befreiung und widerstand in weißensee und hohenschönhausen

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Autor: North East antifa (NEA), Antifa Initiative Nordost (AINO), Bunte Kuh | Datum: April 2011

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Page 1: Befreiung und Widerstand in Weißensee und Hohenschönhausen
Page 2: Befreiung und Widerstand in Weißensee und Hohenschönhausen

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ....................................................................................... 3

2. Befreiung ....................................................................................... 4

3. Befreiung und Widerstand in Hohenschönhausen .............................................................. 8

4. Aufbau .......................................................................................... 10

5. „Chitler kaputt!“ - Schriftsteller Günter Kunert über den Einmarsch der Roten Armee .............................. 12

6. Geschichtsrevisionismus oder wie ein Kriegs- verbrecher zum Friedensflieger werden kann... .............................. 14

7. Als auf dem Schuldach das Hakenkreuz wehte .................................................................. 16

8. Fritz Hödel und die Rote Hilfe in Weißensee ................................................................ 18

9. Antifaschistischer Widerstand in Berlin – Nordost 1933 bis 1945 ................................................ 20

10. Erinnerungen von Helmut Hauptmann ........................................ 30

11. Kontakte/Impressum .................................................................... 31

Eigentumsvorbehalt: Diese Druckschrift ist solange Eigentum des/der Absender/in, bis sie der/dem Gefan-genen persönlich ausgehändigt wird. „Zur Habenahme“ ist keine Aushändigung im Sinne dieses Vorbehalts. Wird diese Druckschrift ganz oder in Teilen nicht persönlich ausgehändigt, so sind die nicht ausgehändigten Teile - und nur diese - unter Angabe der Gründe der Nichtaushändigung an die Absenderinzurückzusenden.

Page 3: Befreiung und Widerstand in Weißensee und Hohenschönhausen

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Einleitung

Für die meisten Deutschen war der 8.Mai 1945 mili-tärisch, wie auch politisch eine Niederlage. Für einige ist er es bis heute geblieben. Für uns ist und bleibt es der Tag der Befreiung.Es war die überwiegende Mehrheit der Deutschen, die der NSDAP per Stimmzettel in den Sattel halfen. Es waren die deutschen Unternehmen, die die Nati-onalsozialisten aus eigenem Profitinteresse förderten wo es nur ging. Von einer Befreiung der Deutschen vom Nationalsozialismus wollen wir nicht sprechen. Befreit wurden die Menschen, die sich der Nazi-Herr-schaft widersetzt hatten und diejenigen, die auch ohne Widerstand geleistet zu haben, von den Nazis verfolgt wurden. Ihnen gilt unser Andenken. Trotz der Bereit-willigkeit vieler Deutscher ihre Nachbarn zu denun-zieren, gab es mutige Menschen, die in einer Zeit der barbarischsten Ausformung der Unmenschlichkeit den Aufrechten Gang wahrten. Um diese Menschen soll es in diesem Heft gehen.

Während sich im Nachkriegsdeutschland die Politspit-zen noch weigerten den 8.Mai feierlich zu begehen, so ist er heute ein Teil bundesdeutscher Gedenkritu-ale und dient dazu sich als “geläuterter antifaschis-tischer Staat” zu präsentieren. Mit dem 20. Juli hat sich die Bundesrepublik allerdings einen Gedenktag geschaffen, der weit aus besser zu ihr passt. Am 20. Juli verübte Claus Schenk Graf von Stauffenberg einen Anschlag auf Adolf Hitler. Er und seine “Mit-verschwörer” wurden daraufhin zum Tode verurteilt. Am 20. Juli wurden jedes Jahr deutsche Rekruten ver-eidigt, es gibt eine Reihe an Romanen und Filmen, die den Mythos von antifaschistischen Widerstands-kämpfer Stauffenberg propagieren. Dass es ich bei Stauffenberg um einen überzeugten Nazi handelte, der schon vor seiner Karriere in der Wehrmacht in re-aktionären Gruppierungen aktiv war, wird schön ge-redet oder verschwiegen.Wenn der Staat Antifaschismus zur “Chefsache” er-klärt und nur noch Polizeirazzien als legitimes Mittel präsentiert werden, dann ist hier eine Parallele von der gegenwärtigen Staatspraxis zu dessen eigener “antifaschistischen” Geschichtsschreibung zu erken-nen. Der Held Stauffenberg passt deswegen so gut zum deutschen Staat, weil er am Ende vor allem den Status Quo wollte, also eben keine andere Gesell-schaft. Er passt gut zu Deutschland, weil der Kampf gegen den Faschismus, vor allem ein Fall für Männer

mit Rang und hohem Amt sein soll. Die Mär von der “Stunde Null” im Kontext der Befreiung, setzt der ganzen Inszenierung noch das i-Tüpfelchen auf, dient sie letzten Endes doch nur der Legitimierung der de-mokratisch-kapitalistischen Ordnung als bestes Mit-tel gegen Unterdrückung und Diktatur. Die notwendi-gen physischen Abwehrkämpfe gegen Neonazis, die eben nicht autorisiert sind, werden in der gegenwärti-gen Debatte hingegen als “Extremismus” dargestellt, während Stauffenbergs Attentat und Polizeiknüppel als adäquate Mittel gehandhabt werden.

Hinter dieser Mythenbildung und “antifaschistischer” Selbstlegitimierung, fallen die Biografien der Wi-derstandskämpfer zurück, die eben eine andere Ge-sellschaft wollten. Oder es werden deren politische Einstellungen verschwiegen, wenn diese zu weit links stehen. Georg Elser, ein gewöhnlicher Arbeiter aus christlichem Hause, der auch bei einem Attentat auf Hitler im Münchener Hofbräuhaus scheiterte, wird bis heute kaum beachtet. Auch dessen Verbindungen zum Rotfrontkämpferbund und anderen linken Krei-sen werden nicht selten ausgelassen.

Wir denken das eine reine Fokussierung auf die mili-tärische Zerschlagung Nazideutschlands oder die von Staatswegen geförderte Heroisierung von Militaristen wie Stauffenberg oft auch den dezidierten Blick auf den Widerstand im Kleinen verbauen können. Diese Menschen hatten keine Armee zur Seite und haben trotzdem nicht weggesehen. Wir denken, dass wir ge-rade von diesen Menschen viel für unser Handeln im Hier und Jetzt ableiten können. Um auf eben jenen individuellen Widerstand aufmerk-sam zu machen, wollen wir den Blick auf die Gegend werfen, in der viele von uns wohnen und seit Jahren aktiv sind: Weißensee und Hohenschönhausen.

Die Befreiung des Berliner-Nordostens vollzog sich schon einige Wochen vor der endgültigen Kapitulati-on Nazideutschlands am 21. und 22. April. Die Ereig-nisse rund um die Befreiung wollen wir mit unserer Broschüre ebenfalls dokumentieren. Vielleicht geht der_die eine oder andere nach der Lektüre mit einem geschärften Blick für die lokalen geschichtlichen Zu-sammenhänge durch den eigenen Kiez.

Viel Spaß beim Lesen, wünscht euer Redaktionskollektiv

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Befreiung

Die Befreiung Nordostberlin vom Nationalsozialismus

„Nun ist das neue Jahr erschienen. Ein Jahr des Friedens? Wer kann das sagen? Ach, wenn man es doch fühlen könnte: Aber zu oft sind die Hoffnungen schon zunichte gemacht worden, als daß sie noch eine starke Macht hätten, wie am Anfang des Krieges. Es ist manchmal schwer, an die gute Sache noch zu glauben, die einmal kommen soll und nicht zu verzweifeln an der menschlichen Dummheit, die man täglich vor Augen hat. Doch, wozu leben wir denn sonst? Denn was jetzt geschieht, ist ja kein Leben. Immer und überall spürt man die grausame Knute des Krieges. Ach, wie herrlich ist es, daß ich so glücklich lieben darf. Hier bin ich frei und wahrhaft froh. Noch haben wir unsere Liebe für uns und der Krieg hat noch nicht hineingegriffen. Nein, unse-re Herzen darf er nicht gewinnen! Die gehören uns nur allein.Manchmal habe ich ein bitteres Gefühl dabei, wenn ich an unsere Zukunft denke. Wird alles so bleiben, so schön und rein, oder wird auch uns die grausame Kriegsmaschine noch in ihre Krallen nehmen?“1

Diese Zeilen schrieb Kurt Waffner am 1. Januar 1945 nieder. Seit Beginn des Jahres führte er Tage-buch. Oft sinnierte er darüber, wie es weiter ginge und ob er und seine damalige Liebe Bärbel Marcuse nicht doch irgendwann ein Leben in Freiheit führen könnten. Waffner, seit frühster Jugend in anarchisti-schen Gruppen engagiert, verfolgte wie viele andere Weißenseer Antifaschist_innen zu dieser Zeit die so-genannten „Feindsender“. Oft ließen die Meldungen ein baldiges Ende der Nazi-Herrschaft erhoffen – und doch sollte die endgültige militärische Zerschlagung des deutschen Faschismus erst im Mai 1945 erfolgen. Sie waren noch jung als der von Deutschland entfachte Krieg mit all seiner Wucht in das Land zurück-kehrte, in dem er seinen Ursprung gefunden hatte. Deutsche Städte fielen in Schutt und Asche. Flücht-lingstrecks zogen von Pommern, Schlesien und Ostpreußen nach Westen. Fliegeralarm und Bombennächte bestimmten in dieser Zeit den Alltagsrhythmus. Artillerie und Panzer kündigten das Nahen der Sieger an.

Erster geographischer Berührungspunkt mit der Roten Armee Der Verwaltungsbezirk Weißensee, zu dem damals die Stadtdörfer Wartenberg, Malchow und Hohenschön-hausen gehörten, war auf Grund seiner geographischen Lage unmittelbar in die Kampfhandlungen mit den im April 1945 anrückenden russischen Truppen verwickelt. Der Bezirk gehörte zum äußeren Verteidigungsring, der sich bis Alt-Landsberg hinzog und sollte im Kampf um die, zur Festung erklärten, „Reichshauptstadt“ unbedingt gehalten werden. Weißensee wurde mit Panzersperren und Schützengräben versehen, an den noch heilen Wänden prangten Durchhalteparolen wie „Berlin bleibt deutsch!“. Bis zu letzt mussten Zwangsar-beiter_innen bei andauernden Bodenkämpfen und Fliegerangriffen Panzersperren und Hindernisse errichten. Das die „Reichshauptstadt“, die für die Sowjets gewissermaßen als das „Herzen der Bestie“ der nationalsozia-listischen Tyrannei galt, verwundbar war, zeigten die Luftangriffe am 20. Januar 1944. In einer Schadensmel-dung dazu hieß es, dass drei Häuser total, vier schwer, sechs mittelschwer und 80 leicht beschädigt wurden. Bei den Aufräumarbeiten konnten anhand der geborgenen Knochenreste und Bekleidungsgegenstände die letzten Toten identifiziert werden. Die Luftangriffe waren gewissermaßen Vorboten, der sich anbahnenden Nieder-lage „Großdeutschlands“. Beim Bombenangriff am 18. März 1945 wurden mehrere Hohenschönhausener Betriebe in der Berliner Straße (heute Konrad-Wolf-Straße) und den umliegenden Straßen schwer beschädigt. Darunter Teile des ASID-Seruminstituts, die Maschinenfabriken Heike, Groß & Graf und Max Uhlendorff, das Tobias-Filmlager und die Seifenfabrik Dr. med. Singer & Co.

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5Befreiung /

Die letzte Offensive auf die „Reichshauptstadt“

Am 16. April 1945 startete die Rote Armee ihre letzte große Offensive an der Oder. Angeführt wurde diese von der 1. Ukrainischen Front und der 1. Belorussischen Front.Schon ab dem 12. April wurde in den Dörfern des Nordöstlichen Stadtrandes, so auch in Hohenschönhausen und Wartenberg, immer wieder Fliegeralarm ausgelöst.

Am 17. April wurden an der unmittelbaren Grenze zu Lichtenberg, Flakgeschütze in der Klarahöhe, im Norden der Siedlung Wartenberg positioniert um die Luftangriffe russischer Bomber abzuwehren. Am sel-ben Tag griffen die russische Bomberverbände vermutete Geschützstellungen und Nachschubwege an. Bomben fielen unter anderem in der Berliner Allee und in der Rennbahnstraße in Weißensee. In der Nacht zum 20. April flogen Amerikanische Verbände einen letzten großen Luftangriff auf Berlin. Zum letz-ten Mal gingen Frauen, Kinder und Alte in Weißensee am 20. April in die Bunker und Luftschutzkeller. Aus dem Raum Bernau kommend, drangen die sowjetischen Verbände über Falkenberg, Wartenberg und Malchow an den Stadtrand. In eben jenen Dörfern ließen die Nazis am 21. April noch kurz vor Ende der Kampfhandlungen die örtlichen Dorfkirchen sprengen. Hitler hatte mit dem Erlass des Nero-Befehls vom 19.März 1945 die Taktik der „verbrannten Erde“ auf deutschem Gebiet befohlen. Zivile und in-dustrielle Anlagen sollten gesprengt werden, damit sie sich der Gegner nicht nutzbar machen konnte. In den Bunkern wurde geflüstert:„Wenn im Dorf die Kirche in die Luft geht, sind die Russen da“. Die Fra-ge, was nach dem Ende käme bewegte alle: „Was werden die Russen tun? Werden sie Vergeltung üben, für das was ihnen angetan wurde?“. Geboren aus blindem Fanatismus, so wie aus Angst vor „den Rus-sen“ und vor dem was jetzt kommen würde, setzten einige Bewohner_innen Hohenschönhausens ih-rem Leben selbst ein Ende. Bis zu letzt wurde versucht die örtliche Bevölkerung für die „Verteidigung“ Berlins zu mobilisieren. Viele dieser „Verteidiger“, hauptsächlich Leute vom Volkssturm, ausgerüstet mit Panzerfäusten und Handgranaten, starben noch in letzter Minute der Auseinandersetzungen. In eini-gen Fällen gelang es beherzten Bürger_innen, die Soldaten und Volkssturmleute zur Abgabe ihrer Waffen und Uniformen zu bewegen. Wilhelm Huckwitz, der Ortsbauernführer2 aus Hohenschönhausen, der über Jahre polnische Zwangsarbeiter schikaniert hatte, überlebte den Einmarsch der Roten Armee nicht. Er wurde von sowjetischen Soldaten im Luftschutzkeller in der Dorfstraße 39 in Malchow erschossen. Die über Landsberg, Hönow und Malchow anrückenden Truppen der Roten Armee konnten sich hier nur auf der Dorfstraße bewegen und waren somit dem gegnerischen Panzerfäusten frei ausgesetzt. Hinzu kam Flak-Beschuss aus Wartenberg. Ein russischer Kommandant der Selbstfahrlafetten3 meldete über Funk „In Malchow geht’s heiß her. Ich bin kaum 300 Meter von der Barrikade weg … Wir schießen mit allem was wir haben. Wenn die Panzerfaustschützen an uns herankommen, dann gute Nacht. Jetzt ist es passiert.“4.

Am Vormittag des 21. April hissten sowjetische Aufklärer in Wartenberg die rote Fahne. Über die Lindauer Straße fuhren Panzer weiter in Richtung Hohenschönhausen, wo die russischen Soldaten am Abend des 21.

Antonplatz, 1945 Antonplatz, Ende der zwanziger Jahre

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April eintrafen. Hier brachten sie in der Berliner Straße „Katjuschas“, auch Stalinorgeln genannt in Stellung um Ziele im Berliner Zentrum zu beschießen. Am 22. April wurde Weißensee ohne nennenswerten Widerstand eingenommen. Auf dem Antonplatz wurden ebenfalls „Katjuschas“ postiert. Ziel ihrer Beschüsse war das Stadt-zentrum, allem voran die Berliner Reichskanzlei. Versprengte Trupps von „Endkämpfern“ zogen sich von Wei-ßensee aus in Richtung S-Bahnhof Weißensee (heute S-Bahnhof Greifswalder Straße) zurück. Während sich Artillerie und Panzer auf der Höhe Greifswalder Straße, wo der S-Bahn-Ring zu einer starken Auffangstellung ausgebaut worden war, noch hartnäckige Gefechte lieferten, war der Krieg in Weißensee bereits vorbeigezogen. Letzte Gefechte und Hinrichtungen

Für die Bewohner von Weißensee und den Ortsteilen Hohenschönhausen, Falkenberg und Wartenberg, Malchow endete der Krieg am 22. April 1945 und damit früher als in anderen Bezirken der „Reichshaupt-stadt“. Der S-Bahn-Ring hingegen, insbesondere an der Dänenstraße, war bis zum bis zum 2.Mai Schau-platz erbitterter Kämpfe. Noch am 2. Mai wurden an der Greifenhagener Straße kleinere Wehrmachts-einheiten gesichtet. Bei den Soldaten (ca. 150 bis 200 Mann) handelte es sich lediglich um Truppenreste aus den Innenbezirken, die sich der Gefangenahme durch die Flucht entziehen wollten. Noch für den 29. April notierte der sozialdemokratischer Rektor Fritz Schmidt “Es ist jetzt gefährlich über die Greifen-hagener Straße zu gehen! […] unentwegt peitschen Gewehrschüsse deutscher Heckenschützen von der Stargarder Straße her die Greifenhagener Straße entlang. Mehrere Deutsche sind heute bereits schwer verwundet worden durch diese Schießerei.“5. Am 25. Mai zogen russische Geschützkolonnen und Wa-gen in Ost-West-Richtung über die Pankower Spitze durch den nördlichen Teil Prenzlauer Bergs in Rich-tung Wedding. Im Nordosten Berlins verlagerten sich die Kämpfe besonders in den Bereich rund um den Bereich Gesundbrunnen, wo die SS in hohen Flakbunkern am Humboldthain ihre Stützpunkte besaß. Weiterhin schreib Rektor Schmidt „Alles fürchtet einen SS-Einfall und war auf das Schlimmste gefasst. Kein Russe war weit und breit zu sehen.“6

Die Angst, trotz absehbarer Niederlage Deutschlands, doch noch in letzter Sekunde Übergriffen der Nazis und ihrer militärischen Verbände zum Opfer zu fallen war nicht unbegründet. Otto Schieritz, ein sozialde-mokratischer Arbeiter aus Prenzlauer Berg hisste in seiner Wohnung im vierten Stock der Senefelder Straße 33 die Weiße Fahne. Wenige Minuten später wurde sie mit einer Panzerfaust herunter geholt. Ein SS-Trupp stürmte das Haus und verschleppte Schieritz zu ihrem letzten örtlichen Stützpunkt, die Schultheiß-Brauerei in der Franseckystraße (heute Sredzkistraße). Seinen Freiheits- und Friedenswillen musste Otto Schieritz, wie so viele andere, mit dem Leben bezahlen.

Literatur/Erläuterungen:

[1] Thomas Friedrich/Monika Hansch, „1945 - Nun hat der Krieg ein Ende. Erinnerungen an Hohenschönhausen., Heimatmuseum Hohenschönhausen, Dezember 1995, S.12f[2] Der Reichsnährstand (Abkürzung: RNST) war eine ständische Organisation der nationalsozialistischen Agrarpolitik in den Jahren 1933 bis 1945. In ihm waren Landwirte und Bauern zusammengefasst. Im Zuge der Machtergreifung 1933 wurden im Reichsnährstand sämtliche Personen gleichgeschaltet, die an der Erzeugung und dem Absatz landwirtschaftlicher Produkte betei-ligt waren. Organisatorisch wurde dies erreicht durch eine Untergliederung des RNST in Landes-, Kreis- und Ortsbauernschaften, die jeweils von einem Bauernführer kontrolliert wurden.[3] Eine Selbstfahrlafette ist ein Artilleriegeschütz, das auf einem auf Rädern oder Ketten laufenden, selbstfahrenden Fahrgestell montiert ist. Dazu sind die eigentlichen Geschütze auf ein zumeist mit Kettenantrieb ausgestattetes Gestell montiert. Um die Be-satzung gegen Beschuss zu schützen, sind Selbstfahrlafetten zumeist mit einer dünnen Panzerung ausgestattet. [4] Wenjamin Borissowitsch Mironow, „Die Stählerne Garde“, Militärverlag der Dt. Demokrat. Republik, Berlin 1986, S.156 [5] Hans-Rainer Sandvoß, „Widerstand in Prenzlauer Berg und Weißensee“, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 2000, S.70 [6] Ebd.

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7Befreiung /

Rotarmisten im Kanzleramt, 1945

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Befreiung in Hohenschönhausen

Ein Einblick...

Der Zweite Weltkrieg kostete Abermillionen von Menschenleben. Der Welteroberungsfeldzug der National-sozialisten hatte in Europa, wo hin man sah, verbrannte Erde hinterlassen. Im April 1945 kehrte der Krieg in das Land zurück, von dem er ausgegangen war. Der Kampf um Hitlers „Reichshauptstadt“ und die damit verbundene Niederringung der letzten militärischen Verbände der Nazis, bereitete dem massenhaften Morden der Nationalsozialisten endlich ein Ende. Die Einnahme der Berliner Außenbezirke durch die Rote Armee spielten dabei eine wichtige Rolle.

Der direkte Sturmangriff der Roten Armee auf Berlin begann in der Nacht zum 21. April 1945. Die 219. an-zerbrigade der 5. Stoßarmee befreite, unter der Kommandantur von Generaloberst N.E. Bersarin, Wartenberg und hisste dort die Rote Fahne. Weitere Panzer zogen nach Hohenschönhausen, wo in der Quitzowstraße heutige Simon-Bolivar-Straße) deutsche Soldaten und fanatische Nazis immer noch Widerstand leisteten. Auf der Berliner Straße (heute Konrad-Wolf-Straße) wurden „Katjuschas“ von der Roten Armee mit Ziel Richtung Berliner Innenstadt postiert. Einen Tag später am 22. April befreiten die Sowjets, ohne nennenswerten Wider-stand den nahegelegenen Ortsteil Weißensee.

Wartenberg, 1945 Wartenberg, 2011

Konrad-Wolf-Straße, 1945 Konrad-Wolf-Straße, 2011

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Widerstand in Hohenschönhausen

Ein Einblick...

In der Straße 156 Nummer 12, in Alt-Hohenschönhausen, lebte das Ehepaar Hedwig und Otto Schrödter. Otto Schrödter war Sozialdemokrat, trotzdem oder gerade deswegen unterstützte das Ehepaar seit Kriegsausbruch notleidende Menschen mit Gemüse aus ihrem kleinen Garten und Tieren aus ihrer Kleintierzucht. Darüber hinaus beherbergten sie in ihrem kleinen Haus sechs JüdInnen. Unter den Versteckten waren Robert und Eva Sachs und das Ehepaar Ursula und Kurt Reich mit ihrer Tochter. Ihr Sohn erinnerte sich später, dass sich zu dieser Zeit neun Menschen in einem nur 12m2 großen Zimmer aufhielten. Die SA verschleppte und misshandelte Otto Schrödter im April 1933.

In der damaligen Quitzowstraße 41 (heute Simon-Bolivar-Straße 51) führte das Ehepaar Elsa und Otto Hilde-brandt ab ca. 1926 die „Bäckerei u. Conditorei“. Von 1940/41 bis zum Kriegsende versteckten die Hilde-brandts im Keller ihrer Bäckerei 13 Jüdinnen und Juden. Hinter aufgereihten Mehlsäcken war ein Bettenlager für die Versteckten eingerichtet. Wenn sich die Versteckten oben waschen wollten, verkleideten sie sich als Otto Hildebrandt mit weißer Jacke, karierter Hose, Bäckermütze und Mehlsack auf dem Rücken. Die Situati-on spitzte sich 1944 zu, als der Bäckereikeller als Luftschutzkeller für die Hausbewohner genutzt wurde. Die deutschen Hausbewohner saßen in den Bombennächten nur wenige Meter von den Versteckten entfernt. Dem Bäckerehepaar Hildebrandt verdanken 13 Menschen ihr Leben.

Kein VergessenDie Vergangenheit mahnt uns diese Menschen nicht zu vergessen. In einer Zeit der Unmenschlichkeit, haben diese Ehepaare ihre Menschlichkeit bewahrt. Sie reichten den Verfolgten und Unterdrückten die helfende Hand, in demklaren Bewusstsein, dass dies ihren eigenen Tod bedeutenkonnte. Diesen stillen Helden muss erinnert werden.

Hedwig Schrödter Otto Schrödter Straße 156 Nr.12, April 2011

Simon-Bolivar-Straße 51, 2011

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Aufbau

Der Neubeginn in Weißensee

Weißensee war wohl der erste Berliner Stadtteil, wo der Krieg für die Bevölkerung endete. Während im Zentrum Berlins noch heftig gekämpft wurde, begann nach dem 22. April 1945 in Weißensee schon der Nach-kriegsalltag. In den freigekämpften Gebieten ging die politisch-administrative Macht an die Sieger über. So-wjetische Militärkommandant_innen übernahmen die Verwaltung in den Ortsteilen von Weißensee. Zu den ersten Schritten der sowjetischen Kommandanten ge-hörte die Bildung arbeitsfähiger Verwaltungen und die Versorgung der Bevölkerung. Die Kommandantur wur-de in Weißensee in der Große Seestraße 6 eingerichtet. Am 24. April wurde Jacob Raszewski vom Kom-mandanten als Bürgermeister eingesetzt. In der neu eingerichteten Bürgermeisterei hatten sich alle bis-her bei der Bezirksverwaltung tätigigen Angestellten, Arbeiter und Beamten zu melden. Alle in Weißensee befindlichen Behörden und Privatbetriebe wurden unmittelbar dem Bürgermeister unterstellt. Dies soll-te nicht nur einer baldigen Entmachtung der Nazi-Funktionäre in Verwaltung und Betrieben dienen, der NS-Staat durchzog schließlich alle Lebensbereiche, sondern auch einer Wiederherstellung des Alltags. In den Straßen lagen Pferdeleichen, zerschlagene Mili-tärwagen, Plunder, Müllhaufen und in den Trümmern nicht weggeräumte Leichen. Der Wind trieb durch die Straßen Asche und Papierfetzen. Einer der dies schilderte, W. F. Synorow, war unmittelbar nach den Vortruppen der Roten Armee als Adjutant des neuen Kommandanten in Weißensee.1

KPD und SPD-Mitglieder halfen der neuen Be-zirksadmisnstration, das Leben in Weißensee wie-der zu normali-sieren. Lauf- und Panzergräben mussten eingeebnet und Bombentrichter zugeschüt-tet werden. Für die Aufräumarbeiten wurden vor al-lem ehemalige NSDAP-Mitglieder angefordert. Die Sicherung der Lebensmittelversorgung hingegen war die wichtigste Aufgabe, denn der Hunger un-ter der Bevölkerung war groß und allgegenwärtig.

Kampf gegen den Ungeist des Nationalsozialis-mus

Bereits am Montag, den 23. April, schlugen Rotar-misten den ersten Befehl des Chefs der Front und ersten Stadtkommandanten in Weißensee an. Dieser forderte die unverzügliche Suche nach Mitgliedern der Gestapo, Angehörigen der SS und der Führung der Volkssturm-Einheiten. Im Juni folgte die Bildung antifaschistischer Aktionsausschüsse. Diese setzten sich, wie auch in anderen Bezirken aus Gewerkschaf-ten und politischen Parteien zusammen. Die Aktions-ausschüsse sollten den demokratischen Neubeginn sichern. In Hohenschönhausen hatten die Aktions-ausschüsse zwei Geschäftsstellen, eine in der Beliner Straße 113 (Konrad-Wolf-Straße) und eine in der Ho-henschönhauser Straße 49. Hier konnten Bewohner_innen des Stadtteils bei der Ergreifung ihnen bekannter Nazis helfen. Außerdem konnten Antifaschist_innen, durch das Eintragen in die Listen der „Antifa“ ihre Mitarbeit an der Entnazifizierung bekunden. Auf ei-nem Aushang aus dem Juni 1945 heißt es dazu: „Der antifaschistische Aktionsausschuß ruft alle Mitbürger Hohenschönhausens zur Mitarbeit auf! […] Mit der Eintragung in die Liste der „Antifa“ ist […] die Bereit-schaft ausgedrückt, dem Ungeist des Nationalsozia-lismus den Boden zu entziehen und alle Bestrebungen tätig zu unterstützen“2. Auf Initiative des Aktionsaus-schusses fand am 22. Juli 1945 auf den Orakne-Teras-sen eine antifaschistische Massenkundgebung statt.

Politische Neuformierung

Am 15. Juni 1945 wurde auch der Grundstein für eine neue Gewerkschaft gelegt. Der Aufbau der Parteien und der Gewerkschaft vollzog sich in Wei-

Langhansstr. Ecke Heinersdorferstr., 1945

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ßensee schnell. Etwa 25 Mitglieder des ehemaligen KPD-Unterbezirks Weißensee führten ihre kons-tituierende Sitzung am Abend des 11. Juni in den Räumen des Bezirksamtes durch. Kurt Steffen wur-de Vorsitzender der Unterbezirksleitung. Das Par-teibüro der KPD richtete sich im ehemaligen Cafe „Heko“ ein. Der Kreisverband der SPD konstituierte sich am 17. Juni. Ihr Kreisvorsitzender wurde Georg Heim und ihre Sitz befand sich in der Langhansstra-ße 22. Der FDGB-Bezirksausschuß Weißensee bil-dete sich ebenfalls am 17. Juni. Vorsitzende wurden die Kollegen Bergeinann (KPD) und Barz (SPD). Am 26. Juni gründete sich mit der CDU, eine Partei, die es bis dahin in der politischen Landschaft noch nicht gab. Ihr Parteibüro hatte die CDU in der Char-lottenburger Straße 141. Forderungen, wie die Ver-staatlichung von Bodenschätzen und Monopolunter-nehmen, die einem in Verbindung mit der CDU heute vollkommen absurd erscheinen mögen, waren im Gründungsaufruf der jungen Partei zu finden. „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren po-litischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammen-bruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen. Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Ge-winn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlerge-hen unseres Volkes sein.“ hieß es unter anderem im von der CDU verbashiedeten Ahlener Programm (3. Februar 1947 im Gymnasium St. Michael in Ahlen beschlossenes Wirtschafts- und Sozialprogramm der nordrhein-westfälischen CDU-Programm-Kommi-sion). Diese Bestrebungen wurden allerdings mehr und mehr unterlaufen und schließlich im Zuge der Blockbildung gänzlich zerschlagen. Von dort an wur-de der Antikommunismus zum einenden Programm.

Bewältigung des Nachkriegsalltags

Die ersten Begegnungen und Erfahrungen mit den Siegern waren sehr unterschiedlicher Natur. Da war zum einen der freundliche Soldat, der Brot und Suppe für die Kinder und sogar Schokolade verteilte. Doch lösten Plünderungen, Vergwaltigungen und Diebstäh-le Schrecken bei der Bevölkerung aus. „Plünderun-gen, Plünderungsversuche und unsittliche Belästigun-gen sind unverzüglich bei der Kommandantur Große Seestraße 6 zu melden. Personen, die solche Hand-lungen vornehmen oder vorzunehmen versuchen, werden nach Kriegsrecht strengstens bestraft[….].

Zuwiderhandlungen gegen diese Anordnungen wer-den nach Kriegsrecht bestraft.“ Verlautbarte eine öf-fentliche Bekanntmachung des Weißenseer Bürger-meisters vom 28. April 1945.3 Zu den Problemen der Nachkriegszeit gehörte auch die Wohnungsnot. Zwar waren die Kriegsschäden im Zentrum weit aus grö-ßer, dennoch hatten auch im nordöstlichen Teil Ber-lins zahlreiche Familien ihre Wohnraum während der Bombardierungen verloren. In Weißensee waren nur 39 Gebäude schwer beschädigt bis total zerstört, wie-derherstellbar insgesamt 577. 1939 lebten in Weißen-see ca. 80.000 Bürger, im Mai 1845 etwa 60.000. Da-von waren 30.796 Frauen, die andere Hälfte Männer, Invaliden und Behinderte, so wie Alte und Kinder. Dazu kamen allein bis Juni 100.000 Flüchtlinge, die gewissermaßen das Strandgut des Krieges darstellten. In Weißensee stand Mensch vor einem Berg ele-mentarer Aufgaben. Alles mußte gleichzeitig ange-fangen werden. Die jahrelange gelebte Isolierung der Kommunist_innen und Sozialdemokrat_innen in der Zeit der Weimarer Republik und die bitteren Erfahrungen des Nationalsozialismus schienen ge-radezu eine gemeinsames Handeln zu fordern. Die Chance lag in der Übernahme von Verantwor-tung für einen neuen Anfang. Der Anspruch auf ein neues freies Leben erwuchs aus den Trümmern. Und den Aufbauwillen zeigten vor allem diejeni-gen, die zuvor als Verräter des Vaterlands galten.

Literatur/Erläuterungen: [1] H. Less über den 24. April 1945, in: Peter Glaß, Rainer Kolitsch. Vorbei der Feuerbrand – Weißensee 1945. Hendrik Bäßler Verlag. Berlin, 1995. S.8 [2] Peter Glaß, Rainer Kolitsch. Vorbei der Feuer-brand – Weißensee 1945. Hendrik Bäßler Verlag Berlin, 1995. S.25 [3] Ebd., S.9

Aufbau /

Berliner Allee Ecke Wörtherstr. (heute Smetanastr.), 1945

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„Chitler kaputt!“ - Günter Kunert über den Einmarsch der Roten Armee

(Deutschlandfunk, ausgestrahlt am 28.04.2005)

Günter Kunert, am 6. März 1929 geboren, wuchs als umsorgtes Einzelkind in Berlin auf. Seine jüdische Mut-ter war Hausfrau, der christliche Vater Kaufmann. Er hielt die Familie mit einem winzigen Papierbetrieb über Wasser. Als die NSDAP im September 1935 die „Nürnberger Rassegesetze“ beschloss, wurde Günter Kunert in der Sprache der Nazis zum „Halbjuden“. Immer mehr jüdische Freunde und Verwandte verschwanden. Im September 1943 wurde auch sein Großvater verschleppt.

Meine Herkunft wurde mir ziemlich früh bewusst, noch lange vor der Schulzeit. Denn meine Mutter pflegte mich immer zu warnen, bestimmte Wörter nicht auszusprechen, wenn ich mit anderen Kindern spielte, auf der Hut zu sein, und es war mir ganz klar, woran das lag. Ich lebte ja im Grunde wie innerhalb einer jüdischen Familie, der einzige in Anführungsstrichen „Arier“, der einzige Goi, war mein Vater.

Und er kam dann zu uns, hatte so einen kleinen Rucksack und verabschiedete sich von meiner Mutter und mir. Und er schenkte mir, er hatte einen sehr schönen Schnurrbart, er schenkte mir seine Schnurrbartbürste. Das war wie so ein letztes Zeichen, das ist die Erbschaft, das überlasse ich dir, und ich werde wahrscheinlich nicht wiederkommen. Und er ist auch nicht wiedergekommen.

Günter Kunert blieb mit seinen Eltern in der Reichhauptstadt, die ab Herbst 1943 zum Ziel massiver Luftan-griffe wurde. Aus „rassischen Gründen“ bekam die Familie Kunert in den Luftschutzkellern die schlechtesten Plätze. „Achtung, Achtung, wir geben eine Luftwarnmeldung. Feindliche Bomberverbände mit wechselnden Kursen…“

Wir saßen im Keller und hörten, wie die Bomben fielen. Die Explosionen kamen immer näher. Und dann fing der Boden an zu schwanken wie ein Schiff im Sturm. Das Licht ging aus, die Frauen schrieen, und ich fand das irgendwie aufregend, muss ich gestehen. Ich hatte überhaupt keine Angst, weil ich mir sagte, diese Leute sind meine Alliierten, und die versuchen, diesen Krieg und diese Zeit und den Terror zu beenden, und die meinen ja nicht mich, wenn sie ihre Bomben abwerfen.

Als die Rote Armee im April 1945 die Reichshauptstadt erreichte, zählte die Berliner Bevölkerung noch rund 2,8 Millionen Menschen. Nur 6.000 Juden hatten Krieg und Verfolgung in der Stadt überlebt. Am 20. April 1945 eröffnete die sowjetische Artillerie das Feuer auf Berlin. Fünf Tage später schwor Propagandaminister Josef Goebbels die Bevölkerung ein letztes Mal zur unabdingbaren Treue auf den Führer ein:

Goebbels, 25. April, letzte Rundfunkrede: „Meine Berliner Volksgenossen und Volksgenossinnen! In den zu-rückliegenden Wochen ist in der Reichshauptstadt ein beachtliches Verteidigungswerk geschaffen worden, was von den Außenbezirken bis in die Stadtmitte reicht. An den Mauern unserer Stadt wird und muss der Mongolensturm gebrochen werden.“

Die Russen kamen ja fast von allen Seiten und lagen in Weißensee und schossen dann über den S-Bahn-Damm, der wie ein Schutzwall war, mit Minenwerfern. Und weil ich es nicht in diesem Keller dauernd aus-halten konnte, stand ich dann im Hausflur, aber in einem toten Winkel und konnte schräg auf die Straße sehen. War also bis zu einem gewissen Grade geschützt.

Radiomeldung zu Hitlers Tod: „Aus dem Führerhauptquartier wird gemeldet, dass unser Führer Adolf Hitler

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heute Nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzuge gegen den Bol-schewismus kämpfend, für Deutschland gefallen ist.“

Und plötzlich erschienen zwei Sowjetsoldaten. Und an der Ecke standen schon kapituliert habende Soldaten, und einer, der sich so schick gemacht hatte, mit so einer Schirmmütze und so einer Tarnjacke, auf den gingen die gleich zu: du Offizier! Nein, nein, nein! Um Gottes willen! Überhaupt nicht! Waffe! Und dann nahmen die dem die Pistole weg. Chitler kaputt! Sie konnten ja kein „h“ sprechen. Chitler kaputt!

Mit der Kapitulation von General Weidling, dem Befehlshaber des Berliner Verteidigungsbereichs, war der Krieg am 2. Mai 1945 in der Reichshauptstadt zu Ende.

Die erste Überlegung war: wo kriegen wir was zu essen her? Ich glaube nicht, dass die Leute im ersten Mo-ment überhaupt daran dachten, ob sie befreit sind, ob sie besiegt sind, ob das die Stunde Null ist oder was eigentlich. Aber es dauerte gar nicht lange, und das hat mich eigentlich ein bisschen erschreckt - schon so nach zwei, drei Monaten: die Verdrängung begann. Die Leute erfuhren nun, was geschehen war. Die Massenmorde, angeblich hatte keiner was gewusst. Erschreckend. Eine Geschichte unaufhörlicher Verluste, die mit dem Jahr ‚45 noch gar nicht zu Ende war. Denn es tauchten Leute auf, die überlebt hatten, aber sie tauchten nur auf, um nach Amerika zu gehen. Und so habe ich also auch diese Leute noch verloren und eben dann auch Bekannte, die entweder auswanderten oder nach Westdeutschland verzogen. Es war doch ein ständiger Verlust, muss ich sagen.

„Chitler kaputt!“ /

Günter Kunert

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Geschichtsrevisionismus-oder wie ein Kriegsverbrecherzum Friedensflieger werden kann...

Wie widersprüchlich sich die Gefühle zur Geschichte verhalten, ist wieder um den 8. Mai 1945 zu verneh-men. Nunmehr fast 66 Jahre liegt dieser Tag zurück und markiert dennoch ein scheinbares Gefühlschaos in Deutschland: Niederlage? Schande? Oder doch Be-freiung? Wenn in diesem Land heute von Geschichtsrevisi-onismus gesprochen wird, geht es vor allem um die bedeutendsten und einschneidendsten Ereignisse der jüngeren Geschichte: Shoa und Nationalsozialismus, Zwangsarbeit und Vertreibungen, Vernichtungskrieg und Antisemitismus. Geschichtsrevisionismus ist der Versuch, Geschichte und Geschichtsschreibung um-zudeuten oder umzuschreiben, um anerkannte Schuld und Verantwortung abzustreiten sowie andere Ereig-nisse und Personen für die Verbrechen der Vergan-genheit verantwortlich zu machen und sich somit zu entlasten. Geschichtsrevisionismus ist somit die Be-trachtung der Geschichte entgegen der allgemein an-erkannten Geschichtsdeutung.

Ein Geschichtsrevisionismus, der die nationalsozia-listische Vergangenheit Deutschlands zu relativieren oder gar zu beschönigen versuchte, kam erst wenige Jahre nach der Befreiung im Mai 1945 auf. Die politi-schen und sozialen Bedingungen für das Gedeihen je-ner Versuche, der rassistischen und nationalistischen Politik Deutschlands eine Existenzberechtigung zu-zusprechen, wurde genau von denen gefördert, die mit der Zerschlagung des nationalsozialistischen Machtapparates an Macht und Einfluss verloren. SS, Wehrmacht, Hitlerjugend oder ordinäre Ex-NSDAP-Mitglieder, nationalsozialistische Amts- und Funkti-onsträger_innen sowie deren Sympathisant_innen, die aus allen Bereichen der Gesellschaft kamen: schon früh wurde von ihnen versucht, die Geschichte umzudeuten und damit gleichzeitig die Verbrechen zu relativieren, die dieses Regime mit seinen Millionen von „Volksgenossen“ begangen hatte.Es waren Personen wie Annelies von Ribbentrop, die Witwe des hingerichteten Reichsministers Joa-chim von Ribbentrop, die 1954 von einer alliierten „Verschwörung gegen den Frieden“ schrieb und ver-

suchte, die Aggressionskriege (sog. „Blitzkrieg“) Deutschlands zu einem „Selbstverteidigungskrieg“ umzuschreiben. Die Attentäter vom 20.Juli 1944 um Stauffenberg wurden als Landesverräter bezeichnet und ihnen eine „Kriegsschuld“ nachgesagt. Der ag-gressive Geschichtsrevisionismus, der in den ersten Jahrzehnten im Nachkriegsdeutschland um sich ging, trachtete danach, das von den Alliierten und der Sowjetunion zerstörte völkische, nationalistische Selbstvertrauen der deutschen Täter_innen und den Kollaborateuren zu korrigieren. Der beendete Traum vom „Endsieg“ und der Krieg, der nicht an der fernen „Ostfront“, sondern direkt vor der eigenen Haustür ausgetragen wurde, zerstörte das nationalsozialisti-sche „Glücks- und Heilsversprechen“ ganzer Genera-tionen von Deutschen.

Ein Eroberungskrieg als Abwehrkrieg?

Die Jahre 1986/87 stellten eine Zäsur in der Ge-schichtsanalyse der nationalsozialistischen Vergan-genheit dar. Der sogenannte „erste Historikerstreit“ wurde u.a. ausgelöst vom Historiker Ernst Nolte, der in seinem Buch „Der europäische Bürgerkrieg“ die Verantwortung und Schuld des Nationalsozialismus gleich in mehrfacher Hinsicht relativierte. Seine Re-lativierungen wurden vom „kleinen Mann“ auf der Straße dankbar aufgegriffen, um sich vom sogenann-ten „Schuldkult“ endlich lossagen zu können und „die Deutschen“ (explizit: nicht-jüdische Menschen) als Opfer von zeithistorischen Umständen darzustellen. So wurde der deutsche Angriffskrieg auf die Sowjetunion als „Abwehrkrieg“ dargestellt und die Konzentrationslager als Antwort auf die stalinisti-schen Gulags der Sowjetunion bewertet. Statt die Aggressivität und den erklärten Vernichtungswillen der nationalsozialistischen Politik als solche zu be-trachten, externalisierte er, d.h. schoben er und nach-folgende Historiker_innen die Kriegsschuld auf die Alliierten und die Sowjetunion. Mit seinen Zweifeln an der „technischen Durchführbarkeit“ (sic!) von Vergasungen in den KZs leistete er Vorschub für Ho-locaust-Relativierungen und –Leugnungen, die weit in die deutsche Gesellschaft vordrangen und teilwei-se noch heute existent sind. Ein zweiter sogenannter

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Historiker_innen-Streit folgte von 1996 bis 1998 im Zuge der sogenannten „Goldhagen-Debatte“ sowie der Rede zur Verleihung des Friedenspreises Martin Walsers, der sich endlich nach einem „Schlussstrich“ unter der deutschen Vergangenheit und einem Ende „deutschen Schuldgefühle“ gegenüber Jüdinnen und Juden sehnte.

Geschichtsrevisionismus reloaded

Nicht nur in rechtskonservativen Kreisen bietet Ge-schichtsrevisionismus die Möglichkeit zur Schuldent-lastung der Täter_innen und der Abwehr von Verant-wortung für deren Nachkommen. Noch heute stellt er eines der wichtigsten Elemente von Neonazi-Ideolo-gien dar. Bekannteste Beispiele sind dabei Personen wie der SA-Führer Horst Wessel und Hitlers Stell-vertreter Rudolf Heß. Gerade letzterer, der nach 46 Jahren Haft im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis 1987 verstarb, dient der Nazi-Szene als Märtyrerfigur und Referenzperson und wird zum „Friedensflieger“ umgelogen. Hintergrund für diesen Geschichtsmy-thos ist sein Versuch, im Jahr 1941 nach England zu fliegen, um ein Friedensabkommen mit englischen Vertretern auszuhandeln, da die militäri-schen Erfolge Nazi-Deutschlands zu kippen drohten. Der Versuch scheiterte, da „Bruchpilot Heß“ mit sei-nem Flugzeug über Schottland abstürzte und anschlie-ßend in britische Kriegsgefangenschaft genommen wurde. Heß wurde nach seinem Selbstmord zu einer Kultfigur aufgebaut und bundesweit mit alljährlichen Großdemonstrationen im bayrischen Wunsiedel und zahlreichen Aufkleber-, Plakatier- und Sprühaktio-nen im gesamten Bundesgebiet gedacht, die bis heute rund um den 17. August statt finden. Vor diesem Hin-tergrund scheint es nur konsequent, dass der Selbstmord zu einem „Mord“ versucht wird umzudeuten, um sich als Opfer „alliierter Verbrechen“ ausgeben zu können. Der Mythos vom „Bombenter-ror“ bzw. dem „Bombenholocaust“, der Luftangriffe auf Dresden um den 13. Februar 1945 ist bereits weit in das kollektive bundesrepublikanische Gedächtnis vorgedrungen, von der NPD bis tief in bürgerliche Kreise. Durch Relativierung der Bedeutung Dresdens als kriegswichtige Stadt an der sogenannten „Hei-matfront“ und der Gleichsetzung Dresdens mit den Atombombenangriffen auf Hiroshima und Nagasaki wird die Frage nach Verantwortung für den Kriegsausbruch und das Verbrechen der Deutschen weit nach hinten gestellt und der „alliierte Bomben-terror“ in den Vordergrund gerückt. Vorherige Er-eignisse wie die verheerenden deutschen Bombar-dements, beispielsweise gegen englische Städte wie

Coventry, Liverpool oder London werden konsequent ausgeblendet. Deutschland, Dresden - wirklich alles Opfer?

Das Ende der Geschichte?

Geschichtsrevisionismus ist also die (von rechts) ver-suchte Aussöhnung der Vergangenheit mit der Gegen-wart. Mithilfe der Relativierungen und der Leugnung von deutschen Verbrechen wird von rechtskonservativen Kreisen bis hin zur Neonazi-Szene versucht, Schuld abzuwehren und die nationalistische und rassisti-sche Politik Deutschlands zu rehabilitieren. Auch die multimediale Inszenierung „deutscher Unschuld“ nimmt dabei zu. Ob im literarischen Korsett von Jörg Friedrichs „Der Brand“ oder der Fernsehproduktion „Dresden“: Durch die undifferenzierte, vereinfachte und personalisierte Darstellung der Geschichte lassen sich Phänomene wie die „Volksgemeinschaft“ nicht erklären. Eine geschichtsrevisionistische Vergleichs-logik versperrt dabei den wichtigen Blick auf Ursache und Wirkung. „So schlimm wie sie es uns erzählen wollen, war es nicht...“, schallt es. Die Deutung der Geschichte ist daher auch immer eine machtpolitische Realität. Anhand der mythen-haften Inszenierung von Stauffenberg lässt sich nach-weisen, wie ein Antisemit, Militarist und völkischer Rassist zu einer Entlastungsperson umgelogen wird. Die angebliche Existenz eines Widerstandes, der sich in Wahrheit als nationalistische „Ehrenrettung“ Deutschlands entpuppte, soll belegen, dass die natio-nalsozialistische Politik nicht ohne Widerspruch „im Volke“ geschah. Die Verankerung dieses Mythos im kollektiven Gedächtnis besorgen neben dem Muse-um des deutschen Widerstandes in Berlin auch mas-senkompatible Filme wie „Operation Walküre“. Die Bundesrepublik instrumentalisiert Stauffenberg zum „Nationalhelden“ und gibt den kommunistischen, sozialdemokratischen und jüdischen Widerstands-kämpfer_innen kaum Gedenkmöglichkeiten. Schon die bloße Möglichkeit eines Widerstandes, der für eine andere Gesellschaft kämpfte, soll für vernachlässigbar erklärt werden, ein gesellschaftli-cher Gegenentwurf nicht realistisch sein. Dem erteilen wir eine klare Absage und stellen uns gegen Geschichtslügen - kein Vergessen und kein Vergeben deutscher Verbre-chen!

Ein Beitrag der Gruppe North East Antifascists

Geschichtsrevisionismus /

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Als auf dem Schuldachdas Hakenkreuz wehte

Der Protest der Schüler_innen und Lehrer_innen an der „Welt-lichen Schule Berlin–Weißen-see“

Im April 1939 öffnete die „Welt-liche Schule Berlin-Weißensee“ in der Amalienstraße ihre Tore. Die Schule, die heute den Na-men „Grundschule am Weißen-see“ trägt war seiner Zeit eine der ersten ihrer Art in Weißensee.Zahlreiche fortschrittliche El-tern und Arbeiter_innenfamilien, die ihre Kinder ohne Religionsunterricht und Prügelstrafe unterrich-tet wissen wollten, meldeten ihre Kinder hier an. Der „Arbeiter-Eltern-Bund Berlin-Weißensee“, die „Freie Lehrergewerkschaft Deutschlands“, so wie Kinder- und Jugendorganisationen aus Arbeiter_innen-kreisen beteiligten sich aktiv an der Gestaltung des Schulalltags. Durch ihren Einfluss, wie auch die all-gemeinen Grundwerte der Weltlichen Schulen gab es hier z.B. keine Geschlechtertrennung. Anderer Orts war es nicht unüblich, dass „Jungen“ und „Mädchen“ in verschiedenen Klassen unterrichtet wurden1.

Im überwiegend von Arbeiter_innen bewohnten Weißensee, vermochten die Nationalsozialisten lange Zeit kaum Anhänger für ihre Ziele zu gewinnen. Mit den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise Anfang der drei-ßiger Jahre erhielten sie Zulauf aus kleinbürgerlichen Schichten, die um ihre wirtschaftliche Existenz fürch-teten. In der Schule machte sich die politische Lage bemerkbar, als einzelne Schüler der Hitlerjugend (HJ) beitraten. Beim ersten Eintritt eines Schülers in die HJ warnte der Lehrer Georg Nitschke (1896 – 1939) seine Schü-ler mit den Worten: „Die nehmen euch das Denken ab, da die Leute“2. Jene Übertritte waren an der Schule zwar verschwindend gering, versetzen Leher_innen und Mitschüler_innen allerdings einen Schock, waren sie schließlich Vorboten der politischen Entwicklung in Deutschland, die auch das Ende der Weltlichen Schule erahnen ließ.„Je härter der politische Druck sich auszuwirken begann, desto enger rückte man ideologisch zusammen. In der großen Aula zum Beispiel, wurden in ständigen Intervallen sowjetische Revolutionsfilme zwischen Strei-fen mit Buster Keaton, Harold Lloyd und Charlie Chaplin gezeigt.“3 schrieb Wolfdietrich Schnurre4 über die Situation in diesen Tagen.

Rund zwei Wochen nach dem 30. Januar 1945, dem Tag der Machtübertragung an die Nationalsozialisten, wehte die Hakenkreuzfahne auf dem Dach der Weltlichen Schule in der Amalienstraße. Vor dem Schuleingang versammelte sich rasch eine Traube von Schüler_innen, die sich weigerten das Schulgelände zu betreten. „Der Lappen muß runter, wir betreten die Schule nicht!“5 forderten sie. Zusammen mit Lehrern begannen sie aus Protest „Die Internationale“ zu singen: „Es rettet uns kein hö‘hres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!“. So unterschiedlich ihre Hintergründe auch gewesen sein mögen, in jenem Moment fanden sie sich in der Hymne der Arbeiter_innenbewegung wieder – vereint das Lied schließlich viele der freiheitlichen Grundideen der Weltlichen Schule. Rektor Rudolf Zwölf-ner hielt eine kurze Ansprache. „Er stellte jedem Schüler anheim, das Schulgebäude, gar die Klassenräume zu betreten. Was ihn anging jedoch, er könne nur sagen, jene Fahne dort oben habe aus seiner Schule eine fremde

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Schule gemacht. Er fühle sich hier fehl am Platze“6 dann schwang er sich auf sein Fahrrad und fuhr weg. Die überwiegende Mehrheit der Schüler ging daraufhin, die Internationale pfeifend, geschlossen nach Hause.

Nach nicht mal einer Woche erhielten die Eltern der Schüler Briefe in denen ihnen mitgeteilt wurde, dass der Schulstreik „ungesetzlich“ sei und dass ihre Kinder sich wieder in der Schule in der Amalienstraße einzufin-den haben. Die Lehrer der Weltlichen Schule wurden strafversetzt, Schuldirektor Zwölfner hingegen wurde von den Nazis in ein Konzentrationslager verschleppt.

Der Streik an der „Weltlichen Schule Berlin Weißensee“ war eine eindrucksvollste Willensbekundung gegen den Vernichtungswahn der Nazis. Sie blieb, so weit dies bekannt ist, die einzige an einer öffentlichen Lehran-stalt in Berlin. Der Mut der Schüler_innen und der Lehrerschaft kann uns heute Beispiel sein, wenn wir uns die Fragen stellen „Was kann ich tun?“, „Was habe ich getan?“.

Literatur/Erläuterungen:

[1] Die früher praktizierte Trennung von „Geschlechtern“ sorgte verfestigte schon im frühen Kindesalter klassische Rollenbil-der von „Mann“ und „Frau“. Tätigkeiten wie kochen vorwiegend den Mädchen und Werken meist den Jungen beigebracht. Die Trennung sorgte u.a. dafür dass das „andere Geschlecht“ fremd und mysteriös gehalten wurde und so mit auch zwangsläufig eine Andersbehandlung unter einander entstand. Wir haben geschlechtsspezifische Bezeichnungen in Anführungszeichen gesetzt, da wir Geschlechtsidentität als konstruiert erachten.[2] Wolfdietrich Schnurre, „Gelernt ist gelernt“, in: „Meine Schulzeit im Dritten Reich. Erinnerungen deutscher Schriftsteller“, Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.), München 1984, S.72[3] Ebd., S.74[5] Wolfdietrich Schnurre war Schüler der Weltlichen Schule Berlin-Weißensee und ein bedeutender Lyriker, Roman- und Kin-derbuchautor der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, die Bibliothek 2005 in der Bizetstraße eröffnete Bibliothek trägt seinen Namen.[5] „Chronik der 7. Oberschule Waldemar Schmidt“ Berlin-Weißensee, maschinen-schriftliches Manuskript[6] Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der Deutschen Demokratischen Republik Berlin-Weißensee (Hrsg.): An-tifaschistischer Widerstand in Berlin-Weißensee 1933-1945. Erinnerungen, Berichte,Biografien. Berlin 1988. Erinnerungen von Günter Nitschke, in „Der Lappen muß runter!“ eine Antifaschistische Protestaktion an der weltlichen Schule, S.92ff

Grundschule am Weißensee, 2011

Als auf dem Schuldach das Hakenkreuz wehte /

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Fritz Hödel und dieRote Hilfe in Weißensee

Fritz Hödel (1889 – 1966), Weißensee – Sedanstraße 90b (heute Bizetstraße)

Fritz Hödel entstammte der Weißenseer Mieter_in-nenbewegung und war über die Parteikreise hinaus in der Nachbarschaft angesehen. Innerhalb der Roten Hilfe Berlin-Brandenburg war der gelernte Schneider war eine wichtige Person. Die Rote Hilfe, die größte linke Hilfsorganisation politischer Gefangener1, un-terhielt über Hödel eine Vielzahl an Kontakten in den Bezirk Weißensee, ins Ausland und andere deutsche Städte. Im September 1933 wechselte er von der illegal arbei-tenden Weißenseer KPD zur Roten Hilfe, deren örtli-chen Unterbezirk er fortan aufbaute. Nach mehreren Verhaftungen gegen Genoss_innen durch die Nazis im Oktober 1934 übernahm er die Leitung der Roten Hilfe im Bezirk Berlin-Brandenburg. Er erhielt Un-terstützung vom früheren Weißenseer KPD-Unterbe-zirksleiter Gustav Tscharniel und dem Blankenburger Steindrucker und ehemaligen Landtagsabgeordneten Max Sellheim (1883–1945). Eine seiner engen Mitar-beiter_innen war die Weißenseer Verkäuferin Frieda Seidlitz (1907 – 1936). Sie lebte seit 1933 illegal und unterhielt die Kontakte zur Prager Exil-Leitung der Roten Hilfe und fungierte als Materialkurierin. Auch Arbeitersportler_innen dienten später Widerstands-zellen als Material-Kuriere (Bsp. Sredzki-Gruppe). „Gemeinsam mit der Genossin Anna Gerichow ge-lang es [Hödel], die Rote Hilfe wider illegal stark vorwärts zu treiben, einzelne Organisationen wie den ASW (Arbeiter Sportverein Weißensee) als Kollek-tivmitglieder und Beitragzahlende anzuschließen.

Der Mitgliederbestand war etwa 300 – 400.“2

In der Wohnung Fritz Hödels, in der Sedanstraße 90b (heute Bizetstraße) wurden unter anderem die Rote Hilfe-Zeitung „Hand in Hand“ hergestellt und die Verteilung des Rote Hilfe-Materials „Das Tribunal“ organisiert.

Außerdem baute Frieda Seidlitz zusammen mit Fritz Hödel in Weißensee ein illegales Versorgungsnetz-werk auf, das untergetauchten Antifaschist_innen bei der Ausreise half und sie materiell wie auch finanzi-ell unterstütze. „wir haben circa 40 – 50 Emigran-ten durch unseren Apparat im Bezirk betreut und in die Emigration weitergeleitet. Ein großer Teil dieser Genossen stammte aus Hamburg. Es war uns sogar möglich, den Emigranten zu den ihnen zustehenden Unterstützungen von 5 Mark wöchentlich für Woh-nung und Ernährung noch zusätzlich je 5 Mark als Ta-schengeld auszuhändigen. […] um Vergleichszahlen im heutigen Wert zu erhalten müsste man die genann-ten Beträge verzehnfachen“3 resümierte Hödel später über ihre Arbeit.

Rund ein halbes Jahr nach dach dem er Leiter der Roten „Roten Hilfe Berlin-Brandenburg“ geworden war kam eine ungewöhnliche Aufgabe auf ihn zu. Er wurde beauftragt mit dem Prenzlauer Berger SPD-Mitglied Paul Laufer, ein Unterstützungsabkommen zwischen Roter Hilfe/KPD und der illegalen Berliner SPD auszuhandeln. Die Hilfsgelder zwischen SPD und KPD stellten einen bemerkenswerten Vorgang dar, gerade weil zwischen beiden Parteien kein offizi-elles Einheitsabkommen herrschte.Nach einer mehreren Verhaftungen im November 1935 gegen die KPD, setzte sich Fritz Hödel im Janu-ar 1936 nach Prag ab, um einer Festnahme zu entge-hen und um der Prager Exil-Leitung der Roten Hilfe Bericht zu erstatten. Die Verhaftungen in den Reihen der KPD hatten Lücken in die Struktur der Roten Hil-fe gerissen, da es in der Roten Hilfe und der KPD zahlreiche Doppelmitgliedschaften gab. Dadurch wurde auch die Produktion der Zeitungen „Roten Hilfe“ und „Der Widerstand“ lahmgelegt. Vor Hödels Flucht nach Prag produzierten er, Sellheim und wei-tere Genoss_innen die Zeitung „Die Bruderhand“ um

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die entstandene Lücke an Publikationen zu füllen (nur eine Ausgabe, 19. Januar 1936).Er reiste zurück nach Deutschland, obwohl er wuss-te dass es gefährlich werden würde. Selbst die ge-heime Staatspolizei war ihm gegenüber schon zu Respekt genötigt worden. Als „kommunistischen Internationalisten“4 hatten sie ihn bezeichnet. Fritz Hödel übergab mehreren Familien, die Angehörige in den Gefängnissen zu sitzen hatten, Unterstützungs-gelder, so dass sie wenigstens finanziell über die Run-den kamen.Einen Tag vor seiner erneuten Flucht aus Deutschland wurde er am 29.März 1936 festgenommen. Es folg-te strenge Einzelhaft. Frieda Seidlitz wurde im April 1936 ebenfalls von der Gestapo verhaftet, nahm sie sich am 27. Mai 1936 wegen der bei den Vernehmun-gen erlittenen Misshandlungen das Leben, um nicht andere „Mitverschwörer“ zu gefährden. Max Sell-heim wurde am 2. Mai 1945 bei Sachsenhausen er-schossen. Fritz Hödel und Anna Gerichow überlebten den Nationalsozialismus.

Literatur/Erläuterungen:

[1] 1 Die Rote Hilfe e. V. (abgekürzt RH) ist eine Organisation zur Unterstützung von Aktivisten, die auf Grund von politisch als links geltender Tätigkeit mit deutschen staatlichen Organen in Konflikt geraten sind. Die Organisation hat bundesweit etwa 5000 Mitglieder in 40 Orts- und Regionalgruppen sowie eine Bundesgeschäftsstelle in Göttingen und versteht sich als Nach-folger der historischen Roten Hilfe Deutschlands.[2] Hans-Rainer Sandvoß:„Widerstand in Prenzlauer Berg und Weißensee“. aus der Reihe Widerstand 1933-1945, S.153[3] Ebd.[4] Ebd., S.155

Bizetstraße 90, Weißensee, 2011

Fritz Hödel und die Rote Hilfe in Weißensee /

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Als der Bäckermeister Alfred Hühnerbein aus der Hohenschönhausener Hauptstraße 19 im Jahr 1948 gefragt wurde, ob er irgendeine antifaschistische Tä-tigkeit oder Handlung nachweisen könne, antwortete er, er habe „Juden und Antifaschisten genauso wie Pgs. zuvorkommend behandelt“, also unter seiner Kundschaft im Bäckerladen in der Berliner Allee 179 in Weißensee keinen Unterschied zwischen Antifa-schisten und NSDAP-Parteigenossen (Pgs.) gemacht. Entfallen war dem vergesslichen Bäckermeister nicht nur, dass er selbst seit dem 8. Juli 1933 Mitglied der SA sowie weiterer vier faschistischer Organisationen war und seine Frau Erna der NS-Frauenschaft ange-hörte. Er hatte auch gänzlich verdrängt, dass er im Jahr 1943 seinem Kunden Heinrich Rodrian aus der Charlottenburger Straße 123, als dieser sich gegen die Politik Hitlers aussprach, entgegen schleuderte „Du gehörst ins KZ., mit solchen Leuten müsse man aufräumen.“ (Landesarchiv Berlin C Rep. 105, Nr. 1884)So wie Hühnerbein wollten sich nach dem 8. Mai 1945 die meisten Deutschen nur daran erinnern, dass sie in den Zeiten des Verbrechens anständig geblie-ben wären. Niemand war Nazi, bestenfalls war man Mitläufer, denn gegen die Nazis Widerstand zu leis-ten, sei unmöglich gewesen, man wäre doch sofort abgeholt worden. Diese deutsche Geschichtslüge dient auch heute noch dazu, antifaschistischen Wi-derstand und den Kampf gegen Kriege, Rassenhetze und Kapitalismus zu kriminalisieren oder als unmög-lich darzustellen.Wie im gesamten Deutschen Reich und in Berlin gab es auch in seiner nordöstlichen Region, dort wo die Stadt damals allmählich in eine Dorf- und Rieselfel-derlandschaft überging, während der Nazi-Herrschaft keinen breiten antifaschistischen Volkswiderstand ge-gen das NS-Regime. Diese beschämende historische Wahrheit wirft nicht nur ein bezeichnendes Licht auf die Haltungen, die Interessen und den Charakter der Weißenseer, Hohenschönhausener, Malchower, War-tenberger, Falkenberger, Ahrensfelder, Heinersdorfer, Blankenfelder, Bucher und Karower jener Tage. Sie lässt vor allem die menschliche Größe und die Gefähr-dung der Wenigen unter ihnen erahnen, die es wagten zu widersprechen, sich zu verweigern, nicht mitzu-machen, Verfolgten zu helfen, Flugblätter herzustel-

len, die Rüstung zu sabotieren, eben Widerstand zu leisten. Aber wie wurde man Widerstandskämpfer? Benötigte man dazu politische Erfahrungen, Kennt-nisse oder Mut?Der Ausgangspunkt jedes Widerstandes der einfachen Leute war das Eintreten für die Gleichheit aller Men-schen, für Gerechtigkeit, war die Menschlichkeit. Ein Ereignis hatte in den 1930er Jahren in Malchow für Aufmerksamkeit gesorgt. Als der Befehl der Nazis erschien, dass alle Verkaufsläden das Schild „Juden unerwünscht“ zu führen hätten, befestigte auch der alte Gastwirt und Bäcker Conrad Stahlberg dieses Schild am Fenster seines Bäcker-Ladens Dorfstraße 31a. Am nächsten Morgen stand darunter „SA- und SS-Männer auch“. Die Suche der Nazis nach dem Schreiber blieb erfolglos, aber alle im Dorf vermu-teten den alten Stahlberg als Schreiber, weil er als Freund der Juden bekannt war.Im Jahr 1943 kam es infolge einer politischen Aus-einandersetzung in der Betriebssportgruppe der Deutschen Niles Werke AG zu einer Prügelei in der Weißenseer Gastwirtschaft von Georg Jacob in der Feldtmannstraße 143. Einige antinazistischen Mit-arbeiter der Deutschen Niles Werke, der Buchhalter Willy Feldhahn, der Monteur Artur Seefeld und der Dreher Willi Schäfer, wandten sich offen gegen Hit-ler, die NSDAP und den Krieg. Daraufhin wurden sie von NSDAP-Mitgliedern bei der faschistischen Betriebsleitung denunziert und von der Gestapo ver-hört und verwarnt. Feldhahn wurde die Einlieferung in ein KZ angedroht. Schäfers „UK-Stellung“ (un-abkömmlich) wurde vom Werk aufgehoben und es erfolgte seine sofortige Einberufung zur Wehrmacht. Seefeld, der zudem russische Zwangsarbeiter sowie französische Kriegsgefangene, die ihm im Betrieb unterstellt waren, mit Lebensmitteln versorgte, wurde bestraft und erhielt ebenfalls umgehend einen Einbe-rufungsbefehl. Ein weiterer langjähriger Mitarbeiter der Niles Werke, der Werkmeister Heinrich Hohberg, Weißensee Sedanstraße 80 (seit 1951 Bizetstraße), der mit einer Jüdin verheiratet war, weigerte sich, der Aufforderung der Werksleitung nachzukommen, sich von ihr scheiden zu lassen. Hohberg, der seit 1911 im Werk arbeitete und seit 1926 Werkmeister war, wur-de am 8. März 1943 ohne Frist und Anhörung gekün-digt. (LAB C Rep. 105, Nr. 1235, Bl. 213-216)

Antifaschistischer Widerstandin Berlin – Nordost 1933 bis 1945

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In einem anderen Weißenseer Betrieb, der Berliner Kindl-Brauerei AG Abteilung III Weißensee, Lichten-berger Straße 66-92 (seit 1985 Indira-Gandhi-Straße), wurde am 2. Mai 1935 der parteilose Maurer Paul Schettler aus der Friedrichshainer Heidenfeldstraße 13, der in der Brauerei arbeitete, fristlos entlassen. Begründet wurde dies damit, dass er einen Tag vor-her, am faschistischen „Tag der Arbeit“, nicht an dem Stellplatz der Brauerei in Neukölln zum Propaganda-Umzug der Belegschaft erschienen war.Am 12. Juli 1942 wurde die Flaschenkellerarbeiterin Mathilde Kuhn aus der Witzenhauser Straße 63 in Hohenschönhausen an ihrem Arbeitsplatz, ebenfalls in der Berliner Kindl-Brauerei AG Abteilung III Wei-ßensee, verhaftet. Sie hatte sich solidarisch gegenüber französischen Kriegsgefangenen verhalten. Ihr Ar-beitsverhältnis wurde von der Direktion rückwirkend aufgelöst und es wurde ein politisches Strafverfahren eingeleitet. (Archiv Kindl-Brauerei, 1988)In der selben Zeit hörte die fünfzehnjährige Lilo Millis in der Hohenschönhausener Tamseler Straße 45 fast jeden Abend gemeinsam mit ihrem Vater Jakob, ei-nem Schneider, und ihrer Mutter, einer Handnäherin, die sogenannten Feindsender „Radio Moskau“ und „Londoner Rundfunk“. Oft konnte sie nicht einschla-fen, bevor sie nicht die Stimmen von Ernst Busch oder Lotte Loebinger aus dem Radio gehört hatte. Die Sen-der stärkten die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, und sie waren eine wichtige Informationsquelle im antifaschistischen Widerstandskampf.Der ebenfalls erst fünfzehnjährige Horst Götsch aus Malchow, Dorfstraße 8, wuchs mit seinen drei Ge-schwistern in ärmlichen Verhältnissen auf. Noch mehr bedrückte ihn jedoch, dass sein Vater Heinrich Götsch, ein Inspektor auf den Rieselfeldern und NSDAP-Mit-glied, aus ihm einen strammen Hitlerjungen machen wollte. Horst Götsch streubte sich dagegen, empfand er doch gegen die zwangsdeportierten Schnittermäd-chen aus der Ukraine und Polen, denen er im Dorf täglich begegnete, keinen Hass, und auch seine Mut-ter bestärkte ihn in seiner kritischen Haltung gegen-über dem fanatischen Vater. Noch als Kind versorgte er die Zwangsarbeiterinnen mit Lebensmitteln, ganz gegen die Vorgaben der väterlichen und schulischen Erziehung.All diesen Menschen mit Charakter, die in Konflikte mit der faschistischen deutschen Leitkultur gerieten, war vielleicht nicht bewusst, dass sie am antifaschis-tischen Kampf teilnahmen. Sie waren weder politisch geschult, noch gehörten sie einer Partei an. Ihre all-täglichen Verweigerungshaltungen, denen meist per-sönliche, familiäre Motive oder einfach menschliche Zuneigung insbesondere zu Schwächeren zugrunde

lagen, waren der Auslöser ihrer Widersprüche und Zweifel gegenüber den Nazis. Solche antifaschisti-schen Verhaltensweisen gab es in jener Zeit immer wieder, aber sie blieben vereinzelt, defensiv und oft-mals hilflos.Erst der organisierte, sich auf politischen Erfahrun-gen und Traditionen gründende Kampf ließ im Un-terschied zu den zersplitterten Protesten, Verweige-rungen und Ablehnungen einen antifaschistischen Widerstand wachsen, der ein kompromissloses Ziel verfolgte, den Sturz der Nazi-Herrschaft. Dieser Kampf verharrte nicht im passiven Abwarten. Er ging in Aktionen über und bot damit andererseits dem fa-schistischen Terrorapparat eher Möglichkeiten der Entdeckung und Verfolgung dieses Widerstandes.Seit dem Machtantritt der Nazis am 30. Januar 1933 bildete sich eine vielfältige und differenzierte Wider-standslandschaft im Berliner Nordosten heraus, in der sich unterschiedliche, ja gegensätzliche politische Kräfte wiederfanden. Den Kern dieses politischen Widerstandes bildeten Kommunisten und Sozial-demokraten, die den Faschismus schon in der End-phase der Weimarer Republik energisch bekämpft hatten und daher im ersten Halbjahr 1933 als erste systematischen und besonders brutalen Verfolgungen ausgesetzt waren. Den Faschisten ging es nicht allein um die Brechung des Widerstandswillens einzelner Gegner, sondern um die Zerschlagung ihrer Organi-sationen und Zusammenhänge, die ihnen Halt, Kraft, Ausdauer und die Solidarität einer Gemeinschaft ga-ben. Hunderte aktiver Kommunisten und Sozialde-mokraten insbesondere in den Roten Hochburgen der Innenstadtbezirke Wedding, Friedrichshain, Mitte, Prenzlauer Berg und aus dem Bezirk Neukölln waren den Nazis seit Jahren bekannt. Von Februar bis Juni 1933 erfolgten gegen sie zielgerichtete Hausdurchsu-chungen, Verhaftungen, Misshandlungen und Morde. Wegen dieser Gefährdungslage mussten die führen-den und bekanntesten Genossen außer Landes gehen und manch örtlicher Funktionär oder Abgeordneter seine Wohnung aufgeben und in einen für seine Per-son weniger öffentlichkeitswirksamen Außenbezirk „emigrieren“. Dies traf beispielsweise auf die Fami-lie Hedwig und Otto Schrödter aus Friedrichshain zu, die nach Weißensee umzog. Der ungezügelte Nazi-Terror konnte im Jahr 1933 nicht aufgehalten werden, es kam vordringlich auf den Schutz der antifaschisti-schen Kräfte an.Zur ehrlichen Geschichte des Widerstandskampfes in Deutschland gehört die Tatsache, dass die beiden antifaschistischen Hauptströmungen, die schon seit Jahren gegen die NSDAP kämpften, im ersten Halb-jahr 1933 über das Ausmaß und die Perspektive der

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faschistischen Macht desorientiert waren und die Tiefe ihrer Niederlage nicht erkannten. Das KPD-Polbüro arbeitete weiterhin auf einen Generalstreik hin, weil angeblich ein massenhaftes Umschwenken der Arbeiter zu den Kommunisten bevorstand, und der SPD-Parteivorstand war ebenso überzeugt, die Hitler-Regierung werde „Abwirtschaften“ und dann die Sozialdemokratie ihr Comeback erleben. SPD-Vorsitzender Otto Wels sprach noch am 23. Oktober 1933 vom Abwirtschaften der Nazis, also ihrer Un-fähigkeit, ein stabiles Herrschaftssystem errichten zu können.Beide Orientierungen waren Fehlannahmen, weil sie nicht von der realen politischen Situation ausgin-gen, sondern auf ein Wunder setzten. Sie vertrauten auf eigenen Wunschvorstelllungen und auf erhofften Desillusionierungen und Gegensätzen im feindlichen Nazi-Lager. Letztlich führte dies zur Unterschätzung des Faschismus und zur Lähmung des Antifaschis-mus. Beide Perspektiven des „Alles oder nichts“-Tuns schwächten die politische Abwehr und forderten unnötige Opfer. Die Sozialdemokratie wirkte schon vor ihrem Verbot im Juni 1933 wie gelähmt. Vielen Mitgliedern erschien das abwartende Verhalten ih-rer Führung wie eine Selbstauflösung, denn faktisch stellte die SPD weitgehend ihre politische und orga-nisatorische Tätigkeit an der Basis ein und zerfiel. In-folge ihrer Politik wurde die Berliner SPD regelrecht zerrieben und zählte im Juni 1933 nur noch etwa ein Viertel ihrer Mitglieder von 100.000 zum Jahres-anfang, in Weißensee waren es wohl nur noch etwa 700. Die ADGB-Führung (Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund) rief sogar zur Teilnahme an der faschistischen 1. Mai-Feier 1933 auf dem Tempelho-fer Feld auf, was die DHM-Ausstellung „Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen“ (2010/11), obwohl dort ein Filmausschnitt über die-sen Aufmarsch gezeigt wurde, verschwieg. Von rechten SPD- und Gewerkschaftsbonzen wurde der Antifaschismus nicht erst jetzt, sondern seit langem entwaffnet.Die Kommunisten versuchten dagegen in Fortset-zung ihrer Offensivstrategie mit Aktionismus einen Massenprotest von unten zu organisieren, der immer wieder zu Verhaftungen ihrer aktivsten Genossen und zur weiteren Zurückdrängung ihres Einflusses führte. So wurden noch im Mai 1933 in Berlin offene kom-munistische Demonstrationen und Flugblattaktionen durchgeführt, die zwar mutige politische Zeichen setzten, aber ein unvertretbares Risiko für ihre Teil-nehmer angesichts des faschistischen Terrors in sich bargen und vor allem in ihrer Wirkung äußerst be-grenzt blieben. Die KPD war besser als die SPD auf

den konspirativen Untergrundkampf vorbereitet und versuchte bereits seit Ende Februar 1933 mit paralle-len Strukturen ihre gesamte Organisation in Weißen-see in die Illegalität zu überführen.Zur nüchternen Analyse des politischen Kräftever-hältnisses in Weißensee können die Reichstagswah-len vom 5. März 1933 herangezogen werden, die je-doch wegen des Terrors nicht mehr als demokratisch bezeichnet werden können, weil sie von Angst, Op-portunismus und Verunsicherung überschattet waren. Umso erstaunlicher war es, dass die NSDAP hier wie in Berlin und ganz Deutschland ihr Ziel einer für eine „legale“ Machtübernahme erforderlichen Zweidrit-telmehrheit der Wählerstimmen nicht erreichte. Der Bezirk Weißensee war ein Arbeiterbezirk und zählte im Jahr 1933 insgesamt 81.565 Einwohner, 61.817 Stimmberechtigte und 52.941 Wahlteilnehmer sowie 451 ungültige Stimmen. Weißensee war damals hin-ter Zehlendorf der bevölkerungsärmste Bezirk Ber-lins. Bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 er-hielt die NSDAP in Weißensee zwar 19.045 Stimmen (36,0 %), aber die KPD mit 15.588 Stimmen (29,4 %) und die SPD mit 10.546 Stimmen (19,9 %) stellten immer noch ein starkes antifaschistisches Gegenge-wicht dar. Hinzu kamen noch 4.179 Stimmen (7,9 %) für die rechtsorientierte Kampffront Schwarz-Weiß-Rot, die zur NSDAP tendierte, und 2.520 Stimmen (4,8 %) für die bürgerliche Zentrumspartei sowie wei-tere 1.054 Stimmen (2,0 %) für kleinere bürgerliche Parteien und 9 Stimmen (0,02 %) für die Sozialisti-sche Kampfgemeinschaft. Somit standen zwar nach dieser Wahlarithmetik 43,9 % faschistischen Wählern (NSDAP und KF S-W-R) 49,3 % antifaschistische Arbeiterwähler (KPD und SPD) gegenüber, aber ein Zusammengehen der kommunistischen und sozialde-mokratischen Wähler fand auch in Weißensee nicht statt. Diese Wahlen waren ein Feigenblatt und dien-ten der Illusion, es ginge im NS-Staat demokratisch zu. Selbst die SPD-Führung glaubte in ihrem Legali-tätswahn damals daran. Schon am 5. März 1933 wur-de die Mär, die sich bis heute hält, man könne die Nazis an der Wahlurne schlagen, der Wähler müsse nur wählen gehen, widerlegt. In Weißensee lag die Wahlbeteiligung bei 87,3 %. Die Wahlen wurden zu einer Farce, weil die Macht nicht aus der Wahlurne, sondern aus den SA-Lokalen und Polizeirevieren, aus den Nazizeitungen, dem Reichskanzlerpalais, den Ministerien und den Vorständen der Banken und Großunternehmen kam. Der Terror steigerte sich und fand im Juni 1933 in der Köpenicker Blutwoche mit 21 nachweislich ermordeten und 70 vermissten Anti-faschisten seinen vorläufigen Höhepunkt. Erst im Verlauf des Jahres 1934 wurde den politi-

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schen Gegnern des Faschismus allmählich bewusst, dass der Sturz der Naziherrschaft nicht eine Frage von Tagen und Wochen, sondern von Jahren sein werde. Die Exil-Führung der SPD in Prag, die Sopade, ging sogar Ende der 1930er Jahre davon aus, dass der deut-sche Faschismus vom deutschen Volk nicht gestürzt, sondern nur durch äußere Kräfte beseitigt werden könne. Die falschen Strategien sowohl der SPD- als auch der KPD-Führung bis 1933 waren das entschei-dende Hindernis für einen erfolgversprechenden anti-faschistischen Abwehrkampf im Jahr 1933, aber auch schon in den Jahren zuvor seit 1929.Nichts war in jenen Jahren unwahrscheinlicher als ein Zusammengehen beider Arbeiterparteien, zu groß war das traditionelle politische Misstrauen, die so-zialen Interessenunterschiede, die alltäglichen poli-tischen Gegensätze und die Differenzen über anzu-strebende gesellschaftliche Perspektiven gegen den Kapitalismus, die nicht dem subjektiven Unvermögen einzelner Führer entsprangen, sondern in der Grund-forderung nach Enteignung des Kapitals und einer Räteherrschaft unüberbrückbar blieben. Dennoch wuchs im antifaschistischen Kampf angesichts der Ohnmacht und Niederlage der verständliche Wunsch nach einer Einheitsfront. Aber auf welcher Basis sollte sie stehen? Eine antifaschistische Gemeinsamkeit mit einer Partei, die den Kapitalismus so schlecht verwal-tete, dass in seiner Mitte immer wieder Faschismus, Militarismus und Rassismus entstehen konnten, war unmöglich. Für die antifaschistischen Kräfte stand deshalb 1933 die Aufgabe, ihren Widerstandskampf autonom zu organisieren. Zwischen bürgerlich-so-zialdemokratischem beschwichtigenden Händchen-halten oder dem späteren Putschversuch des 20. Juli der überwiegend deutsch-national, halbfaschistischen Eliten und dem antifaschistischen Arbeiterwiderstand gab es kein wie auch immer geartetes Bündnis. Die-ser Einschätzung entspricht, dass die meisten im Wi-derstand aktiven Sozialdemokraten in Berlin sich den Positionen der Kommunisten stark annäherten. 1946 war Weißensee der Bezirk mit der höchsten Zustim-mung (73,3 %) unter den Sozialdemokraten aller 20 Berliner Bezirke für eine Vereinigung mit der KPD. Im Oktober 1933 wurde eine kommunistische Grup-pe in Hohenschönhausen verhaftet, die seit 1930 im Besitz von Waffen war. Die Arbeiter Hermann Fi-scher, Hans Fischer, Willi Dubiel, Franz Düsterhöft, Karl Heisig, Fritz Scheibe und Rudolf Wegener aus der Werneuchener, Küstriner, Dingelstädter, Wrieze-ner Straße und aus der Friedrichshainer Liebigstraße 19 (Scheibe) gehörten der RFB/Antifa-Formation „Einheit“ an, die sich nach den kommunistischen Orientierungen am Ende der Weimarer Republik auf

bewaffnete Straßenkämpfe vorbereitet hatte. Soweit es nicht um den Selbstschutz der Genossen ging, war dies eine verhängnisvolle politische Strategie, die der SA und NSDAP, aber auch der sozialdemokratisch geführten Polizei vor 1933 zur Rechtfertigung ihres rücksichtslosen Einsatzes von terroristischer Gewalt diente. Der bewaffnete antifaschistische Kampf wur-de nicht von der Strategie einer Partei, von Gefüh-len der Rache oder Einzelner auf die Tagesordnung gesetzt, sondern konnte erst im Zuge der Agonie des Faschismus im Jahr 1945 aktuell werden, weil die antifaschistische Gewalt die höchste, aber nicht eine beliebige, in allen Situationen anwendbare Form des Kampfes gegen das Naziregime darstellte.Im Spanien des Jahres 1936 war aufgrund des breiten Volkswiderstandes gegen den faschistischen Franco-Putsch eine derartige Lage entstanden, die eine Un-terstützung des internationalen bewaffneten Kampfes gegen den Faschismus erforderte. Am Freiheitskampf des spanischen Volkes gegen Franco und seine fa-schistischen deutschen Verbündeten 1936-1939 betei-ligten sich in den Internationalen Brigaden tausende deutsche kommunistische, sozialdemokratische, par-teilose, anarchistische Arbeiter und Linksintellektuel-le, so auch aus dem Berliner Nordosten.

Artur Becker 1931

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Einer von ihnen war Artur Becker, der aus Remscheid am südlichen Rande des Ruhrpotts stammte. Der junge Kommunist war Ende der 1920er Jahre in die kommunistische Führung gelangt und war von Okto-ber 1930 bis März 1933 der jüngste Reichstagsabge-ordnete und in den Jahren 1931/32 Vorsitzender des KJVD. Von 1929 bis 1933 lebte er in der von vielen kommunistischen und sozialdemokratischen Familien bewohnten Arbeitersiedlung „Klein-Moskau“ in der Dingelstädter Straße 48a im südlichen Hohenschön-hausen an der Landsberger Allee. 1933 emigrierte er in die Sowjetunion und ging 1937 nach Spanien, wo er 1938 als Politkommissar des Thälmann-Bataillons fiel. Mit Walter Runge aus der Berliner Allee 175, dem RFB-Leiter von Weißensee vor 1933, ließ ein weiterer Weißenseer Kommunist im Februar 1937 bei den Kämpfen vor Madrid sein Leben. Im Verlauf des Jahres 1933 bildeten sich im Berliner Nordosten Widerstandsgruppen, die den organisier-ten Kampf gegen den Faschismus unter dauerhaft illegalen Bedingungen aufnahmen. Anfang des Jah-res zählte die KPD in Weißensee 8 Betriebs- und 21 Straßenzellen mit ca. 600-800 Mitgliedern. Die KPD hatte es schon vor 1933 nicht verstanden, ihre Anhän-ger dauerhaft an die Partei und damit an ihre Politik zu binden. Sie erlebte erhebliche Mitgliederfluktuati-onen, Ein- und Austritte. Die Partei versuchte mit der Umstellung ihrer Organisation auf Fünfer-Gruppen, dem konspirativen Verteilen von antifaschistischen Zeitungen und Literatur, mit Geldsammlungen für Inhaftierte, und Kassierung von Mitgliedsbeiträgen ihren Kern der aktiven Mitglieder und Sympathisan-ten zusammenzuhalten. Das waren Gruppenstruk-turen von bis zu 100 Menschen, die über die KPD-Stadtteilleitungen Propagandamaterial erhielten und bei Sammlungen anfangs noch namentlich in Listen erfasst wurden. Dieser organisierte Widerstand zielte auf das Erhalten ganzer antifaschistischer Milieus und trug halboffenen Charakter, womit der Verfolgung durch SA und Gestapo Ansatzmöglichkeiten geboten wurden. Bis in die Jahre 1935-1936 existierten diese großen organisatorisch vernetzten Gruppen des kom-munistischen Widerstandes in ganz Berlin, ehe sie durch Spitzel, Verhaftungen und Zerreißen der Ver-bindungen zerstört wurden. In Weißensee bestand der Unterbezirk-Nordost der KPD (UB). Der UB-Nord-ost war in sechs Stadtteile mit seinen jeweiligen Lei-tern gegliedert. Der gesamte UB wurde 1933/34 von Gustav Tscharniel aus der Suermondtstraße 41, dann Bernhard Müller als Polleiter (Politischer Leiter) und nacheinander von Walter Weber, Werner Rossmann, Gustav Warmbrunn und Paul Zibell als Orgleiter (Organisationsleiter) geführt und hatte über Kuriere

Verbindungen zur Berliner Bezirksleitung. Eine Ver-haftungswelle 1935-36 erfasste etwa 50 Weißenseer Kommunisten, unter ihnen die leitenden Genossen des UB. In zwei Prozessen wurden 21 Genossen im April 1937 zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt, vie-le verstarben in der Haft oder kamen anschließend im KZ ums Leben. Der UB Nordost gab anfänglich „Die Rote Fahne“ und dann bis Mitte 1935 die Zeitung „Der Antifaschist“ in einer monatlichen Auflage von 500 Exemplaren heraus. Der Gestapo gelang es, die unnötig zentralistisch aufgebaute Widerstandsstruk-tur in Weißensee bis 1936 zu zerschlagen.

Der Antifaschist Mai 1935 Nr. 2

Eine Organisation, in der die KPD noch einige Zeit halblegal wirken konnte, war der Arbeitersportverein Weißensee. Er vereinigte vor allem jüngere Arbeiter-sportler. Ihm gehörte auch Karl Teschner jn. aus Mal-chow, Dorfstraße 47, der Sohn des kommunistischen Gutsarbeiters Karl Teschner, und weitere Gutsarbeiter der Rieselfelder an. Der Arbeitersportverein war so stark von Kommunisten dominiert, dass er 1934 von den Nazis verboten wurde. In den Betrieben sah es dagegen schlecht aus. Hier bildeten sich nur verein-zelt kleine kommunistische Gruppen.Neben der UB-Nordost-Organisation der Partei be-stand in Weißensee ein illegaler Untergrundapparat der Roten Hilfe, die vor allem traditionelle Sammlun-gen für Inhaftierte und den Literaturvertrieb durch-führte und von mehreren hundert kommunistischen Sympathisanten unterstützt wurde. Auch sie wurde um 1935/36 von der Gestapo weitgehend zerschla-gen. Führend in der Roten Hilfe Weißensee war die alte Genossin Anna Gerichow.Gleich zu Anfang der Nazizeit kam es zu einer au-ßergewöhnlichen Protestaktion in der Weißenseer 8. weltlichen Schule in der Amalienstraße 8 Ecke Park-straße 81/82. Sie war 1922 als konfessionslose Schule auf Initiative des Arbeiter-Eltern-Bundes Berlin-Wei-ßensee entstanden und lange Zeit ein Hort des Huma-nismus und Antifaschismus, wie sich deren ehemalige Schüler, der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre, der

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Anarchosyndikalist Kurt Wafner aus der Amalienstra-ße 5 und der Kommunist Karl Teschner aus Malchow, erinnerten. Da ausschließlich bürgerliche und SPD-Lehrer an der Schule unterrichteten, die aus ihrer kri-tischen Haltung zu den Nazis keinen Hehl machten, konnten die Faschisten zunächst keinen Einfluss ge-winnen. Ende Februar 1933 kam ein SA-Kommando, hisste auf dem Schulhof die Hakenkreuzflagge und forderte von den Schülern das Singen des Deutsch-landliedes. Daraufhin stimmte der couragierte Rektor Rudolf Zwölfer (SPD), der auch Stadtrat in Weißen-see war, das Arbeiterlied „Brüder zur Sonne, zur Frei-heit“ an, das von allen Schülern mitgesungen wurde. Die Schüler sangen dann die „Internationale“, solan-ge bis sie heiser waren. Rektor Zwölfer entfernte sich nach einer kurzen Rede aus der Schule und auch die Schüler entschieden spontan. Wir betreten die Schule nicht, denn „Der Lappen muss runter!“ Der Schulst-reik dauerte einige Tage. Sämtliche Lehrer wurden versetzt und Rektor Zwölfer kam ins KZ. Trotzdem blieb der antifaschistische Geist der Schule noch eini-ge Zeit erhalten. Immer wieder kam es zu Auseinan-dersetzungen und Prügeleien zwischen antifaschisti-schen Schülern und Hitlerjungen, und bis in das Jahr 1934 hinein war es noch möglich, ohne HJ-Uniform am Unterricht teilzunehmen.Einer der Schüler, Kurt Wafner, hatte sich bereits vor 1933 einer Jugendgruppe der anarchosyndikalisti-schen FAUD (Freie Arbeiter-Union Deutschlands), der Freien-Arbeiter-Jugend (FAJ), in Friedrichshain angeschlossen. Nach 1933 trat diese Gruppe in den Verband Märkischer Wanderer ein und unternahm unverdächtige Wanderfahrten. Auf diesen wurde an-archistische Literatur gelesen und diskutiert, passive Resistenz gegen die Nazis besprochen, die Aufklä-rung unter „unpolitischen“ Jugendlichen vorbereitet, Auswirkungen des faschistischen Terrors und der Verhaftungen erörtert und Anregungen zum Lesen humanistischer Literatur gegeben.

Kurt Wafner, antifaschistische Jugendgruppe 1933

Ein Höhepunkt der anarchistischen Jugendarbeit war die Organisation einer illegalen Jugendweihefeier im Mai 1933 am Küstriner Platz in Friedrichshain, die nicht nur im Gegensatz zur reaktionären Politik der Kirche stand, sondern nun auch von den Nazis als Ausdruck „bolschewistischer Gottlosigkeit“ verboten wurde. Über den antifaschistischen, antiklerikalen Charakter der Jugendweihe findet man im Jugendwi-derstandsmuseum in der Rigaer Straße kein Wort.Der Buchdrucker und Kommunist Hugo Matz aus Weißensee arbeitete seit 1933 in der Preußischen Druckerei in der Wilhelmstraße 30 im Stadtzentrum. In dieser Druckerei wurden wichtige interne Schriften des NS-Staates gedruckt, die Matz und seine Grup-pe umgehend für die KPD beschaffte. So konnte er im Sommer 1934 die geheime Gestapo-Schrift „Ge-samtüberblick über die kommunistische Bewegung in Deutschland Anfang 1934“, in der Verhaftungen und Überwachungen aufgeführt waren, besorgen. Über Kuriere gelangte die Schrift, die ein Nachdruck war, zur KPD-Führung. Als das Exemplar bei der Verhaf-tung des ehemaligen Reichstagsabgeordneten Max Maddalena gefunden wurde, fiel der Verdacht unwei-gerlich auf die Druckereiarbeiter, aber sie konnten den Verdacht auf einen korrupten NSDAP-Bonzen in der Druckerei lenken. In dieser Aktion zeichnete sich bereits die Kampf-form ab, die seit Mitte der 1930er Jahre bis zum Ende des Dritten Reichs den Weißenseer Widerstand präg-te, und zwar Arbeit in kleinen Gruppen von Antifa-schisten, die nur selten eine Verbindung zu zentralen Leitungen hatten. Eine Widerstandsgruppe, die fast die gesamten Na-zijahre hindurch bestand, leitete der KPD-Funktionär des UB Nord-Ost Herbert Bogdan aus der Belforter Straße 24. Er wurde im Juni 1933 von der SA ange-schossen, ein Bein wurde ihm amputiert. Anschlie-ßend begann er, eine dezentrale Widerstandsstruktur mit Fünfergruppen aufzubauen. Bogdan konzentrier-te sich konsequent an konspirativen Methoden und lehnte den bisherigen zentralistischen Aufbau ab. Dies machte den Erfolg seiner bis auf ungefähr 150 Kämpfer angewachsenen Organisation aus. Flug-blätter wurden in der Sämerei-Fachhandlung Kurt Deckert in der Prenzlauer Allee gedruckt und über die Orthopädie-Werkstatt Robert Szmala in Weißen-see, Berliner Alle 251, von dem Meister Kurt Bretz-ke verteilt. Sie gingen in die umliegenden Betriebe wie Niles, Warnecke & Böhm, Hanka, Trumpf-Werke und Allgemeine Werkzeugmaschinenfabrik, zu de-nen Verbindungen bestanden. In Weißensee waren die Genossen Gustav Förkel, Karl Keller und Alfred

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Röhr Verbindungsleute. Im März 1943 wurden Ver-stecke für 15 Juden organisiert, z.B. für Gerhard Da-nelius, der nach dem Krieg der Vorsitzende der SED in Westberlin (SEW) war. Im September 1943 wurde die Bogdan-Gruppe durch den Verrat des Stuttgarters Emil Krath, dem nach vier Jahren Zuchthaus eine KZ-Einlieferung drohte, von der Gestapo aufgerollt und größtenteils verhaftet.Originell und öffentlichkeitswirksam war eine Akti-on Hohenschönhausener Kommunisten, die im Jahr 1937 um Margarete und Wilhelm Hischer, Erich Wichmann, Erich Neumann, Häsner und Ernst Koch in der damaligen Treskowstraße 68 (seit 1951 Ma-netstraße 70) Agitations-Groschenstücke herstellten. Diese wurden aus Aluminiumblech gestanzt und tru-gen auf der Vorderseite einen fünfzackigen Stern mit Hammer und Sichel, das Symbol der KPD, mit der umlaufenden Schrift: „Kommunismus – Frieden – Fortschritt – Brot“ und auf der Rückseite ein Haken-kreuz mit den Worten: „Lüge – Elend – Krieg – Tod“. Die hergestellten 600 Stück wurden unter Sympathi-santen verkauft und der Erlös für den Freiheitskampf des spanischen Volkes gespendet, andere Groschen sind vor Lichtenberger Betrieben bei Schichtschluss verstreut worden. Die Aktion konnte von der Gestapo nicht aufgeklärt werden.

Als nahezu offener Antifaschist war seit den ersten Ta-gen der Nazi-Diktatur der evangelische Pfarrer Ernst Berendt junior bekannt. Er war Direktor der sozialen Bethabara-Stiftung mit einem Säuglingsheim, einem Fürsorge-Erziehungshaus für Mädchen, einem Kran-kenhaus für Geschlechtskranke und einem Heim für psychisch Kranke in der Albertinenstraße 20-23 und in der Parkstraße 17/18. Er wohnte im Pfarrhaus in der Parkstraße 19/20. Bethabara hieß Haus der Hoffnung.

Pfarrer Berendt verweigerte den Hitlergruß, schützte jüdische Menschen und predigte politisch gegen den Nazistaat. Nach Hausdurchsuchungen, mehrmaligen Verhaftungen und Schikanen sowie der Einquartie-rung von Naziflüchtlingen aus der Tschechoslowakei im Jahr 1937 in seinen Heimen ging er 1938 nach Ba-den-Baden, wo er in überfüllten Gotteshäusern wei-terhin humanistische Predigten abhielt, bis er 1941 verhaftet und ein Jahr später im Pfarrer-Block des KZ Dachau ermordet wurde.Antifaschistische Positionen und Aktivitäten hatten es unter den 45.000 Weißenseer und 18.000 Hohen-schönhausener Christen sehr schwer, hatten hier doch in der NS-Zeit die „Deutschen Christen“ (DC), eine faschistische Kirchenrichtung, eindeutig die Ober-hand gewonnen. Widersprüchlich waren z.B. die Po-sitionen von Pfarrer Emil Vogel von der Pfarrkirche in der Berliner Allee 87, einem Mitglied der Bekennen-den Kirche, der zwar zum Christentum konvertierten Juden zur Emigration verhalf, aber nicht generell die faschistische Judenpolitik ablehnte. Diese Halbhei-ten entsprangen den geistig-autoritären Kontinuitäten des deutschen Protestantismus und seinem Festhalten an nationalistisch-monarchistischen Werten. Pfarrer Vogel war schon im Kaiserreich in der Weißenseer Gemeinde tätig. Führt es nicht zu einem „selektiven Antifaschismus“, wenn man Juden, die zu Christen wurden, beschützt, aber Juden, die Juden blieben, vergisst? Es blieb ein rassisch-völkischer Geist, der die Frage unbeantwortet ließ, ob er den Faschismus abmildern oder abschaffen wollte.Noch klarer wird die Nähe zum faschistoiden Denken bei einer früheren Abspaltung der NSDAP, die durch einen Einzelfall ihre Spuren in Weißensee hinterließ. Rainer Sandvoß (2000, S. 232ff) berichtete über ei-nen Anhänger der „Schwarzen Schar“ in Weißensee, den Laboranten und Weltkrieg I.-Invaliden Karl Pe-trick aus der Schönstraße 24. Petrick verteilte illegale Schriften von Otto Strasser, und seine Wohnung dien-te 1933/34 als Treffpunkt der „Schwarzen Schar“ im Berliner Nordosten. Sie wurde vor allem unter Na-tionalsozialisten aktiv und propagierte Forderungen nach einer „Zweiten Revolution“ insbesondere unter der SA. Dabei zielte sie auf ein Zusammengehen mit SA-Chef Ernst Röhm. Zunächst vertrat diese „nati-onalrevolutionäre“ Richtung ebenfalls antisemitisch-nationalistische und völkische Positionen. Da sie jedoch mit den späteren Hauptverbrechen des Fa-schismus, der Vernichtung von Millionen Juden und Nazigegnern, nicht in Verbindung zu bringen ist und selbst von der NS-Justiz brutal bis hin zu Todesur-teilen verfolgt wurde, spielt sie heute als angeblich „unbelastete“ Denkrichtung des Neonazismus eine

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erhebliche Rolle. Nach 1934 wurde diese Strömung in Weißensee nicht mehr bekannt.Unter Antifaschismus war nicht irgendeine beliebige Gegenposition zu verstehen. Er beinhaltete immer das humanistische Anliegen, allen Schwächeren und Verfolgten zu helfen, ohne Ausnahmen, Einschrän-kungen und Bedingungen. Sein Kampf galt dem Un-recht insgesamt und nicht nur einzelnen Seiten oder Personen.Während des Krieges, von 1943 bis 1945, versteck-te das sozialdemokratische Ehepaar Hedwig (1896-1978) und Otto Schrödter (1898-1971) in ihrem kleinen und beengten Einfamilienhaus in der Hohen-schönhausener Straße 156 Nr. 9 sechs jüdische Men-schen, darunter ein zuerst sechs Monate altes Kind. 1933 waren die Schrödters selbst vor dem SA-Terror aus Friedrichshain geflohen, wo die Eheleute als An-tifaschisten bekannt waren, verfolgt und misshandelt wurden. Dort lebten sie in der Büschingstraße 30, zogen dann nach Prenzlauer Berg und 1934 schließ-lich nach Hohenschönhausen in ihr selbst erbautes bescheidenes Haus. Sie versorgten sie mit Lebens-mitteln und bewahrten sie vor dem sicheren Tod. Der Widerstand der Schrödters zeigte, wie sinnvoll solche Einzelaktionen waren, denen scheinbar die Perspekti-ve fehlte, denen aber die feste Überzeugung zugrun-delag, dass die Unmenschlichkeit eines Tages besiegt wird. Der menschlich bewundernswerte Charakter der Schrödters äußerte sich in einer kompletten Ab-lehnung des faschistischen Alltags. Sie flaggten keine Nazi-Fahnen, ihren Sohn Herbert ließen sie nicht zur Hitlerjugend und Hedwig Schrödter wandte sich in Gesprächen offen gegen die Nazis, wofür sie viermal von der Gestapo vorgeladen wurde.

Hedwig und Otto Schrödter

Eine wahre Heldentat im illegalen antifaschistischen Kampf vollbrachte auch das Bäckerehepaar Elsa und

Otto Hildebrandt, die Inhaber eines Ladens in der Quitzowstraße 51, heute Simon-Bolivar-Straße. Die Hildebrandts nahmen in den Jahren 1940 bis 1945 ins-gesamt dreizehn verfolgte Juden auf und versteckten sie im Keller der Bäckerei. Die Tat ist umso bewun-dernswerter, weil die Gegend eine Nazi-Ecke war. Umso mehr bewiesen die couragierten Bäckersleute, dass es überall in Berlin Möglichkeiten gab, den Be-drohten zu helfen. Der Arzt Dr. Heinz Ulrich Behrens aus Hohenschönhausen, Berliner Straße 1/2 war in diese Aktion eingeweiht.Ein beliebter und bekannter Arzt in den 1930er Jahren in Hohenschönhausen war Dr. Victor Aronstein. Seine Praxis befand sich in der Berliner Straße 126/Bahn-hofstraße 1 (seit 1985 Konrad-Wolf-Straße/Bahnhof-straße). Als Jude war er seit 1933 Verfolgungen und Demütigungen ausgesetzt. Sein breiter Patientenkreis aus verschiedenen sozialen Schichten sympathisierte mit ihm und unterstützte ihn. So wurde der Aufenthalt in seinem Wartezimmer zu einem Bekenntnis beson-derer Art. Hier trafen sich politische Gegner der Na-zis und organisierten Solidaritätssammlungen. 1941 wurde Dr. Aronstein deportiert und kam in Auschwitz ums Leben.Es gilt auch, jener aufrechten Menschen zu geden-ken, die im sicher geglaubten Hinterland aller Antifa-schisten, in der Sowjetunion, ihr Leben lassen muss-ten. Stellvertretend für viele, die dem stalinistischen Terror der 1930er Jahre zum Opfer fielen, seien der Schuhmacher Johannes Pomierski, geboren 1903, Thaerstraße 6, Mitglied der KPD seit 1927, und der Koch Alfred Sorgatz, geboren 1891, Mitglied der KPD seit 1921, genannt. Beide Kommunisten waren Funktionäre des UB Berlin Nord-Ost. Sie emigrierten 1933 bzw. 1934 in die Sowjetunion und wurden dort 1937 und 1938 verhaftet und anschließend ermordet. Die stalinistischen Verbrechen können jedoch das Heldentum der Roten Armee bei der Befreiung vom Faschismus nicht relativieren, aber sie zeigen die Ge-fahr, die der Menschlichkeit, dem eigentlichen politi-schen Ziel des antifaschistischen Kampfes, selbst aus den eigenen Reihen drohen kann.Es fällt schwer, eine Bilanz des antifaschistischen Kampfes in Berlin-Nordost in seinen so vielfältigen Erscheinungsformen, den großen wie den kleinen, zu ziehen. Denn Widerstand wurde hier zu allen Zeiten und an allen Orten, in allen Straßen, und in allen so-zialen, religiösen und politischen Gruppen geleistet. In Weißensee waren während der Jahre 1933 bis 1945 schätzungsweise 2.700 Menschen in den Kampf ge-gen den Faschismus einbezogen, das waren 3,3 % seiner Bevölkerung. Die Ausstrahlung dieser Faschis-musgegner auf weitere Sympathisanten und Freunde

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dürfte etwa 10 bis 15 % der Einwohner erreicht ha-ben. Dies war zu wenig, um sich selbst von der Nazi-Herrschaft befreien zu können.

Wartenberg 21.4.1945

Die Rote Armee erreichte im Kampf um Berlin in den Vormittagsstunden des 21. April 1945 den nordöstli-chen Berliner Stadtrand. An diesem Tag überschritten Aufklärer der 219. Panzerbrigade des 1. Mechanisier-ten Korps der 5. Stoßarmee mit ihrem Kommandeur Jewsej Wainrub gegen 10.00 Uhr die Berliner Stadt-grenze und hissten bei Wartenberg die erste rote Fah-ne auf Berliner Territorium. In Marzahn, das heftig umkämpft wurde, wehten noch am gleichen Nachmit-tag ebenfalls zwei rote Fahnen. SS- und Wehrmacht-einheiten hatten in letzter Stunde die Dorfkirchen in Wartenberg, Falkenberg und Malchow gesprengt. Bereitwillig ließ der Malchower Nazi-Pfarrer Anton Pöschl dies geschehen. In Hohenschönhausen fan-den nur kleinere Kämpfe statt. Manch einer wagte sogar, eine weiße Fahne aus dem Fenster zu hängen. Namenlos bleiben die vielen Deserteure der Wehr-macht, die in jenen Tagen den Krieg auf eigene Faust beendeten und dafür mit Standgerichten ermordet wurden. In Berlin waren es wahrscheinlich mehr als einhundert. Am Faulen See und in der Quitzowstra-ße in Hohenschönhausen kämpften noch fanatische Nazis. Kommunisten wie Else Eisenkolb-Großmann, Hermann Kratzenstein und Willi Retzke leisteten un-ter den Deutschen in ihrem Kiez in der Goeckestra-ße Überzeugungsarbeit zur Beendigung des Krieges und stellten sich mutig an die Seite der Roten Armee. Der Hohenschönhausener Sozialdemokrat Schnei-dermeister Emil Bolatzky, der den ganzen Krieg über eine Anlaufstelle für Nazigegner war, verhinderte mit weiteren Antifaschisten die Sprengung der „Schwei-nebrücke“ am S-Bahnhof Landsberger Allee. Sie überredeten Volkssturmmänner zur Einstellung der Kampfhandlung und kappten die Zündschnüre. Emil Bolatzky entstammte einer alten sozialistischen Fa-

milie. 1896 geboren, trat er 1908 der sozialistischen Arbeiterjugend und 1912 der SPD bei. 1918 schloss er sich der linken Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an und kämpfte im März 1919 gegen die Noske-Truppen. Später wieder zur SPD zurückgekehrt, war er bis zum Juni 1933 der letzte Kreisleiter der Partei in Weißensee. Er gehörte in der Nazizeit den illegalen Gruppen „Kleiner Vorwärts“ und „Roter Stosstrupp“ an. Die Erfahrungen seines politischen Lebens führten ihn 1945 an die Seite der Roten Armee und 1946 in die SED. Die Panzersperren, die den Zugang nach Weißensee unterbinden sollten, waren am 22. April 1945 um 6.00 Uhr unter Kontrolle der Roten Armee. Innerhalb von zwei Stunden besetzten Truppenteile der 3. Stoßarmee mit Panzern kampflos den Kern von Weißensee. Sie drangen über die Berliner Allee, die Buschallee und die Lichtenberger Straße vor. Zahlreiche Einwohner waren in die Innenstadt geflüchtet.Vom Antonplatz in Weißensee und von der Hohen-schönhausener Sommerstraße (seit 1954 im Sport-forum) aus nahmen die gefürchteten Salvenwerfer „Katjuschas“, die „Stalinorgeln“, das Berliner Stadt-zentrum unter Beschuss. Reichspropagandaminister Goebbels beschimpfte danach die Weißenseer als „ehrlos und feige“. Einen Tag darauf wurde der Ort von faschistischen Flugzeugen bombardiert. Auch in Weißensee gaben sich die überlebenden deutschen Kommunisten und Sozialdemokraten sofort den Rot-armisten freudig zu erkennen.

Else Jahn Gedenktafel

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Die Kommunistin Else Jahn aus der Berliner Allee 250, die nach 1936 drei Jahre lang im Zuchthaus ge-sessen hatte und sich anschließend wiederum einer illegalen Gruppe angeschlossen hatte, lief mit dieser Widerstandsgruppe, darunter ihren Brüdern Willi und Fritz Gerichow, zur Roten Armee über und geleitete Kampftrupps der Sowjetarmee zur Berliner Innen-stadt. In Weißensee-Spitze, an der Kreuzung Gustav-Adolf-Straße/Prenzlauer Promenade, wurde sie am 26. April 1945 von der SS erschossen. Else Jahn war seit 1924 Mitglied der KPD und stammte aus einer kom-munistischen Familie. Ihre Mutter, Anna Gerichow, eine alte Kommunistin, beteiligte sich seit 1933 im kommunistischen Widerstand aktiv am Wiederaufbau der Roten Hilfe und organisierte Solidaritätssamm-lungen im Arbeiter-Sportverein Weißensee. Unter den Widerstandskämpfern in Weißensee waren die Kom-munisten die größte und bedeutendste Gruppe. Aber auch ihr Kampf kann die bittere historische Wahrheit nicht verdecken: Der deutsche antifaschistische Wi-derstand konnte die Nazi-Herrschaft nicht beenden. Die Rote Armee trug die Hauptlast der Befreiung vom Faschismus. Was war das für ein Deutschland, warum konnte das geschehen? Diese Fragen sind noch längst nicht beantwortet.

Wanja Abramowski

Literatur:

[1] Hans Maur, Mahn-, Gedenk- und Erinnerungsstätten der Ar-beiterbewegung in Berlin-Weissensee, Berlin 1978[2] Der illegale Kampf der KPD 1933-1945 in Berlin-Weißen-see, Berlin 1980[3] Antifaschistischer Widerstandskampf in Berlin-Weißensee 1933 bis 1945. Erinnerungen. Berichte. Biografien, Berlin 1988[4] Hans-Rainer Sandvoß, Widerstand in Prenzlauer Berg und Weißensee, Berlin 2000

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Um den tief verwurzelten nationalsozialistischen Vorstellungen unter den Deutschen mehr und mehr aufzu-lösen wurden Antifa-Jugend-Gruppen ins Leben gerufen. Die Antifa-Jugend-Gruppen, die im März 1946 in die Freie Deutsche Jugend (FDJ) übergingen, entfalteten ein reges Jugendleben. Helmut Hauptmann war Mitglied der Antifa-Jugend. Im Folgenden dokumentieren wir einen Auszug aus seinem Buch „Lehrzeit, Ge-schichten und Erinnerungen“:

„In einer sozialdemokratischen Veranstaltung zum ersten Weihnachten nach dem Krieg bin ich sozusagen zum ersten Mal veröffentlicht worden. Ich trug im Kino „Harmonie“ in der Langhansstraße, lampenfieberge-schüttelt, ein eigenes Manuskript vor. Auf dem Programm war ich zwischen den Musikern, Referenten und Rezitatoren durch drei Pünktchen angekündigt, etwa als eine Art »schreibender Schüler« im späteren Bitter-felder Sinne. Ich weiß nur, daß ich in den hinteren Reihen sitzend, bis es soweit war- nach vorne stolperte in das blendende Scheinwerferlicht, wenigstens das Pult wie einen Rettungsanker wahrnahm, sonst weiter nichts mehr sah, und meine kindlichen Reime - wer hat in der Jugendzeit keine Gedichte gemacht in den dunklen Saal rief. Ich habe sie mir aufgehoben:

Der Schwur

Die Waffen schweigen, es ist Frieden!Vernunft und Geist den Kampf entschieden;

gebrochen ist der Blutrausch der Gewalt,das letzt Kriegsgeschrei verhallt...

Die Welt leckt stöhnend ihre schweren Wunden,die endlich langsam wieder nun gesunden.

Zum Fest der Wintersonnenwendereicht brüderlich euch nun die Hände,

die ihr einst feindlich gegenüberstandet,bis ihr aus diesem irren Wahn euch fandet.

Bedenkt! Millionen Tote klagenuns an mit ihren stummen Fragen.

Die Waffen schweigen, wir sind frei!Doch wann wird eine neue Teufelei

den Brand durch alle Länder wieder tragen?Wann wieder Haß Verblendeter zum Himmel schlagen?

Weh uns! Diesmal gäbs kein Entkommen,In Staub war‘ bald die ganze Erde zerronnen.“1

Oktober 1945, Helmut Hauptmann

[1] Entnommen aus: Helmut Hauptmann „Lehrzeit, Geschichten und Erinnerungen“, Verlag Neues Leben, Berlin, 1979

Erinnerungen von Helmut Hauptmann

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Northeast Antifascist (NEA) www.nea.antifa.de [email protected]

Antifa Hohenschönhausen (AH) www.ah.antifa.de [email protected]

Haus der Jugend Bunte Kuh e.V. www.buntekuhverein.de [email protected] Bernkastelerstr. 78 13088 Berlin

Weitere Kontakte im Berliner Nordosten

Emanzipative Antifagruppe Pankow - www.antifa-pankow.de.vuAntifa Initiative Nordost - [email protected]

Kurt-Lade Club - Grabbeallee 33 13156 Berlin JUP e.v. - Florastr. 84, 13187 Berlin

Impressum

V.i.S.d.P. Max Dessau, Berliner Allee 181, 13088 Berlin

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