vijnana bhairava - das göttliche bewußtsein

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Das Vijnana Bhairava ist der wichtigste Text des kaschmirischen Shi-vaismus, dessen Kerngedanke die Erlangung einer mystischen Ein-heit von Mensch und Gott ist. In einem Lehrgespr�ch zwischen Sivaund Sakti, der mit ihm wesenseinen weiblichen Energie, werden tan-trische Meditationsweisen dargestellt, die zur hçchsten spirituellenVerwirklichung f�hren. In diesem Zustand erkennt der Meditieren-de sich selbst als Siva – und somit als gçttlich. In einer ausf�hrlichenEinf�hrung zur zweisprachigen Ausgabe dieses Sanskritwerkes ausdem 6. Jahrhundert erl�utert Bettina B�umer Hintergr�nde, Ideenund Praxis des metaphysischen Systems, auf dem das Vijnana Bhai-rava beruht.

Prof. Dr. Dr. h. c. Bettina B�umer, 1940 in Salzburg geboren, ist eineder besten Kennerinnen des Sanskritschrifttums, mit �bersetzun-gen einiger Grundtexte in deutsch und englisch. Sie lebt seit �ber50 Jahren in Varanasi, Indien, wo sie zur Zeit eine Forschungsbiblio-thek leitet (Abhinavagupta Research Library). Sie war Gastprofesso-rin an den Universit�ten von Wien, Bern und Salzburg und Fellowam Indian Institute of Advanced Study, Shimla. Ihre Spezialgebietesind der nichtdualistische Sivaismus von Kaschmir, indische Kunstund �sthetik, insbesondere Tempelarchitektur und Theorie vonOdisha (Ostindien). Sie ist auch engagiert im interreligiçsen Dialogzwischen Hinduismus und Christentum, besonders in ihrer langj�hri-gen Rolle als Pr�sidentin der Abhishiktananda Society, Delhi.

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V E R LAG DE RW E LT R E LIGI ON E N

TASCH E N BUC H6

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V I J NA NA BH A I R AVA –DA S G � T T L IC H E

BE W U S S T SEI N1 1 2 W EI SE N DER M YS T I S C H E N

E RFA H RU N G I MS I VA I S M U S VO N K A S C H M I R

Aus dem Sanskrit �bersetzt,kommentiert und herausgegeben

von Bettina B�umer

V E R LAG DE RW E LT R E LIGION E N

Page 7: Vijnana Bhairava - Das göttliche Bewußtsein

Gefçrdert durch dieUdo Keller Stiftung Forum Humanum

Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet abrufbar.

http://dnb.d-nb.de

6. Auflage 2021

Korrigierte Neuauflage 2021Erste Auflage 2008

� Verlag der Weltreligionenim Insel Verlag Berlin

Taschenbuch 6Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2008

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Umschlag: Hermann Michels und Regina Gçllner

Satz: Satz-Offizin H�mmer GmbH, Waldb�ttelbrunnDruck: C. H. Beck, Nçrdlingen

Printed in GermanyISBN 978-3-458-72006-5

Diese Ausgabe erschien erstmals 2003 (2. Aufl. 2004)in der Edition Adyar, Grafing

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V I J NA NA BH A I R AVA

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I N H A LT

Einf�hrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Der Text: Vijnana Bhairava-Tantra . . . . . . . . . . . . . . . . 11Die Bedeutung des Titels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14Weisen der Konzentration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16Der dialogische Rahmen des Tantra . . . . . . . . . . . . . . . 19Der Stil der dharan

˙as . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

Themen und Methoden der dharan˙

as bzw. yuktis . . . . . 22Atemenergie – pran

˙a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Mantra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24uccara von OM

˙. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

Die Mitte – madhya . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26Die Leere – sunya . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29Schçpferische Kontemplation – bhavana . . . . . . . . . 33Intensit�t der Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34Der Kçrper als Instrument – mudra . . . . . . . . . . . . . 37Hingabe an Gott – bhakti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37Kun

˙d˙alinı . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

Gleichmut und Harmonie – samata . . . . . . . . . . . . . 39Die drei spirituellen Wege – upaya . . . . . . . . . . . . . . 43

Der metaphysische Hintergrund: Trika . . . . . . . . . . . . 45Eine Spiritualit�t f�r unsere Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47Zur Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49Zur �bersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Vijnana Bhairava – �bersetzung, Sanskrittextund Kommentar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233Zur Transliteration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

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EI N F � H RU N G

Die indische Spiritualit�t kann, vereinfacht gesprochen, inzwei Richtungen eingeteilt werden: Auf der einen Seite eineasketische, weltverneinende Bewegung, die sich in verschiede-nen Schulen des Vedanta, des Buddhismus, des Jainismus, inSam

˙khya und Yoga niedergeschlagen hat, und auf der anderen

die welt- und leibbejahende Richtung, deren bekannteste Ver-treter die Schulen des Tantrismus, aber auch Bewegungen derGottesliebe (bhakti) sind. Weiter l�ßt sich die indische Mystikin die Lehre von der stufenweisen Vereinigung mit Gott undin die der spontanen oder unvermittelten Erleuchtung unter-teilen, die in Gestalt des Zen-Buddhismus bis nach Japan ge-langt ist. Das Vijnana Bhairava ist zugleich der Spiritualit�tdes Tantra zuzurechnen, mit einer positiven Bewertung derWelt und des Leibes, sowie der Schule der unmittelbaren,spontanen Erleuchtung. Zudem enth�lt es spirituelle Metho-den jeder Richtung indischer Spiritualit�t.

d e r t e x t :

v i j n a n a bh a i r a v a - t a n t r a

Das Vijnana Bhairava, »das gçttliche Bewußtsein« oder »diemystische Erkenntnis der gçttlichen Wirklichkeit«, ist ein au-ßergewçhnlicher Text. Er gehçrt zu den �ltesten und autori-tativsten Tantras oder Agamas des Sivaismus von Kaschmir.1

Die sivaitischen Tantras oder Agamas gelten als Offenbarungdes Gottes Siva und sind oft in der Form eines Dialogs zwi-

1 Zu einer Einf�hrung in diese Tradition vgl. Bettina B�umer, Abhi-navagupta. Wege ins Licht, Z�rich 1992.

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schen der Gçttin, Sivas Energie (Sakti) in einer ihrer Formen,und Siva verfaßt. Die Tradition, die sie verkçrpern, geht si-cher auf die Urspr�nge des Tantrismus in Indien zur�ck,doch ihre schriftliche Form haben sie kaum vor dem 6. Jahr-hundert n. Chr. erhalten.

F�r den Sivaismus von Kaschmir sind besonders einige Tan-tras von Bedeutung, die die nichtdualistische Lehre enthal-ten und die spezifischen Wege der mystischen Praxis, desYoga, lehren. Dazu gehçren vor allem die umfangreichenSvacchanda-Tantra und Netra-Tantra, das k�rzere und sehrkonzentrierte Malinıvijaya-Tantra sowie zwei kurze Tantras,die beide angeben, Teile des verschollenen Rudrayamala-Tan-tra1 zu sein, und hçhere mystische Praktiken beschreiben: Pa-ratrısika und Vijnana Bhairava. Alle diese Urtexte wurdenvon den großen Philosophen der Schule ausf�hrlich kommen-tiert, besonders von Abhinavagupta (10.-11. Jh.), ihrem bedeu-tendsten Vertreter, und seinem Sch�ler Ks

˙emaraja (10.-11. Jh.),

denn diese Texte sind ohne Erl�uterungen kaum zu verste-hen. Die Erschließung der ber�hmten Geheimsprache derTantras erfordert sowohl einen Kommentar als auch Kennt-nisse in der lebendigen praktischen Tradition.

Das Vijnana Bhairava genießt ein besonders hohes Anse-hen bei den Autoren der Schule. Es wird zitiert, sooft esum eine spezifische spirituelle Praxis oder mystische Erfah-rung geht,2 denn seine Erw�hnung verleiht einem Thema be-sondere Autorit�t, sozusagen ein Echtheitssiegel. Dar�berhinaus ermçglichen seine Verse durch ihre Pr�gnanz ein kon-zises Verst�ndnis mystischer Erfahrung. Zur Verf�gung ste-

1 Ein Gesamttext des Rudrayamala ist bis jetzt unauffindbar.T. Goudriaan schreibt: »The Rudrayamala is perhaps the most mys-terious of all Yamalas. It is encountered everywhere, yet alwaysvanishes after closer inspection.« Hindu Tantric and Sakta Litera-ture, S. 47.

2 Viele dieser Zitate werden im Kommentar erw�hnt, wenn auch beiweitem nicht alle. Vgl. die italienische �bersetzung von Attilia Si-roni.

12 e inf �hr ung

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hen uns beispielsweise die alten und authentischen Kommen-tare von Abhinavagupta und Jayaratha im Tantraloka, vonKs

˙emaraja zu den Siva-Sutras u. a. m. Alle erw�hnen das Vij-

nana Bhairava mit großer Ehrfurcht. Abhinavagupta nennt es»Sivavijnana-Upanis

˙ad«, also »die geheime Lehre der mysti-

schen Erkenntnis Sivas«.1 Der Text selbst bezeichnet sich inVers 162 als »die Essenz des Rudrayamala-Tantra«, wobei Ru-drayamala nicht nur als Titel eines Tantra verstanden wird,sondern als die Einheit des Paares (Yamala) Siva (Rudra,Gott) und seiner Energie (Sakti). Diese Einheit, nicht im my-thologischen, sondern im mystischen Sinn, ist auch das Zieldieses Tantra. Die im Vijnana Bhairava enthaltene Unterwei-sung wird noch mit anderen Superlativen beschrieben: Sie istder hçchste, transzendente Nektar (Vers 157).

Das Vijnana Bhairava enth�lt einen Kommentar von Ks˙e-

maraja, dem Sch�ler des großen Abhinavagupta (10.-11. Jh.),der nur bis Vers 23 erhalten ist. Sicher war er vollst�ndig, weiler einen sp�teren Vers in seinem Kommentar zum Netra Tan-tra selbst zitiert. Da der Rest anscheinend verlorengegangenwar, wurde er erg�nzt durch den Kommentar von Sivopad-hyaya im 18. Jahrhundert.2

Lilian Silburn, die das Werk ins Franzçsische �bersetzteund mit einer ausf�hrlichen Einf�hrung versah, schreibt:»Das Tiefste und Originellste, was die Agamas uns in bezugauf die mystische Erfahrung bieten, findet sich in konzen-trierter Form im Vijnana Bhairava.«3

1 Utpaladeva, Isvarapratyabhijna-Vivr˙ti-Vimarsinı, Bd. 2, S. 405.

2 Es gibt einen weiteren, ebenfalls sp�teren Kommentar von AnandaBhat

˙t˙a mit dem Titel Kaumudı.

Zu Textausgaben und �bersetzungen vgl. das Literaturverzeich-nis.

3 Lilian Silburn, Le Vijnana Bhairava, S. 9 (�bers. Bettina B�umer).

13de r te xt : v i j n ana bha irav a-t ant ra

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d i e b e d e u t u n g d e s t i t e l s

Das Vijnana Bhairava ist das Tantra, das die »ErkenntnisBhairavas« zum Ziel und Inhalt hat, besser gesagt »die mysti-sche Erkenntnis Bhairavas«. Vijnana ist hier nicht als theoreti-sche oder philosophische Einsicht zu verstehen, sondern alsaus der praktischen Erfahrung sich ergebende mystische Er-leuchtung oder als gçttliches Bewußtsein, wie der Text undauch der erz�hlerische Rahmen deutlich machen. Doch wasist unter Bhairava zu verstehen?

Bhairava, der in anderen religiçsen Traditionen des Hin-duismus und besonders in der Volksreligiosit�t als die furcht-erregende Form des großen Gottes Siva betrachtet wird1 undsowohl bedrohlich wie besch�tzend wirkt, bedeutet im Sivais-mus von Kaschmir nichts weniger als die hçchste, transzen-dente Wirklichkeit, die Gottheit in ihrer absoluten, un�ber-trefflichen Form (anuttara). Die mythologischen AspekteSivas oder Bhairavas spielen hier keine Rolle – sie werden so-gar oft l�cherlich gemacht –, sondern allein die Gottheit undihre Gçttlichkeit (sivata). Bevor wir auf den metaphysischenHintergrund eingehen, ist es wichtig, die Bedeutung vonBhairava zu erl�utern. Der Text selbst bietet mit den WortenBhairavas eine ganze negative Theologie (Verse 11-17): Bhai-rava ist jenseits aller Vorstellungen von Raum und Zeit, unbe-schreiblich und unvorstellbar, nur durch die eigene, innere,von Freude erf�llte Erfahrung erkennbar. Tats�chlich gehtes immer dort, wo von Siva oder Bhairava die Rede ist, umeinen Zustand, um eine Erfahrung, um eine Identifizierung(vgl. Vers 15). Man kçnnte sagen, es geht nicht um »Gott«in einem hypostasierten Sinn, sondern um Gçttlichkeit undVergçttlichung (sivata, bhairavarupata, usw.).2

1 Vgl. H. v. Stietencron, Bhairava, in: ZDMG, Supplementa I, Wies-baden 1969, S. 863-871.

2 Vgl. Birgit Mayer-Kçnig, Die Gleichheit in der Unterschiedenheit,1996, S.1f.

14 e inf �hr ung

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Die Bedeutung des Namens Bhairava wird vielfach etymo-logisch erkl�rt, indem man ihn in seine Bestandteile auflçst,um so zu einer hermeneutischen Theologie zu kommen(vgl. Vers 130). So ist Bhairava nach Abhinavagupta »derje-nige, der alles tr�gt (bharan

˙a) und der alles mit dem großen

Mantra ertçnen l�ßt (rava).«1 Eine weitere Erkl�rung, eben-falls von Abhinavagupta, lautet: »Die heiligen Schriften be-zeichnen Gott (deva) mit mehreren Worten, die seinem Wesenentsprechen: Großer Bhairava (mahabhairava), Gott (deva),Herr ( pati), hçchster Siva ( paramasiva). (Er wird Bhairava ge-nannt, weil) Er das Universum tr�gt (bibharti), erf�llt (er-n�hrt), und indem er es tr�gt, ist er auch getragen (d. h. im-manent). Er ist der Laut (rava) durch sein Selbstbewußtsein(vimarsa), und er besch�tzt diejenigen, die in der Welt des sam

˙-

sara von Furcht erf�llt sind (bhıru).«2 Der Name selbst dr�cktalso einige der Funktionen des Gottes aus. Der Ton oderLaut, rava, von dem fast in jeder »Etymologie« die Rede ist,bezieht sich auf das in jedem bewußten Wesen ertçnende Ich-bewußtsein, das von gçttlicher Natur ist (aham).

Unser Text (Vers 130) leitet das Wort außerdem von Glanz(bha) ab, d. h. vom reinen Licht des Bewußtseins ( prakasa).Andere Erkl�rungen beziehen sich auf die drei Hauptfunk-tionen Bhairavas: Schçpfung, Erhaltung und Auflçsung desUniversums.3 Er wird nur deshalb »der Schreckliche, Furcht-erregende« (mahabhıma) genannt, weil er den Schrecken dessam

˙sara ein Ende macht.4 Er tut dies, indem er alle Energien

in sich absorbiert und damit das ganze Universum in sichtr�gt. Er wird nur erfahren in der Innerlichkeit, die das ei-

1 Vgl. Abhinavagupta, Paratrısika Vivaran˙a, in: KSTS, S. 63.

2 Abhinavagupta, Tantraloka I. 95-96, siehe Jayarathas Kommentarzur Stelle.

3 Vgl. Tantraloka III. 283-285, wo es um die Identifizierung mit der»Bhairava-Natur« geht und damit seine drei kosmischen Funktio-nen. Vgl. auch Siva-Sutra I. 5: udyamo bhairavah

˙, »Bhairava ist das

plçtzliche Aufsteigen des mystischen Bewußtseins«, mit Ks˙emara-

jas Vimarsinı-Kommentar.4 Vgl. Tantraloka I. 99-100.

15d ie be deut ung des t itels

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gene, gçttliche Wesen (wçrtlich: die Bhairava-Natur) offen-bart.1

Eine weitere Erkl�rung des Titels kçnnte lauten: »Bhairava,dessen Wesen mystische Erkenntnis ist«, oder einfach »dasgçttliche Bewußtsein«.

we i se n d e r kon z e nt r a t i on

Die Tantras oder Agamas in ihrer traditionellen Form enthal-ten Kapitel �ber Ritual, Philosophie und Yoga,2 doch im Si-vaismus von Kaschmir spielt das �ußere Ritual eine unterge-ordnete Rolle. Das Vijnana Bhairava ist ein Text nur �berYoga oder spirituelle Praxis. Ihm liegt ein besonderes meta-physisches System zugrunde, das jedoch nicht als solches aus-gef�hrt ist. Wir werden noch darauf zur�ckkommen. DasVijnana Bhairava lehrt 112 Methoden der Konzentration, tra-ditionell dharan

˙a genannt,3 die im Text als yukti bezeichnet

werden, d. h. Weisen der Integration, des Yoga, der Vereini-gung mit Gott (vgl. Vers 148). Andere Begriffe bezeichnen ge-wisse Formen der Kontemplation, wie etwa bhavana, die sichaber nicht auf alle beschriebenen Methoden beziehen.

Netra-Tantra VIII. 16 gibt eine wichtige Definition von dha-ran

˙a, die sich von der des Yoga-Sutra unterscheidet und hier

angewendet werden kann:Dharan

˙a (›Konzentration‹) ist (eine Praxis), durch die das

Wesen des Hçchsten Selbst ( paramatman = Gott) immer(im Bewußtsein) ›gehalten‹ wird (dharyate), und diese dha-ran

˙a ist f�hig, die weltliche Gebundenheit zu lçsen.

Erstaunlich ist die breite Vielfalt der Methoden zur Verinner-lichung, Integration und Vergçttlichung, die im Vijnana Bhai-

1 Siva-Sutra-Vimarsinı I. 5.2 Die vier Teile eines vollst�ndigen Agama bestehen aus: Ritual

(kr iya), Lebensregeln (carya), Philosophie (vidya) und Yoga.3 Das Wort selbst kommt im Text nicht vor, wird aber h�ufig von

den Kommentatoren verwendet.

16 e inf �hr ung

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rava vermittelt werden. Diese Vielfalt bezieht sich einerseitsauf die unterschiedlichen F�higkeiten und Verfassungen derMenschen. Jeder kann, ausgehend von seiner eigenen Voraus-setzung, einen Weg finden, das Gçttliche in sich zu realisieren.Zum anderen bezieht sie sich auf die unterschiedlichen Er-fahrungen des Lebens, die als Ausgangspunkt f�r eine mysti-sche Realisierung dienen kçnnen, die sozusagen die Funktioneines Sprungbrettes haben f�r das Eintauchen in den großenSee des gçttlichen Bewußtseins. Diese Vielfalt der Methodenhat ihren theologischen Grund in der Allgegenwart der gçtt-lichen Wirklichkeit, die von jedem beliebigen Punkt ausge-hend erfahren werden kann. Dies bedeutet jedoch keine Vag-heit oder Verallgemeinerung, vielmehr ist jede Methode insich selbst vollst�ndig und verweist auf einen pr�zisen meta-physischen Hintergrund.

Die hier geoffenbarten 112 Weisen, die gçttliche Natur insich zu entdecken, sind so umfassend, daß kein Aspekt derWirklichkeit und der menschlichen Erfahrung ausgeschlos-sen ist. Dennoch ist ihre Vielfalt nicht verwirrend, da sienur ein Ziel haben, auch wenn es verschiedene Bezeichnun-gen tr�gt: das Erlangen der Mitte, das Eintauchen in dieLeere, die hçchste Freude, das Erlangen des Zustandes freivon Gedanken und Vorstellungen (nirvikalpa), das Einswer-den mit Siva/Bhairava u. a. m.

Die 112 Methoden lassen sich je nach ihrem Inhalt in Grup-pen einteilen, was in der Anordnung des Textes bisweilen vor-gegeben ist, aber nicht immer. Eine solche Einteilung kannder Methode, den angewandten Mitteln oder der Stufe dermystischen Erfahrung folgen. Die letztere wird oft von Kom-mentatoren mit den Begriffen der drei spirituellen Wege(upaya) bezeichnet, die allerdings im Text selbst nicht auftre-ten. Die drei bzw. vier upayas werden im Malinıvijaya-Tantragelehrt und wurden von Abhinavagupta in seinem Tantralokaausf�hrlich dargelegt.1

Heben wir zun�chst das Gemeinsame dieser dharan˙

as bzw.

1 Abhinavagupta, Tantraloka, 12 Bde., KSTS, Srinagar 11918-1938.

17we ise n de r konze nt rat ion

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yuktis hervor: Ausgangspunkt ist die Erfahrung, daß die Men-schen zu sehr in ihre individuellen Vorstellungen, Gedankenund Zerstreuungen (vikalpa) verstrickt sind, um die gçttlicheWirklichkeit, die in ihnen schlummert, wahrnehmen zu kçn-nen. Nur eine Befreiung aus ihren eingefahrenen Denkstruktu-ren kann sie bef�higen, ihr eigenes, gçttliches Wesen zu erken-nen (vijnana bhairava).1 Eigentlich einzige Voraussetzung f�rdie hçchste Erfahrung ist daher ein Zustand, der frei von Ge-danken und Vorstellungen ist (nirvikalpa). Nur die Mittel undWege, diesen gedankenfreien Zustand zu erlangen, sind un-terschiedlich. Abhinavagupta rechtfertigt die Anwendung je-der Methode, wenn es um die Erlangung der hçchsten Wirk-lichkeit geht.

In der folgenden Passage liefert er eine Begr�ndung f�r dieVielfalt der Methoden und die Verschiedenheit der Ann�he-rung an die »hçchste Wirklichkeit« ( paratattva), die das Vij-nana Bhairava kennzeichnen:

Um in die transzendente Wirklichkeit einzudringen, kannman jedes Mittel ergreifen, das einem naheliegt. Die ande-ren soll man aufgeben. Doch gibt es keine Einschr�nkun-gen, was diese Mittel betrifft. Nach der Lehre des Trika be-steht Gleichheit in bezug auf alle Gçtter, alle spirituellenStrçmungen, alle Mantras, die heiligen Schriften (agama)und die Wege – weil alles gçttlich ist (wçrtlich: weil allesvon Siva durchdrungen ist). Tantraloka IV. 273-275

Wenn alles von Siva durchdrungen ist, kann auch jede belie-bige Erfahrung und Erkenntnis zu Ihm f�hren. Weiter heißtes:

Derjenige, der das wahre Wesen des Selbst in seiner unge-brochenen Form erlangt, sieht die Wirklichkeit Sivas in ih-rer ungebrochenen Realit�t. Tantraloka IV. 275b-276a

1 Nach der philosophischen Terminologie der Schule kann man es»das Wiedererkennen (Gottes)« nennen, ısvara-pratyabhijna (vgl.den Grundtext von Utpaladeva, Isvarapratyabhijna-Karika).

18 e inf �hr ung

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Zu den allgemeinen Bedingungen gehçren die Verinner-lichung, die allen Methoden auf die eine oder andere Weisezu eigen ist, und ein unzerstreuter Geist. Wenn es am Endedes Textes heißt, daß man das hçchste Ziel, die Vollkommen-heit oder mystische F�lle, auch nur durch die Praxis einer ein-zigen der 112 Methoden erlangen kann (vgl. Vers 148), dannsetzt dies vollkommene Konzentration ohne Zerstreuung(»ohne Wellen«, vgl. Vers 139) voraus. Eine solche auf-eins-ge-richtete Aufmerksamkeit vermag alles zu erreichen; ohne sien�tzen auch die besten Mittel nichts.

d e r d i a lo g i sc he r a h m e n d e s t a n t r a

Den Rahmen des Textes bildet der Dialog zwischen der Gçt-tin, Bhairavı, und dem Gott, Bhairava, wie in den meisten Sai-vagamas. Dieser im Grunde minimale Dialog ist weit mehrals eine rhetorische Form, die Themen einzuf�hren. Er ge-hçrt wesentlich sowohl zum metaphysischen Hintergrundals auch zur spirituellen Praxis, die innerhalb dieses Rahmensgelehrt wird.

Die Gçttin beginnt ganz unmittelbar damit, daß sie alleTantras, und besonders die der Trika-Schule, »gehçrt«, d. h.studiert habe, ihre existentiellen Zweifel jedoch noch nichtgeschwunden seien (Verse 1-2). Sie kennt die Texte und dieTheorie, aber sie ist noch unbefriedigt, weil ihr die Erfahrungfehlt, die jene zum Ausdruck bringen. Mit dem Unwissen derGçttin werden zwei Dinge ausgedr�ckt: Zum einen wird im-plizit betont, daß das vorliegende Tantra einen weit prakti-scheren Zugang zu der intendierten mystischen Erfahrungliefert als die anderen Tantras (obwohl ein solcher Gegensatzsonst nirgends explizit ausgesprochen wird), ein Umstand,den man nur best�tigen kann, wenn man das Vijnana Bhai-rava mit anderen Tantras vergleicht, die nicht an dessen Un-mittelbarkeit und Lebendigkeit heranreichen. Zum anderengeht es um die metaphysische Realit�t der Gçttin: Wenn siewirklich, wie es wenige Verse sp�ter heißt (Verse 18-19), von

19de r d i a log i sche ra hme n des t ant r a