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Christliche Musik als Manifestation europäischer Kultur Die Anfänge und die Wegmarken ihrer Entwicklung in der Neuzeit Günther Massenkeil Vorbemerkung Die Anfänge des christlichen Gottesdienstes, wie er sich im Imperium Romanum seit dem Ende der Christenverfolgung (313) konstituierte, sind auch die Anfänge der christlichen Musik. Denn dieser Gottesdienst war wesenhaft mit Gesang verbunden und führte zur Entstehung des einstimmigen gre- gorianischen Chorals. Ihn werde ich im I. Teil behandeln. Aus dem Choral heraus entstand dann die mehrstimmige Musik. Deren Anfänge bilden das Thema meines II. Teils bis zu dem Moment, wo als zukunftsweisendes Moment die Motette und die Messe als die beiden ersten Hauptgat- tungen der christlichen Musik in Erscheinung treten, gefolgt von der Lamentation und der Passion als weitere liturgische Gattungen. Mit ihnen beginnt auch auf unserem Gebiet im 15./16. Jahrhundert musikgeschichtlich die Neuzeit. Welche Ereignisse und Kräfte die Entwicklung dieser Gattungen markieren, ist Gegenstand des III. Teils des vorliegenden Bei- trags. Es versteht sich von selbst, dass ein so weitgespanntes Panorama nur in groben Umrissen skizziert werden kann. Die Vortragsform – unter Verzicht auf Nachweise und Anmerkungen – wird auch im Druck beibehalten. Wer von den Anfängen der christlichen Musik spricht, muss sich eines terminologischen Sachverhalts bewusst sein, der so in der Geschichte anderer Künste nicht exis- 112

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Christliche Musik als Manifestationeuropäischer KulturDie Anfänge und die Wegmarken ihrerEntwicklung in der Neuzeit

Günther Massenkeil

Vorbemerkung

Die Anfänge des christlichen Gottesdienstes, wie er sich imImperium Romanum seit dem Ende der Christenverfolgung(313) konstituierte, sind auch die Anfänge der christlichenMusik. Denn dieser Gottesdienst war wesenhaft mit Gesangverbunden und führte zur Entstehung des einstimmigen gre-gorianischen Chorals. Ihn werde ich im I. Teil behandeln.Aus dem Choral heraus entstand dann die mehrstimmigeMusik. Deren Anfänge bilden das Thema meines II. Teilsbis zu dem Moment, wo als zukunftsweisendes Momentdie Motette und die Messe als die beiden ersten Hauptgat-tungen der christlichen Musik in Erscheinung treten, gefolgtvon der Lamentation und der Passion als weitere liturgischeGattungen. Mit ihnen beginnt auch auf unserem Gebiet im15./16. Jahrhundert musikgeschichtlich die Neuzeit. WelcheEreignisse und Kräfte die Entwicklung dieser Gattungenmarkieren, ist Gegenstand des III. Teils des vorliegenden Bei-trags. Es versteht sich von selbst, dass ein so weitgespanntesPanorama nur in groben Umrissen skizziert werden kann.Die Vortragsform – unter Verzicht auf Nachweise undAnmerkungen – wird auch im Druck beibehalten.

Wer von den Anfängen der christlichen Musik spricht,muss sich eines terminologischen Sachverhalts bewusstsein, der so in der Geschichte anderer Künste nicht exis-

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tiert. Denn im Mittelalter wurde das Wort Musica sehr vielweiter begriffen, als wir es heute und schon etliche Jahr-hunderte lang tun. Das liegt darin begründet, dass die frühechristliche Musikauffassung das Erbe der griechischen An-tike aufgenommen hat, aus der sich zwar keine musika-lischen Zeugnisse, dafür aber in reichstem Maße philoso-phische und literarische Quellen erhalten haben. Ihnenzufolge galt die mousikû (ältester Wortbeleg bei Pindar,476 v. Chr.) sowohl als Element von Bildung und Erziehungals auch als menschliche Fähigkeit. Sie „beanspruchte alsEinheit von Vers, Gesang, instrumentaler Begleitung undTanz den ganzen Menschen; sie wirkte auf ihn nicht alsbloße Kunst (im späteren abendländischen Sinn des Worts),sondern als eine den Charakter des Menschen bildendeKraft“ (Georgiades, 1967). Dass außer dem Wort Musikauch die mit ihr verbundenen musikalischen Grund-begriffe Harmonie, Melodie, Rhythmus und viele anderegriechisch-antiken Ursprungs sind, braucht hier wohlnicht eigens betont zu werden.

Der Hauptzeuge für die frühe christliche Musikauffas-sung ist der hl. Augustinus. Er definiert Musica als eine„scientia bene modulandi“. Dabei verweist „scientia“ aufihre Integration in dem Bildungssystem der Artes liberales,„bene“ auf ihre ethische Bestimmung, „modulandi“ auf ihrmathematisches Wesen, das sich nach Augustinus inMelos und Rhythmus als eine durch Zahlen geordnete Be-wegung kundgibt. Dies alles steht in der Tradition der neu-platonischen und neupythagoreischen Erkenntnislehre.Augustinus geht aber weiter und betont in seiner SchriftDe musica (entstanden 387–89) die christliche Auffassung,dass die Musik ein „donum Dei“ sei. Daraus ergibt sich fürihn zwingend die Forderung einer prinzipiell gottgerichte-ten Gesinnung beim Gesang kirchlicher Musik. Man kannhierin eine auf den gläubigen Menschen gerichtete Theo-logie der Kirchenmusik sehen.

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I. Teil: Der gregorianische Choral als erste Manifestationund Wurzel der christlichen Musik

Schon in biblischer Zeit ist das christliche Gemeindelebenaufs engste mit Gesang verbunden, wie der Apostel Paulusandeutet, wenn er im Brief an die Kolosser (3,16) die Chris-ten der phrygischen Stadt ermahnt: „Verbum Christi habi-tet in vobis abundanter, in omni sapientia, docentes, etcommoventes vosmetipsos, psalmis, hymnis, et canticisspiritualibus (odai pneumatikai), in gratia cantantes in cor-dibus vestris Deo.“

Auch wenn nicht klar ist, was unter den cantica spiri-tualia (ïdaË pneumatikaË) zu verstehen ist, dürfte diesesSingen in mancher Hinsicht mit dem Jüdischen verbundengewesen sein, wie der Verweis auf die Psalmen zeigt. Essteht zu ihm aber in Widerspruch durch den Verzicht aufkultisches Instrumentenspiel, das im Tempel zu Jerusalemvor der Zerstörung im Jahr 70 n. Chr. gepflegt wurde.

Sozusagen auf einem anderen Blatt (der Bibel) steht, dassdie Instrumente im Neuen Testament in der Geheimen Of-fenbarung so ostentativ erklingen. Freilich hat Johannes mitder Posaune des letzten Gerichts vermutlich ein anderes In-strument im Sinn als die alttestamentlichen Posaunen vonJericho (die übereinstimmende Benennung stammt von Lu-ther). Diese waren eigens bearbeitete Widderhörner (Schofa-re), jene gerade metallene Trompeten griechischer Herkunft(s!lpigx esc!th).

Nun zum gregorianischen Choral, der dieses Attribut er-halten hat, weil etwa seit dem 9. Jahrhundert gelegentlichauf Papst Gregor I., den Großen († 604, Pontifikat seit 590),als Urheber oder Ordner verwiesen wird. „Gregorianisch“ist aber auch das musikologische Unterscheidungsmerk-mal zu dem sogenannten byzantinischen Choral, von demhier aber nicht die Rede sein kann.

Was nun die Geschichte des Chorals (wie wir ihn im

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Folgenden einfach nennen) betrifft, so steht der Musikhis-toriker vor einer gegenüber den bildenden und sprach-lichen Künsten des Mittelalters singulären Situation. Wirwissen zwar, wie bereits gesagt, dass der christliche Got-tesdienst von seinem Anfang an wesenhaft mit Gesang ver-bunden ist. Das geht schon hervor aus der Existenz einerklerikalen Schola cantorum am päpstlichen Hof in Rom,vielleicht schon zur Zeit Kaiser Konstantins, vielleichtauch erst unter Papst Gregor dem Großen. Aber es fehlenuns fast bis zum Ende des 1. Jahrtausends die musika-lischen Quellen. Die frühesten Handschriften der Gesängeder Messe und des Offiziums (der Tagzeitenliturgie) stam-men aus dem 9. Jahrhundert und enthalten keine Melo-dien, ein Zeichen für ihre bis dahin ausschließlich mündli-che Überlieferung. Die frühesten musikalischen Quellensind erst aus den späteren Jahrhunderten überliefert. Unab-hängig davon ist die Frühgeschichte des Chorals die Ge-schichte ihrer – mündlichen – Ausbreitung.

1. Die Ausbreitung im 1. Jahrtausend

Der Untergang des Weströmischen Reiches in der Zeit derVölkerwanderung, die Christianisierung der Völker nörd-lich der Alpen und die Entstehung und Entwicklung desFränkischen Reiches vom 5. bis 9. Jahrhundert unter denMerowingern: Diese Ereignisse brachten eine Ausbreitungdes ursprünglich römischen Chorals mit sich. Unter Pippindem Kurzen und Karl dem Großen fand Ende des 8. Jahr-hunderts eine Art Liturgiereform statt, bei welcher der bis-herige sogenannte gallikanische Choralgesang bis auf we-nige Spuren dem römischen weichen musste.

An dieser Übernahme war entscheidend das geistlicheWirken der Klöster beteiligt, die nach der Gründung des Be-nediktinerordens durch den hl. Benedikt von Nursia imersten Drittel des 6. Jahrhunderts entstanden. Seine mön-

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chische Regel, 530 für Montecassino geschaffen, wurde ge-samteuropäisch grundlegend vor allem für die Ordnungund den Gesang des liturgischen Stundengebets (Officiumdivinum). Dessen Wesen ist bis heute geprägt durch den ge-meinsamen Gesang der Psalmen und der sie begleitendenAntiphonen. Wörtlich heißt es in der benediktinischen Re-gel: „Et sic stemus ad psallendum ut mens nostra con-cordet voci nostrae.“

Im Umkreis Benedikts wurde auch zur intellektuellenStützung des Gesangs das bis heute bestehende Systemder unterschiedlichen Psalmtöne in Verbindung mit demSystem der sogenannten Kirchentonarten (Modi ecclesias-tici) gesehen. Diese stehen in der nicht ganz einfach zu ver-folgenden Tradition der griechischen Musiklehre, woraufderen Namen verweisen: dorisch, phrygisch, lydisch, io-nisch, äolisch, je nachdem, welcher Ton der Tonleiter zu-grunde liegt. Papst Benedikt XVI. hat kürzlich in seinerRede im Pariser Collège des Bernardins im Zusammenhangmit dem mönchischen Singen auch die christologische Di-mension der Kirchentöne bewusst gemacht, wie sie bei anden Kapitellen der Abteikirche in Cluny zum Ausdruck ge-bracht sind.

Wir heutzutage müssen uns damit bescheiden, wenn wiruns etwa die dorische Tonart vorstellen wollen, an die cho-rale Ostersequenz Victimae paschali laudes zu denken, fürdie phrygische Tonart an O Haupt voll Blut und Wunden.

2. Die musikalischen Quellen und ihre Notation

Die schriftliche Überlieferung – man spricht auch von ei-ner Verschriftlichung – des Chorals mit Hilfe speziellerZeichen beginnt erst nach dieser seiner europäischen Aus-breitung am Anfang des 10. Jahrhunderts. Das ist ein er-staunliches Faktum, wenn man bedenkt, dass in der grie-chischen Antike und seiner Tradition, wenn überhaupt,

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eine Aufzeichnung der gesungenen Melodien lediglich mitTonbuchstaben erfolgte. Nun gibt es aus Klöstern zunächstu. a. in Laon, Angers, St. Gallen, später in Zentralfrank-reich, Südengland, Norditalien sowie auch Regensburg li-turgische Handschriften, die über bestimmten TextenNotenzeichen enthalten, sogenannte Neumen (Entstehungunklar, vielleicht sind sie, worauf der Name hindeutet,Handzeichen der Kantoren nachgebildet). Sie bestehen auseiner Folge von geraden und gebogenen Strichen und Punk-ten, lassen aber noch keine genauen Intervalle, sondern nurdas Auf und Ab der zugeordneten Melodie erkennen undüber welchen Textsilben mehrere Töne oder nur je einTon gesungen werden. Allerdings gibt es graphisch nichtnur eine Art von Neumen, sondern lokal verschiedene.

Um die Mitte des 11. Jahrhunderts begegnen auch Quel-len, in denen Neumen auf durchgehende Linien über denTexten geschrieben sind. Es waren zunächst nur Linien fürdie Töne c und g, dann vier oder fünf Linien, so dass nundie genauen Tonhöhen fixiert waren. Die c-Linie wurde injeder Zeile durch den betreffenden Tonbuchstaben markiert,den Notenschlüssel, wie er bis heute in verschiedenen For-men (z. B. als g- oder Violinschlüssel) üblich ist. Dieses Ver-fahren, das aus der Praxis des gottesdienstlichen Gesangsder christlichen Kirche heraus gefunden war, legte dannden Grund für die abendländische Notenschrift.

Eine graphische Weiterentwicklung der Neumen bedeu-tet die Entstehung von quadratischen oder hufnagelähn-lichen Notenzeichen, die im Schreibduktus mit gotischenBuchstaben verwandt sind. Diese Notenschrift wird auchdeutsche Choralnotation genannt, obwohl sie nicht nur indeutschen Quellen erscheint.

Die Quadratnotation ist heute bekannt aus den unterPapst Pius X. seit 1904 rekonstruierten liturgischen Bü-chern der Editio Vaticana. Quellen in Hufnagelnotationenthalten Gesänge mit eigenen melodischen Varianten,

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die man als germanischen Choraldialekt bezeichnet hat.Dieser wird in der Tradition des Cantus Moguntinus singu-lär seit langem praktiziert durch eine Choralschola in derspätgotischen Pfarrkirche zu Kiedrich im Rheingau.

Abbildung 1 zeigt die verschiedenen Formen der Notie-rung anhand des Anfangs des Graduale Justus ut palma flo-rebit (aus der Missa de confessore non pontificis):

a linienlose Neumenb Neumen mit c- und f-Liniec Neumen auf dem 5-Liniensystemd Hufnagelnotatione Quadratnotationf moderne Umschrift

Wiedergabe von a–d nach Paléographie musicale II (Soles-mes 1891, Nachdruck Bern 1974)

3. Die weitere Entwicklung in Gestalt neuer Formen

Kommen wir wieder zum Choral selbst, so bleibt, bevorwir uns seiner Geschichte zu Beginn des 2. Jahrtausendszuwenden, noch ein kurzer Blick auf den nichtrömischenLiturgiegesang.

Während der gallikanische Gesang vor Karl dem Großendurch die Ausbreitung des römischen verloren gegangenist, besteht bis heute in Mailand eine Liturgie, die auf denhl. Ambrosius († 397) zurückgeht, der ja selbst Hymnenkomponiert hat, wie das Te Deum bezeugt, der Ambrosia-nische Lobgesang.

Später war in Spanien während der islamischen Herr-schaft ein eigenes liturgisches Singen vom 7. bis zum 11.Jahrhundert mit dem Zentrum Toledo verbreitet. Es erhieltin der Choralforschung den irreführenden Titel „Mozarabi-scher Choral“, obwohl er keine arabischen Einflüsse auf-weist. Nach der Reconquista wurde er durch den römi-schen Gesang ersetzt.

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Wie ging es nun nach Karl dem Großen mit dem Choralweiter?

Seit ihm war der Grundbestand der Texte und Melodienfür Messe und Officium für das ganze Kirchenjahr weit-gehend kanonisiert, handschriftlich verteilt auf einzelne li-turgische Bücher, Graduale, Antiphonale, Lektionar. Feststand auch die Verteilung auf die verschiedenen, aus-schließlich klerikalen Mitwirkenden beim Gottesdienst,Priester, Vorsänger und Chor. Demgegenüber war die Ge-meinde nicht beteiligt (ihre Sache waren nur in den erstenJahrhunderten vor allem die Akklamationen). Diese gottes-dienstliche „Rollenverteilung“ bleibt bekanntlich in derganzen Folgezeit so im Prinzip bis zum II. VatikanischenKonzil, obwohl es mannigfache Versuche eines deutschen„Volkschorals“ gegeben hat. Fest standen auch unter-schiedliche Gesangsformen, einfache und typisierte Dekla-mationsformeln für Lesungen und Orationen (accentusecclesiasticus), individuelle Vertonungen anderer Texte(concentus ecclesiasticus).

Bei dieser festen Ordnung scheint seit dem 9. Jahrhundertdas Bedürfnis bestanden zu haben, den traditionellenGrundbestand der Gesänge nach verschiedenen Seiten hinzu erweitern. So entsteht ein Verfahren, das man als Tropie-rung bezeichnet und das zu mehreren neuen Formen führte:Tropus im engeren Sinne, Sequenz und liturgisches Drama.

Tropus ist eine Sammelbezeichnung für neugeschaffenefreie Texte und Melodien, die einzelne Gattungen desChorals – oft Kyrie oder Gloria – einleiten, unterbrechenoder fortführen, ohne die Substanz des ursprünglichen Ge-sangs zu verändern. Die Zahl vor allem der Kyrie-Tropenist groß, ihre Spur findet sich deutlich noch in den Choral-messen der unter Papst Pius X. begonnenen und von ihm1903 offiziell verkündeten Editio Vaticana. Sie sind hiernicht nur gezählt als Nr. I bis XIV, sondern ihre Kyries tra-gen Titel wie Cunctipotens genitor Deus oder Orbis factor.

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Eine andere Form ist die Sequenz, ein meist gereimtesStrophenlied, das ursprünglich ein Alleluja-Tropus war der-gestalt, dass man langen Tongruppen neue Texte Ton fürTon unterlegte. Ihre Zahl seit der 2. Hälfte des 9. bis ins16. Jahrhundert ist enorm, ein bedeutendes Zentrum wardas Kloster St. Gallen. Das Konzil von Trient hat dann dieSequenzen auf fünf beschränkt: Dies irae, Lauda Sion(Thomas von Aquin), Stabat Mater, Veni, Sancte Spiritusund Victimae paschali laudes. Das II. Vatikanische Konzilgriff schließlich noch einmal ein und entfernte aus pastora-len Gründen das Dies irae aus der Totenmesse.

Die liturgischen Dramen als die dritte Form sind in ih-ren neugedichteten Texten inhaltlich auf Feste des Kir-chenjahres bezogen und wurden z. B. in oder vor der Kirchevor der Messe gesungen. Zeugnisse in lateinischer Spracheexistieren aus Deutschland (z. B. in den Carmina burana,13. Jahrhundert), Frankreich und England und repräsentie-ren zum ersten Mal im Bereich der mittelalterlichen Ein-stimmigkeit ausgeprägte nationale Eigenheiten, zumal sienach der anfänglichen Latinität auch in der Landesspracheverfasst wurden. Vor allem in Frankreich hatte die Gattungunter dem Namen „Mystère“ im 14.–16. Jahrhundert eineHochblüte. Dort wurde sie auch im 19. und 20. Jahrhundertim Rahmen der Pflege des Oratoriums wiederbelebt.

Werfen wir zum Schluss dieses Abschnitts noch einenSeitenblick auf die weltliche Einstimmigkeit als die im Mit-telalter zum Choral und seinen Derivaten musikhistorischkomplementäre Erscheinung. So einheitlich die Entwick-lung des einstimmigen Gesangs der lateinischen Kirche imAbendland verlief, so sehr ging das volkssprachliche Singenin einzelnen Ländern seine eigenen Wege. Im Gebiet der hö-fischen Kultur entstand in Frankreich in der Mitte des 12.Jahrhunderts, im provenzalischen Süden in der Verbindungvon Poesie und Musik, die Kunst der Troubadours, dann inder zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts im Zentrum des Lan-

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des die der Trouvères, gleichzeitig in Deutschland die Kunstder Minnesänger. Eine Sonderrolle in diesem Zusammen-hang kommt keinem Geringeren als Alfons X., König vonKastilien und Leon zu. Er dichtete und vertonte in einer po-litisch und religiös entscheidenden Phase Spaniens in galici-scher Sprache nicht nur weltliche Minnelieder, sondernauch 400 Lieder zu Ehren Marias (Cantigas de Santa María,um 1260), die wichtigsten Zeugnisse landessprachlichergeistlicher Liedkunst im Mittelalter.

Die Einstimmigkeit der Tropen, Sequenzen, liturgi-schen Dramen und der weltlichen Gesänge bildet im 12.und 13. Jahrhundert nicht nur eine Ergänzung des choralenRepertoires, sondern der Choral wird in dieser Zeit auchzum Quell der Mehrstimmigkeit und markiert damit diewohl bedeutendste Station der frühen europäischen Musik-geschichte. Doch wird er durch sie nicht ersetzt, sondernbleibt weiterhin präsent.

4. Das Weiterleben des Chorals bis zur Gegenwart

Hier sind mehrere Aspekte zu unterscheiden:– Das Weiterleben als eigene musikalische Größe im

Gottesdienst, in der katholischen Kirche über die Reforma-tion und vielfach modifiziert im Prinzip bis heute, wasnicht zuletzt in der Liturgiekonstitution des II. Vatika-nischen Konzils zum Ausdruck kommt. Der lateinischeChoral ist also das musikalische Signum der – nicht nureuropäischen – Einheit der katholischen Kirche, auchwenn seine praktische Pflege schon immer weitgehendauf Bischofskirchen und Klöster beschränkt war.

Allerdings war die europäische Einheit des Chorals inder Neuzeit vereinzelt nicht bewahrt, und zwar im grandsiècle Frankreichs unter Ludwig XIV. Hier schufen einigeprominente Musiker in beschränktem Umfang eigene cho-rale Melodien in einer Einstimmigkeit, die sie plain-chant

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musical nannten. Kernstück dieser Neukompositionen wa-ren fünf 1669 gedruckte Messen des königlichen Hofmusi-kers Henry Du Mont mit dem Titel Messes royales. Sie be-kunden auf ihre Weise die Sonderstellung der katholischenKirche im monarchischen Frankreich nach dem Konzil vonTrient (Gallikanismus), die auch in anderen musikalischenBereichen feststellbar ist. Die Messes royales hielten sichbis ins 19. Jahrhundert in der gottesdienstlichen Praxisund wurden auch außerhalb Frankreichs im 20. Jahrhun-dert für den liturgischen Gebrauch veröffentlicht (so indem bis in die Gegenwart weitverbreiteten Liber usualisMissae et Officii, 1906ff.).

– Der Choral als Wurzel des deutschen katholischen undevangelischen Kirchenlieds.

– Der Choral als Gegenstand kompositorischer Bearbei-tung.

In diesem bis zur Gegenwart weitgespannten Bereichgibt es zwei Möglichkeiten: die mehrstimmige Vertonungvon Choralgesängen (siehe dazu die Anfänge im folgendenKapitel) und in- und außerhalb der Kirchenmusik das zei-chenhafte Zitieren und Verarbeiten choraler Melodien.

Hier sei nur hingewiesen auf den Anfang des Credo inJohann Sebastian Bachs h-Moll-Messe mit der Melodie derIntonation des gregorianischen Credo I, sowie auf die moti-vische Verarbeitung und Verzerrung der ersten Strophe derSequenz Dies irae als musikalische Chiffre für den Schre-cken des jüngsten Gerichts.

II. Teil: Die Anfänge der Mehrstimmigkeit und ihre erstenGattungen

Die Mehrstimmigkeit als neue Entwicklungsstufe derchristlichen Musik kann wie die oben genannten neueneinstimmigen Formen als eine Art Tropierung angesehen

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werden, nur dass hier die Ergänzung einer choralen Melo-die nicht textlich und in deren Verlauf, also sozusagen ho-rizontal, sondern musikalisch im Zusammenklang, alsovertikal, geschieht. Das Neue: Der musikalische Ablaufist im Unterschied zu der Einstimmigkeit rhythmisch ge-regelt, und zwar zunächst ausschließlich in Dreiermensur,die im Mittelalter als Perfectio und Ebenbild der göttlichenTrinität gilt.

Das Zentrum der frühesten Mehrstimmigkeit auf der Ba-sis des Chorals ist wiederum Frankreich, daneben Spanien(Santiago de Compostela) und England (Winchester). Frank-reich: Das bedeutet am frühesten das BenediktinerklosterSt. Martial in Limoges, am reichsten Notre-Dame zu Parisin der Phase der Vollendung der Kathedrale (1190–1246) alsZentrum der architektonischen Gotik. Die Musik dort re-präsentierten die Magistri Leoninus und Perotinus. Zumersten Mal in der Geschichte erscheinen hier Namen vonKomponisten. Sie sind natürlich den Musikologen vertraut,die sich aber kaum dessen bewusst sind, dass gleichzeitigmit ihnen in Paris Albertus Magnus und Thomas von Aquinwirkten. Berührungen sind nicht bekannt.

Die Mehrstimmigkeit an Notre-Dame bekundet sich inunterschiedlicher textlich-musikalischer Weise und führtzur Ausprägung bestimmter Gattungen. Da ist zunächstdas Organum, belegt mit einem Terminus, der im Mittel-alter auch generell Musikinstrument und speziell die Orgelbezeichnet. Es ist zwei- oder dreistimmig und dadurch cha-rakterisiert, dass in der Unterstimme eine chorale Melodiein großen Notenwerten als eine Folge von Haltetönen zu-grunde liegt (Orgelpunkten), während sich die Oberstim-men in schnellen Notenwerten in Dreiermensur bewegen(Abbildung 2 zeigt den Beginn des dreistimmigen OrganumAlleluja – Na[tivitas] aus der Notre-Dame-Handschrift W2(2. Hälfte 13. Jahrhundert) der Herzog August BibliothekWolfenbüttel).

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Wie genau diese Musik aufgeführt wurde, weiß mannicht. Nach dem kleinen Format der erhaltenen Haupt-quellen zu urteilen, erklangen die Oberstimmen wohl so-listisch, was uns heute in Anbetracht der Größe des Kir-chenraums von Notre-Dame als rätselhaft vorkommt. DieHaltetöne wurden möglicherweise von einer Orgel ge-spielt, und dies ohne Noten, wenn man die Bekanntheitder jeweiligen Choralmelodie voraussetzt.

Die wichtigste – weil in die Zukunft weisende – Gat-tung der Notre-Dame-Mehrstimmigkeit ist die Motette.Auch in ihr liegt eine Choralmelodie zugrunde, aber nichtin Haltetönen, sondern periodisch rhythmisiert. Ein wei-teres Kennzeichen ist in den Oberstimmen das Hinzutre-ten eines zweiten lateinischen oder französischen Textes.Dies verweist mit der Ableitung von frz. mot wiederumauf das Prinzip der Tropierung. Freilich verliert die Motetteim 15. Jahrhundert die Doppeltextigkeit, die wesenhafteBindung an eine Choralmelodie und die periodische Rhyth-misierung und wird so zu einer – der ersten – Hauptgattungder christlichen Musik.

Um das Jahr 1300 verblüht die Notre-Dame-Kunst undbringt im musikalischen Satz die Gleichberechtigung desZweierrhythmus. Dass dies neu war, geht explizit ausdem Titel Ars nova eines um 1320 geschriebenen Musik-traktats des Franzosen Philippe de Vitry hervor, der musik-historiographisch die folgende Epoche bis etwa 1380 be-zeichnet. In ihr tritt erstmals in Europa die weltliche undinstrumentale Musik deutlich in Erscheinung, nun abernicht nur in Frankreich, sondern auch in Italien. Es ist dasLand, von dem aus in dieser Zeit Dante und Petrarca dieeuropäische Kultur mitbestimmen.

In Frankreich kommt es in der Ars nova zu einer weiterenBereicherung der mehrstimmigen gottesdienstlichen Musikdurch den aus der Champagne stammenden Guillaume deMachaut. Er vertont – wahrscheinlich zur Krönung Karls V.

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in Reims 1364 – erstmals das gesamte Ordinarium missae,d. h. die Teile der Messe, die unabhängig von den kirchen-zeitlich wechselnden Gesängen der Schola dem Chor zuge-wiesen waren, also Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Bene-dictus, Agnus Dei (dazu Ite missa est). Das Werk ist sokonzipiert, dass den kurzen Teilen des Ordinariums, alsoKyrie, Sanctus und Agnus Dei, chorale Melodien zugrunde-liegen, während die langen Teile Gloria und Credo frei ge-staltet sind (Abbildung 3 gibt das Kyrie wieder, wobei zu er-kennen ist, dass die Stimmen hier nicht wie in denNotre-Dame-Handschriften Ton für Ton (partiturähnlich)untereinander, sondern nacheinander angeordnet sind).

Mit der unterschiedlichen Struktur der Messesätze isteine bestimmte ganzheitliche Konzeption zu erkennen. Sieund der originale Titel Messe de Nostre Dame führen dazu,in diesem Werk den Beginn der Geschichte der Messe als ei-ner eigenen musikalischen Gattung zu sehen. Der terminolo-gische Befund, die Übertragung der Bezeichnung für die litur-gische Feier der Eucharistie, ist bei der Messe also anders alsbei der Motette, wo der Gattungsbegriff nicht auf einen be-stimmten liturgischen Zusammenhang verweist. Motetteals Inbegriff der Vertonung liturgischer Texte allgemein undMesse als Vertonung speziell des Ordinarium missae werdenim 15. Jahrhundert die Hauptgattungen der christlichen Mu-sik und bleiben dies im Prinzip bis zur Gegenwart.

Ihnen zur Seite stehen seit Ende des Jahrhunderts alsweitere mehrstimmige Gattungen die Passion und die La-mentation. Beide haben ihren liturgischen Ort als Lesun-gen in der Messe bzw. im Officium der Karwoche.

Bei der zugrundeliegenden choralen Passion wird diebiblische Leidensgeschichte gleichsam mit verteilten Rol-len musikalisch formelhaft vorgetragen: Ein Sänger rezi-tiert den erzählenden Text (Narratio), ein zweiter (in tiefe-rer Tonlage) die Worte Jesu, ein dritter (in höherer Tonlage)die Worte der Einzelpersonen (Soliloquenten) und der

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Menge der Juden und Jünger (Turba). Die Mehrstimmigkeitbeschränkt sich weitestgehend auf die Neukompositionder Worte der Turba, während beim Vortrag die anderenPartien traditionell choraliter gesungen werden. So ent-steht die Passion als eigene musikalische Gattung, dereine reiche Geschichte bis zur Gegenwart bevorsteht.

Die frühesten Belege stammen aus Deutschland, Eng-land, Italien und Spanien, und ihre Hochblüte (mit ca. 40erhaltenen, meist gedruckten Werken) erlebt die mehr-stimmige Passion im 16. Jahrhundert. Die Komponistensind vor allem Italiener und Niederländer, vereinzelt auchein Franzose und ein Pole (Vaclav Szamotuły, Hofkom-ponist des polnischen Königs Sigismund II.).

Lamentation ist eine Sammelbezeichnung für die Kom-position von Versen aus den Klageliedern des Jeremias(Threni). Sie beginnen jeweils mit einem in die Vulgataübernommenen hebräischen Buchstaben und verweisendarauf, dass die ersten vier Kapitel der Threni in der Urspra-che des Alten Testaments Akrosticha sind und die Buch-staben des Alphabets der Nummerierung dienen.

Dieses Gattungsgefüge von Motette, Messe, Passion undLamentation markiert den Beginn eines Zeitabschnitt biszum Ende des 16. Jahrhunderts, der kultur- und geistes-geschichtlich durch Humanismus und Renaissance geprägtist, und der auch musikgeschichtlich eine Einheit bildet.Man spricht hier von der Epoche der klassischen Vokal-polyphonie. Ihre Einheitlichkeit bezieht sich zum einenauf die musikalische Satzweise im Zusammenklang derStimmen (fachsprachlich: Kontrapunkt), mit den komposi-torischen Parametern Melodik, Harmonik und Rhythmik,sowie auf ihr Vermögen, Inhalte und Affekte der vertontenTexte auszudrücken.

Die Einheitlichkeit beruht zum anderen darauf, dassdiese Epoche bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts beherrschtwird durch Komponisten, die aus dem heutigen Nordfrank-

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reich, Belgien und Südholland stammten und dort an denDomen und großen Kirchen wirkten. Während die christli-che Musik im 14. Jahrhundert nur durch einige wenigefranzösische und italienische Meister geprägt wird, trittnun neben einigen spanischen und deutschen eine größereZahl jener franko-flämischen Musiker in Erscheinung.

Hier die Namen der bedeutendsten, deren Schaffen auchwissenschaftlich seit langem erschlossen ist: GuillaumeDufay, Gilles Binchois, Jacob Obrecht, Johannes Ockeg-hem, Josquin des Prés, Heinrich Isaac. Ihr Ruf verbreitetsich über ganz Europa und veranlasst viele weltliche undgeistliche Fürsten, allen voran den Papst, die renommier-ten franko-flämischen Musiker an ihren Hof zu verpflich-ten. Diese Verbreitung erhält kurz nach 1500 einen mäch-tigen Impuls durch die von Italien ausgehende Erfindungdes Notendrucks. Musikgeschichtlich lässt sich damit derBeginn der Neuzeit identifizieren.

Wenn man die weitere Entwicklung der christlichenMusik auch außerhalb der Fachwissenschaft in großen Zü-gen verständlich machen will, empfiehlt es sich, nach denEreignissen und Kräften zu suchen, die ihr Wesen und ihreGattungen entscheidend markiert haben.

III. Teil: Die Wegmarken der christlichen Musik in derNeuzeit

1. Die Reformation

Als erstes in diesem Sinne bestimmendes Ereignis kommtin der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Reformationin den Blick. Durch Martin Luther entsteht in Deutschlandin den protestantischen Landesteilen eine eigene gottes-dienstliche Musik. Diese ist wesentlich – theologisch undpraktisch – mit der deutschen Sprache verbunden. In Anbe-

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tracht der religiösen Situation in den katholisch gebliebe-nen Ländern und Landesteilen führt die alle politischenund kulturellen Bereiche beherrschende Glaubensspaltungin Europa zu einer konfessionellen Spaltung der christli-chen Musik. Es gibt sie nun nicht mehr als Ganzheit, son-dern im Gegenüber einer katholischen und evangelischenKirchenmusik (die im Prinzip auch die anglikanische undcalvinistische einschließt). Wobei betont werden muss,dass es von Anfang an – bei allen noch zu zeigenden inhalt-lichen und sprachlichen Unterschieden und Antagonis-men – in der kompositorischen Praxis keine musikalischenGlaubenskämpfe gegeben hat.

Der im vorangehenden Abschnitt skizzierte Stil derklassischen Vokalpolyphonie bleibt im ganzen 16. Jahrhun-dert von der Reformation im Wesentlichen unberührt. Daszeigt in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts das Schaf-fen von Giovanni Pierluigi da Palestrina (?1525–1594), dereine Zeitlang die römische Cappella pontificia leitete.Seine Autorität war in ganz Europa grenz- und konfessions-überschreitend unbestritten und führte schon früh zu ei-nem eigenen Mythos. Legendär wurde seine Missa PapaeMarcelli zu Ehren von Papst Marcellus II., der währenddes Trienter Konzils (1545–1562) im Jahre 1555 nur dreiWochen amtierte. Ein ähnlich großes Renommee wie Pa-lestrina besaß in der gleichen Zeit nur noch der Niederlän-der Orlandus Lassus (um 1532–1594), jahrzehntelang Ka-pellmeister des bayerischen Herzogs in München.

Anders als im Bereich des musikalischen Stils ist derEinfluss der Reformation auf das Gefüge der christlichenGattungen beträchtlich. Zwar behält die Motette auch inder evangelischen Kirchenmusik ihren beherrschendenStatus bei, zunächst noch mit lateinischem, dann aber zu-nehmend und bis zur Gegenwart mit deutschem Text unddamit der Gottesdienstgemeinde unmittelbar verständlich.

Von den altkirchlichen liturgischen Gattungen bleibt

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hier in der Frühzeit – als Symptom einer Art katholisch-evangelischer Repertoiregemeinschaft – allein eine Sonder-form der lateinischen Passion erhalten: die Vertonung dersogenannten Passionsharmonie nach den vier Evangelisten(Summa passionis).

Es liegt in der Natur von Luthers Ablehnung der alt-kirchlichen Messfeier, dass die mit ihr verbundene musi-kalische Gattung im reformatorischen Gottesdienst kei-nen Platz hat. Immerhin bleibt sie in Form des SatzpaaresKyrie-Gloria vereinzelt noch bis zu Johann Sebastian Bacherhalten.

Der wichtigste und zukunftweisende neue Gattungsbei-trag der Reformation besteht in der wesentlich durch Lutherselbst herbeigeführten Begründung des evangelischen Kir-chenlieds als dem Mittel der aktiven Beteiligung der Ge-meinde am Gottesdienst. Die umgangssprachliche Bezeich-nung als (evangelischer) Choral und somit als Pendant zumgregorianischen Choral kann die vergleichbare Würde wie-dergeben. Vergleichbar ist aber auch die Verwendung diesesneuen Chorals als melodische Grundlage zu mannigfachenvokalen und instrumentalen Kompositionen (Choralmotet-ten, Choralbearbeitungen für Orgel), die ein Kennzeichender evangelischen Kirchenmusik bis heute ist.

Wenn hier vom evangelischen Kirchenlied die Rede ist,muss auch daran erinnert werden, dass die konfessionelleTrennung, so scharf sie in den ersten Jahrhunderten auchist, seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktischnicht mehr existiert. Heute gehört im deutschen Sprach-gebiet ursprünglich evangelisches Liedgut wie selbstver-ständlich zum katholischen Gemeindegesang – eine neueArt der Repertoiregemeinschaft.

Die zweite bedeutende christlich-musikalische Gat-tung, die von der Reformation hervorgebracht wird, ist diedeutsche Passion, eine Schöpfung des Wittenberger Kan-tors und musikalischen Beraters Luthers, Johann Walter

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(1496–1570). Sie beruht auf der lateinischen Form mit demchoralen Vortrag der Narratio und der Worte Jesu. Walterpasst die gregorianische Melodik so dem Luthertext an,dass sie vollendet dem deutschen Sprachrhythmus folgtund die Worte der Turba mit einfachsten vierstimmigenSätzen versieht.

Seine beiden Passionen nach Matthäus und Johannes ha-ben sozusagen ein doppeltes Nachleben. Einerseits werdensie bis ins 19. Jahrhundert in mannigfachen Fassungen na-mentlich in Mitteldeutschland im evangelischen Kar-wochengottesdienst gesungen. Erstaunlicherweise findensie gleichzeitig aber auch in einigen katholischen Gebieten(Böhmen, Franken, zeitweise auch in Dresden) Verwen-dung. Andererseits entwickelt sich die Passion Waltersweitgehend außerhalb der strengen Karwochenliturgie zueiner stilistisch vielgestaltigen Gattung, die im evangeli-schen Raum eine immer größere künstlerische Bedeutungerlangt. Ihre Höhepunkte findet sie bei Heinrich Schützund Johann Sebastian Bach. Demgegenüber kommt der la-teinischen Passion nach ihrer Blüte eine solche Bedeutungnicht zu.

Von der Situation in unserem Land aus erfordert die Be-trachtung der Wegmarke Reformation auch einen Blick aufdie christliche Musik des 16. Jahrhunderts in anderen Tei-len des europäischen Kulturraums.

In England bleibt nach König Heinrich VIII. und derGründung der anglikanischen Kirche die gottesdienstlicheMusikpflege im Wesentlichen von den politisch-religiösenSpannungen bis zur Elisabethanischen Epoche verschont.Ohnehin vollzieht sich im 16. Jahrhundert die gesamt-musikgeschichtliche Entwicklung auf der Insel im welt-lichen Bereich. Anders als in Deutschland ist in dieserZeit in England die lateinische Kirchenmusik in der Litur-gie weiterhin vorherrschend. Daneben erfährt auch hier dieVolkssprache ein beträchtliches Ansehen, was zur Entste-

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hung des Anthem führt. Diese neue und nicht liturgischgebundene Gattung mit englischem Text erreicht aber erstim 17. Jahrhundert seine Blütezeit und wird eine Wurzelder englischen Oratorien Georg Friedrich Händel.

In Frankreich wird im 16. Jahrhundert die christlicheMusik durch die Reformation sehr viel stärker beeinflusst.Jean Calvin vertritt eine puristische Kunstauffassung, der-zufolge die Musik seines neuen Gottesdienstes sich vonder weltlichen Musik prinzipiell abzuheben hat und nichtdurch reine Sinnenfreude von ihrer geistlichen Bestim-mung ablenken darf. In der Praxis soll dies durch die Betei-ligung der Gemeinde am Gesang der Psalmen geschehen.Das zentrale Zeugnis dafür ist der sogenannte Hugenot-tenpsalter. Er entsteht 1539–62 vornehmlich in Genf inmehreren Stufen und besteht aus versifizierten französi-schen Übersetzungen sämtlicher Psalmen mit Melodien.Dieses offizielle Gesangbuch der reformierten französisch-sprachigen Kirchen wird schon früh u. a. mit deutschenTexten im gleichen Versmaß versehen und für den reforma-torischen Gottesdienst verbindlich (sogenannter Lobwas-ser-Psalter, 1572), aber auch im katholischen Deutschlanddas Vorbild für die Zusammenstellung der Psalmen alsLiedparaphrasen mit neuen Melodien von Kaspar Ulenberg(1582 u. ö.). Eine Reihe von ihnen wurde in unserer Zeit(mit neuen Texten) in das Gebet- und Gesangbuch Gottes-lob (1975) aufgenommen.

2. Gegenreformation und Katholische Reform

Die Bedeutung der Reformation als Wegmarke der christli-chen Musik und Weggabelung zur evangelischen Kirchen-musik erfordert die Frage, ob es in diesem religions-geschichtlich einmaligen 16. Jahrhundert auch aufkatholischer Seite musikgeschichtlich bestimmendeKräfte und Ereignisse gegeben hat. Da kommt zunächst

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das Trienter Konzil in den Blick, dessen kirchengeschicht-liche Bedeutung (nicht nur) als katholische Reaktion aufdie Reformation hier nicht erörtert werden kann. Vielmehrmuss betont werden, dass es das erste der bisher 19 ökume-nischen Konzilien ist, dem musikgeschichtliche Relevanzzukommt, und zwar in zweifacher Weise. Zum einen ginges bei den Beratungen um die Abwehr bestimmter negati-ver Tendenzen zumal in der Messkomposition, namentlichdarum, dass in ihr nichts Ausschweifendes oder Unreines(„lascivum aut impurum“) enthalten ist, „damit das HausGottes wirklich als Haus des Gebetes“ erscheint.

Das daraus folgende Dekret mit Begriffen, die musik-theoretisch nicht direkt definierbar, sondern in der mittel-alterlichen Ethik beheimatet sein dürften, zielte ursprüng-lich offenbar auf die seinerzeit nicht seltene Verwendungweltlicher Lieder (auch mit unziemlichen Texten) in densogenannten Parodiemessen. Es wurde aber in der Folgezeitzu einer Art Kernformel für die Auffassung der katho-lischen Kirche von ihrer mehrstimmigen Musik, z. B. inder Abwehr tatsächlich oder vermeintlich opernhafter Ele-mente in liturgischen Gesängen, und erhielt schließlichkirchenrechtliche Verbindlichkeit im Codex Iuris Cano-nici von 1917. Durch die Liturgiereform des II. Vatika-nischen Konzils obsolet geworden, findet sich der diesbe-zügliche Canon aber nicht mehr im neuen Gesetzbuchvon 1983 – musikhistorisch zu Recht, denn das tridenti-nische Dekret hat die Entwicklung der katholischen Kir-chenmusik aufs Ganze gesehen nicht wesentlich beein-flusst.

Zum zweiten stellt das Trienter Konzil im positivenSinne die Forderung nach Verständlichkeit der Worte beimein- und mehrstimmigen gottesdienstlichen Gesang. DieBegründung des betreffenden Dekrets: „Die Musik sollnicht zum eitlen Ohrenschmaus komponiert werden, son-dern so, dass die Worte von allen vernommen werden kön-

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nen und die Herzen der Hörenden zum Verlangen derhimmlischen Harmonie und der zu schauenden Freudender Seligen ergriffen werden.“

Man kann darin nichts Geringeres sehen als den Kern-gedanken einer Theologie der Kirchenmusik, der imma-nent deren Weg durch die Jahrhunderte begleitet hat. Be-kanntlich hat in unseren Tagen das II. VatikanischeKonzil, ohne von dieser Theologie abzurücken, das Wesender Musik neu bestimmt, indem ihre Integration in die Li-turgie betont wird, auch im Hinblick auf – moderngesprochen – die Rolle des Volkes.

Ein wichtiger Fürsprecher dieser tridentinischen Ma-xime war der hl. Karl Borromäus, 1560–1584 Kardinal-Erz-bischof von Mailand und einer der Hauptvertreter der Ka-tholischen Reform, die zusammen mit der sogenanntenGegenreformation das kirchliche Leben im 16. Jahrhundertprägt. In sie gleichsam eingebettet sind die religions-geschichtlichen Wurzeln des Oratoriums als einer neuenund nun spezifisch katholischen musikalischen Gattung.

Es ist ein langer Weg vom Oratorium als einer römi-schen Gottesdienststätte bis zur gleichnamigen Gattung.Dieser Weg beginnt mit dem hl. Filippo Neri und den„geistlichen Übungen“ seiner 1575 gegründeten Congrega-zione dell’Oratorio (Oratorianer), die im kirchlichen Lebender ewigen Stadt einen hervorragenden Platz einnehmen,besonders dank der fast ausschließlichen Verwendung derVolkssprache in den Gebeten und Gesängen. Die Gottes-dienste der Oratorianer bilden aber keinen Gegenpol zur la-teinischen Liturgie, sondern eine neuartige Ergänzung zurVertiefung der Frömmigkeit.

Der Weg des Oratoriums hin zur musikalischen Gat-tung führt über verschiedene italienischsprachige Statio-nen über die Lauda und das geistliche Madrigal. Jedoch istOratorium als Gattungsbegriff noch nicht in Sicht. Die ent-scheidenden Impulse auf diesem Weg liefert die Wende

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vom 16. zum 17. Jahrhundert, an der die europäische Mu-sik den deutlichsten Epocheneinschnitt ihrer Geschichteerlebt, und die auch als eine neue Wegmarke der christli-chen Musik gelten muss.

3. Die musikgeschichtliche Zeitenwende um 1600

Ziemlich genau um 1600 entsteht in Italien– die Oper als vermeintliche Renaissance des antiken

Dramas,– im gleichen Sinne der begleitete rezitativische und

ariose Sologesang (Monodie),– der Generalbass als Fundament des musikalischen Sat-

zes,– im Zusammenklang der Stimmen, später auch unter

Einbeziehung von obligaten Instrumenten, der konzer-tierende Stil.

In der gleichen Zeit beginnt aber auch die Instrumental-musik sich immer stärker von ihrer weitgehenden Bindungan die Vokalmusik zu lösen und eigene Gattungen aus-zubilden. Dies zusammengenommen bedeutet gesamt-geschichtlich zum einen das Ende der Dominanz der klas-sischen Vokalpolyphonie und der christlichen Musik, zumanderen die neue Rolle der menschlichen Stimme als Or-gan zum kunstvollen Ausdruck von Affekten und Sinn-zusammenhängen.

In den alten christlichen Gattungen wirkt sich das Neuesehr bald nach 1600 aus. So entstehen im katholischen Ita-lien zahlreiche lateinische Motetten für Solostimme undGeneralbass, meist mit nichtliturgischen und nichtbib-lischen, oft subjektiv gefärbten Texten, im evangelischenDeutschland Werke mit deutschen und natürlich bib-lischen Texten. Im Übrigen stellt sich im 17. Jahrhundertdie konfessionalistisch gespaltene christliche Musik inden einzelnen Gattungen unterschiedlich dar.

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a) Katholisch-christliche MusikSo ist im gesamten katholischen Sprachgebiet die Messe ei-nem Wandel unterworfen, indem sie nun bis ins 18. Jahr-hundert hinein im Zeichen eines klar ausgeprägten Stildua-lismus steht. Auf der einen Seite wird der traditionelle acappella-Stil des 16. Jahrhunderts weitergepflegt. Auf der an-deren Seite entsteht der moderne Typus der konzertierendenMesse (Missa concertata). Ihre Hauptcharakteristika sind:vier- bis sechsstimmiger Satz mit Generalbass, im musika-lischen Ablauf ständiger Wechsel von gleichrhythmischenund monodisch durchsetzten oder solistischen Abschnit-ten, zunehmende Mitwirkung von Instrumenten. DieserTypus ist der Vorläufer der Orchestermesse des 18. Jahrhun-derts, wie er sich in unterschiedlichen Dimensionen in denbis heute bekannten Werken wie der h-Moll-Messe(1724–1747) von Johann Sebastian Bach und in den Messender Wiener Klassiker Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mo-zart und Ludwig van Beethoven zeigt. In Betracht kommendabei von Haydn die sechs späten Orchestermessen („Hoch-ämter“, 1796–1799), von Mozart die sogenannte Krönungs-messe (1779) und die unvollendete c-Moll-Messe (1781) so-wie besonders das in seiner Entstehung legendäre Requiem(1791), von Beethoven die monumentale Missa solemnis(1819–1823). Die beiden zuletzt genannten Werke weisenauch in die Zukunft, da sie die Kirchenmusik des 19. Jahr-hunderts entscheidend beeinflusst haben (wovon noch zureden sein wird).

Was das Oratorium betrifft, so konstituiert es sich nachder Stilwende um 1600 mit der ausdrücklichen Bezeich-nung „Oratorio“ erstmals 1640 in Rom, zunächst sowohlmit lateinischem als auch mit italienischem Text, derdann die Norm wird. Für die Latinitas steht in erster Liniedas umfangreiche Schaffen von Giacomo Carissimi(1605–1674), dem Kapellmeister am jesuitischen Colle-gium Germanicum. Seine Texte haben biblische Sujets,

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verzichten aber weitestgehend auf wörtliche Übernahmenaus der Vulgata. Mit der Förderung kirchlicher und fürst-licher Institutionen breitet sich die Gattung in ihrerHauptform schnell in vielen italienischen Städten, aberauch im katholischen deutschen Sprachgebiet (vor allemim kaiserlichen Wien) aus. Damit wird das Oratorium inseiner Italianità bis zur Säkularisation (mit ca. 800 nach-weisbaren Werken) neben der Messe eine Hauptgattungder großdimensionierten christlich-katholischen Musik.

Andererseits ist das italienische Oratorium hinsichtlichseiner Sujets aus Bibel und Heiligengeschichte das geist-liche Pendant zur italienischen Oper mit antikisierenden,oft pastoralen Stoffen. In der musikalischen Gestaltung, so-weit sie in den Sologesängen auf dem dramatischen Gegen-über von Arie und Rezitativ beruht, ist das Oratoriumnichts anderes als eine geistliche Oper. Das kommt auchdarin zum Ausdruck, dass Oratorien in der Regel dann auf-geführt wurden, wenn in den geschlossenen kirchlichenZeiten (Advent, Fastenzeit) der Opernbetrieb ruhte. Einentscheidender Unterschied ist allerdings die große Bedeu-tung, die in den Oratorien den Chören zukommt.

b) Der Sonderfall FrankreichIm Blick auf den europäischen Kulturraum in diesem 17.Jahrhundert steht in der Pflege der beiden christlich-katho-lischen Hauptgattungen Messe und Oratorium allein daskatholische Frankreich abseits. Auch dieses Phänomendeutet wie die schon beschriebene französische Sonderartdes choralen plain-chant musical auf die Distanz des Grandsiècle zum römischen Katholizismus, die man als eineSpielart des religiösen Gallikanismus ansehen kann.

Zur Messe: Unter Ludwig XIV. entstehen zwar am Ver-sailler Hof Psalmmotetten in großer vokaler und instrumen-taler Besetzung zur Repräsentation königlichen Glanzes. Je-doch verharren die Messen in den Kathedralen des Landes, in

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großer Zahl mit königlichem Privileg gedruckt, fast aus-schließlich im alten a cappella-Stil und nehmen keineKenntnis von den Neuerungen seit 1600. Konkret ist dieseine quasi offizielle Ablehnung der Missa concertata ultra-montaner Provenienz. Als einziger Musiker von Rangnimmt hier Marc-Antoine Charpentier (ca. 1643–1704) eineGegenposition ein, da er zahlreiche Messen mit den neuenStilmitteln komponiert. Nicht zufällig sind sie aber aus-schließlich handschriftlich überliefert. Sie und die a cappel-la-Messen blieben lange unbekannt und werden gleicherma-ßen erst in neuerer Zeit durch die editorischen Aktivitätendes Centre de Musique Baroque in Versailles erschlossen.

Charpentier hat im übrigen alle gängigen liturgischenGattungen mit zahlreichen Werken bedacht: Motette,Psalm, Magnificat, insonderheit auch das Te Deum.

Zum Oratorium: Die dezidierte Ablehnung des italie-nischen Oratoriums wird einzig wiederum durch Marc-An-toine Charpentier durchbrochen, der im letzten Viertel des17. Jahrhunderts zahlreiche ausschließlich lateinische Ora-torien nach dem Muster seines römischen Lehrers Caris-simi komponiert. Er ist damit gattungsgeschichtlich auchfür das 18. Jahrhundert eine Einzelerscheinung, da es imkatholischen Europa gegenüber dem Siegeszug des italie-nischen Oratoriums zu einem vergleichbar nennenswertenBestand eines nationalsprachlichen Oratoriums kommt.Die große Ausnahme ist England mit den englischen Ora-torien von Georg Friedrich Händel, die eine nicht nur gat-tungsgeschichtliche Wegmarke der christlichen Musik dar-stellen.

c) Evangelisch-christliche MusikIm 17. Jahrhundert ist die christliche Musik im evangeli-schen Deutschland weiterhin prinzipiell gekennzeichnetdurch die im 16. Jahrhundert vorbereitete dezidierte Orien-tierung am Bibelwort, der „sola scriptura“ Luthers. Ihre

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Entwicklung weist jedoch keine so deutliche Wegmarkeauf, wie es die Entstehung des Oratoriums im katholischenBereich ist. Allerdings werden bestimmte ältere Gattungenbesonders exponiert und stilistisch durch die neuen mono-dischen und konzertierenden Ausdrucksmittel modifiziert.Hierher gehören neben dem geringstimmigen GeistlichenKonzert, dem Nachfolger der Motette, die Passion und diebiblische Historia, die Vertonung anderer zentraler Statio-nen im Leben Jesu. Für die Passion zeigt sich im Laufe des17. Jahrhunderts eine neue Entwicklungsstufe dadurch,dass der Vortrag der biblischen Texte im Laufe des 17. Jahr-hunderts durch beziehungsvolle Choräle ergänzt wird, seitdem Beginn des 18. Jahrhunderts auch durch Rezitativeund Arien mit neugedichteten Texten (sogenannte oratori-sche Passion). Ein eigenes und bedeutendes Profil als Pas-sionskomponist zeigt Heinrich Schütz (1585–1672), derlangjährige Dresdner Hofkapellmeister. Seine drei Ver-tonungen nach Matthäus, Lukas und Johannes sind – fürihre Zeit singulär – rein vokal. In ihnen kommt die musi-kalische Sonderstellung des Leidens Jesu zum Ausdruck,während Schütz seine Weihnachts- und Auferstehungs-geschichte aufwändig mit Vokalsolisten und Instrumentenkomponiert.

Am Beginn des 18. Jahrhunderts, das die Auflösung dergottesdienstlichen Formen mit sich bringt, verzweigt sichder Weg der deutschen Passion. Einerseits wird die oratori-sche Passion weitergepflegt und erfüllt sich in den Werkenvon Johann Sebastian Bach, die freilich in ihrer Zeit einLeipziger lokales Ereignis sind, bevor sie im 19. Jahrhun-dert für Europa entdeckt werden. Andererseits entferntman sich Zug um Zug von dem biblischen Wortlaut derLeidensgeschichte. Auf die Versifizierung folgt die Neu-dichtung und damit die Annäherung an die Struktur desitalienischen Oratoriums. So entsteht der Typus des soge-nannten Passions-Oratoriums: Sein Inbegriff ist Der Tod

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Jesu (1755) von Carl Heinrich Graun, ein damals hoch-geschätztes Zeugnis religiöser Empfindsamkeit.

4. Die Schaffung des englischen Oratoriums durch GeorgFriedrich Händel

Es war dem 1685 in Halle an der Saale geborenen Händelsozusagen nicht an der Wiege gesungen, dass er als Orato-rienkomponist ein Repräsentant der europäischen Musik-kultur werden und dabei auch die konfessionellen Grenzenüberwinden sollte. Sein Weg dorthin führt ihn zunächstnach Hamburg, wo er zu den Schöpfern des deutschen Pas-sions-Oratoriums gehört; in Rom wird er bekannt durchitalienische Opern und ein italienisches Oratorium. Ab1710 wird er dann in England heimisch und zunächst alsKomponist italienischer Opern berühmt. Italienische Ora-torien sind dort zu dieser Zeit nicht üblich, da die Gattungaus dem „papistischen“ Italien wegen der offiziellen Ka-tholikenfeindlichkeit obsolet ist. Erst unter König Georg II.aus dem Hause Hannover (1727–1760) beginnt eine Phaseder größeren religiösen Toleranz. Händels Übergang vonder italienischen Oper unmittelbar zum englischen Orato-rium, das wie diese ein Theaterereignis ist, erfolgt schritt-weise: Nach 20 Jahren mit 29 Opern (1711–1731) folgenneun Jahre mit 14 Opern und sechs Oratorien (1732–1741),bevor Händel von 1742 ab nur noch (16) Oratorien schreibt.

Mit diesem bereits zahlenmäßig geradezu immensenŒuvre öffnet Händel dem englischen Bürgertum seinerZeit die Theater. Seine Oratorien sind gleichermaßen einkünstlerisches wie ein nationales und religiöses Ereignisim Spannungsfeld von Unterhaltung und Erbauung. Reli-giös wurzeln Sujets und Libretti im Anglikanismus, amstärksten in dem bis heute bekanntesten Messiah (1742),dessen enthusiastische Rezeption die MusikgeschichteEnglands nachhaltig geprägt hat. Darüber droht in den Hin-

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tergrund zu treten, dass sein Text nicht wie in den aller-meisten anderen Oratorien Händels ein eigenes neugedich-tetes Libretto, sondern reiner Bibeltext ist. Das stellt einNovum in der europäischen Gattungsgeschichte dar underfüllt auf seine Weise das lutherische Prinzip der „solascriptura“. Der meisterhafte kompositorische Ausdruckdieses Textes durch Rezitative, Arien und Chorsätze findetnach Händels Tod europäisches und interkonfessionellesEcho, auch durch die Übersetzung in viele Sprachen. Imdeutschen Sprachgebiet führt vor allem die Übersetzungvon Friedrich Gottlieb Klopstock (1772) und die Bearbei-tung von Wolfgang Amadeus Mozart (1789) bis zur erstenHälfte des 20. Jahrhunderts zu einem Siegeszug des gleich-sam naturalisierten Messias im Heimatland des Komponis-ten. Erst seitdem sind Aufführungen in der Originalsprachedie Regel.

5. Die Säkularisation mit ihren Folgen für die christlicheMusik bis zur Gegenwart

Die im Gefolge der französischen Revolution und der napo-leonischen Epoche 1803 durchgeführte Säkularisation derkirchlichen und klösterlichen Einrichtungen und die Auf-lösung der geistlichen Fürstentümer bedeutet für die Ent-wicklung namentlich der christlichen Musik auf dem euro-päischen Festland durch den Wegfall der materiellenGrundlagen einen Einschnitt. Er betrifft die einzelnen Län-der und Gattungen in unterschiedlicher Weise, bedingtauch durch das Ende des Heiligen Römischen Reichs deut-scher Nation und die Ausprägung der europäischen Natio-nalitäten.

Entscheidend in diesem Prozess, was die Säkularisationals eine neue Wegmarke in der Geschichte der christlichenMusik erkennen lässt, ist die Tatsache, dass diese von nunan bis in die Gegenwart zwar weiterhin in der Kirche und

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im Gottesdienst erklingt, parallel dazu aber auch im öffent-lichen Raum. Was die gottesdienstliche Musik angeht, sowerden im Wesentlichen die traditionellen Gattungen inihrem konfessionellen Rahmen gepflegt. Das kann hiernicht im Einzelnen dargestellt werden.

Die – wenn man so will – Parallelwelt ist bedingt durchdie auch sozialgeschichtlich bestimmte europaweite Entste-hung und Ausdehnung des bürgerlichen Musiklebens zu Be-ginn des 19. Jahrhunderts. Getragen wird es von dem –weltlichen – Chorwesen (mit gemischten Chören und mitMännerchören), in Verbindung mit der Existenz von zu-nächst meist privaten, später städtischen Orchestervereini-gungen. Aufführungsorte sind sowohl geeignete Säle, aberauch Kirchen. Hier entsteht in den einzelnen europäischenLändern ein Bedarf von geeigneten großformatigen und inder Regel geistlichen Vokalwerken. Er wird im deutschenSprachraum gleichsam in Gang gesetzt durch die häufigeAufführung der ehemals konfessionell gebundenen Orato-rien Schöpfung (1798) und Jahreszeiten (1801) von JosephHaydn, in England durch die Aufführungskontinuität vor al-lem von Händels Messiah, während in Frankreich und inItalien entsprechende Werke nicht existieren.

Welchen Aufschwung die Gattung Oratorium bis zumBeginn des 20. Jahrhunderts nimmt, lässt sich (nach denSchätzungen des Verfassers) schon an der ungefähren Zahlder erhaltenen Werke ermessen:

Deutschland 160 70 KomponistenFrankreich 100 50 KomponistenEngland 100 55 KomponistenItalien 80 40 Komponisten

Beteiligt sind fast alle bedeutenden Komponisten der Zeitund viele weniger renommierte. In inhaltlicher, textlicherund musikalischer Beziehung höchst differenziert und mit

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den geistigen und religiösen Strömungen der Zeit eng ver-woben, prägt diese Produktion auf ihre Art das Bild derchristlichen Musik und ist eine eigene und wichtige Mani-festation der europäischen Kultur. Bemerkenswert ist frei-lich, dass nur ganz wenigen dieser Oratorien ein längererNachruhm beschieden war. Ausnahmen sind bis heute inDeutschland vor allem Felix Mendelssohn-Bartoldys Pau-lus (1836) und Elias (1846), allenfalls auch Franz Liszts Le-gende von der heiligen Elsabeth (1862) und Christus (mitlateinischem Text aus Bibel und Liturgie, 1867).

Eine besondere Bewandtnis in diesem Oratorien-Kon-text hat es mit der Aufführung eigentlich liturgischer Wer-ke, beginnend mit Mozarts Requiem und BeethovensMissa solemnis, auf die oben schon hingewiesen wurde.Die Existenz zahlreicher Messen und Requiems verdanktsich bis in die Gegenwart diesem Umstand.

Eine eigene Bedeutung auf diesem Weg markiert die Ber-liner Wiederentdeckung der Matthäus-Passion von JohannSebastian Bach im Jahre 1829 durch Mendelssohn. DasWerk löst im deutschen Musikleben insgesamt eine großeBachbegeisterung aus und führt im Oratorienwesen einer-seits zur Neubewertung des reinen Bibeltextes, trifft aberandererseits auf eine seit dem Beginn des 19. Jahrhundertsintensive und reichgestaltige kompositorische Beschäfti-gung mit dem Passionsgeschehen sowohl in Deutschlandals auch in Frankreich.

Zu erwähnen ist schließlich die besondere Rolle, dieBeethovens IX. Symphonie mit der Vertonung eines Teilsvon Schillers „Ode an die Freude“ seit ihrer Entstehung1823 im nicht nur deutschen Oratorienwesen spielt. Ihreweltweite Popularität führte dazu, dass die Melodie zu„Freude schöner Götterfunken“, die in dem Symphonie-finale kunstvoll variiert wird, im Jahre 1985 zur offiziellenHymne der Europäischen Gemeinschaft wurde. Aber werist sich bei deren Hören schon bewusst, dass Beethoven

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bei der Konzeption dieser volksliedartigen Melodie offen-bar absichtlich jeden nationalen Charakter vermiedenhat? Und wer ist sich schon der christlichen Akzente be-wusst, die das Finale der Neunten durch Beethoven erhält?

Epilog

Leider ist es nicht möglich, hier in der bisherigen Breite dieSituation der christlichen Musik im 20. Jahrhundert und inder Gegenwart darzustellen. Hinzuweisen wäre hier auf dieBedeutung des II. Vatikanischen Konzils (1962–1965) alsWegmarke in der Geschichte der katholischen Kirchen-musik. Dies deswegen, weil mit der von der Liturgiekonsti-tution betonten pastoralen Notwendigkeit einer vollen undtätigen Teilnahme des Volkes an der Eucharistiefeier die –faktische – Preisgabe des Lateinischen verbunden ist. Be-troffen davon ist in erster Linie die Messe, die nun in derbisherigen Form als musikalische Gattung im Gottesdienstkeine Zukunft mehr hat.

Das Gleiche gilt für das Requiem. Im Unterschied zur„normalen Messe“ lebt die Missa pro defunctis ziemlichgenau seit dem II. Vatikanischen Konzil im Schaffen euro-päisch bedeutender Komponisten wieder auf und wird da-mit musikgeschichtlich gleichsam gerettet. Zu nennen istneben György Ligeti, Igor Strawinski, Frank Martin, AlfredSchnittke, Krzysztof Penderecki vor allem Benjamin Brit-ten mit seinem War Requiem.

Hier sind in den lateinischen Text der Totenmesse eng-lische Antikriegsgedichte eingefügt. Das Werk wurde urauf-geführt 1962 in der wiederaufgebauten St.-Michael’s Cathe-dral von Coventry, das im Zweiten Weltkrieg stark vondeutschen Bomben zerstört worden war. Werk und Auffüh-rung stellten für ganz Europa ein deutliches Friedenssymboldar. Britten selbst bezeichnete es als „Mahnmal“.

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Zeichenhaft war auch die Auswahl der europäisch re-nommierten Solisten Peter Pears, Dietrich Fischer-Dies-kau und Galina Wischnewskaja (die aber von den Sowjetskeine Ausreiseerlaubnis erhielt).

Zwei Jahre später (6. September 1964) fand die deutscheErstaufführung in der Basilika der Benediktinerabtei Otto-beuren statt. Auch dies war ein Friedenszeichen, hochoffi-ziell in Anwesenheit des Bundespräsidenten HeinrichLübke und des späteren englischen Premierministers Ed-ward Heath, der ein Jahr vorher den europäischen Karls-preis erhalten hatte.

Bleibt noch die große Bedeutung zu erwähnen, die derGattung der Passion in der Gegenwart zukommt. Zwar istseit der Wiederentdeckung der Bachschen Matthäus-Pas-sion im 19. Jahrhundert das Interesse der Komponisten ander – auch freien – musikalischen Darstellung der Leidens-geschichte nicht erlahmt. Doch gab es einen entscheiden-den Impuls durch die großformatige Lukas-Passion vonPenderecki in lateinischer Sprache. Ihre Uraufführung1966 im Dom zu Münster i. W. auf Initiative des Westdeut-schen Rundfunks war ein europäisches Medienereignis ers-ten Ranges. Fernab der Liturgie ist hier ein Schlüsselwerkder modernen Musik entstanden – ein Zeichen für die Kon-tinuität christlicher Musik in unserer weithin säkulareneuropäischen Kultur.

Nachklang

In den Kontext dieses Beitrags gehört aktuell auch die viel-fältig im Fernsehen erklingende pompöse Eurovisionsfan-fare. Bekanntlich stammt sie von Marc-Antoine Charpen-tier (siehe oben S. 137), und ist das Vorspiel zu einem TeDeum, das erst nach dem II. Weltkrieg für die Praxis ent-deckt wurde. Ohne dass sich der heutige Hörer dessen be-

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wusst ist, ist sie also – mehr noch als die Europahymne –ein Stück christlicher Musik. Nur der Fachmann weiß al-lerdings, dass mit diesem Te Deum bei dem Pariser Jesui-ten vermutlich 1692 der Sieg der französischen TruppenLudwigs XIV. im pfälzischen Krieg gefeiert wurde.

Entscheidende Impulse dafür liefert die Wiederent-deckung der Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bachdurch Felix Mendelssohn Bartholdy 1829 in Berlin. DiesesEreignis bahnt in der musikalischen Praxis den Weg zurmodernen Bachpflege und in der deutschen Oratorienkom-position zu einer Tendenz zum Luthertext. Dafür sindMendelssohns Elias (1846) und Paulus (1836) die deutlichs-ten Zeugnisse, die zudem das bis dahin namentlich anHändel orientierte englische Oratorienwesen im Zeitalterder Queen Victoria textlich und musikalisch nachhaltig be-einflussen.

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