelle der Evolution komple-xer Organe wie des Gehirns. Außerdem ist es möglich, daß der Mensch nur eine logische Substruktur einer überlogischen Welt wahrnimmt und damit

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so gut leben kann, daß eine weitergehende Anpassung des Gehirns keinen Überlebensvorteil bringt.

Der Gedanke, daß jenseits des Horizonts menschlichen Begreifens eine höhere, dem Menschen unzugängliche Welt existiert, war im Altertum weit verbreitet. Zum Beispiel lesen wir beim Propheten Jesaja (55,8-9): "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht mei-ne Wege, spricht der Herr; sondern soviel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege und meine Gedanken denn eure Gedanken." - Zur Unerforschlichkeit Gottes gehört in den moni-stischen Religionen, daß er auch all die Widersprüche umfaßt, die dem Men-schen zum Wohl oder Wehe widerfahren. So heißt es in einem Fragment des Heraklit: "Gott ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Überfluß und Hunger." - Vor diesem Hintergrund ist der Gott des Pythago-ras und der Platoniker ein neuer Gott, der von Platon als höchste Idee des Guten verstanden wird und der im Christentum auch zum Gott der Liebe wurde. Daß jedoch die Vorstellung einer intrinsisch unlogischen bzw. über-logischen Welt berechtigt ist, kann man gerade an den vergeblichen Versu-chen erkennen, aus einem unerforschlichen, widersprüchlichen Gott jenseits aller menschlichen Logik einen Gott zu machen, der den Gesetzen der Logik unterworfen ist. Die Geschichte der christlichen Theologie liefert hier zahl-lose Beispiele mit ihren endlosen Kontroversen über Prädestination und Willensfreiheit oder das Problem der Theodizee, daß nämlich offensichtlich ein Gott der Liebe all die unausdenklichen Greuel zuläßt, die von Christen und Heiden gleichermaßen erfahren und begangen werden. Als besonders groteskes Beispiel kann die noch heute von Christen einer gewissen Glau-bensrichtung vertretene Lehre der "Verbalinspiration" angesehen werden, nach der es in der Bibel keine Widersprüche geben darf, weil sie Wort für Wort durch den Heiligen Geist diktiert wurde.27 Hier wird besonders deut-

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27 Als Beispiel sei das "Damaskus-Erlebnis" der Bekehrung des Saulus zum Paulus erwähnt, wo in der Apostelgeschichte in Kap. 9,7 steht, daß die Begleiter des Paulus seine Stimme hörten, aber niemanden sahen, während sie in Kap. 22,9 ein Licht sahen, aber niemanden hörten. Der Widerspruch wird hier durch die Zusatzannahme aufgelöst, daß von den Beglei-tern offenbar einige etwas hörten und nichts sahen, während die anderen etwas sahen, aber nichts hörten.

lich, wie die menschliche Sehnsucht nach der Geborgenheit in einer logisch kohärenten Welt durch das Dogma von der logischen Kohärenz der Heiligen Schrift erfüllt wird. Daß es sich hier um ein Dogma handelt, von dem in der Bibel selbst nirgendwo die Rede ist, spielt dabei überhaupt keine Rolle. Während die Erfolge von Wissenschaft und Technik den Nutzen logischen Denkens in der menschlichen Daseinsbewältigung belegen, haben schon immer Menschen geglaubt, daß ihre Erfahrungswelt einen weiteren Horizont hat als die durch logisch kohärente Strukturen beschreibbare Welt. Jeder der eine philosophische oder auch eine neurophysiologische Abhand-lung über die Liebe mit einem Liebeslied vergleicht, spürt, daß letzteres mehr über die erlebte Wirklichkeit der Liebe sagt als die theoretischen Be-trachtungen. Das heißt, die meisten Menschen glauben auch heute noch, daß es eine Wirklichkeit oder Wahrheit oder irgend etwas nicht Benennbares gibt, das jenseits der logisch begreifbaren Welt liegt. Auch wenn man Ge-hirnzustände, in denen Empfindungen oder Einsichten dieser Art entstehen, durch gezielte Manipulationen am Gehirn erzeugen und im Detail analysie-ren könnte, wäre damit nicht bewiesen, daß diese Einsichten weniger real sind als die mit ihnen korrelierten Gehirnzustände. In besonderer Weise gehören die Bildende Kunst, die Musik und die Dichtung zur Welt an der Grenze und jenseits der Grenzen des logisch Begreiflichen. "There are more things in heaven and earth, Horatio, than are dreamt of in your philosophy," läßt Shakespeare seinen Hamlet sagen, der mit dem Geist seines ermordeten Vaters ringt. Goethe hielt sich selber für einen bedeutenden Naturforscher, der sich auch als Dichter und Dramatiker betätigte. Die intrinsischen Wi-dersprüche seiner eigenen vielschichtigen Persönlichkeit finden wir im Faust, der buchstäblich jeglicher Logik spottet. Daher liest auch jeder darin, was in seiner eigenen Welt Sinn macht. Da sind diejenigen, die mit Faust "immer strebend bemüht" zur Erlösung finden wollen, und die anderen, die den wah-ren Goethe hinter den zynischen Äußerungen Mephistos vermuten. Goethes Welt ist weit offen "nach drüben", obwohl er den alten Faust sagen läßt: "Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt, Tor, wer blinzelnd seine Augen dorthin richtet, sich über Wolken seinesgleichen dichtet ..." - Das "Collegi-um Logicum" der Philosophen wird in der berühmten Schülerszene in Faust I verspottet. Aus der Figur von Fausts Famulus Wagner, dem "trockenen Schleicher", kann man Goethes Verachtung der Philosophie eines Immanuel

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Daß die unbestreitbaren Vorteile des logischen Denkens vor dem Hintergrund einer Realität stehen, in der logische Strukturen möglicherwei-se eine viel geringere Rolle spielen als weithin angenommen, sollte auch bei Untersuchungen bedacht werden, die unter dem Begriff Anomalienforschung zusammengefaßt werden. Dabei handelt es sich generell um Phänomene, die im Widerspruch zu allgemein anerkannten Paradigmen der Naturwissen-schaften stehen, wie Fernwahrnehmung, Präkognition (Hellsehen), Nahtod-erlebnisse und andere Beziehungen zwischen Geist und Materie (psychophy-sisches Problem). Die ersten neueren Versuche, Berichte über rätselhafte Erlebnisse auf ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen, wurden wahrscheinlich im 18. Jahrhundert im Auftrag des Vatikans unternommen, um festzustel-len, ob für eine Seligsprechung vorgeschlagene Personen wirkliche Wunder Gottes erfahren haben. Dagegen haben die im 17. Jahrhundert entstandenen wissenschaftlichen Gesellschaften (insbesondere die 1662 in England ge-gründete Royal Society) religiöse Erfahrungen bewußt ausgeschlossen und ihren Tätigkeitsbereich auf Phänomene beschränkt, die zweifelsfrei und re-produzierbar empirisch nachweisbar sind. Die großen Erfolge der "exakten Naturwissenschaften" haben dazu geführt, daß sich deren im 19. und 20.Jahrhundert noch verfeinerte Forschungsmethoden mehr und mehr auch in den Geisteswissenschaften durchgesetzt haben, obwohl sie hier mit Recht immer wieder hinterfragt und kritisiert werden. Erwähnenswert ist, daß zu-nehmend auch der soziale Hintergrund und die persönlichen Motivationen

der Naturwissenschaftler zum Forschungsthema werden.Kant ebenso herauslesen wie die der Physik eines Isaak Newton. Goethe fehlte nicht nur die mathematische Bildung, sondern vor allem die Geduld, um die komplexen, aber logisch einwandfreien Gedankengebäude dieser Menschen im Detail nachzuvollziehen. Er lehnte sie pauschal ab, weil sie seine Welt auf das logisch Faßbare reduziert und damit auf für ihn unerträg-liche Weise eingeschränkt hätten. Damit ist er weder Kant noch Newton wirklich gerecht geworden. Bekanntlich hat Newton sich nicht nur mit der Physik, sondern auch vielleicht ebenso intensiv mit der Alchemie beschäftigt und wahrscheinlich hatte er beide Bereiche im Sinn, als er sagte: "I do not know what I appear to the world; but to myself I seem to have been only a boy on the sea-shore, and diverting myself in now and then finding a smoother pebble or a prettier shell, while the great ocean of truth lay all undiscovered before me."

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28 Tatsächlich ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit "Anomalien" noch immer heftig umstritten, und Institutionen wie das Princeton Engineering Anomalies Research Laboratory (http://www.princeton.edu/~pear/) oder das Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (http://www.igpp.de) in Freiburg sind fast Ausnahmeerscheinungen in der wissenschaftlichen Landschaft. Doch das Hauptproblem ist hier wie in einigen Geisteswissen-schaften die Anwendbarkeit der Methoden. Eine Wissenschaft, die logische Widersprüche zuläßt, entzieht sich selber den Boden, auf dem sie steht; denn logische Konsistenz ist eine der notwendigen Bedingungen wissen-schaftlicher Arbeit. Wenn ich jedoch den Gedanken zulasse, daß es eine Rea-lität jenseits der Grenzen menschlicher Logik gibt, ist davon nicht nur das Kausalgesetz betroffen, dessen allgemeine Gültigkeit seit David Hume im-mer wieder kritisch diskutiert worden ist. Ich kann vielmehr auch die Mög-lichkeit logischer Widersprüche nicht mehr grundsätzlich ausschließen. Ich muß sogar damit rechnen, daß die untersuchten Anomalien intrinsische Wi-dersprüchlichkeiten enthalten, die eine Reproduzierbarkeit grundsätzlich unmöglich machen. Daß die wissenschaftliche Erforschung von Anomalien dennoch zu unbestreitbaren Fortschritten führt, ist also keineswegs selbst-verständlich. Leider stehen der positiven Bewertung derartiger Erfolge noch immer weit verbreitete Vorurteile und im Bereich der Medizin sogar massive wirtschaftliche Interessen entgegen. Ein Beispiel ist das Schicksal der Arbei-ten von Jacques Benveniste über Reaktionen lebender Zellen mit Wasser, das lediglich eine durch wohl definierte und reproduzierbare experimentelle Ver-fahren erzeugte "Information" über die Substanz enthält, die unter "norma-len" Reaktionsbedingungen in meßbarer Konzentration vorhanden ist.28 Obwohl hier bedeutende Grundlagenexperimente zu einem erhofften Ver-ständnis der Homöopathie stattfinden, müssen diese mit privaten Mitteln (http://www.digibio.com) durchgeführt werden, und eine Veröffentlichung der Ergebnisse in international anerkannten wissenschaftlichen Zeitschriften wird hartnäckig verweigert.

28 Michel Schiff, Un cas de censure dans la science (La mémoire de l'eau) Albin Michel 1994 (Das Gedächtnis des Wassers , Zweitausendeins, Frankfurt 1997)

9. Die Entstehung der einen Welt

Dieses Kapitel soll davon handeln, wie und wie weit aus den indivi-duellen Eigenwelten durch Kommunikation ein Konsens über eine allen In-dividuen gemeinsame Welt werden kann. Daß ein derartiger Konsens mög-lich ist, läßt sich nicht zwingend beweisen. Alle denkbaren Alternativen füh-ren jedoch zum Solipsismus, einem Denkmodell, das nur noch die Erste-Person-Perspektive zuläßt und jede Kommunikation mit anderen Menschen als subjektives Gedankenspiel des jeweils eigenen Ich interpretiert. Wenn ich aber voraussetze, daß es andere Menschen gibt, die wie ich über ihre subjek-tive Welt reflektieren, ist ein durch Kommunikation erzielter Konsens mög-lich. Die Möglichkeit zur Reflexion, z.B., daß ich weiß, daß der andere weiß, daß ich weiß, unterscheidet die Kommunikation zwischen Menschen von der zwischen Tieren. Inwieweit im Verlauf der Evolution diese auf Menschen beschränkten mentalen Fähigkeiten gemeinsam mit der menschlichen Spra-che entstanden sind, läßt sich schwer feststellen. Man sollte jedoch die non-verbalen Komponenten menschlicher Kommunikation nicht unterbewerten. Wenn ich glaube, einen Menschen zu verstehen, und er mir sagt, daß auch er glaubt mich zu verstehen, ist damit in der Regel viel mehr gemeint als etwa nur ein Konsens darüber, daß gerade die Sonne scheint. Auch Mißverständ-nisse, die häufig eine Verständigung über einfachste Sachverhalte verhin-dern, haben mit dem Unbewußten der Gesprächspartner zu tun, die viel-leicht empfinden, daß "die Chemie nicht stimmt", oder daß man aneinander vorbeiredet aus Gründen, die jeder anders versteht. Man kann ohne weiteres davon ausgehen, daß es fast beliebig viele Vorstellungen über die allen ge-meinsame eine Welt gibt. Es soll daher gar nicht versucht werden, auch nur einige der vielen verschiedenen Weltanschauungen zu beschreiben, die im Laufe der menschlichen Geschichte in den verschiedenen Kulturen entstan-den sind. Ziel dieses Kapitels ist vielmehr die Erörterung meiner eigenen Vorstellungen einer menschlichen Realität in einer gemeinsamen Welt und der Versuch einer Begründung, warum sie mir auch für andere als beden-kenswert erscheint. Da meine Anschauung vom Ansatz her konstruktivi-

stisch ist, reflektiert sie auf persönliche Weise über einen Konsens zwischen Menschen, die diese Anschauung teilen.29

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Die Konstruktion der Welt beginnt in jedem einzelnen Individuum und impliziert von Anfang an die Kommunikation mit anderen Menschen, primär Mutter, Vater und die nahen Angehörigen. Das Kind reflektiert nicht darüber, ob alle in der gleichen Welt leben. Das Bewußtsein, daß es über-haupt eine Welt gibt, die vor der Geburt und nach dem Tod existiert, ist eng mit dem Selbstbewußtsein verbunden. Erst wenn ich bewußt wahrgenommen habe, daß andere Menschen sich in vergleichbaren Situationen ähnlich wie ich (oder verschieden) verhalten und daß die anderen über ihre Erlebnisse ähnlich sprechen wie ich über meine, wächst die Fähigkeit, sich in den ande-ren zu versetzen und die Welt mit seinen Augen zu sehen. Auf diese Weise kann das Bewußtsein entstehen, daß der andere genauso in seiner eigenen Welt lebt wie ich in der meinen, und schließlich durch Miteinanderreden ein Konsens darüber, daß es eine Welt gibt, die von verschiedenen Menschen zwar in vielem ähnlich, in manchem aber auch völlig verschieden wahrge-nommen wird.

29 Darstellungen der bekanntesten Ausprägungen des Konstruktivismus findet man in 3,11,18,19 sowie in Paul Watzlawick (Hrsg.), Die erfundene Wirklichkeit, Piper, München 1985. Heinz von Foerster et al., Einführung in den Konstruktivismus, Serie Piper 1165, München 1997. Michael Pauen, Gerhard Roth (Hrsg.), Neurowissenschaften und Philoso-phie, Fink UTB 2208, München 2001.

Es gibt in dieser einen Welt Sachverhalte, die völlig unstrittig sind und aus denen man leicht im Konsens eine Welt der Fakten konstruieren kann. Daß hier eine Mehrheitsentscheidung den Ausschlag gibt, kann man an dem Phänomen der Anosognosie (Nichterkennen der Krankheit) erkennen. Ein blinder Patient kann zum Beispiel glauben, daß er völlig normal sieht, obwohl er nur eine Welt wahrnimmt, die sein Gehirn fortwährend in seinem Innern konstruiert ("konfabuliert")15. Hier gibt es dann den Konsens der Gesunden, daß der Kranke die Fakten falsch bewertet. Daß auch allgemein anerkannte Fakten ihre Faktizität verlieren können, zeigt das Beispiel der Sonne, die jahrhundertelang faktisch im Osten auf- und im Westen unter-ging, bis erkannt wurde, daß in Wahrheit die Sonnenbewegung nur durch die Erdrotation vorgetäuscht wird. In diesem Sinne gehörte und gehört zu allen

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Zeiten die Welt der Fakten zu einer Realität, die von Menschen konsensuell konstruiert wird. Man mag einwenden, daß es Fakten gibt, an denen seit Beginn der Menschheitsgeschichte nie irgend jemand ernsthaft gezweifelt hat. Zum Beispiel bezweifelt niemand, daß Wasser immer bergab fließt oder daß der Lehrsatz des Pythagoras für alle Zeiten gültig sein wird, weil er wie andere mathematische Sätze im Rahmen wohldefinierter Axiome nach den Regeln einer unstrittigen mathematischen Logik bewiesen wurde. Können nicht wenigstens diese nie ernsthaft bestrittenen Fakten einer objektiven Realität angehören, die auch unabhängig vom Menschen existiert?

Es ist lehrreich zu fragen, welche Folgen aus der Annahme, genauer dem Axiom, der Existenz einer objektiven Realität resultieren. Tatsächlich findet man dieses Axiom weder in den Axiomensystemen der reinen Mathe-matik noch in denen der theoretischen Physik. Beide ändern sich um kein Jota, wenn man dieses Axiom hinzufügt oder wegläßt, und in beiden steht es dem Menschen frei, an die Entdeckung von Eigenschaften einer vom Men-schen unabhängigen Welt zu glauben, oder im Sinne des Homo-mensura-Satzes von Protagoras davon auszugehen, daß immer nur ein von Menschen geschaffener Maßstab an eine erdachte Wirklichkeit angelegt wird.

Dagegen hatte die Annahme der Existenz einer objektiven Realität für die christliche Theologie Folgen, die für die Kirche nicht nur von Vorteil waren. Daß Gott das Maß aller Dinge ist und nicht der Mensch, hat zu einer Objektivierung Gottes geführt, die zunächst kaum wahrgenommen wurde, da ja Gott nicht nur als Gott-Vater über allen Welten thront, sondern auch im Gottessohn, der "wahr Mensch und wahrer Gott" und damit auch Men-schensohn ist, zu den Menschen gekommen ist. Der Pferdefuß hat sich erst im Gefolge der Cartesianischen Spaltung gezeigt. Als Schöpfung Gottes war die Welt auch als objektiv existierend sanktioniert. Nach dem Scheitern aller Gottesbeweise blieb jedoch nur noch die Hypothese Gott übrig, auf die man verzichten konnte. Das heißt, Gott wurde aus seiner Welt hinausgedrängt, die nun ohne ihn als objektive Realität Maß aller Dinge war. C.F.v.Weizsäcker hat verschiedentlich die Naturwissenschaften als den "har-ten Kern des neuzeitlichen Denkens" bezeichnet.30 Allgemein unterscheidet

30 Loc. cit. (Fußnote 5, S.460)

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Man kann darüber spekulieren, ob die für die Kirche fatalen Folgen der Objektivierung Gottes ausgeblieben wären, wenn Platon wie sein Oppo-nent Protagoras sich mit der menschlichen Realität beschieden hätte. Dann wäre Gott nicht auf eine Idee des Guten reduziert worden, und den Men-schen wäre die Freiheit geblieben, den ewig unerforschlichen, überlogischen Gott in einer (monistischen) Welt zu erfahren, die nicht in eine menschli-che Schattenwelt und eine wahre Welt der Ideen aufgespalten ist (vergl. Pla-tons Höhlengleichnis). Vielleicht wäre die Kirchengeschichte und damit die ganze Geschichte des Abendlandes anders verlaufen, wenn die Kirchenväter der Versuchung widerstanden hätten, eine logisch konsistente wahre Lehre im Geist der Pythagoräer und Platoniker zu konstruieren und zum Dogma zu erheben. - Diese rein akademische Spekulation ändert zwar nichts am Verlauf der vergangenen Geschichte. Sie kann jedoch die Einsicht vermit-teln, daß Friedrich Nietzsche, indem er dem Gott der Philosophen den letz-ten Todesstoß versetzte, vielleicht ungewollt Türen zu Wegen öffnete, auf denen intellektuell redliche Menschen zu ihrem Gott in ihrer menschlichen Realität finden, nachdem der hypothetische Realismus ebenso entbehrlich geworden ist wie die Hypothese Gott. Daß dergleichen in unsrer Zeit ge-schieht, ist bei manchen Gelegenheiten sichtbar. Es soll in diesem Zusam-menhang noch einmal betont werden, daß die aus einem konstruktivistischen Ansatz resultierende menschliche Realität den Glauben an ein Jenseits nicht ausschließt, sondern in unsrer Zeit sogar erleichtert. Denn er kann die Ein-sicht vermitteln, daß der aus der objektiven Realität verdrängte Gott immer

man die Natur- und Ingenieurwissenschaften als Hard Sciences von den Soft Sciences, den Geistes- und Sozialwissenschaften. Erstere gelten als exakt und zuverlässig. Auf Grund der theoretischen Vorhersage einer Kettenreak-tion in einem Uranisotop wurde 1942 in den USA ein Milliardenprojekt gestartet, weil man sicher daran glauben konnte, daß die Atombombe explo-dieren werde. Derartige Erlebnisse haben den Glauben an die objektive Rea-lität der Naturwissenschaften immer wieder gestärkt und vergessen lassen, daß die Realität Gottes der Preis dieses Glaubens war. Merkwürdigerweise wurde dies erst lange nach der Proklamation des Todes Gottes durch Nietz-sche nach und nach wahrgenommen und damit der Weg freigemacht für die Anschauungen eines Konstruktivismus, der den Begriff der objektiven Reali-tät kritisch hinterfragt.

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bei uns und in uns geblieben ist. Dietrich Bonhoeffer hat dies in seinem Versuch einer "nicht-religiösen Interpretation biblischer Begriffe" etwas überspitzt so ausgedrückt:31 "Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott." Jedes Jenseits, mit dem ich zu tun habe, ist ein Jenseits in meiner Welt und ist damit eines der meinem Denkvermö-gen zugänglichen Gedankengebilde.

Es bedarf einiger Übung, sich diese Einsicht in verschiedenen Situa-tionen zu vergegenwärtigen. Wenn es zum Beispiel in Goethes Faust, wie oben zitiert, heißt: "Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt ... ", so liegt auch das Drüben noch innerhalb der menschlichen Realität; denn es ist ein Teil meiner Gedankenwelt, die im Rahmen bestimmter Voraussetzungen in Hüben und Drüben aufgeteilt worden ist. Ein besonderes Beispiel ist das im Zustand mystischer Versenkung erfahrbare "kosmische Bewußtsein", in dem alle Gegensätze, gut und böse, Zeit und Ewigkeit, Subjekt und Objekt, Mensch und Gott, Leben und Tod, aufgehoben sind und in überwältigender Weise zu einem Ganzen, der "Unio Mystica", werden. Die Frage nach einer objektiven Realität stellt sich in diesem Zustand mystischer Erleuchtung nicht, da der Erleuchtete am höchsten Ziel die "Letzte Wahrheit" erfährt. Der Gedanke, daß auch diese von Menschen erfahren wird und damit zur menschlichen Realität gehört, hat etwas Ernüchterndes. Vielleicht wird an diesem Beispiel besonders deutlich, daß es keine irgend einer Logik gehor-chende gedankliche Brücke gibt zwischen der agnostischen Sicht des Prota-goras und der mystischen Gnosis, die ja ebenfalls bis ins Altertum zurück-reicht.

In einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie ist zwar die Annah-me der Existenz einer objektiven, vom Menschen unabhängigen Realität entbehrlich, man kann diese aber nicht grundsätzlich als Möglichkeit aus-schließen.32 Kein Konstruktivist wird ja bestreiten, daß die von Menschen

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31 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Chr. Kaiser Verlag, München 1951 32 Dies wird von einigen Vertretern der Neuro- bzw. Kognitionswissenschaften verschwie-gen. Zum Beispiel wird in dem Buch Where Mathematics Comes From - How the Embo-died Mind Brings Mathematics into Being von George Lakoff und Rafael E. Núñez (Basic

erfundene Struktur der Mathematik und die in mathematischer Sprache formulierten Naturgesetze von unvergleichlicher und faszinierender Schön-heit sind. Auch wenn es des Menschen bedurfte, diese Strukturen hervorzu-denken, ist der Glaube, daß diese entdeckt wurden und vom Menschen un-abhängig sind, ebenso verständlich wie berechtigt. Insofern ist der Konstruk-tivismus eine unter anderen Weltanschauungen, die mit Begriffen wie Idea-lismus, Realismus, Materialismus, Reduktionismus, Dualismus, Monismus, Holismus etc. assoziiert werden. Wer im Streit der Meinungen welche Partei ergreift, hängt von individuellen Prägungen ab, die bis in die früheste Kind-heit zurückreichen können und weitgehend im Unbewußten liegen. Wir kön-nen die in jeder Kultur unterschiedlichen geistigen Bemühungen um die letzten Fragen der menschlichen Existenz auch als großes Gesellschaftsspiel auffassen, an dem sich verschiedene Menschen unter verschiedenen Voraus-setzungen auf verschiedenem intellektuellem Niveau und mit verschiedener Intensität beteiligen. Die Spielregeln sind in den jeweiligen konsensuellen Bereichen mehr oder weniger präzise definiert und werden mehr oder weni-ger streng befolgt. Wanderer zwischen diesen Bereichen setzen sich meist dem berechtigten Vorwurf der Ignoranz und des Dilettantismus aus. Ein Philosoph, der jahrelang die Werke Platons im Urtext studiert hat und mit der gegenwärtigen Sekundärliteratur hinlänglich vertraut ist, wird meine Mutmaßungen über Platon mit Recht in diesem Sinne kritisieren; er muß sich aber u.U. von mir den Vorwurf anhören, daß er wesentliche Grundlagen der Quantentheorie falsch oder gar nicht verstanden hat. Schließlich sollte nicht übersehen werden, daß selbst unter den Menschen mit höherer Bildung

Books, New York 2000) in sehr eindrucksvoller Weise demonstriert, wie die objektive Realität einer unabhängig vom Menschen existierenden Mathematik ("disembodied mathe-matical truth") mit Hilfe von Methoden der Kognitionswissenschaften auf eine menschliche Realität ("embodied mathematics") zurückgeführt werden kann: "The central question we ask is this: How can cognitive science bring systematic scientific rigor to the realm of hu-man mathematical ideas, which lies outside the rigor of mathematics itself?"(Preface, p.XII) In dem Buch wird mit bewundernswerter Stringenz der Mythos platonischer Mathematik entzaubert. Allerdings kann man fragen, was mit dem Begriff scientific rigor gemeint ist, den die Autoren selber hervorheben, ohne ihn zu hinterfragen. Wird die Strenge vielleicht nur behauptet, um sich der Mathematik zu bemächtigen, die bisher das Monopol auf äußer-ste Strenge besaß?

sich viele überhaupt nicht an dem hier betrachteten Gesellschaftsspiel betei-ligen, weil sie völlig eingenommen sind von anderen (z.B. politischen) Akti-vitäten, die ebenfalls zur menschlichen Realität gehören. Insofern ist die vorliegende Betrachtung ein Gedankenspiel in einer pluralistischen Gesell-schaft, die ihren Bürgern eine Freiheit für kulturelle und interkulturelle Ak-tivitäten gewährt, wie es sie in diesem Ausmaß nie zuvor gegeben hat, ein kostbares Gut, das wir dankbar pflegen und bewahren sollten.

10. Epilog

Am Ende meiner Abschiedsvorlesung mag vielleicht der eine oder der andere fragen: „Was wollte er uns damit eigentlich sagen, wo ist seine Mes-sage ?“ - Um diese Frage zu beantworten, möchte ich ganz vorne anfangen: Wie bin ich eigentlich Chemiker geworden? Die Chemie hat mich zwar von der ersten Chemiestunde an fasziniert. Aber in meiner damaligen Welt hatte mein christlicher Glaube die allererste Priorität. Ein naturwissenschaftliches Studium um den Preis dieses Glaubens kam überhaupt nicht in Frage. Tat-sächlich hat ein Mainzer Professor dazu beigetragen, daß ich dennoch Che-mie studieren konnte. Wie das kam, läßt sich dem folgenden Eintrag in ein kleines Heftchen entnehmen, der als Dokument menschlicher Selbsttäu-schung sogar zum Thema meines Vortrags paßt:

27. 12. - 30.12.1955 Tagung der ev. Akademie in Arnoldshain Prof. Rohrbach ist mir zu einem Vorbild geworden. 1) Er kann als Prof. der Mathematik Christ im biblischen Sinne sein. 2) Er ist nicht Naturwissenschaftler, um die Wissenschaft voranzutreiben, sondern um auf der Ebene eines Naturwissenschaftlers das Evangelium zu verkünden (Dem Juden ein Jude, dem Griechen ein Grieche). Das soll mein Berufsziel sein. Ich studiere Chemie, um den Chemikern die frohe Botschaft zu sagen!! Herr hilf mir, daß ich das fertig bringe! Ohne ihn können wir nichts tun.

Tatsächlich bin ich später kein Mitglied der Studentenmission ge-worden, in der Hans Rohrbach so aktiv tätig war (übrigens, ohne seine

Amtspflichten als Professor zu vernachlässigen). Als ich Jahre später noch einmal einen Vortrag von ihm gehört habe, wurde mir bewußt, wie sehr sich in mir die Welt verändert hatte, während Prof. Rohrbach noch immer das gleiche sagen konnte. Mein Berufsziel habe ich also weit verfehlt. Ich habe sogar im Laufe meines Lebens missionarischen Eiferern gegenüber eine be-trächtliche Skepsis entwickelt. Trotzdem möchte ich Ihnen noch so etwas wie ein Wort zum Abschied mit auf den Weg geben.

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Als ich 1962 als junger Doktorand in ein nagelneues NMR-Labor einzog, das fast völlig von einem ebenso neuen NMR-Spektrometer einge-nommen wurde, habe ich über meinem Tisch an der Ecke - gleichsam als Kontrapunkt zu der Pracht und Herrlichkeit des Großgeräts - einen Vers aus dem Lied „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius, liebevoll eigenhändig mit Tusche gezeichnet, aufgehängt:

Gott, laß uns dein Heil schauen, auf nichts Vergänglichs trauen, nicht Eitelkeit uns freun; laß uns einfältig werden und vor dir hier auf Erden wie Kinder fromm und fröhlich sein.

Zu diesen Kindern gehört wohl auch Isaak Newtons kleiner Junge, der am Strand mit Kieselsteinen und Muscheln spielt. Übrigens hat mich in all den Jahren, als der Liedvers dort im NMR-Labor hing, nur einmal jemand darauf angesprochen. Manfred Fleißner, der zweite Doktorand in diesem Labor, sagte in einem Zusammenhang, den ich vergessen habe, dann würde er es doch lieber mit meinem Vers halten. In den Jahrzehnten, die seither vergan-gen sind, ist dieser Vers immer wieder bei den verschiedensten Gelegenhei-ten in meinem Gedächtnis aufgetaucht - und mit ihm der Abglanz einer fernen Sehnsucht. Und wenn Sie mich am Ende meines Berufslebens nach meiner Abschiedsbotschaft fragen, möchte ich antworten: hier ist sie.

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