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ORIGINALARBEIT 1 3 Online publiziert: 3. Mai 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 Dr. med. C. Maier () Gerhard-von-Are-Str. 4–6, 53111 Bonn, Deutschland E-Mail: [email protected] Bion und C.G. Jung Wie fand das Modell „container-contained“ seinen Denker? Über das Schicksal einer Kryptomnesie Christian Maier Forum Psychoanal (2014) 30:157–178 DOI 10.1007/s00451-014-0177-0 Zusammenfassung Diese Arbeit untersucht, ob und auf welche Weise Bion mit seinem Modell des lebendigen Containers durch eine Begegnung mit C.G. Jung anlässlich dessen „Tavistock Lectures“ beeinflusst wurde. In einem ersten Teil führt der Autor Anhaltspunkte an, die auf eine solche Beeinflussung hindeuten – mit- tels Textstellen, dann auch anhand des Sachverhalts, dass Bion die Lectures ge- meinsam mit seinem damaligen Analysanden Samuel Beckett besucht hatte, bis hin zu „The imaginary twin“, der ersten Veröffentlichung Bions. In einem zweiten Teil wird dem Schicksal der vermuteten Kryptomnesie nachgegangen. Aus dieser Perspektive erscheint das Container-Modell Bions als Resultat eines Wachstums nach dem Modus von „container-contained“. Schlussendlich stellt sich die Frage, ob Kryptomnesien in der Psychoanalyse nicht doch häufig Ausdruck eines solchen Wachstumsprozesses darstellen. Bion and C.G. Jung – How did the container-contained model find its thinker? The fate of a cryptomnesia Abstract This paper investigates the possible impact of C.G. Jung’s Tavistock Lec- tures on Bion’s concept of the living container. In the first part of the paper the author argues for clues pointing to such an essential impact, by means of text pas- sages as well as the facts of the Bion-Beckett case, up to and including issues of Bion’s first publication The imaginary twin. The second part investigates the fate of the assumed cryptomnesia. From this point of view Bion’s concept of the container

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Originalarbeit

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Online publiziert: 3. Mai 2014© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

Dr. med. C. Maier ()Gerhard-von-Are-Str. 4–6,53111 Bonn, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Bion und C.G. JungWie fand das Modell „container-contained“ seinen Denker? Über das Schicksal einer Kryptomnesie

Christian Maier

Forum Psychoanal (2014) 30:157–178DOI 10.1007/s00451-014-0177-0

Zusammenfassung Diese Arbeit untersucht, ob und auf welche Weise Bion mit seinem Modell des lebendigen Containers durch eine Begegnung mit C.G. Jung anlässlich dessen „Tavistock Lectures“ beeinflusst wurde. In einem ersten Teil führt der Autor Anhaltspunkte an, die auf eine solche Beeinflussung hindeuten – mit-tels Textstellen, dann auch anhand des Sachverhalts, dass Bion die Lectures ge-meinsam mit seinem damaligen Analysanden Samuel Beckett besucht hatte, bis hin zu „The imaginary twin“, der ersten Veröffentlichung Bions. In einem zweiten Teil wird dem Schicksal der vermuteten Kryptomnesie nachgegangen. Aus dieser Perspektive erscheint das Container-Modell Bions als Resultat eines Wachstums nach dem Modus von „container-contained“. Schlussendlich stellt sich die Frage, ob Kryptomnesien in der Psychoanalyse nicht doch häufig Ausdruck eines solchen Wachstumsprozesses darstellen.

Bion and C.G. Jung – How did the container-contained model find its thinker? The fate of a cryptomnesia

Abstract This paper investigates the possible impact of C.G. Jung’s Tavistock Lec-tures on Bion’s concept of the living container. In the first part of the paper the author argues for clues pointing to such an essential impact, by means of text pas-sages as well as the facts of the Bion-Beckett case, up to and including issues of Bion’s first publication The imaginary twin. The second part investigates the fate of the assumed cryptomnesia. From this point of view Bion’s concept of the container

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appears to be the result of growth in the container-contained mode. Finally the author deals with the question whether cryptomnesia in psychoanalytical literature can frequently be seen as the result of psychic growth.

„Container-contained“-Modell

Einer der am häufigsten gebrauchten Theoriebausteine der jüngeren Psychoanalyse ist sicherlich das Bion’sche Modell von „container-contained“. Erstmals vollständig ausformuliert, erscheint es 1962 in Learning from Experience (Bion 1962, 1990). Im Vorwort der deutschen Ausgabe schreibt Krejci (1990, S. 26), dass „Bions Modell des lebendigen Behälters, der zusammen mit dem Gehalt, den er in sich aufnimmt, wächst,“ wohl das bekannteste Element aus Bions Werk sei.

Die vorliegende Arbeit verfolgt zwei Absichten. In ihrem ersten Teil setzt sie sich mit der Frage, ob Bions Modell durch eine Begegnung mit C.G. Jung angeregt wor-den sein könnte, auseinander und sammelt Belege dafür. In ihrem zweiten Teil geht sie dem Schicksal dieser Anregung nach und versucht, es in seiner Gestalt als Kryp-tomnesie zu entschlüsseln.

Die Begegnung, um die es hier geht, fand 1935 statt, als der junge Assistenz-arzt Bion die „Tavistock Lectures“ C.G. Jungs besuchte. Spekulationen, dass diese Vorlesungen Jungs einen nachhaltigen Einfluss auf Bion ausgeübt hätten, kamen schon gelegentlich auf. So sagte Michael Fordham (1988, S. 31), der ebenfalls Jungs „Tavistock Lectures“ besucht hatte, er könne nicht glauben, Bion hätte nichts von Jung übernommen, insbesondere was die „Tavistock Lectures“ angehe: „because he was there“. Fordham meint auch, dass Jung mit dem Fall der Psychiatrieschwester, die die Psychose eines Patienten introjiziert hatte, den Vorgang der projektiven Iden-tifikation beschrieben habe: Letztlich sei er sich sicher, dass Bion von Jung beein-flusst worden sei (Fordham 1988, S. 36). Möglicherweise, so fügte Fordham in der Diskussion mit Karl Figlio hinzu, sei sich Bion der Tatsache, von Jung beeinflusst worden zu sein, gar nicht bewusst gewesen.

Grotstein, der bei Bion während dessen später kalifornischer Zeit in Analyse war (Grotstein 2006) und der als einer seiner einflussreichsten Schüler gilt, geht so weit zu behaupten, dass der Besuch von Jungs „Tavistock Lectures“ auf Bion eine „dra-matische Auswirkung“1 gehabt hätte (Grotstein 1987, S. 63).

C.G. Jungs „Tavistock Lectures I“

Auf Anregung von Dr. J.A. Hadfield, des Leiters der Tavistock-Klinik, war C.G. Jung nach London eingeladen worden, um dort zwischen dem 30. September und dem 4. Oktober 1935 fünf Vorlesungen zu halten. Jung konnte die Zuhörerschaft mit sei-ner fließenden Beherrschung der englischen Umgangssprache überraschen (Bennet, zit. nach Jung 1968, S. xiii). Diese Vorlesungen wurden mitstenographiert und das Transkript, nachdem es von Jung durchgesehen worden war, von Mary Barker und

1 „dramatic impact“.

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Margaret Game herausgegeben sowie vom Londoner Analytical Psychology Club 1936 zur privaten Verteilung gedruckt. Im Jahr 1968 erschienen die Vorlesungen unter dem Titel „Analytical psychology – its theory and practice. The ‚Tavistock Lectures‘“ in England (Jung 1968). Bereits 1961 war die deutsche Übersetzung erst-mals publiziert worden, um dann schließlich 1981 Aufnahme in den Gesammelten Werken zu finden.

Während der „Tavistock Lectures“ meldete sich Bion in der Diskussion nach der zweiten Vorlesung zu Worte; er stellte Fragen, die Jungs Vorstellungen der Beziehung von Seele und Gehirn thematisierten und wie eine solche Beziehung im Traum zum Ausdruck kommen könne, ein Thema, das Bion zeitlebens beschäftigen sollte, zuerst unter dem Begriff „proto-mental system“ (Bion 1961, S. 101), ein System, gedacht als Matrix und Vorläufer der Beta-Elemente. Auf Bions Fragen ging Jung ausführ-lich ein, u. a. mit einem Traumbeispiel (Jung 1968, S. 72 ff.). Gleichwohl erscheint doch die fünfte Vorlesung als die wichtigste von allen, weil dort C.G. Jung Themen ausführt, die in Bions Werk ganz zentral wieder auftauchen werden – im Modell des Containers und in Bions Version der projektiven Identifikation.

Eine Skizze zur Geschichte des Konzepts „ projektive Identifikation “ 

Für denjenigen, der Jungs Werk nicht kennt, mag der Gedanke, dass das Konzept der projektiven Identifikation Bions irgendwie mit C.G. Jung im Zusammenhang stehen könnte, auf den ersten Blick zumindest erstaunlich erscheinen, wenn nicht geradezu abwegig, selbst wenn man in Betracht zieht, unter wie vielen unterschied-lichen Bedeutungen dieser Begriff in der psychoanalytischen Literatur Verwendung findet. Kernberg (1987, S. 93) schreibt deshalb, dass der Begriff projektive Identi-fikation „zu viele verschiedene Dinge von zu vielen verschiedenen Leuten unter zu vielen verschiedenen Umständen“2 bezeichne. Zurück geht der Begriff bekanntlich auf Melanie Klein (1946), in deren Arbeit „Notes on some schizoid mechanisms“ er 1946 erstmals auftaucht. Zitiert wird in aller Regel aus der revidierten Fassung von 1952, in die mehrere Aufsätze von Herbert Rosenfeld, vermutlich aber auch von Hanna Segal und von Bion über das schizophrene Denken einflossen, zwischen-zeitlich erschienene Arbeiten von Rosenfeld, Segal und Bion, welche den Erkennt-nisgewinn des Konzepts projektive Identifikation belegten (Aguayo 2009). In der ursprünglichen Version von Kleins Aufsatz wird die projektive Identifikation als Begriff eingeführt, ohne dass sie konzeptuell erfasst würde, und dort, wo sie dann beschrieben wird, bleibt sie unbenannt (Aguayo 2008). Im Kern bezieht sich Kleins Konzept der projektiven Identifikation auf die Verwendung einer Größenfantasie, die der Abwehr primitiver Ängste dient (Feldman 1994), und beschreibt einen Vorgang, der eine unbewusste intrapsychische Fantasie darstellt (Garfinkle 2005). Den wich-tigen Schritt, das Konzept der projektiven Identifikation zu erweitern, machte, wie Ogden (1979) in seinem Versuch der Klärung des Konzepts ausführt, erst Bion (1959, 1961), indem dieser sie als die wichtigste Interaktion zwischen Patient und Analyti-ker sowie in Gruppen aller Art beschrieb. Dadurch wurde aus einem intrapsychischen

2 „too many different things by too many different people under too many differing circumstances”.

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Vorgang ein interpersonales und kommunikatives Phänomen (Grotstein 2005; Ogden 1979). Mit seinen Studien zum Containment fügte Bion dem Konzept der projektiven Identifikation noch eine weitere Dimension hinzu (Feldman 1994): Indem die Reak-tion der Mutter auf die projektive Identifikation des Kleinkinds miteinbezogen wird, beschreibt Bion (1959, 1962) die für die kindliche Entwicklung so bedeutsame Rolle der Mutter, welche die unerträglichen Ängste des Kleinkinds in sich aufnimmt und von dessen seelischer Not affiziert wird.

C.G. Jungs „Tavistock Lectures II“

Man ist nicht darauf angewiesen, den von Fordham zitierten Fall der Psychiatrie-schwester, welche die Psychose eines Patienten introjiziert hatte, zu interpretieren, um darzulegen, dass C.G. Jung in Tavistock den Vorgang der projektiven Identifi-kation beschrieben hat. Es genügt schon, sich an den Text der Lectures zu halten. Zwar verwendet Jung darin nicht den Begriff der projektiven Identifikation, doch beschreibt er Vorgänge, die eine frappierende Ähnlichkeit mit Bions späterem Kon-zept aufweisen. Sie werden in der fünften Vorlesung Thema.

Dort spricht Jung (1981, S. 154) von dem Vorgang der Projektion, der sich in der Übertragungsbeziehung abspiele. Zunächst stellt Jung fest: Übertragung sei eine Spezialform der Projektion, die sich dadurch auszeichne, dass sie subjektive Inhalte unbewusst „ins Objekt hineinverlegen“ könne. Das englische Original fasst diesen Vorgang noch genauer, als ihn die deutsche Übersetzung in den Gesammelten Werken wiederzugeben vermag: „subjective contents are carried over into the object3 and appear as if belonging to it“ (Jung 1968, S. 153).

Jung geht in dieser Vorlesung auf die Inhalte, die in den Analytiker hineinpro-jiziert werden, ein und auf die Auswirkungen, die diese Inhalte dort haben können. Jung (1981, S. 155) beschreibt „Übertragung im engeren Sinn (als) Projektion, die sich zwischen zwei Individuen abspielt und die in der Regel emotionaler und zwin-gender Art ist. Emotionen sind an sich schon immer von überwältigender Auswir-kung für das Subjekt, da sie unwillkürliche Vorgänge sind … Gleichzeitig aber wird dieser unwillkürliche Vorgang vom Subjekt in das Objekt projiziert, und dadurch bildet sich ein unauflösliches Band, das auf das Subjekt einen zwingenden Einfluss ausübt“.

In diesen Formulierungen Jungs findet sich die Vorstellung von einem seelischen Vorgang, bei dem emotionale Inhalte vom Subjekt in ein Objekt hineinprojiziert wer-den. Darüber hinaus ist diese von Jung beschriebene Form der Projektion ein ein-deutig interpersonales Phänomen. Jung geht in seinem Vortrag dann auch noch weiter und beschreibt dort, dass die Emotionen des Patienten ansteckend seien und dass der Analytiker von den in ihn hineinprojizierten Emotionen „affiziert“ sei (Jung 1981, S. 156). Der seelische Vorgang, den Jung darzustellen versucht, entspricht in allen wesentlichen Aspekten dem Konzept der projektiven Identifikation, so wie es von Bion beschrieben wird. Zudem wendet Jung diese psychodynamischen Gegebenhei-ten auch auf die Erklärung des Zustandekommens der Gegenübertragung an. All das

3 Hervorgehoben von C.M.

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wird in der deutschen Übersetzung der Gesammelten Werke verwässert, wenn es dort heißt: „Die Emotionen eines Patienten sind immer leicht ansteckend, und sie sind sehr4 ansteckend, wenn die Inhalte, die der Patient auf den Analytiker projiziert, mit den unbewussten Inhalten des Analytikers identisch sind“ (Jung 1981, S. 157). Im englischen Original findet sich jedoch eine andere Formulierung, was den Vorgang der Projektion angeht:

The emotions of patients are always slightly contagious, and they are very con-tagious when the contents which the patient projects into the analyst are iden-tical with the analyst’s own unconscious contents. Then they both fall into the same dark hole of unconsciousness, and get into the condition of participation. This is the phenomenon which Freud has described as countertransference. It consists of mutual projecting into each other and being fastened together by mutual unconsciousness. Participation … is a characteristic of primitive psy-chology, that is, of a psychological level where there is no conscious discrimi-nation between subject and object. (Jung 1968, S. 157)

In der deutschen Übersetzung dieser Passage, wie auch an noch manchen anderen Stellen der „Tavistock Lectures“, wird aus dem Hineinprojizieren durchgängig ein Projizieren-auf-ein-Objekt. Wer für diesen sprachlichen Gebrauch verantwortlich ist, Übersetzer oder Herausgeber, und aus welchen Gründen diese Übersetzung gewählt wurde, ist nicht bekannt. Das Vorgehen bei dieser Übersetzung in den Gesammel-ten Werken Jungs erinnert an eine Diskussion auf dem Kongress der International Psychoanalytical Association (IPA) von 1999, als Dale Boesky die Frage aufwarf, ob John Steiner in seinem Vortrag „Containment, enactment and communication“, in dem dieser sich ausdrücklich auf die Erweiterung des Konzepts der projektiven Identifikation durch Bions Arbeiten bezogen hatte (Steiner 2000), lediglich etwas frei formuliert habe oder es aber buchstäblich so meine, wenn er davon spreche, dass seine Patienten Gefühle in ihn hineinprojiziert hätten (Boesky 2000).

Das Konzept des Containers in Jungs „Tavistock Lectures“

In dieser fünften, der letzten seiner Vorlesungen nehmen Jungs Ausführungen zur seelischen Bedeutung der Vorstellungen von einem Gefäß eine hervorgehobene Posi-tion ein. Jung verwendet zwei von einem schizophrenen Patienten gemalte Bilder, um dem Auditorium seine Auffassung zu illustrieren. Beide Bilder (Abb. 14 und 15 in: Jung 1981) zeigen ein Gefäß. Jung führt aus, wie der schizophrene Patient über diese Bilder versuchte, ein Gefäß zu finden oder zu konstruieren, um „all seine dis-paraten (seelischen) Elemente [sic!] in dem Gefäß zu sammeln“ (Jung 1981, S. 194). Diese Bilder, so Jung, seien ein Selbstheilungsversuch des Psychotikers, mit dem Ziel, die durch die Spaltungsvorgänge des schizophrenen Krankheitsprozesses ent-standenen Elemente in einem Gefäß wieder zusammenzubringen. Nachdem Jung die Bedeutung des Wortes Gefäß im Deutschen herleitet und darüber zu der Funktion „to contain“ kommt, setzt er im Englischen fort:

4 Kursiv in den deutschen Gesammelten Werken, jedoch nicht im englischen Original.

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The vessel is meant to be the receptable for his whole being, for all the incom-patible units. If he tried to gather them into his ego, it would be an impossible task, because the ego can be identical only with one part at a time. So he indi-cates by the symbol of the vessel that he is trying to find a container for eve-rything. (Jung 1961, S. 199)

Jung geht in dieser Passage seines Vortrags ausführlich auf die symbolische Bedeu-tung des Gefäßes ein und auf die Verbindung des Behältnissymbols zum magi-schen Kreis, ein Ritual, das Jung thematisch weiterführt zum Mandala, welches er als ein Mittel beschreibt, „um das Zentrum der Persönlichkeit5 davor zu schützen, nach außen gezogen und von außen beeinflusst zu werden“ (Jung 1981, S. 195). Diese Vorstellung von einem Gefäß, das als Behältnis die Bewegung des Enthaltens andeute, um etwas zusammenzuhalten, was ansonsten auseinanderfallen würde, sei „eine archetypische Idee“ (Jung 1981, S. 194). Auch die Imago der Frau, von Jung „Anima“ genannt, deren erste Personifikation Jung der Mutter zuweist, sei „ebenfalls eine Art Vase oder Gefäß, denn im Anfang enthält sie das ganze Unbewusste, statt dass dieses in seine verschiedenen Einheiten aufgesplittert ist“ (Jung 1981, S. 195).

In dieser Passage deutet Jung die Funktion der Mutter zu Beginn des Lebens an, deren Bedeutung für das Baby – die wichtige Funktion der Mutter, die hinausge-worfenen unbewussten Inhalte des Subjekts wie ein Behältnis aufzunehmen und zu bewahren. Deshalb ist für Jung das Gefäß oder der Behälter immer weiblich konno-tiert. Darauf hatte Jung anlässlich der Deutung eines Traums bereits in der vierten Vorlesung erstmals hingewiesen: „The bowl is a vessel that receives or contains, and is therefore female“ (Jung 1961, S. 136). Wie wir wissen, weist Bion in seinem Modell dem Container ein weibliches Symbol zu.

Bion und Samuel Beckett

Dass die Ausführungen Jungs den damals 38-jährigen Wilfred Bion tief beeindruckt haben, ist mehr als nur wahrscheinlich. Haben aber darüber hinaus Jungs Lectures den Werdegang des Psychoanalytikers Bion vielleicht sogar nachhaltig beeinflusst?

Da Bion, der selbst immer wieder auf den Einfluss von Freud und Melanie Klein auf sein Werk hinweist, sich nie zu Jungs Lesungen in Tavistock geäußert hat, wird diese Frage nicht mit absoluter Sicherheit zu beantworten sein. Will man ihr trotzdem nachgehen und dabei nicht allein auf reine Spekulation angewiesen bleiben, so gilt es Anhaltspunkte zu finden, die auf eine solche Beeinflussung hindeuten.

Jungs Kommen nach Tavistock war für die damalige psychoanalytische Szene ein besonderes Ereignis – von den einen positiv, von anderen wiederum sehr negativ bewertet. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Britische Gesellschaft damals von allen Kandidaten forderte, sie müssten, wenn sie als Arzt in Tavistock arbeiteten, ihre Tätigkeit dort aufgeben, falls sie die psychoanalytische Ausbildung absolvie-ren wollten. Diese Ablehnung der Tavistock-Klinik gründete daher, dass Tavistock, obgleich man dort hauptsächlich Freuds Theorien und psychoanalytischer Technik

5 Nach C.G. Jung das Selbst.

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folgte, auch Ansätze von C.G. Jung integriert hatte (King und Steiner 1991). Bion, der sich damals – 1938, also drei Jahre nach Jungs Vorträgen dort – bei John Rick-man in Analyse befand, war der erste Ausbildungskandidat gewesen, der sich dieser Forderung widersetzte und weiter in Tavistock arbeitete.

Es gibt nun eine Begebenheit, der man geradezu die Qualität eines Beweises dafür zusprechen kann, dass Jungs Besuch für Bion einen bleibenden Eindruck hinterlas-sen haben muss. Diese Begebenheit entstand aus einer außergewöhnlichen Aktion des jungen Therapeuten Bion. Bion lud nämlich einen seiner Patienten, dessen Ana-lyse seit einiger Zeit zu stagnieren schien, ein, mit ihm zusammen Jungs Vorlesungen in Tavistock zu hören – mit dem ausgewiesenen Ziel, dadurch die Analyse wieder zu befördern. Dieser Patient war der damals 29-jährige Samuel Beckett.

Beckett befand sich in den Jahren 1934 und 1935, nachdem sein Vater 1933 ver-storben war, in analytischer Behandlung bei Bion, mit einer wöchentlichen Frequenz von drei Sitzungen – Anzieu, dem die autorisierte Beckett-Biografie Knowlsons (1996) noch nicht zur Verfügung gestanden hatte, war von vermutlich vier Sitzungen ausgegangen (Anzieu 1989). Insgesamt waren es 133 Sitzungen, über die Beckett sich Notizen, die bislang verschollen geblieben sind, machte (Knowlson 1996). Eines der zahlreichenden schweren Symptome Becketts war eine ausgeprägte Schreibhem-mung. Bion, damals auch an einer Schreibhemmung leidend, war 1933 nach Tavistock gekommen und neun Jahre älter als Beckett, der wahrscheinlich einer seiner ersten Analysepatienten, vielleicht sogar der allererste, war. Weil diese Analyse sich in einer Art Sackgasse befand, schlug Bion Beckett vor, gemeinsam Jungs Vorlesung über Psychopathologie und Kreativität zu besuchen. Dort geschah etwas, was Beckett, so seine Biografin Bair (1978), als den zentralen Punkt seiner gesamten Analyse auf-fasste: In der Diskussion hatte Jung über die Träume eines 10-jährigen Mädchens gesprochen und dazu bemerkt, dass es „nie ganz geboren worden“6 sei (Jung 1981, S. 113). Beckett glaubte darin mit einem Mal, sein eigenes Problem aufgeschlüsselt zu erkennen, und erklärte sich darüber viele seiner Verhaltensweisen und Fantasien – und nicht zuletzt seine abhängige Beziehung zu seiner Mutter. Bair schreibt:

With Jung’s words, Beckett finally found a reasonable explanation of his rela-tionship with his mother. If he had not been entirely born, if he did indeed have prenatal memories and remembered birth as ‚painful‘, it seemed only logical to him that the aborted, flawed process had resulted in the improper and incom-plete development of his own personality. (Bair 1978, 209 f.)Das Thema der Geburt, deren Scheitern und Gefahren, läuft, so Bair, durch das gesamte Werk Becketts: Für Samuel Beckett bedeutete Geburt Tod. (Ben-Zvi 1986, S. 77)

Beckett kam verschiedentlich auf dieses für ihn wichtige Erlebnis der Vorlesung C.G. Jungs zurück, und zweifelsfrei, so Anzieu (1989), stellte das künstlerische Schaf-fen für ihn die glückliche Alternative zur seelischen Erkrankung dar. So hatte Jungs Bemerkung nachweislich einen tiefen Einfluss auf den späteren Nobelpreisträger für Literatur gehabt.

6 „She had never been born entirely“ (Jung 1961, S. 107).7 „Birth was the death of him…“.

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Zu Weihnachten 1935, gut zwei Monate nach dem Besuch von Jungs Vorlesung, beendete Beckett seine Analyse bei Bion und kehrte gegen dessen Rat – Bion befürch-tete einen wiedererstarkten Einfluss von Becketts Mutter – nach Dublin zurück. Die hatte zwar sogar die Behandlung bezahlt, aber darauf bestanden, dass diese nicht in Dublin durchgeführt würde, weil sie eine psychoanalytische Therapie ihres Sohnes als beschämend ansah. Aber schon 1937, nachdem es zum endgültigen Bruch mit seiner Mutter gekommen war, zog es Beckett nach Paris, wo er dann, sich von sei-ner Muttersprache abwendend, zu einem auf Französisch schreibenden Schriftsteller wurde – Werke, die er nach dem Tod der Mutter ins Englische übersetzte (Casement 1982). Allein schon diese biografische Skizze zeigt, dass der Weg zu dem Schrift-steller, der Beckett dann wurde, alles andere als eine leichte psychologische Geburt war. Jedenfalls schwand nach dem Besuch von Jungs Lectures die Schreibhemmung Becketts, der schließlich dann 1937 seinen ersten publizierten Roman beenden konnte – den 1933 begonnenen Murphy. Die Idee zu diesem Roman kam Beckett, nachdem ihn ein früherer Mitstudent, Dr. Geoffrey Thompson, davon überzeugt hatte, dass die Krankheitserscheinungen, an denen er litt, eine psychische Ursache hätten, und es arrangierte, dass Beckett inoffiziell als Psychiatriepfleger in seine Kli-nik eintrat (Anzieu 1989). Thompson war es dann auch gewesen, der Beckett an die Tavistock-Klinik verwies. Noch eine halbes Jahrhundert später dachte Beckett – in einem Gespräch mit Simon 1985 – mit Dankbarkeit an Bion zurück, weil der ihn durch eine schwierige Lebensphase hilfreich begleitet habe (Simon 1988).

So weit die Fakten – und nun doch wieder zurück zu Mutmaßungen, zu psycho-analytischen Überlegungen, die an diesen Ereignissen ansetzen.

Es gibt einiges an psychoanalytischer Literatur, die sich des Themas der Bezie-hung zwischen Bion und Beckett angenommen hat. Eine ganze Reihe von Analyti-kern stellt fest, dass sich Beckett und Bion, der eine literarisch, der andere auf dem Gebiet der Psychoanalyse, mit weitgehend identischen Themen beschäftigten und dabei sehr ähnliche Vorstellungen entwickelt hätten (Anzieu 1989; Mahon 1999; Stevens 2005; Simon 1988). Anzieu (1989) und Simon (1988) bezeichnen, anschei-nend ohne von der Arbeit des anderen gewusst zu haben, jedenfalls ohne einander zu zitieren, in zwei kurz nacheinander im gleichen Journal erschienenen Aufsätzen Beckett und Bion als „imaginary twins“. Der Ausdruck Imaginary twins lässt sich nur schwer ins Deutsche übersetzen; wörtlich „imaginäre Zwillinge“, entspricht ihm vielleicht vom Sinn her am ehesten die Bedeutung von „seelische Doppelgänger“. Die Bezeichnung von Beckett und Bion als Imaginary twins hat eine Vorgeschichte: Sie ist ein Zitat des Titels von Bions erster Publikation „The imaginary twin“, im Deutschen „Der imaginäre Zwilling“ (Bion 2013), zugleich die Arbeit, die Bion 1950 zur Aufnahme in die Britische Psychoanalytische Gesellschaft vorgetragen hatte und die erstmals in Second thoughts veröffentlicht wurde (Bion 1967).

Didier Anzieu hat sich über vierzig Jahre mit Samuell Beckett und seinem Werk beschäftigt. In seiner Untersuchung der Auswirkungen der Analyse von Beckett bei Bion auf beide Beteiligte folgt Anzieu (1989, S. 164) einer zentralen These: Beckett und Bion seien beide auf eine Problemstellung gestoßen, ein Problem, das Bion das Protomentale nennt und damit den seelischen Bereich, in dem physisches und psychi-sches Funktionieren nicht mehr getrennt werden können, bezeichnet. Dieses Problem betraf auch die Fragen, die Bion in Tavistock an Jung gerichtet hatte. Nach Anzieu

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stellten das Werk von Beckett wie auch dasjenige Bions – bei diesem in seinen wis-senschaftlichen Arbeiten ab 1950, bei jenem in seinen französischen Romanen nach 1945 – parallel laufende Versuche dar, den Kern dieses dunklen und beängstigenden seelischen Bereichs auszuleuchten. Schon Murphy, den Protagonisten seines ersten Romans, siedelt Beckett in drei seelische Zonen –„’light“, „half light“, „dark“ – an (Anzieu 1989). Anzieu gelangt in seiner psychoanalytischen Untersuchung abschlie-ßend zu der Überzeugung, dass sowohl für Beckett wie für Bion der andere seinen geheimen Seelenzwilling dargestellt habe, den ihn ergänzenden Doppelgänger, der für den jeweils anderen eine maßgebliche Phase innerhalb des kreativen Prozesses ausgemacht habe (Anzieu 1989, S. 168).

Wie Anzieu vergleicht auch Simon das Werk von Beckett mit dem Bions und ver-mag dabei bemerkenswerte Parallelen herauszuarbeiten. Denkwürdig genug ist es schon, dass Simon (1988, S. 331) in seiner fast zeitgleich erschienenen Arbeit „The imaginary twins: the case of Beckett and Bion“ zu der im Prinzip selben Schlussfol-gerung gelangt – somit geradezu schon eine „Zwillingspublikation“. Auch Simon ist der Überzeugung, dass die Analyse von Beckett bei Bion auf beide einen tiefgreifen-den und dauerhaften Einfluss („profound and continuing impact “) gehabt habe. Dar-über hinaus, so argumentiert Simon, liefen das Werk von Beckett wie das von Bion parallel, sowohl hinsichtlich bestimmter Themen wie auch gewisser Formen, diese zu präsentieren: Beckett habe sich in seinem literarischen Œuvre ständig mit Prob-lemen von Bedeutung, Kommunikation, von Emotionen sowie den Ursprüngen und den Schicksalen menschlicher Beziehungen auseinandergesetzt, während Bion die-sen Themen in seinen psychoanalytischen Schriften nachgegangen sei. Ebenso wie Anzieu sieht Simon eine wechselseitige Beeinflussung bei Beckett und Bion. Simon erkennt im „Fall von Beckett und Bion“ ein Beispiel dafür, wie ein Patient, zumal zu Beginn der analytischen Karriere eines Psychoanalytikers, dessen Arbeit das ganze professionelle Leben hindurch zu beeinflussen vermöge, indem der gleichsam dazu gedrängt werde, die Erfahrungen dieser Analyse immer wieder durchzuarbeiten. Aus dieser Perspektive mag man es dann gar nicht mehr nur als einen Zufall abtun, dass manche Teilnehmer in Bions bekannten Gruppensitzungen, die „Lästerer“ (Simon 1988, S. 333), sich an ein Stück von Samuel Beckett erinnert fühlten.

Die Parallelen in den Werken von Beckett und Bion, so wie sie von Anzieu und Simon herausgearbeitet werden, lassen die Hypothese, Beckett und Bion wären ein-ander in gewisser Hinsicht seelenverwandt gewesen, gut nachvollziehbar erscheinen. Dass es in ihren Werken gleichsam kongruente Themenbereiche gibt, zeigt Stevens (2005) in seiner Studie zur Bedeutung des Nichtbenennbaren und des Nichts im Werk von Bion und anhand von Becketts Murphy. Diese Parallelen zieht Oppen-heim (2001) auch nicht in Zweifel, doch sie macht auf die letztlich doch fehlende Beweislage für die These der wechselseitigen Beeinflussung von Bion und Beckett aufmerksam. Danach befragt, ob sie eine wechselseitige Beeinflussung bei Bion und Beckett für möglich hielte, gab Parthenope Bion in einem Interview diplomatisch zur Antwort, dass sie dächte, ein Analytiker, der nichts von seinem Patienten lerne, lerne überhaupt nichts; sie denke, dass Beckett von Bion gelernt habe und Bion von Beckett – wie von allen seinen anderen Patienten auch (Vermote 1998).

Simon schreibt, dass Beckett und Bion im jeweils anderen das Vorhandensein von etwas Tiefem und Vertrautem, dabei vielleicht sogar Unheimlichem – Simon nennt

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es „Gestalt“ („gestalt“) von Form und Inhalt – gespürt hätten, ohne genau fassen zu können, um was es sich handelte. Deshalb hätten sie intuitiv gespürt, dass sie jemanden benötigten, der ihr noch unausgereiftes Verständnis davon „zu katalysieren und zu kristallisieren“ in der Lage wäre – ein unbewusstes Ahnen gleichsam, das zu der Entscheidung geführt habe, gemeinsam zu Jungs Vortrag zu gehen (Simon 1988, S. 349). C.G. Jung hätte folglich diesen Kristallisationspunkt für Beckett und Bion dargestellt.

Das Thema des Nicht-geboren-Werdens

Wenn auch die Frage, ob Bion und Beckett sich in ihrem Gesamtwerk wechselseitig beeinflusst hätten, nur spekulativ beantwortet werden kann, so darf man sich hin-sichtlich der Beantwortung unserer Ausgangsfrage, ob und inwieweit Bion in den „Tavistock Lectures“ von Jung beeinflusst worden wäre, vielleicht doch etwas weiter vorwagen. Verfolgt man nämlich die verschiedenen Spuren, so ergibt sich eine durch-aus relevante Faktenlage.

Da haben wir zunächst einen jungen Psychiater in einer seiner ersten, wenn nicht sogar in seiner ersten psychoanalytischen Behandlung, welche seit einiger Zeit sta-gniert. Deshalb entscheidet er sich zu dem außergewöhnlichen Schritt, diesen Pati-enten zum Abendessen einzuladen und ihn dann zu Jungs Vorträgen mitzunehmen – allein das schon eine Aktion, an die wohl jeder Analytiker sich sein Leben lang erinnern würde. Dort geschieht dann das Außerordentliche: Der Patient fühlt sich durch die Ausführungen Jungs auf den Punkt genau verstanden und wird dadurch auch künstlerisch angeregt, ja sogar befreit, sodass er seine Schreibhemmung über-windet und wieder kreativ werden kann, was dann zur Folge hat, dass er die Analyse vorzeitig beendet. Wer spätestens dann nicht zum vertieften Nachdenken über diesen Patienten, über die gemeinsame analytische Arbeit und damit über die eigene Person, nicht zuletzt auch über die gesamte Vortragsreihe angeregt würde, der wäre wohl überhaupt unfähig, als Analytiker durch Erfahrung zu lernen.

Dass Jungs Vortrag ihn zutiefst berührt und beeinflusst hat, wissen wir von Beckett selbst. In seiner autorisierten Biografie (Knowlson 1996), die Anzieu und Simon noch nicht zur Verfügung stand, findet sich eine Stelle, in der Beckett, den die Analyse bei Bion so gefangen nahm, dass er zu nichts anderem mehr Kraft und Zeit fand, einige seiner Erinnerungen an die Analyse bei Bion schildert:

Gewöhnlich legte ich mich auf die Couch und versetzte mich zurück in meine Vergangenheit. Ich denke, es half mir etwas, meine Panik zu kontrollieren. Meist kamen Erinnerungen daran hoch, im Mutterleib zu sein. Intrauterine Erinnerun-gen. Ich erinnere mich, wie ich mich gefangen fühlte, eingesperrt und unfähig zu entkommen, daran wie ich schrie, ohne dass mich jemand hören konnte, keiner hörte mich. Ich erinnere mich an den Schmerz, unfähig etwas dagegen zu tun. Dann ging ich zurück in meine Bude und machte mir Notizen darüber, was geschehen war, über das, an das ich mich erinnert hatte. (Knowlson 1996, S. 1778)

8 Übersetzung von C.M.

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Liest man diese Zeilen, versteht man gut, warum sich Beckett von Jungs Interpreta-tion zum Fall des Mädchens so angesprochen fühlte – so sehr, dass er die wesentliche Problematik seines Lebens plötzlich erkannt zu haben meinte. Jungs Interpretation, das Mädchen wäre nie vollständig geboren worden, war ein ganz und gar ungewöhn-liches Verständnis für die damalige psychoanalytische Zeit, vierzig Jahre bevor Mahler, Pine und Bergman ihr Werk über den Separation-Individuation-Prozess mit dem Titel „The psychological birth of the human infant“ vorlegten (Mahler et al. 1975). Noch 1999 wertete Mahon diese Interpretation Jungs als eine außerhalb des psychoanalytischen Denkens zu verortende Idee, die man, angesichts der Schluss-folgerungen, die Beckett daraus zog, und der Komplizenschaft Bions dabei, als Psychoanalytiker nur mit Befremden quittieren könne9, alles zusammen eine Kons-tellation, die Bion, damals schließlich noch ein Anfänger in der Psychoanalyse, nach-zusehen wäre (Mahon 1999).

Aber auch der ausgebildete Psychoanalytiker Bion distanzierte sich nicht von die-sen Ideen. Ganz im Gegenteil: In seiner ersten Veröffentlichung, zugleich seinem Aufnahmevortrag für die Britische Gesellschaft, taucht die Idee des „Nicht-geboren-Werdens“ wieder auf, in dem bereits zitierten Aufsatz „The imaginary twin“. Der Erste der drei dort wiedergegebenen Behandlungsfälle handelt von einem Patienten, der in seiner Fantasie einen imaginären Zwilling daran gehindert hatte, geboren zu werden, und der infolgedessen erlebte, von diesem ungeborenen seelischen Doppel-gänger dafür bestraft zu werden, in dem Sinne, dass der Patient nicht wirklich ins Leben kam. Dieser Patient sagte, er fühlte sich, als wäre er „im Uterus“, und Bion sagte dem Patienten, „dass er sich davor fürchte, geboren zu werden“ (Bion 1974, 2013, S. 17).

Wie man dieser Passage aus Bions erster Publikation entnehmen kann, finden sich Spuren von Jungs Interpretation aus den „Tavistock Lectures“ folglich nicht nur bei Beckett. Gerade weil das Thema des Nicht-geboren-Werdens so ungewöhnlich ist, zumal in der damaligen Psychoanalyse, kann man das Wiederauftauchen dieses The-mas in Bions erster Schrift als ein Faktum, das die Inspiration Bions durch Jungs „Tavistock Lectures belegt, werten – und das noch zumindest fünfzehn Jahre nach den Lesungen Jungs.

Eine originäre Schöpfung Bions ist dabei die Verbindung des Nicht-geboren-Wer-dens mit dem Muster des imaginären Zwillings. Der Personifizierung des imaginären Zwillings stellt nach Darstellung Bions eine Abwehrkonstruktion dar, welche vor einer nichttolerablen emotionalen Intensität schützen sollte und „einen Versuch zum Ausdruck brachte, die Kluft zur Realität zu überbrücken“ (Bion 2013, S. 23). Diese Verbindung der Vorstellung von einem seelischen Doppelgänger mit dem Thema des Nicht-geboren-Werdens lässt sich nun wieder auch in Samuel Becketts Werk auf-spüren. In „Um abermals zu enden und anderes Durchgefallenes“ schreibt Beckett:

…ich gab auf, ehe ich geboren wurde, es ist anders nicht möglich, aber es musste geboren werden, es war er, ich war darin, … er hat gelebt, ich habe

9 „Psychoanalytic eyebrows will undoubtedly rise at the conclusions Beckett drew from Jung’s remarks, and at Bion’s complicity in validating these extra-analytic ideas which, like a deus ex machina, were cal-led upon to explain not only Beckett’s incomplete biological and psychological births but the incomplete births of the transference neurosis and the psychoanalytic process as well“ (Mahon 1999, S. 1383).

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nicht gelebt, schlecht gelebt, wegen mir, es ist unmöglich, dass ich ein Bewusst-sein habe, und doch habe ich eines, ein anderer ahnt mich, ahnt uns, so weit ist er, dahin ist er schließlich gelangt, ich bilde ihn mir ein, wie er uns da ahnt …. (Beckett 1986, S. 164)

Diese Passage liest sich wie die literarische Bearbeitung von Bions „The imaginary twins“. Angesichts dieser Duplizität der Texte könnte man wie Simon (1988), der diese Stelle aus „Um abermals zu enden und anderes Durchgefallenes“ nicht zitiert (was vermuten lässt, dass sie ihm nicht bekannt war), spekulieren, dass es sich bei dem Patienten A10 aus „The imaginary twins“ um Beckett gehandelt habe. Für den Zweck dieser Arbeit muss es genügen, dass sich noch in Bions erster Schrift ein Echo seines Besuchs von Jungs Lectures auffinden lässt. Es verwundert auch nicht, wenn Bion in seinem Kommentar zu „The imaginary twins“ schreibt, dass er jetzt dieser Konstruktion keine so große Bedeutung mehr beimesse (Bion 1967, S. 144). Gerade diese Äußerung spricht meines Erachtens dafür, dass Bion sich des Einflusses, den Jung auf ihn hatte, nicht bewusst war, kommen ihm doch rückblickend die in „The imaginary twins“ entwickelten Gedankengänge eher fremd vor.

Danach, nach „The imaginary twins“, begann die kreative Phase Bions, eine Schaffensperiode, welche Themen weiterspann, die Jung in den Lectures angespro-chen hatte. Folgt man diesem Gedanken, so meint man immer wieder Spuren C.G. Jungs im Werk von Bion aufzufinden. Nur ein Beispiel: Bei Jung (1925, S. 221) taucht das Konzept des Containers, von ihm bezeichnet „als das Problem des Enthal-tenen und des Enthaltenden11“, erstmals in seiner Schrift „Die Ehe als psychologische Beziehung“ auf, ein Text, deutsch verfasst 1925, der 1931 ins Englische übersetzt wurde. Die thematische Verbindung von container-contained mit der Ehe findet sich auch bei Bion (1970), dort in Aufmerksamkeit und Deutung.

Noch einmal zurück zu den Lectures: Schon die erste Erwähnung von container und contained in Bions Werk, zwar da noch nicht in der Bedeutung des Modells von container-contained, knüpft nahtlos an Jungs Lectures an, wenn Bion (1956, 2013, S. 48) schreibt, dass in der Fantasie des schizophrenen Patienten „die ausgestoßenen Ich-Partikel eine unabhängige und unkontrollierte Existenz außerhalb der Persönlich-keit“ führten, wo sie dann äußere Objekte enthielten oder in solchen erhalten seien. Im englischen Original heißt es prägnant: „either containing or contained by external objects“ (Bion 1956, S. 39). Die erste Formulierung des vollständigen Modells von container-contained gelingt Bion erst sechs Jahre danach in Learning from Experi-ence, das im Jahr nach C.G. Jung Tods erscheint (Bion 1962).

Während Beckett der Einfluss, den der Besuch von Jungs Lectures auf ihn ausgeübt hatte, bewusst war und er ihn deshalb immer wieder auszudrücken vermochte, gibt es von Bion kein Statement in dieser Hinsicht. Ja, es kam sogar einmal vor, anlässlich Bions eigener Tavistock-Seminare, dass er gefragt wurde, inwieweit sich das, was er sagte, „dem jungianischen Konzept des Analytikers als Vermittler oder Container“ annäherte (Bion 2007, S. 87). Bions Antwort darauf ist für ihn typisch, was, so Grots-tein (2007), bedeutet, dass sie, ebenso ausführlich wie kryptisch, für den Fragenden

10 Bion fügt in seinem Kommentar hinzu, dass er die anamnestischen Daten seines Patienten A verfälscht habe, um die Anonymität seines Patienten zu schützen (Bion 1974).11 Kursiv im Original.

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unverständlich bleibt. Sie beginnt mit der Feststellung, dass die Beziehung zwischen Ideen ein schwieriges Problem sei, um dann in den Bereich der Mathematik überzu-wechseln, bis schließlich seine Assoziationen Bion hin zum „Zeitgeist“ führen:

Eine der Manifestationen eines Zeitgeistes scheint zum Beispiel der messiani-sche Aufruhr zu sein. Das ist sonderbar, weil der Messias diesen messianischen Aufruhr häufig leugnet, während er von gewissen Propheten nachdrücklich befürwortet wird. Das eigentliche Zentrum dieses spezifischen Aufruhrs – der Messias – wird von etwas, das sich außerhalb des Zentrums befindet, massiv beeinflusst; es ist ex-zentrisch, wie eine Situation, in der die Psychoanalyse selbst „ en vogue “  wird, bis sie nach einer Weile von jemand anderem oder etwas anderem abgelöst wird – der neuesten Mode. (Bion 2007, S. 88)

Auf den ersten Blick hin könnte einem bei dieser Antwort der Verdacht kommen, es handelte sich dabei um ein assoziatives Danebenreden. Verbindet man diese Asso-ziationen nun mit Bions Werk, dann verweist die Erwähnung des „Messias“ auf die Bion’sche Begrifflichkeit von „Gottheit“ und damit auf den messianischen Aspekt des Begriffs „O“ – „O“, nach Bion das „Ding an sich“, in der Beschreibung von Krejci (zit. nach Bion 1997, S. 7) „der Ursprung der emotionalen Erfahrung, der alle Eigenschaften unentfaltet in sich birgt“. „O“ markierte die Wendung Bions zum „mystischen Analytiker“ (Grotstein 2007, S. 105). Grotstein (2007, S. 106) vermutet, dass Bion „O“ deshalb als Begriff für „ultimate reality“ wählte, weil das Zeichen O einen Kreis darstelle und somit eine Umgrenzung respektive ein containment. Nahezu identische Gedankengänge finden sich im Jung’schen Werk.

Über Beeinflussung in der psychoanalytischen Literatur und das Phänomen der Kryptomnesie

„Es ist nicht richtig, ein Meisterwerk oder auch einer Entdeckung einem Namen zuzuschreiben. Seine wahren Urheber sind des Autors Vorgänger und Zeitgenos-sen“12 (Svevo 1985). Mit diesen Worten, die Italo Svevo unter dem Pseudonym Somegli schrieb und welche die Frage nach den Ursprüngen als müßig erscheinen lassen, eröffnet Steiner (1999) seinen Aufsatz „Who influenced whom? and how?“ – eine Arbeit über die sogenannten Ursprünge der Begriffe projektive und introjektive Identifikation. In dieser Arbeit geht Steiner auf die Frage ein, ob diese Begriffe nicht eigentlich auf den mit Italo Svevo befreundeten Edoardo Weiss zurückgingen. Weiss (1925, S. 443) hatte schon in einem seinerzeit geschriebenen Aufsatz festgestellt: „Es gibt also eine introjektive und eine projektive Identifizierung“. Nach Steiner darf es als erwiesen gelten, dass Melanie Klein (die übrigens Rosenfeld daran gehindert hatte, eine Arbeit über projektive Identifikation zu veröffentlichen, bevor ihr berühm-ter Text 1946 in Druck ging) den Aufsatz von Weiss kannte, sie diesen Text aber nie in passendem Zusammenhang – und falls überhaupt, dann nicht korrekt – zitierte. Steiner kommt zu folgender Schlussfolgerung: „Nimmt man alles zusammen und denkt man auch über die Definition der Begriffe ‚introjektive und projektive Identifi-

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kation’ durch Weiss nach, könnte man vielleicht sagen, dass Klein, ähnlich wie Freud und andere in vergleichbaren Fällen, an Kryptomnesie litt“13 (Steiner 1999, S. 368).

Was Steiner hier feststellt, ist nichts weniger als die Tatsache, dass Kryptomnesien in der Psychoanalyse mit bemerkenswerter Häufigkeit vorkommen. Berücksichtigt man alle Anhaltspunkte, die auf eine Beeinflussung Bions durch die Begegnung mit Jung in Tavistock hindeuten, so bietet sich als naheliegende Erklärung am überzeu-gendsten auch hier das Wirken einer Kryptomnesie an.

Mit dieser Feststellung, der Annahme einer Kryptomnesie, könnte man es auch für diese sich mit Jung und Bion befassende Untersuchung bewenden lassen. Man hätte dann zumindest eine Autorenkette für die projektive Identifikation – Weiss, C.G. Jung, Rosenfeld, Melanie Klein und Bion – und die Worte des mit Edoardo Weiss befreundeten Italo Svevo böten letzten Endes die Möglichkeit eines ver-söhnlichen Abschlusses. Wir wollen uns trotz alledem an dieser Stelle noch nicht damit zufriedengeben, sondern anhand unseres Materials noch weiter der Frage nach dem Umgang innerhalb der Psychoanalyse mit tatsächlichen oder vermeintlichen Ursprüngen nachgehen, wobei das Faktum der Kryptomnesien, welche, so schreibt auch Steiner, in der Psychoanalyse gar nicht einmal so selten vorkommen, als Aus-gangspunkt dienen soll. Vielleicht lässt sich mittels dieser Fragestellung auch etwas über Entwicklungen in der Psychoanalyse erfahren?

Wörtlich übersetzt deutet der Begriff Kryptomnesie auf eine verborgene Erinne-rung hin. In der Psychologie findet er Anwendung auf die Gegebenheit, wenn von einem kreativen Denker unbewusst die von ihm „vergessenen“ Ideen von Vorgängern als eigene Einfälle erfahren werden. Nachdem 1900 Théodor Flournoy, ein väterli-cher Freund Jungs14, auf das Problem der Kryptomnesie aufmerksam gemacht hatte, beschäftigte es bis in die 1920er Jahre hinein immer wieder die Psychoanalytiker.

Gerade von Freud sind eine ganze Reihe von Kryptomnesien bekannt: So führte nicht zuletzt seine Überzeugung, dass die Idee der Bisexualität von ihm stamme, zum Bruch mit Fliess, der, so ist bei Anzieu (1990, S. 462) nachzulesen, sich deshalb entschloss, „einem so gefährlichen Freund nichts mehr über seine Arbeiten mitzu-teilen“. Auch das Konzept der freien Assoziation und die duale Triebtheorie gründen wohl auf Kryptomnesien Freuds (Brandt 1959; Trosman 1969). Freud war sich seiner Neigung zur Kryptomnesie durchaus bewusst. So schrieb er beispielsweise über die Entstehung der dualen Triebtheorie:

Umso mehr musste es mich erfreuen, als ich unlängst unsere Theorie bei einem der großen Denker der griechischen Frühzeit wiederfand. Ich opfere dieser Bestätigung gern das Prestige der Originalität, zumal da ich bei dem Umfang meiner Lektüre in früheren Jahren doch nie sicher werden kann, ob meine angebliche Neuschöpfung nicht eine Leistung der Kryptomnesie war. (Freud 1937, S. 91)

Bei der Frage nach den Ursprüngen seiner Theorie der freien Assoziation geht Freud dem Problem der Kryptomnesie noch detaillierter auf den Grund. Folgt man hier

13 Übersetzung von C.M.14 C.G. Jung schreibt zu diesem Thema 1902 seine Doktorarbeit.

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Freuds gewissenhafter Selbsterforschung, so gelangt man zu der Schlussfolgerung, dass der einer Kryptomnesie zugrunde liegende Vorgang nur Verdrängung sein könne. Dies entspricht der Auffassung Ferenczis, der, so Trosman (1969), wiederholt auf diesen Zusammenhang hinweist. Die Beteiligung der Verdrängung am Zustan-dekommen einer Kryptomnesie finden wir am überzeugendsten von Freud selbst belegt, am Beispiel der psychoanalytischen Technik der freien Assoziation: Freud hatte im Alter von vierzehn einen Aufsatz von Börne gelesen, einen Text, der zum Teil wörtlich ausdrückte, was Freud selbst vertrat; dieser Text, der in einem sich noch in Freuds Besitz befindenden Buch Börnes enthalten war, war zudem der einzige Aufsatz, an den ihn gelesen zu haben Freud sich nicht erinnern konnte (Freud 1920). Freud (1920, S. 312) schließt seine Reflexion mit den Worten: „Es scheint uns also nicht ausgeschlossen, dass dieser Hinweis vielleicht jenes Stück Kryptomnesie auf-gedeckt hat, das in so vielen Fällen hinter einer anscheinenden Originalität vermutet werden darf“.

Verdrängung, von Freud häufig bedeutungsähnlich für den Begriff Abwehr ver-wendet, ein Vorgang, dessen „Wesen nur in der Abweisung und Fernhaltung vom Bewusstsein besteht“ (Freud 1915, S. 250), wird vom Ich eingesetzt, um sich vor Unlust zu schützen. Wenn nun einer Kryptomnesie der Vorgang der Verdrängung zugrunde läge, dann bliebe doch unklar, welcher seelische Inhalt – und aus welchen Gründen – verdrängt wurde. Sicher, offensichtlich wurde die Urheberschaft auf eine bestimmte Idee „vergessen“. Aber wenn es sich tatsächlich um Verdrängung han-delte, dann müsste diese Urheberschaft auf irgendeine Weise assoziativ mit Angst-machendem in Verbindung stehen: Ins Unbewusste verdrängt wird eine unerträgliche Vorstellung. Worum könnte es sich dabei handeln? Laplanche und Pontalis (1972, S. 586) schreiben dazu: „Allein die „ Vorstellungsrepräsentanzen “ (Idee, Bild etc.) des Triebes werden verdrängt. Diese Vorstellungselemente hängen mit dem primär Verdrängten zusammen, sei es, dass sie von ihm abstammen, sei es, dass sie eine zufällige Bindung mit ihm eingehen“. Diese bekannten Gegebenheiten müssen auch für das Verdrängte im Falle einer Kryptomnesie gelten.

Meines Wissens gibt es nur einen einzigen Fall eines psychoanalytischen Autors, bei dem eine tiefere Analyse seiner Kryptomnesie versucht wurde. Dieser Autor ist wieder Freud, dieses Mal mit seiner Theorie der Bisexualität. Anzieu (1990) beschreibt in „Freuds Selbstanalyse und die Entdeckung der Psychoanalyse“ die passiv-feminine Einstellung Freuds, dessen Interesse an der Idee einer psychischen Bisexualität direkt mit einem „Übertragungseffekt“ homosexueller Wünsche Fliess gegenüber verbunden gewesen sei. In diesem Kontext fand nun die kryptomnestische Annexion von Fliessʼ Entdeckung der Bisexualität statt, ein Vorkommnis, das letzt-lich zum Bruch mit Fliess führte. Erst danach, nachdem Freud, so schreibt Anzieu (2002), die homosexuelle Bindung an Fliess abzuschütteln vermochte, konnte die Psychoanalyse als unabhängige Wissenschaft entstehen.

Dass eine von passiven Wünschen getragene, (wahrscheinlich) unbewusste Vater-sehnsucht – sowohl aufseiten Becketts (dessen Vater im Jahr vor Beginn der Analyse bei Bion verstorben war) wie auch bei Bion (der schon in jungen Jahren von seiner Familie getrennt wurde und offenkundig auf der Suche nach einer Leitfigur in seiner gerade noch sehr jungen Berufslaufbahn war) – in der Erwartung der Begegnung mit Jung in Tavistock eine Rolle spielte, ist eine Annahme, die nicht als zu gewagt

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erscheint. Aber es mutet doch zweifelhaft an, ob diese Konstellation allein eine Kryp-tomnesie Bions erklärte, gerade auch dann, wenn man in Erwägung zieht, dass die nämlichen Wünsche bei Beckett keine vergleichbare Verdrängung bewirkten. Nun könnte man endlos herumspekulieren, welche Wünsche und Impulse wohl verdrängt werden mussten, ohne dass eine auch nur hinreichend erscheinende Chance bestünde, diesem Verdrängten auf die Spur zu kommen.

Einen Ausweg bietet nur, sich exakt an das Phänomen der Kryptomnesie zu halten. Dieses Phänomen zeichnet sich durch einen – zumindest – zweiphasigen Vorgang aus. In einem ersten Schritt „vergisst“ ein kreativer Rezipient die von einem (meist bewusst) sehr geschätzten, also hochbesetzten Autor stammende Mitteilung, eine Mitteilung, die im Bereich der Psychoanalyse immer einen neuen, sich dem Unbe-wussten annähernden Gedanken formuliert. Die Verdrängung betrifft folglich die betreffende Information, welche dann, nach unterschiedlich lang dauernder Latenz, in einer zweiten Phase wiederkehrt, und zwar als neue eigene Theorie des Rezipien-ten. Diese neue Theorie, letztlich ein wiederkehrendes Verdrängtes, erscheint nun in verwandelter Gestalt, zeichnet sie sich doch – dies gilt jedenfalls für alle Kryptomne-siebeispiele in dieser Arbeit – dadurch aus, dass sie psychoanalytisch tiefer dringt, in dem Sinne, dass sie unbewusste Zusammenhänge exakter zu erfassen vermag.

Eine Kryptomnesie, so wie sie hier gefasst wird, beinhaltet also stets eine Trans-formation der verdrängten Information. Das lässt sich sehr schön an dem jeweiligen Container-Modell, so wie es als Erstes von Jung in Tavistock präsentiert und wie es dann später von Bion ausgearbeitet wurde, aufzeigen: C.G. Jung hat zwar ers-tens sehr deutlich das Hineinprojizieren von Affekten in den Analytiker beschrieben, Affekte, die dort weiterwirken, sowie er in Tavistock zweitens auch die Notwendig-keit von (psychotischen) Patienten, einen Container für abgewiesene Selbstanteile zu finden, erwähnt hat; die Verbindung dieser beiden Theoriebausteine – nämlich dass der Analytiker zum Container werden müsse, damit dann die verdauten seelischen Elemente in veränderter Form vom Patienten reintrojiziert werden können – gelingt erst Bion. Die Verwandlung der Theorie bei Bion betrifft prompt die psychodyna-mische Gegebenheit, welche für den Analytiker die größte emotionale Anforderung stellt. Zwar hat auch Jung in einer späteren Schrift beschrieben, dass in der Übertra-gung Analytiker und Analysand „beide alteriert“ würden (Jung 1946, S. 182). Ford-ham (1980, S. 203) schreibt, dass das Modell von container-contained bei Jung in dessen Bearbeitung des alchemistischen Opus als „zentrales Motiv“15 still mitläuft. Sicherlich kommt dem von Jung verwendeten Symbol des „alchemistischen vas“ die dem Container Bions analoge Funktion zu. Doch bleibt Jungs Darstellung der Vor-gänge in der Übertragung-Gegenübertragung-Beziehung, die er strikt an die alche-mistische Symbolik bindet, den Beziehungserfahrungen arg fern und wirkt von den sie bestimmenden Affekten wie isoliert: Nirgends wird bei C.G. Jung ein interaktio-nelles Container-Modell der analytischen Situation explizit beschrieben, sondern es bleibt stets allein symbolisch angedeutet, ganz so, als hätte Jung eine Scheu gehabt, diesem Gegenstand näherzutreten.

Der Ethnopsychoanalytiker Georges Devereux (1973, S. 126) hat auf den Sach-verhalt hingewiesen, dass die vom anthropologischen Feldforscher erhobenen Daten

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Angst auslösen können, Angst, genauso „wie klinische Daten, und dass er seiner Angst ins Gesicht sehen muss, um der Versuchung zu widerstehen, Teile seines Materials zu verdunkeln“. Devereux, der bei Geza Roheim in Analyse gewesen war, hatte seine psychoanalytischen Erfahrungen auf die Situation des Ethnologen im Feld übertragen. Nur allzu gerne vergessen wir Psychoanalytiker die von Devereux beschriebene Erfahrung, dass die klinischen Daten uns Angst zu machen vermögen, weil sie im Unbewussten des Analytikers einen Widerhall hervorrufen. Jede gänzlich neue psychoanalytische Entdeckung durchbricht, wenn der Analytiker sie zulässt, zwangsläufig auch seine Verdrängungsschranke und stößt unbewusste Inhalte an, was notwendigerweise Angst auslöst. Jede stimmige psychoanalytische Mitteilung ist als „die Transformierung einer emotionalen Erfahrung“ (Bion 1974, S. 147) anzu-sehen. Man täte gut daran, so schreibt Bion weiter, einen psychoanalytischen Bericht als „eine künstlerische Darstellung“ zu verstehen, der, wie letztlich eine Deutung, eine verbale Transformation der psychoanalytischen Erfahrung darstelle.

Nun kann aber das von einem psychoanalytischen Autor präsentierte Modell nicht für jeden Leser oder Hörer Deutungswert gewinnen, sondern, so dürfen wir annehmen, nur bei einem Rezipienten, in dem es infolge dieser Mitteilung zu einer emotionalen Korrespondenz mit den im präsentierten Material enthaltenen psycho-analytischen Erfahrungen kommt. Aus dieser Perspektive darf man auch Bions Auf-fassung verstehen, dass psychoanalytische Literatur „bestenfalls für einen oder zwei Leser des betreffenden Beitrags von Bedeutung“ sei (Bion 1974, S. 146). Über die Identität der zwei Personen, für die Jungs Lesungen in Tavistock von besonderer Bedeutung waren, dürften inzwischen kaum noch Zweifel bestehen.

„Psychoanalytische Theorien“, schreibt Bion (1965, S. 58), „sind Repräsentatio-nen einer emotionalen Erfahrung“. Als Endprodukt der Umformung von unbewuss-tem in bewusstes Erleben sind sie Transformationen, welche geeignet sind, wiederum emotionale Erfahrungen zu vermitteln. Es muss diese spezielle Eigenschaft der psy-choanalytischen Modelle Jungs gewesen sein, die bei Bion die Kryptomnesie um das Modell des Containers bewirkte. Warum aber war der erste Schritt der Kryptomne-sie, die Verdrängung, notwendig? Zwei mögliche Erklärungen bieten sich an – eine erste, welche vornehmlich mit der Person Bions zu tun hat, sowie eine weitere, die ein relationales Geschehen um diese emotionalen Erfahrungen zwischen Jung und Bion annimmt. Denn: „Man kann eine emotionale Erfahrung nicht isoliert von einer Beziehung verstehen“ (Bion 1962, 1990, S. 90).

Die erste Erklärung lautet wie folgt: Wenn die psychoanalytischen Mitteilungen Jungs eine emotionale Erfahrung vermittelten, welche unmittelbar eine Verdrängung nach sich zog, so spricht diese Abwehrreaktion Bions dafür, dass die entsprechenden Ausführungen Jungs wie eine „tiefe“ Deutung gewirkt haben. Winnicott – der sich dabei auf Stracheys Definition der frühen Deutung, der zufolge entweder genetisch frühes Material davon berührt werde oder solches, das einem besonders starken Aus-maß an Verdrängung unterliege, bezieht – bezeichnet mit „tief“ seelische Inhalte, die unter üblichen Bedingungen dem Ich so gut wie gar nicht zugänglich seien, bevorzugt aus der frühen Mutter-Kind-Beziehung stammten und insbesondere innere Verfolgungsängste anstießen (Winnicott 1965). Das psychoanalytische Modell des Containers berührt solche seelischen Inhalte, was erklärte, warum diese psychoanaly-tische Mitteilung und die darüber vermittelte emotionale Erfahrung unmittelbar ver-

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drängt werden mussten. Der Erkenntnisgewinn dieser ersten Erklärung ist allerdings recht begrenzt, weil sie die Wiederkehr des Verdrängten, den zweiten Schritt einer Kryptomnesie, nicht erfasst.

Der Anspruch der zweiten Erklärung reicht weiter. Um beide Schritte der Kryp-tomnesie erklären zu können, verwendet sie Theorien des Psychoanalytikers Bion, im Vertrauen darauf, dass diese Modelle die „emotionalen Erfahrungen“ ihres Autors weitgehend verlässlich abzubilden vermögen.

Eine psychoanalytische Entdeckung, die möglichst vielen Menschen eine emo-tionale Erfahrung vermittelt, entsteht, so Bion, aus der „Umformung einer unbe-wussten in eine bewusste emotionale Erfahrung“ (Bion 1965, 1997, S. 56), und die daraus sich entwickelnde Theorie ist deren Repräsentation (Bion 1965, S. 58). Diese Transformation basiert auf der von Bion Alpha-Funktion genannten Fähigkeit, einer Fähigkeit, die direkt mit den Träumereien der Mutter in Beziehung stehe und die auf alle Sinneseindrücke und Emotionen einwirke, wodurch seelische Elemente, die nun dem Denken verfügbar sind, entstünden, seelische Inhalte, die von Bion (1962, 1990) Alpha-Elemente genannt und unterschieden werden von den Beta-Elementen, bei denen es sich um „Fakten“, die von der Alpha-Funktion nicht verdaut würden, handelte und die „nur zur Ausstoßung geeignet“ seien (Bion 1962, 1990 S. 59). Ein Modell zeichnet sich dadurch aus, dass es, als „ausgewählte Tatsache“, „Elemente zu verbinden scheint, die bisher nicht in Zusammenhang gesehen wurden“ (S. 126). Wenn man diese Definition eines Modells auf das Container-Modell, das C.G. Jung in Tavistock präsentierte, anwendet, dann lässt sich feststellen, dass es ihm nicht gelingt, das brisanteste Element, die interaktionelle Funktion des Containers, klar zu beschreiben: Das Hineinprojizieren (in den Analytiker) und die Notwendigkeit, einen Container für disparate seelische Elemente zu finden, bleiben unverbundene Elemente, was den Schluss nahelegt, dass sie für Jung „unverdaute Tatsachen“ darstellten. Im Vergleich zu dessen Tavistock-Modell des Containers ist dasjenige Bions umfassender und hat eine wesentliche Entwicklung durchlaufen. Um es ver-suchsweise in die Sprache Bions zu übersetzen: Das neue Container-Modell weist inhaltliche Merkmale von „Wachstum“ auf, was notwendigerweise besagt, dass der Psychoanalytiker dieses Modells darin seine emotionalen Erfahrungen mit den ganz konkreten Realisierungen zu integrieren vermochte. Das setzt voraus: „Bevor eine emotionale Erfahrung für die Modellbildung verwendet werden kann, müssen ihre Sinnesdaten in Alpha-Elemente verwandelt werden, um gespeichert und um zur Abs-traktion verfügbar gemacht zu werden“ (Bion 1962, 1990, S. 128).

Wenn man nun davon ausgeht, dass Bion als Besucher der Vorlesungen C.G. Jungs in Tavistock das Modell der projektiven Identifikation und des Containers gehört hat und in der Lage war, diese „Sinnesdaten“ aufzunehmen und zu speichern, dann ist dieses Modell in Bion gewachsen, um schließlich, nach einer gewissen Latenzzeit, in fortentwickelter Form wieder zu erscheinen. Das Wiederauftauchen des Contai-ner-Modells, der zweite Schritt in der Kryptomnesie, wäre folglich gar keine reine Wiederkehr des Verdrängten, sondern das Resultat eines kreativen Prozesses. Um diesen kreativen Prozess noch besser zu verstehen, ist Bions Darstellung des Contai-ner-Modells hilfreich, wo er schreibt:

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Zum Gebrauch als Modell werde ich von der obenstehenden Theorie16 die Idee eines Behälters (container) abstrahieren, in den ein Objekt projiziert wird, sowie das Objekt, das in den Behälter projiziert werden kann; letzteres werde ich mit dem Ausdruck „Gehalt“ (contained) bezeichnen … Behälter und Gehalt können mit Emotionen verbunden oder von Emotionen durchdrungen sein. In diesem Fall ändern sie sich in einer Art, die üblicherweise als Wachstum beschrieben wird. (Bion 1962, 1990, S. 146)

Wendet man diese Modellskizze auf die Kryptomnesie an, so ist das Container-Mo-dell Bions das Resultat eines Wachstums nach dem Modus von container-contained (wobei C.G. Jungs Modell dann als contained anzusehen wäre), exakt so, wie es Bion in seinem Modell beschreibt. Damit nicht genug: Alle in dieser Arbeit ange-sprochenen Kryptomnesien scheinen diesem Muster zu folgen, eine Feststellung, die zumindest für die erwähnten Entdeckungen Freuds Gültigkeit beanspruchen kann. Die Latenzzeit einer Kryptomnesie lässt sich zwanglos auf die Vorstellung von der Arbeitsweise dieses Modells, das „sich von der emotionalen Erfahrung des Verdau-ungssystems herleitet“ (Bion 1962, 1990, S. 136), zurückführen. Und überhaupt: Wer zweifelte daran, dass die Tätigkeit eines Psychoanalytikers nie endendes persönli-ches Wachstum erforderte? (Dies nur, um die günstigste Variante dieses Berufs zu erwähnen.)

Wenn in dieser Untersuchung nun der zweite Schritt der Kryptomnesie mit dem Wachstumsprozess nach dem Modell von container-contained erklärt wird, so wartet der erste Schritt der Verdrängung noch auf plausible Erklärung. Eine solche kann an der Lückenhaftigkeit des Jung’schen Modells ansetzen.

In den Lectures vermochte Jung die beiden Elemente, projektive Identifikation und Container, noch nicht zu einem einzigen Modell zusammenzufügen. „Bei der Modellbildung“, schreibt Bion, „kommt eine Fähigkeit zum Einsatz, die derjeni-gen des binokularen Sehens ähnelt: nämlich die Fähigkeit der beiden Augen, zwei Ansichten desselben Objekts in Korrelation zu bringen“, wobei in der Untersuchung eines Objekts der „Gebrauch des Bewusstseins und des Unbewussten in der Psy-choanalyse dem Gebrauch der zwei Augen“ entspreche (Bion 1962, 1990, S. 141). Dem Jung’schen Modell mangelt es an der Integration von wesentlichen emotionalen Erfahrungen, die Bion dann mit container-contained gelingt. Zwar vermag Jung die dem Psychoanalytiker drohenden Gefahren dieses Modells zu erkennen, zugespitzt beschrieben im Beispiel der die Psychose übernehmenden Krankenschwester; der Aspekt, dass container-contained als Voraussetzung für seelisches Wachstum not-wendig ist, fehlt jedoch. So ist zwar Jungs Tavistock-Modell einerseits interaktionell, sieht andererseits die emotionale Beteiligung des Analytikers lediglich als eine Kom-plikation und bleibt insgesamt weitgehend unpersönlich. Aber auch sein späteres aus-gefeiltes Container-Modell vermag das Unpersönliche nicht gänzlich abzuschütteln, wenn es sich der kollektiven Sprache der alchemistischen Mythologie bedient. Hinzu kommt, dass über die alchemistische Allegorie Jungs zweites Modell zu konkret aus-fällt, eine Gefahr für jedes Modell, weil es dadurch „entsprechend unhandlich“ wird (Bion 1962, 1990).

16 Bion bezieht sich hier auf die Theorie der projektiven Identifikation von Melanie Klein.

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Weil dem Tavistock-Modell Jungs der Mangel, die emotionalen Erfahrungen des potenziell bedrohlichen Aspekts von container-contained nicht integrieren zu kön-nen, anhaftet, tragen die von ihm in den Lectures berichteten psychoanalytischen Elemente auch „unverdaute“ Fakten mit sich, Elemente, die den von Bion beschrie-benen Beta-Elementen entsprechen. Nimmt man diese Gegebenheit als Ausgangslage in den Lectures, dann ähnelte die Situation des Zuhörers, falls der die notwendige Übertragungsbereitschaft aufwies, derjenigen des Babys (alternativ: eines Patienten), das (der) nach dem Zusammentreffen mit einem Beta-Element diese Frustration aus-zuhalten und daraufhin Alpha-Elemente zu entwickeln vermag (Bion 1962, 1990, S. 162 f.). Das Ausmaß dieser (zwangsläufig unbewussten) Enttäuschung kann man erst ermessen, wenn man die ihr vorausgehenden Beziehungserwartungen berück-sichtigt: Der Zuhörer kam in die Lectures, um eine umfassende, die eigene Hilflosig-keit aufhebende nährende Erfahrung zu machen, mit einer Übertragungseinstellung infolge von emotionalen Bewegungen, die alle Elemente, die Lewin (1950) als „orale Trias“ charakterisiert, enthalten, namentlich Wünsche nach Sich-fallen-Lassen und Im-anderen-Aufgehen – insgesamt Erwartungen, die sich in Teilen auch erfüllen (bei-spielsweise in dem daraus sich ergebenden „Durchbruch“ in der Analyse mit seinem Patienten Beckett), die aber auch in die innere Enttäuschung münden. Die Bedro-hung, die von dieser hochambivalenten Beziehungserfahrung ausgeht, erzwingt die Verdrängung gerade desjenigen Parts der Lectures, der die kaum erträgliche Frus-tration beinhaltet. Damit wäre auch dieser Schritt der Kryptomnesie zu seiner Auf-klärung gelangt.

Abschließend soll noch ein Aspekt in der Übertragung des ausgewählten Zuhörers Erwähnung finden. Die „orale Trias“ basiert auf frühesten emotionalen Erfahrun-gen, jedoch gesellen sich zu ihr auch lebensgeschichtlich später anzusetzende passive Wünsche. César und Sarah Botella beschreiben für die analytische Situation eine Beziehungskonstellation, welche die von mir in dieser Untersuchung vorgestellte Autor-Zuhörer(Leser)-Beziehung am treffendsten beschreibt. Diese Autoren nennen sie „travail en double“ („working as a double“), die Arbeit als Doppelgänger, was für beide Beteiligte des analytischen Paars bedeutet, dass ihre wechselseitigen narziss-tisch-homosexuellen Besetzungen die Gefahr der seelischen „Nicht-Repräsentation“ bannen (Botella und Botella 2005, S. 78). Diese Gefahr kommt dadurch zustande, dass das Trauma des Analysanden die Traumatisierungen des Analytikers anstößt, eine Konstellation, die den Keim setzt für mögliches seelisches Wachstum. Auch zu Beginn einer Kryptomnesie steht die Setzung eines Keims, der nach einer Phase der Dormanz sich zu einem neu formierten Modell auswächst.

Das Modell der Botellas kommt im Übrigen wie eine Transformation von Bions Imaginary twin daher. Auch wenn die Autoren Bion häufig zitieren, darunter ebenfalls die Aufsatzsammlung Second thoughts, die „The imaginary twin“ enthält, so findet man bei den Botellas weder einen Hinweis auf diese Arbeit, noch taucht Imaginary twin im Stichwortverzeichnis auf. Sollte sich auch hier die schon Freud bekannte Erfahrung, dass Kryptomnesien gerne an der kreativen Umbruchstelle psychoana-lytischer Modelle auftreten17, einmal mehr bestätigen? Teilte man die Einschätzung

17 Dieser Sachverhalt stößt die Frage an, ob hinter der aktuellen Plagiatshatz im Internet nicht auch eine unbewusste, gegen seelisches Wachstum gerichtete Tendenz steckten könnte.

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von Anzieu (2002), dann war die Entwicklung der Psychoanalyse selbst zu einer unabhängigen Wissenschaft mit dem Schicksal einer Kryptomnesie verknüpft.

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Christian Maier, Dr. med., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie für psychosomatische Medi-zin und Psychotherapie. Psychoanalytiker (DPG/DGPT/DGAP) in eigener Praxis niedergelassen, tätig in Bonn. Dozent und Lehranalytiker, IPR Köln. Veröffentlichungen in Psychiatrie, Psychoanalyse und Ethnopsychoanalyse. (Siehe auch Heft 4, 2013.)