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34 | Bauwelt 24 2005 Augustin Ioan Heidegger hat keinen Raum in postkommunistischen Städten Ich will im Folgenden versuchen, ob ich, wenn ich Heideggers aufsteigender Linie von Lich- tung zu Raum folge und den „Milles Plateaus“ von Deleuze und Guattari alles abgewinne, was sie zur Definition von Orten hergeben, und die Beobachtungen zu meiner Heimatstadt Bu- karest hinzuaddiere, ob ich dann in meinen Überlegungen nicht doch noch ein Stück wei- ter kommen kann als Christian Norberg-Schulz mit seiner unangefochtenen Definition des „Genius Loci“. Die Lichtung, in der Begrifflichkeit von Heideg- ger, oder der „lucus a non lucendo“ (der nicht- lichte Hain), in der inspirierten Formel von Leonardo Amoroso, mit der er den Begriff aus der deutschen Etymologie erlöst, beide Defini- tionen enthalten nichts, was auf ein vorange- gangenes Arrangement hinweist, sie sagen le- diglich aus, hier wäre Platz oder Raum für et- was, das sich ereignen könnte. Die Lichtung kann als eine der Modalitäten des öffentlichen oder sakralen Raums gesehen werden: Sie ist durch ihre Grenzen zwar definiert, aber zu- gleich nicht definiert, was ihre innere Struktur betrifft: Die Lichtung als potentieller „Raum“ kommt dem Besonderen, Überhöhten, Sakra- len entgegen, sie ist „lucus“, sprich Hain, denn sie definiert sich über ihre physische Anders- artigkeit zu dem, was sie umgibt, wobei die Andersartigkeit eine der Graduierungen ist, nicht eine der Hierarchien. Lucus ist etwas anderes als „silva“ – der Hain ist etwas ande- res als der Wald. Das ganz Andere, das Heilige eben, das in der subjektiven Erfahrung des Göttlichen gleichermaßen Schauder und Ent- zücken auslöst, findet sich in den auf diese be- sondere Weise unterschiedenen Räumen. In ihnen wird es manifest. Die meisten Abhandlungen über den öffentli- chen Raum als „Lichtung“ folgen Heideggers Gedanken in „Sein und Zeit“, in „Bauen, Woh- nen, Denken“ und in „Der Ursprung des Kunst- werks“. Der Ort einer menschlichen Ansied- lung, dieser Raum, in dem Begegnungen mög- lich sind, weswegen er sich in einen öffentli- chen Raum verwandelt, behält, laut Heidegger, in der Bezeichnung, die er am Ende dieses Pro- zesses annimmt, immer etwas von seinem Ur- sprung. Menschliche Ansiedlungen brauchen ein Territorium, um zu siedeln, brauchen also „Raum“. Aus der Art und Weise, wie Heideg- ger Raum definiert, ergeben sich einige Merk- male für den öffentlichen Raum: (1) Es ist ein Ort, der sich abhebt von seiner indefiniten Umgebung, ob Wildnis oder Wald, es ist ein offener Platz, deshalb heller als seine Umgebung (der Wald) und deshalb entschie- den sichtbarer, nicht nur für die, die hier sie- deln wollen, sondern auch für den Gott, der von oben zusieht. Die Lichtung bietet sich an, ausgewiesen und geordnet zu werden aufgrund ihrer Eigenschaften, deren wichtigste die Hel- ligkeit ist, weswegen der Ort erkennbar wird und als ein bevorzugter gilt. Mit anderen Wor- ten, er zeichnet sich aus, er vermittelt das Gefühl, anders zu sein, anders zumindest als der dunkle Wald, in den er eingeschnitten ist. Was also ist eine Lichtung? Nun, sie ist eben nicht die „silva diffusa et inculta“, von der Servius spricht, auch nicht die „silva oscura“, in der sich Dante in der Mitte seines Lebens wiederfand. Während „silva“, der Wald, dicht, undurchdringlich und wild ist, wie Amoroso meint, weist die Lichtung ganz andere Quali- täten auf: Sie ist „lucus“, der heilige Hain, oft genug ein Ort vergangener Rituale, das heißt ein Ort, der die Erinnerung an Ereignisse hü- tet, die ihn zuvor schon zum öffentlichen Raum stempelten. Vielleicht aber war er einst auch nur dazu ausersehen, besiedelt zu werden. (2) Was seine Beschaffenheit angeht, so ist er ein Ort mit spärlichem Pflanzenwuchs, viel- leicht ein paar junge Bäume und Sträucher, die die Nähe von Wasser andeuten, was für eine Ansiedlung eine unverzichtbare Voraus- setzung ist. Die Vegetation, so gering sie auch sein mag, garantiert aber, dass der dem Licht ausgesetzte Raum dennoch im Schatten liegt, und deshalb – das ist vielleicht Amorosos wich- tigster Schluss – kann nur ein Ort als Lichtung oder Hain bezeichnet werden, der nicht ganz leer ist, der zwischen Lichtung und Wald oszil- liert. Die Verschattung der Lichtung erst macht sie zum „lucus“, ganz in dem Sinne, in dem Plato im „Phaedrus“, wenn er über das Schrei- ben spricht, mit dem griechischen Wort „phar- makon“ spielt, das sowohl Heilmittel als auch Gift bedeuten kann und das wiederum Derrida in seinem langen Essay „Platos Pharmacy“ ausdeutet. Vom „espace lisse“ zum „Raum“ Diese schwankende Doppeldeutigkeit, auf die Amoroso hinweist, hatte Heidegger selbst schon im Sinn, möglicherweise ohne sich des- sen bewusst zu sein. Auch bei ihm ist die Sta- Der rumänische Autor, ein aufmerksa- mer Beobachter seiner Heimatstadt Bukarest, versucht die Phänomene, die ihn bedrängen, mit Hilfe der Philoso- phie zu entschlüsseln. Die Gedanken eines Martin Heidegger oder Gilles Deleuze oder Christian Norberg-Schulz sind für ihn vollkommen unverbraucht, und er wendet sie mit Ehrgeiz und Ei- fer an, um sich dem Sinn hinter den Dingen zu nähern. Er referiert, überla- gert, vergleicht, wägt ab und kommt am Ende zu dem Schluss, dass in den geprüften Philosophien nur positive Definitionen von Raum gegeben wer- den. Er jedoch, mit der Last seiner Be- obachtungen in Bukarest, konstatiert, dass es in den postkommunistischen Städten nicht nur den „Geist des Or- tes“, sondern auch die „Dämonen des Ortes“ gibt, visualisierte Verwünschun- gen, die nicht ohne weiteres gebannt werden können. StadtBauwelt 166 | 35 iOPAL. Große Oper von Hans-Joachim Hespos, Staatsoper Hannover, 2005; Regie, Bühne, Kostüme: Anna Vie- brock Nächste Seite: Das Haus des Volkes in Bukarest, dämonische Hinterlassen- schaft des Diktators Nicolai Ceausescu mit 400.000 Quadratmetern Grund- fläche und vierzig 1000 Quadratmeter großen Sälen ist ein kontaminierter Ort massiver Präsenz im Herzen der ru- mänischen Hauptstadt. Auch wenn heute das demokratisch gewählte Par- lament hier seinen Sitz genommen hat, ein Zentrum für Avantgardekunst eingezogen ist und amerikanische Film- firmen an diesem Ort ein Epos über den Vatikan produziert haben, geben die negativen Geister des Ortes keine Ruhe. Foto: Kevin Neel, Providence/Rhode Island Aus dem Programmheft Der eigentliche Stoff für heute liegt auf der Straße, liegt gleich nebenan bei der Ecke, den braucht man nur aufzuheben, und man könnte da- mit sehr heftige Aussagen und Zeichen setzen für unsere Zeit und auch entspre- chende Anregungen und Hilfestellungen geben, Dinge in ihrer Wesenhaftigkeit im- mer wieder transparent machen. Hans-Joachim Hespos

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34 | Bauwelt 24 2005

Augustin Ioan

Heidegger hat keinen Raum in postkommunistischen Städten

Ich will im Folgenden versuchen, ob ich, wennich Heideggers aufsteigender Linie von Lich-tung zu Raum folge und den „Milles Plateaus“von Deleuze und Guattari alles abgewinne, wassie zur Definition von Orten hergeben, unddie Beobachtungen zu meiner Heimatstadt Bu-karest hinzuaddiere, ob ich dann in meinenÜberlegungen nicht doch noch ein Stück wei-ter kommen kann als Christian Norberg-Schulzmit seiner unangefochtenen Definition des„Genius Loci“. Die Lichtung, in der Begrifflichkeit von Heideg-ger, oder der „lucus a non lucendo“ (der nicht-lichte Hain), in der inspirierten Formel vonLeonardo Amoroso, mit der er den Begriff ausder deutschen Etymologie erlöst, beide Defini-tionen enthalten nichts, was auf ein vorange-gangenes Arrangement hinweist, sie sagen le-diglich aus, hier wäre Platz oder Raum für et-was, das sich ereignen könnte. Die Lichtungkann als eine der Modalitäten des öffentlichenoder sakralen Raums gesehen werden: Sie istdurch ihre Grenzen zwar definiert, aber zu-gleich nicht definiert, was ihre innere Strukturbetrifft: Die Lichtung als potentieller „Raum“kommt dem Besonderen, Überhöhten, Sakra-len entgegen, sie ist „lucus“, sprich Hain, dennsie definiert sich über ihre physische Anders-artigkeit zu dem, was sie umgibt, wobei dieAndersartigkeit eine der Graduierungen ist,nicht eine der Hierarchien. Lucus ist etwas anderes als „silva“ – der Hain ist etwas ande-res als der Wald. Das ganz Andere, das Heiligeeben, das in der subjektiven Erfahrung desGöttlichen gleichermaßen Schauder und Ent-zücken auslöst, findet sich in den auf diese be-sondere Weise unterschiedenen Räumen. Inihnen wird es manifest.Die meisten Abhandlungen über den öffentli-chen Raum als „Lichtung“ folgen HeideggersGedanken in „Sein und Zeit“, in „Bauen, Woh-nen, Denken“ und in „Der Ursprung des Kunst-werks“. Der Ort einer menschlichen Ansied-lung, dieser Raum, in dem Begegnungen mög-lich sind, weswegen er sich in einen öffentli-chen Raum verwandelt, behält, laut Heidegger,in der Bezeichnung, die er am Ende dieses Pro-zesses annimmt, immer etwas von seinem Ur-sprung. Menschliche Ansiedlungen brauchenein Territorium, um zu siedeln, brauchen also„Raum“. Aus der Art und Weise, wie Heideg-ger Raum definiert, ergeben sich einige Merk-male für den öffentlichen Raum:

(1) Es ist ein Ort, der sich abhebt von seinerindefiniten Umgebung, ob Wildnis oder Wald,es ist ein offener Platz, deshalb heller als seineUmgebung (der Wald) und deshalb entschie-den sichtbarer, nicht nur für die, die hier sie-deln wollen, sondern auch für den Gott, dervon oben zusieht. Die Lichtung bietet sich an,ausgewiesen und geordnet zu werden aufgrundihrer Eigenschaften, deren wichtigste die Hel-ligkeit ist, weswegen der Ort erkennbar wirdund als ein bevorzugter gilt. Mit anderen Wor-ten, er zeichnet sich aus, er vermittelt das Gefühl, anders zu sein, anders zumindest als der dunkle Wald, in den er eingeschnitten ist.Was also ist eine Lichtung? Nun, sie ist ebennicht die „silva diffusa et inculta“, von derServius spricht, auch nicht die „silva oscura“,in der sich Dante in der Mitte seines Lebenswiederfand. Während „silva“, der Wald, dicht,undurchdringlich und wild ist, wie Amorosomeint, weist die Lichtung ganz andere Quali-täten auf: Sie ist „lucus“, der heilige Hain, oftgenug ein Ort vergangener Rituale, das heißtein Ort, der die Erinnerung an Ereignisse hü-tet, die ihn zuvor schon zum öffentlichen Raumstempelten. Vielleicht aber war er einst auchnur dazu ausersehen, besiedelt zu werden.(2) Was seine Beschaffenheit angeht, so ist erein Ort mit spärlichem Pflanzenwuchs, viel-leicht ein paar junge Bäume und Sträucher, die die Nähe von Wasser andeuten, was füreine Ansiedlung eine unverzichtbare Voraus-setzung ist. Die Vegetation, so gering sie auchsein mag, garantiert aber, dass der dem Lichtausgesetzte Raum dennoch im Schatten liegt,und deshalb – das ist vielleicht Amorosos wich-tigster Schluss – kann nur ein Ort als Lichtungoder Hain bezeichnet werden, der nicht ganzleer ist, der zwischen Lichtung und Wald oszil-liert. Die Verschattung der Lichtung erst machtsie zum „lucus“, ganz in dem Sinne, in demPlato im „Phaedrus“, wenn er über das Schrei-ben spricht, mit dem griechischen Wort „phar-makon“ spielt, das sowohl Heilmittel als auchGift bedeuten kann und das wiederum Derridain seinem langen Essay „Platos Pharmacy“ausdeutet.

Vom „espace lisse“ zum „Raum“Diese schwankende Doppeldeutigkeit, auf dieAmoroso hinweist, hatte Heidegger selbstschon im Sinn, möglicherweise ohne sich des-sen bewusst zu sein. Auch bei ihm ist die Sta-

Der rumänische Autor, ein aufmerksa-

mer Beobachter seiner Heimatstadt

Bukarest, versucht die Phänomene, die

ihn bedrängen, mit Hilfe der Philoso-

phie zu entschlüsseln. Die Gedanken

eines Martin Heidegger oder Gilles

Deleuze oder Christian Norberg-Schulz

sind für ihn vollkommen unverbraucht,

und er wendet sie mit Ehrgeiz und Ei-

fer an, um sich dem Sinn hinter den

Dingen zu nähern. Er referiert, überla-

gert, vergleicht, wägt ab und kommt

am Ende zu dem Schluss, dass in den

geprüften Philosophien nur positive

Definitionen von Raum gegeben wer-

den. Er jedoch, mit der Last seiner Be-

obachtungen in Bukarest, konstatiert,

dass es in den postkommunistischen

Städten nicht nur den „Geist des Or-

tes“, sondern auch die „Dämonen des

Ortes“ gibt, visualisierte Verwünschun-

gen, die nicht ohne weiteres gebannt

werden können.

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iOPAL. Große Oper von Hans-JoachimHespos, Staatsoper Hannover, 2005;Regie, Bühne, Kostüme: Anna Vie-brock

Nächste Seite: Das Haus des Volkes inBukarest, dämonische Hinterlassen-schaft des Diktators Nicolai Ceausescumit 400.000 Quadratmetern Grund-fläche und vierzig 1000 Quadratmetergroßen Sälen ist ein kontaminierterOrt massiver Präsenz im Herzen der ru-mänischen Hauptstadt. Auch wennheute das demokratisch gewählte Par-lament hier seinen Sitz genommenhat, ein Zentrum für Avantgardekunsteingezogen ist und amerikanische Film-firmen an diesem Ort ein Epos überden Vatikan produziert haben, gebendie negativen Geister des Ortes keineRuhe.

Foto: Kevin Neel, Providence/RhodeIsland

Aus dem Programmheft Der eigentliche

Stoff für heute liegt auf der Straße, liegt

gleich nebenan bei der Ecke, den braucht

man nur aufzuheben, und man könnte da-

mit sehr heftige Aussagen und Zeichen

setzen für unsere Zeit und auch entspre-

chende Anregungen und Hilfestellungen

geben, Dinge in ihrer Wesenhaftigkeit im-

mer wieder transparent machen.

Hans-Joachim Hespos

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des Migranten ist in etwa vergleichbar einerFlugbahn (nicht unähnlich den schwer voraus-sagbaren Flugbahnen der Elektronen) oder ei-nem Feld von Wahrscheinlichkeiten, das die je-weilige Situation im jeweiligen Moment erfasstund sich nicht durch Fixpunkte auf einer Kartemarkieren lässt. In der Wüste zum Beispiel istder Ort, wo die Karawane ihr Nachtlager auf-schlägt, weit weniger wichtig als die Route, aufder die Karawane weiterzieht. So etwa müssenwir das Konzept „Ort-in-Bewegung“ verstehen.Die Routen, die Orte, von denen die Bewegungausgeht, das offene Ende der gezogenen Bah-nen, die Unmöglichkeit, Orte wie diese auf ei-ner Landkarte zu fixieren, das Einbezogenseineiner ganzen Region, die möglicherweise, aberwahrscheinlich nur spärlich besiedelt ist – inallen diesen Nuancen unterscheidet sich derMigrationsraum vom Raum des Siedlers, unter-scheiden sich die Ansichten von Deleuze undGuattari von denen Heideggers.Die Lichtung bietet sich durch die nur ihr eige-nen Eigenschaften, die sie von dem umgeben-den Wald trennen, als potentieller Heidegger’-scher „Raum“ an, denn ihre Eigenschaften ma-chen sie rein theoretisch bewohnbar. Sie isteine aus einem indefiniten Territorium her-ausgeschnittene Zone, sie ist eine Insel. Alssolche ist sie ein in sich abgeschlossenes Reichund ganz anders als ein Raum, aus dem wirverschiedene Aspekte herauslösen und über-zeichnen. Mit Hilfe von Festpunkten (Heideg-ger sagt dazu Wegmarken) legen wir Bezie-hungen in den Raum (der Hügel wird Festung,der Berg zur Metapher für einen Tempel). Dasräumliche Gewebe, komponiert aus Inselnvon Lichtungen und Räumen, die durch Ord-nung optimiert und deshalb bewohnt sind, be-steht aus lokalen Schwerpunkten und den Be-wegungsrichtungen zwischen ihnen: Ich ma-che mich auf vom Festpunkt X und gehe aufden Festpunkt Y zu. Die Bewegung vollziehtsich also zwischen zwei unabweisbar fixiertenPunkten, entlang der Heidegger’schen „Holz-wege“ (er meint damit die in den Wald geschla-genen oder gebahnten Pfade, die an der Ord-nung im Raum teilhaben), und sie vollziehtsich in vorgezeichneten Richtungen: Ich ent-ferne mich von dem einen Punkt und näheremich dem anderen, und beide Punkte sind inihrer Fixierung der Grund für meine Orientie-rung im Raum, der Grund, weshalb ich weiß,wo ich bin.

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bilität des Raumes von Anfang an untermi-niert, was er durch zwei Beobachtungen belegt.Die erste bezieht sich auf eine gewisse Unste-tigkeit: „Wir arbeiten hier und wohnen dort . . .wir reisen und wohnen unterwegs, bald hier,bald dort“. Das bedeutet, dass der Bau einesHauses an einem uns angebotenen Platz nichtnotwendigerweise eine endgültige Bindung be-deutet. Die zweite Beobachtung bezieht sichauf die eigentliche Definition von „Raum“ alseinen Ort, der sich zuerst als Siedlung oder La-ger anbietet. „Raum heißt freigemachter Platzfür Siedlung oder Lager“. Die Fremdkommen-tare zu dieser Passage, vor allem die aus archi-tektonischer Perspektive, scheinen sich einzigan der Vorstellung von Siedlung festzuklam-mern und ignorieren ganz, wer genau es ist,der sich hier niederlässt und für wie lange.Denn die beiden Situationen, die Heidegger be-schreibt, können noch weit von einer endgül-tigen Niederlassung entfernt sein. Eine beson-dere Siedlungsform zum Beispiel ist die Kolo-nie. Das Wort unterstellt, dass es sich hier umeine zweite Ansiedlung handelt, dass es an an-derer Stelle einen Heimatort gibt, der, warumauch immer, verlassen wurde, während dieKolonisten ein, möglicherweise gefährliches, Territorium besetzen, das entweder kaum be-siedelt ist oder sich im Besitz der „Anderen“(Feinde und/oder Barbaren) befindet. Das La-ger wiederum deutet auf einen flüchtigen Auf-enthalt hin, es bildet die Entscheidung von Mi-granten ab, sich auf Zeit an einem entgegen-kommenden Ort niederzulassen und vorüber-gehend alles zu nutzen, was der Ort zu bietenhat. Für beide, den Kolonisten wie den Migran-ten, bleibt der Ort in einem gewissen Sinneinstabil, und diese Eigenschaft haftet ihm an,für unbegrenzte Zeit.Für den Kolonisten liegt Heimat irgendwo an-ders, wahrscheinlich weit weg, für ihn bleibtsie auf ewig – in der Erinnerung, wenn nichtgar in Wirklichkeit – der Mittelpunkt der Welt.Sein neues Domizil ist ihm deshalb doppelbö-dig: als wirklicher Ort seines gegenwärtigenAufenthalts und als Ort, über den sich die Er-innerung an das Original breitet. Zwischen sei-ner Mutterstadt und der Neugründung schwan-kend, gerät dem Migranten die Vorstellung von Stadt zu der eines Schiffes. Indra KagisMcEwen, der ich diese Überlegung verdanke,betont in ihrem Essay über die Anfänge der Ar-chitektur („Socrates’ Ancestor“), dass die Grie-

chen zunächst Seefahrer waren und dann erstihre Zitadellen bauten. Deshalb ist die neu ge-gründete Stadt entweder Ende oder Zwischen-station einer Reise.Die Kolonisten belegen den Raum mit Namen,die auf das Zuhause von ehedem verweisen(denken wir doch nur an die Ortsnamen in denVereinigten Staaten, die aus dem ganzen Kon-tinent so etwas wie eine Fälschung machen,eine holographische Sammlung aus Versatz-stücken, von den europäischen Siedlern in dieNeue Welt mitgebracht, oder denken wir, wasmir näher liegt, an das rumänische Dobruja,das, von Leuten aus Transsilvanien kolonisiert,seinen Namen von dort bezog). Diese Orte ver-breiten Nostalgie oder bewahren, zumindestinnerhalb der ersten Generation, den origina-len „topos“. Der Ort, an dem sie ihr Herdfeuererneut entzünden, steht für die Migranten im-mer in Konkurrenz zu der verlorenen Heimatund hat wenig Chancen, diesen Wettbewerb zu gewinnen. Ordnen im Sinne von Heideggerbedeutet deshalb die „Terraformation“ einesfremden Ortes nach dem Muster und im Na-men des alten, und in dem neuen Raum wer-den Heimat (Habitation) und Fremde (Dishabi-tation) in ständiger Spannung bleiben, wennsie nicht gar in Konflikt geraten. In einer Stu-die von Alina Mungiu Pippidi habe ich gele-sen, dass während der Konflikte in Targu Mu-res die rumänischen Frauen aus dem benach-barten Dorf von den Ungarn verlangten, siesollten doch zurück nach Asien gehen, obwohlsie mit ihnen seit Hunderten von Jahren Seitean Seite gelebt hatten. Raum und Heimat – in Heideggers Gedanken-gebäude beinahe äquivalent – sind für die Kolonisten zwei ganz verschiedene Realitäten,sie existieren in ständiger Spannung, die sich,wenn eine neue Entwurzelung, gefolgt von ei-ner neuen Ansiedlung, stattfindet, am nächstenOrt wieder neu aufbaut. Gleichzeitig werdendie Kolonisten für die Ureinwohner immer dieFremden bleiben, auch wenn die Koexistenzschon lange andauert und die Anwesenheit derFremden eigentlich unstrittig ist.Der Status des Migranten dagegen lässt sicham besten mit den Definitionen aus „MillesPlateaus“ von Gilles Deleuze und Felix Guattarierläutern. Deren Konzept des „espace lisse“,(lisse heißt wörtlich übersetzt glatt, eben), desin sich gleich gestimmten, unartikulierten Fel-des, passt hier besser als Raum. Die Situation

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gung eine Rolle spielen. Obwohl Deleuze undGuattari ebenso wie Heidegger die Interpreta-tion von Raum als „spatium“ (als unendlichen,allgegenwärtigen und homogenen Raum) ab-lehnen, wird offensichtlich, dass ein durch Sta-bilität ausgezeichneter Raum, wie Heideggerihn als Vorstufe von Bewohnbarkeit formuliert,für die beiden anderen nicht mehr gültig ist.Edward S. Casey wiederum sieht einen Kon-flikt zwischen den beiden Arten, wie „spatium“interpretiert wird. Dieser Konflikt liegt mei-ner Ansicht nach in der Unterstellung, bei Hei-degger sei der Raum an sich stabil und per-manent, eine Unterstellung, die ich versuchthabe, etwas zu destabilisieren. Der „espacelisse“ von Deleuze ist ein mixtum compositumaus den Regionen, die wir durchmessen, undden Richtungen, die wir einschlagen, ein mix-tum compositum, das sich in einer permanen-ten dynamischen Unausgewogenheit befindetund also nicht voraussehbar ist. HeideggersRaum dagegen besteht aus zusammengesetz-ten Räumen, aus „Lichtungen“ und „Orten“(Lichtungen sind potentiell bebaubar, Orte sind die durch die Dinge „verstatteten“ Räume,mithin bebaute oder bebaubare Räume). Ver-bunden werden sie durch Heideggers „Holz-wege“, die, geschnitten durch den unwegsa-men Wald, ähnliche Eigenschaften aufweisenwie die Lichtung. Mit anderen Worten, der „espace lisse“ ist derweite Raum der Nomaden, die ihre instabileSituation nicht nur hinnehmen, sondern so-gar zelebrieren, bildet er doch ihr Migranten-dasein ab. Heideggers „Raum“ hingegen istetwas, wo der müde Migrant, der erschöpfteWanderer à la longue bereit ist, sich nieder-zulassen. „Raum“ ist der Endpunkt der Wege,die man innerhalb des „espace lisse“ durch-messen hat, das Ende der Pilgerreise, er spie-gelt den Entschluss wider, sie zu beenden undirgendwo sesshaft zu werden. Dennoch stecktin dem Begriff „Raum“, außer der ihm unter-stellten Stabilität, keine Aussage darüber, obder endgültige Lagerplatz, durch kollektive Anstrengungen modifiziert, besser noch: „com-modifiziert“, nicht doch irgendwann wiederaufgegeben wird.

Vom Raum zum GrundstückBegonnen haben wir mit der Lichtung, einerphysikalischen Gegebenheit, einem besonderenAngebot innerhalb des ansonsten indefiniten

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In eine solche vektorale Geographie von Inten-sitäten eingebunden sollten wir uns nicht dar-über wundern, wenn wir uns vor dem Ende der(bekannten) Welt fürchten, und noch viel we-niger darüber, dass bestimmte Landkarten sichum den Ort zentrieren, aus welchem die Per-son stammt, die sie gezeichnet hat, oder aberum einen Ort, der für eine bestimmte Kulturdie Mitte (der Welt) bedeutet. Die phänomenologische Perspektive des Rau-mes dreht sich um das Subjekt, das Raum er-fährt. Wenn wir Raum auf diese Weise definie-ren, kommen wir der zweiten Raumkategorievon Deleuze und Guattari, dem „espace strié“(wörtlich: gekerbt, gestreift, gerillt), schonsehr nahe. Was diesen Raum kennzeichnet, istseine Einteilung in bestimmte Zonen, ist dieFestschreibung dieser Zonen, sind die Verbin-dungen zwischen ihnen, sind Grenzen, die ei-nerseits einfassen und andererseits dazu auf-fordern, sie zu überschreiten. Darüber hinausgibt es Wände, die weiter gliedern, gibt es um-schlossene Räume, gibt es Wege zwischen ih-nen. Mit Grenzen sind jedoch bei Deleuze eherStaatsgrenzen gemeint, sie markieren den be-sonderen Status des „artikulierten Raumes“und haben deshalb einen ganz anderen Sinnals den, den Heidegger ihnen zuordnet, wenner sagt, „die Grenze ist nicht das, wobei etwasaufhört, sondern, wie die Griechen es erkann-ten, die Grenze ist jenes, von woher etwas seinWesen beginnt“.

„Espace lisse“ ist der Raum der NomadenIn den Zwischenräumen zwischen den Staatenliegen die Fluchträume der Nomaden, dereralso, die ohne festen Wohnsitz leben, die un-behaust sind. Der „espace lisse“ (der „glatteRaum“) hat keine Grenzen, außer denen, dieihm von anderer Seite, das heißt vom „espacestrié“ (dem „gekerbten Raum“), also von arti-kulierten, abgegrenzten Räumen zugewiesenwerden. „Im gekerbten Raum werden Linienund Bahnen tendenziell Punkten untergeord-net. . . . Im glatten Raum ist es umgekehrt: diePunkte sind der Bahn untergeordnet.“ Dasheißt, der „espace lisse“ (er ist absolut und lo-kal) befindet sich im Irgendwo zwischen denverschiedenen „espaces striés“ (die relativ undglobal sind). Der „espace lisse“ und der „es-pace strié“ sind einander nicht in dem Maßeentgegengesetzt wie global und lokal, weil beidem einen das Globale immer noch relativ ist,

bei dem anderen das Lokale hingegen abso-lut. Die Wüste als der von Deleuze bevorzugte„espace lisse“ macht jegliche Orientierung an-hand von Festpunkten unmöglich, sie ist dasBeispiel par excellence für den unartikuliertenRaum. Die steten Veränderungen innerhalbsolcher formloser Territorien, die Verformungder Dünen von einem Augenblick zum ande-ren, die unvorhersehbaren Formationen derWellen auf der Oberfläche des Meeres (eine an-dere von ihm bevorzugte Metapher) oder dieleeren polaren Eiswüsten (der „Eskimo-Raum“),das heißt alle Orte, denen jegliche Wegmar-ken fehlen, verwirren anscheinend den Orien-tierungssinn. Und doch gibt es Möglichkeiten, sich inner-halb der weiten, unbezeichneten Migrations-räume zu orientieren. Edward. S. Casey, dermit seinen Studien über Landschaftsmalereiund Kartographie der Fährte von Deleuze undGuattari folgt, erklärt wieso: Es ist eine Rich-tung vorgegeben, und die wird im gleichenMaße gefühlt wie gesehen. Irgendwie scheinenDeleuze und Guattari in ihre Definition vonRaum all das zu integrieren, was für Heideg-ger zu der Materialität der Dinge gehört, mitdenen sie auf unsere Sinne wirken: „Das Far-bige, Tönende, Harte, das Massige ist das Stoff-liche der Dinge.“ Da eine Orientierung durchtopographische Festpunkte (das heißt mit Hilfeder Augen) im „espace lisse“ ein verzweifeltesUnterfangen ist, müssen die anderen Sinne,vor allem Hören und Tasten, der Orientierungbeistehen. Nuancen von Veränderung werdenzu Orientierungsmerkmalen, manchmal kön-nen sie sogar das, was das Auge sieht, widerle-gen. Unter solchen Umständen basiert die Ori-entierung auf einer fein erfühlten Topologie,die sich nicht nach Festpunkten oder Objek-ten richtet, sondern nach dem individuellen,gefühlten Sein, das Relationen nachspürt, obdem Wind, dem Schnee, den Sanddünen, demSingen des Sandes, dem Krachen brechendenEises . . . Deleuzes „espace lisse“ ist nicht be-grenzt, nicht irgendwo herausgeschnitten unddadurch isoliert, er ist im Gegenteil ein flüs-siger, kontinuierlicher, durch wenig Abwechs-lung gekennzeichneter Raum mit Wegen, diewieder verwehen. Eine weitere wichtige Unterscheidung scheintin der Art zu liegen, welcher Akzent auf dieErkundung von Raum gelegt wird, wie sehr da-bei der Körper oder die körperliche Anstren-

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einem Ort herrscht“) visualisiert und verständ-lich macht.Im existentiellen Raum können wir uns orien-tieren, denn der konkrete Raum hat Zentren,Richtungen und Rhythmus, er hat Charakter.Für Christian Norberg-Schulz haben alle OrteCharakter („ein Ort ist ein Raum mit einem be-stimmten eigenen Charakter“), er versteht sieals Gegebenheiten, die, in der Summe, Weltausmachen. Der Charakter des Ortes ist nuneinerseits eine Funktion der Zeit, denn er än-dert sich mit den Jahreszeiten, dem Wetter,ändert sich durch Helligkeit und Dunkel, Tagund Nacht, andrerseits liegt unter allen die-sen Schwankungen ein Gemeinsames, in demalle Begebenheiten, alle Formen der Manifes-tation dieses Ortes aufgehoben sind. Wenn wirdie Merkmale aller Bauwerke zusammenfas-sen wollten, könnten wir sie auf zwei Fragenzusammendrängen: Wie steht das Bauwerk aufdem Grund, und wie erhebt es sich gen Him-mel? Der Charakter wäre dann der Geist desOrtes, der, wenn er durch Bauten verstärktwird, den Genius Loci in der nächsthöheren In-stanz widerspiegelt. Warum höhere Instanz?Weil, so Norberg-Schulz, der Charakter davonabhängt, wie die Dinge sich zeigen. Der techni-sche Fortschritt bleibt deshalb nicht ohne Ein-fluss. In anderen Worten: Orte, wie die Natursie uns anbietet, haben die Möglichkeit, zu Orten mit Charakter zu werden, wenn durchvernünftiges Bauen ihre Kraftlinien freigelegtoder nachgezeichnet werden. Hier gerät Nor-berg-Schulz, einmal mehr, in die Nähe zu Hei-degger, auf jeden Fall beim Thema Technik,wenn er, ähnlich wie Heidegger, Technik mitdem griechischen „techne“ assoziiert. „Dies be-deutet“, schreibt Heidegger, „für die Griechenweder Kunst noch Handwerk, sondern: etwasals dieses oder jenes in Erscheinung treten zulassen“, was für die alten Griechen eine krea-tive Form der Wahrheitsfindung war und zur„poiesis“ gehörte – dem Machen der Dinge –und was, laut Norberg-Schulz, für das Bauenhieß, eine Relation zwischen den elementarenGrundregeln der Konstruktion und einer derAufgabe entsprechenden Form zu finden. „DerCharakter jedoch ist abhängig davon, wie dieDinge gemacht sind“, schreibt er in seiner Ein-führung. Christian Norberg-Schulz weist einer Theorie(oder Ontologie) des Bauens folgende Grund-sätze zu:

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Territoriums, und kommen nun, über die Zwi-schenstation „Raum“, zum Grundstück/Bau-land, das dazu bestimmt ist, einem Haus alsOrt und Grund zu dienen. Die Entwicklungs-linie, von der ich eingangs sprach, wird nun angereichert durch individuelle (körperliche)und kollektive (soziale) Handlungen, die die-sen Ort erst zu einem bebaubaren Grundstückwerden lassen. Die Nivellierung seiner geo-graphischen Gegebenheiten geschieht nachden am jeweiligen Ort geltenden Regeln, diedas Potential der Lichtung als einen Ort, dergeschützt und deshalb bewohnt werden kann,unterstreichen.Hier nun wird die Differenz zwischen Heideg-ger und Deleuze/Guattari überdeutlich. Hei-deggers Interesse gilt dem „Raum“ als einemmöglichen Ort, der unter bestimmten Bedin-gungen in Besitz genommen werden kann, derdurch seine Zugänglichkeit und seine innereGeometrie eine gewisse Ordnung erfahren hat.Das Grundstück ist nicht länger eine Lichtung,das heißt, seine wesentlichen Eigenschaftenliegen nun nicht mehr ausschließlich darin,dass es sich aus dem umgebenden indefinitenRaum (sei es der Wald, sei es, allgemeiner aus-gedrückt, das Chaos) herausschält. Was nundas Grundstück als einen Ort auszeichnet, derbesiedelt und am Ende bewohnt werden soll,sind folgende Eigenschaften:(1) Es hat eine Grenze, und es ist in sich ge-ordnet in Bezug auf diese Grenze. Die Grenzeschafft einen eklatanten Widerspruch zwi-schen Innen und Außen, zwischen intra undextra muros.(2) Es ist von Nachbarschaften umgeben. Fürdiejenigen, die sich hier niederlassen, weilman sich hier niederlassen kann, ist eines derwichtigsten Dinge zu wissen, dass sie Nach-barn haben und Nachbarn werden, dass sierundum geschützt sind und in Frieden lebenkönnen. „Das althochdeutsche Wort für bauen,buan, bedeutet wohnen“, schreibt Heidegger.„Eine verdeckte Spur hat sich noch in demWort Nachbar erhalten. Der Nachbar ist der‚Nachgebur oder Nachgebauer‘, derjenige, derin der Nähe wohnt.“(3) Durch die Verbreitung von Orten und Nach-barschaften, das heißt durch die Ausweitungdes Konzepts von Nähe, durch angelegte Stra-ßen und Wege, wird das Territorium durch im-mer größere Agglomerationen von Nachbar-schaften beansprucht, die den Wald (also das

Indefinite, Wilde, Unbekannte, sprich: dasChaos) verdrängen.Welche Art von Konzept entwickelt nun dieArchitekturtheorie aus der Lichtung, die sichzum „Raum“ verdichtet und später zum Grund-stück verfestigt? Im Werk solcher inspirier-ten Phänomenologen wie Christian Norberg-Schulz und Kenneth Frampton nimmt der Ortinnerhalb der Philosophie vom Bauen eine zen-trale Stellung ein. Die Gegebenheiten des Or-tes/Grundstücks, von denen Kenneth Framp-ton in seinem berühmten Aufsatz „Critical Re-gionalism“ von 1982 spricht, sind nicht dazuda, zwangsweise in eine andere Ordnung über-führt oder ihr gar unterworfen zu werden (esgeht also nicht darum, dass das Grundstückalles mit sich machen lässt, zum Beispiel, dassein hügeliges Grundstück die Nivellierung seiner Höhenlinien sozusagen wie von selbstnahe legt). Dieses Beispiel benutzt KennethFrampton, um zu illustrieren, wie taub Archi-tekten demgegenüber sein können, was dasGrundstück ihnen zuflüstert. Ihm geht es, imGegenteil, um eine zugewandte Interpretation,um eine Optimierung dessen, was das Grund-stück an natürlichen Gegebenheiten anbietet,selbst wenn diese Gegebenheiten möglicher-weise ambivalent sind und in die eine oder an-dere Richtung interpretiert werden können.Kenneth Frampton hätte es in seinem Beispielbesser gefunden, man hätte die Höhenunter-schiede des Geländes belassen und sie durchgeradlinige Zeilen hervorgehoben.Noch viel wichtiger zu diesem Thema schei-nen mir die Argumente von Christian Norberg-Schulz zu sein, der eine Reihe von Bücherneinzig dem Thema des Genius Loci gewidmethat und eigentlich nie etwas anderes im Sinnhatte, als der Identität des Ortes das Wort zureden. Für ihn mündet jedwede Diskussionüber Raum in das Verhältnis zwischen demMenschen und seiner Behausung, das heißt inden „existentiellen Halt“ des Menschen. ImWeiteren werde ich mich nur auf eines seinerBücher beziehen, und zwar auf das, das 1982unter dem Titel „Genius Loci – Landschaft, Le-bensraum, Baukunst“ auf Deutsch erschien.Für Norberg-Schulz ist „Raum“ nur die Voraus-setzung für gebauten Raum und Architekturdie dreidimensionale Nachzeichnung der Ele-mente, die den Ort definieren. Die Architekturmaterialisiert den „existentiellen Raum“, in-dem sie den „Genius Loci“ („den Geist, der an

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Page 5: Augustin Ioan Heidegger hat keinen Raum in ... · Augustin Ioan Heidegger hat keinen Raum in postkommunistischen Städten Ich will im Folgenden versuchen, ob ich, wenn ich Heideggers

zwischen den guten und den bösen Geisterndes Ortes zu unterscheiden haben, dass wirdie Fähigkeit haben müssen, einen stummenOrt zum Sprechen zu bringen, vor allem aberauch die Fähigkeit, Dämonen in gute Geisterzurückzuverwandeln.Norberg-Schulz beschäftigt sich auch mit derStabilitas Loci, die mit dem Genius Loci engverbunden ist. Wenn man im Geiste eines Or-tes baut, heißt das nicht, es sei unabdingbar,die gleichen Funktionen und die gleichen bau-lichen Gesten ad infinitum zu wiederholen.Außerdem kann ein Ort, der nur auf eine ein-zige Funktion hin ausgerichtet ist, schnell un-brauchbar werden, das heißt, der Mantel desOrtes muss weit genug sein, um, in einem be-stimmten Rahmen natürlich, verschiedeneFunktionen zu bergen. Hier beginnen die Probleme. Wie viele Inter-pretationen hält ein Ort aus? Welche Maßnah-men können die Kapazität des Ortes entspre-chend erweitern? Was kann derjenige, der hierstabilisierend eingreift, tun, um die guten Geis-ter nicht zu verscheuchen? Alles läuft auf eineethische Haltung hinaus, der sich derjenige,der hier bauen will, verpflichtet fühlen muss.Und hat denn nicht auch der Ort eine Art meta-physische Pflicht, sich auf sich selbst zurück-zubesinnen und sich zu heilen?Um diese persönliche Auslegung der Theorievon Norberg-Schulz im Zusammenhang mitHeideggers Vorstellung von „Raum“ abzuschlie-ßen, möchte ich sagen, dass der Genius Locieines Ortes als geschichtliche Folge gesehenwerden muss und dass die verschiedenen Aus-legungen (seines ursprünglichen Wesens, daserhalten bleiben muss), die den Genius Lociimmer wieder neu visualisieren, jeweils ihreBerechtigung haben. Geschichte besteht in der Widerstandsfähigkeit eines Ortes, der sehrwohl wechselnde Gesichter haben kann; Ge-schichte besteht aus den Phasen der Selbstver-wirklichung des Ortes. Für Norberg-Schulz istder Genius Loci eine gegebene, man könntesogar sagen, einmalige Erfahrung. Für Archi-tekten ist er ein Ziel. Sie wollen die Welt an-hand der ihr immanenten Eigenschaften struk-turieren, sie wollen und sollen aus diesen Eigenschaften Kapital schlagen und werdenversuchen, sie dennoch zu bewahren. Und siedürfen, da bin ich mit Norberg-Schulz einig,diese Eigenschaften niemals verletzen, auslö-schen oder in ihr Gegenteil verkehren.

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(1) Orte sind eigentlich nur interessant alsmögliches Bauland.(2) Charakter, obwohl allen Orten eigen, selbstdem einfachsten, wo das Haus nur noch Schutzbedeutet, wird manifest in der Gestik des Ge-bauten, die ihn aus der Unbestimmtheit er-löst, in der gleichen Weise, in der Michelan-gelo seine Skulpturen aus dem Marmorblockerlöste, der sie gefangen hielt.(3) Charakter, wie er durch Gebäude illuminiertwird, entsteht einerseits durch das „Spiel derFormen unter dem Licht“ (Le Corbusier), ent-steht andrerseits durch den prägenden Zusam-menhalt der Massen in der Vertikalen.(4) Charakter, der auf Vorhandenes eingeht,ob auf einem unbebauten oder einem schonbebauten Gelände, kann– sichtbar gemacht werden, indem er die na-türliche Situation überhöht, wenn es sich umein unbebautes Grundstück handelt, – bewahrt werden, wenn es sich um die Er-gänzung eines schon bebauten Grundstückshandelt,– akzentuiert werden, wenn die bisherigenBauten dazu zu schwach sind,– im Extremfall überzogen werden und einneues Symbol erzeugen, das dann einen ande-ren Charakter hervorbringt.

Vom Geist des Raums zur Bürde des RaumsWenn einem Ort die Identität, der ihm eigeneCharakter genommen werden soll, wenn er be-freit, entleert, oder, um das griechische Wortzu benutzen, „ou-topos“ werden soll, so ist dasnur möglich, wenn sein Charakter umgestülptoder durch etwas Neues ersetzt wird. Die Rolledes Architekten, wie Norberg-Schulz sie sieht,wäre aber die eines Menschen, der genau zu-hört, was der Ort ihm zu sagen hat und derdessen Vorgaben behält oder ihnen, noch bes-ser, zum Munde redet und der keinesfalls miteinem anderen Charakter daherkommt, dener dem Ort aufzwingt.Ich habe versucht, diesen Gedankengang vonNorberg-Schulz hin und her zu wägen und bin zu folgenden Überlegungen gekommen: Esgibt Orte, in denen durch Abriss und Wieder-aufbau die Präexistenz des Ortes endgültig zer-stört wurde. Solche Orte haben ihren gutenGeist verloren, ihr Genius Loci zeigt sich nichtmehr. Für die Bewohner von Bukarest ist derArsenal-Hügel ein solches Beispiel, weil dessenBebauung komplett abgerissen wurde, um den

Palast des Volkes darauf zu setzen, der nun,mit seiner massiven Präsenz im Herzen derStadt, den entleerten Hügel irgendwie, für dasAuge zumindest, wieder auferstehen lässt. Einanderes Beispiel gibt die Stadt Tulcea her, einOrt mit mediterraner Architektur, wo langeSäulenkolonnaden im Stadtzentrum einst denkleinen Läden Schatten boten. Sie wurden zer-stört und durch Wohnblocks ersetzt, mit ho-hen Pfeilergängen im Erdgeschoss, die an diezerstörten Säulenkolonnaden erinnern sollen.Warum aber glaubte man, den Geist des Ortes,der einst manifest war, in einer derart perver-sen, unbeholfenen Art noch einmal beschwö-ren zu müssen? Andererseits gibt es Orte, an denen verschie-dene Charaktere nebeneinander existiertenoder einander gewaltsam ablösten. Ergebnis:Die Entdeckung eines einzigen Genius Loci istunmöglich. Das sprechendste Beispiel in die-sem Fall ist wahrscheinlich der Victoriei Bou-levard in Bukarest, wo die übereinander liegen-den Schichten ein wahres Palimpsest von Ein-trägen und Auslöschungen erzeugt haben, wodie Überbleibsel willkürlicher Eingriffe undneuer Überschreibungen noch immer daraufharren, in einen gemeinsamen Text integriertzu werden. Solche Orte sind ebenso vieldeutigwie hoch belastet. Für solche Situationen hältNorberg-Schulz keine Antworten bereit. Wiealso soll der Architekt sich verhalten, welcheder Einzelformen soll er aus der verwirrendenVielfalt auswählen, um das Verlorengegangeneerneut zu beleben, welchen Stempel soll erdem Vorhandenen aufdrücken, was berechtigtihn zu dieser oder jener Entscheidung?Denn es gibt eben auch die ausgesprochen ne-gativen Geister, die ich in Anlehnung an Chris-tian Norberg-Schulz die „Dämonen des Ortes“nennen möchte, die keine Ruhe geben, die, imGegenteil, bedrängen, bedrücken und auch dieguten Geister im Umkreis verscheuchen kön-nen. Bukarests Boulevard zum Sieg des Sozia-lismus zeigt sich dafür als eklatantes Beispiel,denn wenn man ihn von weither sieht, liegt erwie eine Bedrohung über den benachbartenStadtteilen, die er noch nicht verschlungen hat:über dem Patriarchenhügel, über Hannu luiManuc, der Herberge mit dem großartigen In-nenhof aus dem 17. Jahrhundert, die alle Zerstö-rungsaktionen Ceausescus überdauert hat, undüber dem historischen Stadtkern südlich derDambovita. Das heißt doch nun aber, dass wir

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