2500 jahre energie aus wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene antrieb wurde bis ins 18....

35
2500 Jahre Energie aus Wasser 1 2500 Jahre Energie aus Wasser Mathias Döring Die Gewinnung von Energie aus Wasser geht – von Ausnahmen abgesehen – auf das- selbe Prinzip zurück: man leitet Wasser auf ein Rad, versetzt dieses in Rotation und nutzt die mechanische Energie als Antrieb. Das gilt für die Wasserräder, aber auch für Turbinen, die keine Neuerfindung, sondern eine Weiterentwicklung der Radtechnik sind. Trotzdem stellten sie wegen ihrer überragenden Bedeutung für die moderne Ener- gieerzeugung und ihrer unübertroffenen Energieausnutzung eine eigene Kategorie dar. Nur zweimal gelangen in der Geschichte der Wasserenergienutzung wirkliche Innovati- onen: 1747 die mit dem Zylinder-Kolben-Prinzip arbeitende Wassersäulenmaschine und 1796 der mit dem Impulsprinzip arbeitende Hydraulische Widder. Beide Technologien blieben auf spezielle Einsatzbereiche beschränkt. Damit sind vier große, sich überla- gernde Entwicklungen zu unterscheiden: Wasserräder (nach dem 5. Jh. BC bis heute) Wassersäulenmaschinen (1747 bis 1958) Hydraulischer Widder (1796 bis heute) Turbinen (1827 bis heute) 1 Rotationsprinzip I: Wasserräder Wann die Idee entstand, Energie mit Hilfe eines Wasserrades zu erzeugen oder mit einem Schöpfrad Wasser zu heben, ist nicht bekannt. Zwar wurde im alten Orient Was- ser für die Landwirtschaft aus den Flüssen entnommen, doch scheint dies ausschließlich per Hand erfolgt zu sein. Für ein Wasserheberad, etwa zur Bewässerung der legendären hängenden Gärten der Semiramis in Babylon (erbaut vermutlich unter Nebukad- nezar II., 605–562), gibt es keinen Nachweis [BAGG 2001]. Der findet sich erst beim römischen Geographen STRABON (um 63 BC–um 23 AD), wonach König Mithi- dates VI. von Pontos/Kleinasien (132–63 BC) bei seinem Palast in Kabira eine Was- sermühle bauen ließ [XII, 3, 30]. Da STRABON nicht auf Einzelheiten eingeht, scheint das Wasserrad allgemein bekannt und bereits länger in Gebrauch gewesen zu sein. Technische Details nennt VITRUV (um 84 BC–um 0) in seinem 10. Buch über Architek- tur [X 5]. 1.1 Stockräder Die in Stock-, Vertikal-, Turbinen- oder türkischen Mühlen arbeitenden Wasserräder sind Schnellläufer mit geringem Wasserbedarf, an deren vertikaler Welle das Werkzeug

Upload: doanlien

Post on 01-Aug-2018

223 views

Category:

Documents


1 download

TRANSCRIPT

Page 1: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 1

2500 Jahre Energie aus Wasser

Mathias Döring

Die Gewinnung von Energie aus Wasser geht – von Ausnahmen abgesehen – auf das-selbe Prinzip zurück: man leitet Wasser auf ein Rad, versetzt dieses in Rotation und nutzt die mechanische Energie als Antrieb. Das gilt für die Wasserräder, aber auch für Turbinen, die keine Neuerfindung, sondern eine Weiterentwicklung der Radtechnik sind. Trotzdem stellten sie wegen ihrer überragenden Bedeutung für die moderne Ener-gieerzeugung und ihrer unübertroffenen Energieausnutzung eine eigene Kategorie dar. Nur zweimal gelangen in der Geschichte der Wasserenergienutzung wirkliche Innovati-onen: 1747 die mit dem Zylinder-Kolben-Prinzip arbeitende Wassersäulenmaschine und 1796 der mit dem Impulsprinzip arbeitende Hydraulische Widder. Beide Technologien blieben auf spezielle Einsatzbereiche beschränkt. Damit sind vier große, sich überla-gernde Entwicklungen zu unterscheiden:

Wasserräder (nach dem 5. Jh. BC bis heute)

Wassersäulenmaschinen (1747 bis 1958)

Hydraulischer Widder (1796 bis heute)

Turbinen (1827 bis heute)

1 Rotationsprinzip I: Wasserräder Wann die Idee entstand, Energie mit Hilfe eines Wasserrades zu erzeugen oder mit einem Schöpfrad Wasser zu heben, ist nicht bekannt. Zwar wurde im alten Orient Was-ser für die Landwirtschaft aus den Flüssen entnommen, doch scheint dies ausschließlich per Hand erfolgt zu sein. Für ein Wasserheberad, etwa zur Bewässerung der legendären hängenden Gärten der Semiramis in Babylon (erbaut vermutlich unter Nebukad-nezar II., 605–562), gibt es keinen Nachweis [BAGG 2001]. Der findet sich erst beim römischen Geographen STRABON (um 63 BC–um 23 AD), wonach König Mithi-dates VI. von Pontos/Kleinasien (132–63 BC) bei seinem Palast in Kabira eine Was-sermühle bauen ließ [XII, 3, 30]. Da STRABON nicht auf Einzelheiten eingeht, scheint das Wasserrad allgemein bekannt und bereits länger in Gebrauch gewesen zu sein. Technische Details nennt VITRUV (um 84 BC–um 0) in seinem 10. Buch über Architek-tur [X 5].

1.1 Stockräder

Die in Stock-, Vertikal-, Turbinen- oder türkischen Mühlen arbeitenden Wasserräder sind Schnellläufer mit geringem Wasserbedarf, an deren vertikaler Welle das Werkzeug

Page 2: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2 M. Döring

– meist ein Mühlstein – ohne Getriebe fest gekoppelt ist. Drehzahl und Leistung können nur durch die Regulierung des Zuflusses gesteuert werden, die Mahlfeinheit durch einen Hebel, mit dem der Abstand der Mühlsteine eingestellt wird. Abgesehen von Sonder-formen, die sich flächendeckend nicht durchsetzten, werden drei Grundtypen unter-schieden, von denen die beiden erstgenannten noch im Mittelmeerraum arbeiten:

Die orientalische Schussrinnen-Mühle (chute-mill), bei der das Wasser durch eine unter 30–45° geneigte Rinne mit Düse auf das Rad trifft (Abb. 1). Moderne Pel-tonturbinen gehen auf eine spezielle Bauweise dieses Typs, das Südtiroler Löffelrad, zurück.

Die für geringe Zuflüsse ausgelegte, seit dem 4. Jh. AD [Röder 1993] bekannte Aruba(h)-Mühle mit vertikalem oder steil geneigtem, selten mehr als 10 m hohem Druckschacht, Düse und speziellem Laufrad. ‚Aruba’ bedeutet im Hebräischen ‚Schornstein’ oder ‚Schacht’ (Abb. 2).

Der später ‚Helix-Turbine’ genannte, erstmals um 300 AD in Chemtou/Tunesien nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad am Boden eines runden Schachtes, in den das Wasser durch einen vertikalen Schlitz in ganzer Höhe tangential eingeleitet wur-de. Wie in einem Wirbelfallschacht bildete sich eine Rotationsströmung, die alle Schaufeln des Rades gleichzeitig beaufschlagte (Abb. 3). Die Bauart fand sich um und nach der Zeitenwende im Maghreb und iberischen Raum. Die Ähnlichkeit mit einer Francis-Schachtturbine ist unübersehbar.

Abb. 1: Schussrinnen-Mühle. System und Mühle bei Cevliç (Türkei)

Page 3: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 3

Abb. 2: Aruba-Mühle. System und Mühle im Wâdî eš-Šellâle (Jordanien)

Abb. 3: Helix-Turbine in Basacle bei Toulouse [nach Belidor 1737/Röder 1993]

Page 4: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

4 M. Döring

Leistung und Wirkungsgrad der Stockräder sind neben dem Zufluss maßgeblich vom Durchmesser des Rades und der Form der Schaufeln abhängig. Im einfachsten Fall handelte es sich um axial an der Welle befestigte Bretter, auf die der Wasserstrahl unter 45° auftraf (Abb. 4). Weil oft nur wenig Wasser zur Verfügung stand, bemühte man sich um eine bessere Ausnutzung und befestigte die Schaufeln unter 20 bis 45° zur Welle. Eine weitere Verbesserung war das ‚Aruba’-Rad, bei dem die Bretter halbscha-lenartig ausgehöhlt waren, um zusätzlich den Rückprall des Wassers nutzen zu können. Trotzdem dürfte der Wirkungsgrad der Stockmühlen 20 % kaum überschritten haben [Kreiner 2000].

Der Technologie-Transfer im Römischen Reich und die arabische Expansion sorgten dafür, dass Stockräder bis in die Neuzeit im gesamten Mittelmeer- und Alpenraum zu finden waren. Örtliche Verhältnisse, Wasserdargebot und die Handwerkskunst der Mühlenbauer sorgten für verbesserte Wasserrad-Typen wie das Südtiroler Löffelrad (Abb. 20), das Eischoller Rad (Wallis, Schweiz) und andere.

Um auch größere Fallhöhen nutzten zu können, ordnete man mehrere Mühlen so über-einander an, dass ein Rad das Wasser an das nächste weitergab. Solche ‚Mühlen-Kaskaden’ finden sich z. B. bei Göteborg/Schweden, wo im 18. Jh. mehr als 40 Mühlen in zwei parallelen Reihen arbeiteten, bei S. Luc im schweizerischen Wallis (7 Mühlen in Reihe) oder am Steilhang des Tell Shihab im Süden Syriens, wo bis in die 2. Hälfte des 20. Jhs. mehrere der 14 Mühlen in Betrieb waren (Abb. 5, 6).

Abb. 4: Laufräder von Stockmühlen. 1: Urform, 2: Rad mit schrägen Schaufeln, 3: Aruba-Rad [nach

JÜTTEMANN 1990]

Page 5: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 5

Weil in Mitteleuropa ein reicheres Wasserangebot zur Verfügung stand, konnte sich das Stockrad gegenüber dem leistungsfähigeren und variabler einsetzbaren Horizontalrad nicht durchsetzen. Einzig das Löffelrad überdauerte als Urform der Freistrahlturbine [SCHNITTER 1989].

Abb. 5: 14 Mühlen mit 37 Mahlgängen am Tell Shihab (Dara’a/Syrien, Mühle A3 s. Abb. 5), [nach

SCHNITZER]

Abb. 6: Tell Shihab/Syrien: Aruba-Mühle A3 mit 3 Mahlwerken am Tell Shihab. Gut sichtbar sind die drei

Druckschächte.

1.2 Horizontalräder

Im Gegensatz zu Stockrädern sind Horizontalräder Langsamläufer. Der größere Rad-durchmesser bei gleichzeitig höherem Zufluss ermöglichte ein größeres Drehmoment, wodurch die Horizontalräder wesentlich universeller einsetzbar waren. Denn bei den

Page 6: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

6 M. Döring

meisten vorindustriellen Maschinen wie Holz- und Steinsägen, in Walkereien, Papier-mühlen oder in der Montanindustrie kam es weniger auf hohe Drehzahlen als auf kraft-volle Antriebe an. So z. B. für antike Steinsägen, mit denen dünne Marmorplatten für die Wandverkleidung repräsentativer Gebäude hergestellt wurden (Abb. 7). Es gab Modelle mit einem (Typ Gerasa/Jordanien) und zwei Sägeblättern (Typ Hierapo-lis/Türkei), die wie beim Gatter horizontal bewegt wurden.

Abb. 7: Sägespuren auf der Rückseite einer antiken Marmorplatte (Laodicea/Türkei)

Für den Antrieb von schnell laufenden Maschinen und Mühlen benötigten Horizontal-räder ein Übersetzungsgetriebe, das sich seit dem Altertum kaum verändert hat. Ein großes, auf der Radwelle sitzendes Kammrad treibt ein kleines, auf der vertikalen Mahlwelle sitzendes Zahnrad an (Abb. 8).

Abb. 8: Horizontalmühle. Rekonstruktion [nach VITRUV/NEUBURGER 1919, pp 97]

Page 7: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 7

Auch Horizontalmühlen wurden gern in Serie angeordnet, um ein den Raddurchmesser übersteigendes Energiepotential nutzen zu können. So z. B. die römischen Mühlen von Barbegal bei Arles (Abb. 9). Die vermutlich um 110 AD erbaute und bis ins frühe 4. Jh. genutzte Anlage besteht aus zwei parallelen Kaskaden von je 8 Mühlen mit Rad, zwi-schen den Mühlengebäuden eine Treppe für die Bedienung. Täglich konnten rd. 4–6 t Getreide gemahlen werden. Das Wasser lieferte ein 10 km langer Aquädukt.

Abb. 9: Römische Mühlen von Barbegal/Arles [nach HEIMANN/DREWES/LEVEAU 1993]

Schöpfräder, die bis in die Neuzeit zu Hunderten an den Flüssen zwischen Spanien und Persien zu finden waren, werden in der Art unterschlächtiger Wasserräder von der Strömungskraft des Flusses angetrieben und dienten der Bewässerung. Die Kammern für den Wassertransport sind in den Radkranz integriert (Abb. 10), füllen sich selbsttätig beim Eintauchen und geben das Wasser am höchsten Punkt an den Bewässerungskanal ab. Der Durchmesser der „Norias“ von 20 m und mehr ergibt sich aus der Höhendiffe-renz zwischen Fluss und Fruchtland. Am Orontes in Syrien arbeiteten bis in osmanische Zeit z. B. mehr als 250 Norias. Davon waren 2010 in Hama noch 12 bis zu 25 m große Räder, teils museal, in Betrieb.

Page 8: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

8 M. Döring

Abb. 10: Schöpfräder in Hama am Orontes/Syrien. Oben: Räder für zwei Hubhöhen. Unten: Wasser-

kammern im Radkranz

1.3 Energie aus Wasser in Mittelalter und früher Neuzeit

Am Ende der Antike war das Wasserrad aus Mitteleuropa, abgesehen von vereinzelten Anlagen in Norditalien und Frankreich, weitgehend verschwunden. Erneut zum Einsatz kam es ab dem 11. Jh. Vielleicht waren es aus dem Orient zurückgekehrte Kreuzfahrer, die die großen Schöpfräder der Levante gesehen hatten, vielleicht auch die Zisterzien-ser, die bei der Neulandgewinnung für ihre Renaissance sorgten. Jedenfalls arbeiteten Wasserräder im hohen Mittelalter bereits in ganz Europa. Um 1800 sollen zwischen Atlantik und Ural mehr als 500 000 Wasserräder in Betrieb gewesen sein, davon in Deutschland allein mehr als 30 000 [Berthel 1993; Paulinyi/Troitzsch 1997].

Page 9: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 9

Besondere Bedeutung erlangten im späten Mittelalter, als die Ernährung der Bevölke-rung immer schwieriger wurde und jede noch so magere Wiese genutzt werden musste, Schöpfräder für die Bewässerung (Abb. 11), die in ähnlicher Bauart auch zur Versor-gung von Städten eingesetzt werden konnten. So bauten 1294 Lübeck, 1340 Ulm, 1352 Hannover, 1380 Breslau und 1394 Bremen von unterschlächtigen Wasserrädern ange-triebene ‚Wasserkünste’ für die Trink- und Brauchwasserversorgung.

Abb. 11: Schöpfräder an der Pegnitz bei Möhrendorf/Franken

Auch Schiffsmühlen gehen auf die Antike zurück (Abb. 12). Der byzantinische Autor Prokop berichtet, dass die Mühlen des stadtrömischen Aquädukts aqua Traiana, der während der Belagerung durch die Ostgoten (537 AD) unterbrochen worden war, auf im Tiber verankerte Schiffe verlegt wurden, um die Versorgung der Stadt mit Mehl zu sichern. Auch dieser Mühlentyp wurde eine Erfolgsgeschichte. So arbeiteten um 1500 allein auf der Elbe 532 Schiffsmühlen und an den Donau-Nebenflüssen, insbesondere der Theiss, waren sie bis weit ins 20. Jh. in Betrieb. Die letzte Schiffsmühle Deutsch-lands wurde um 1900 in Ginsheim am Rhein stillgelegt.

Abb. 12: Schiffsmühle (Nachbau) in Minden/Weser

Page 10: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

10 M. Döring

Das Meer konnten nur bei entsprechend großem Tidehub für die Energieerzeugung mit Wasser-

rädern genutzt werden. So in der Bretagne westlich des modernen Gezeitenkraftwerks S. Malo,

wo dieser 7 bis 13 m beträgt. Dort arbeiteten im 19. Jh. mehr als 120 Gezeitenmühlen (Abb. 13).

Das Mühlengebäude war meist in einen Damm eingebaut, der eine kleine Bucht der zerklüfteten

Küste absperrte. Die älteren Mühlen arbeiteten ausschließlich bei ablaufendem, jüngere mit

zwei gegenläufigen Wasserrädern bei auf- und ablaufendem Wasser.

Abb. 13: Gezeitenmühlen in der Bretagne [nach BOITHIAS/VERNHE]

1.4 Pumpwerke der frühen Neuzeit

Wegbereiter einer leistungsstarken Wasserrad- und Pumpentechnik wurde ab dem frü-hen 16. Jh. der Bergbau. Das war vor allem der Kurbelwelle zu verdanken, die wesent-lich zuverlässiger arbeitete als die bis dahin üblichen Nockenwellen. Mit der neuen Technologie war es möglich, auch hochgelegene Städte und Burgen zu versorgen, die bis dahin auf Tiefbrunnen angewiesen waren. Auffällig ist die Häufung früher Pump-werke in Hessen (Tab. 1), was nach einer Überlieferung auf eine im Kloster Fulda auf-bewahrte Vitruv-Ausgabe zurückzuführen gewesen sein soll, in der die Kolbenpumpe beschrieben wird [X 5 (3)]. Wahrscheinlicher ist die Nähe zur Montanindustrie des Siegerlandes, wo 1455 erstmals Druckrohre aus Eisen hergestellt wurden [Döring 2005]. Als einziges dieser Pumpwerke ist das in Landau/Waldeck bis heute mit der originalen Ausstattung betriebsbereit (Abb. 14).

Page 11: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 11

Tab. 1: Frühneuzeitliche Pumpwerke in Hessen (nach HOFFMANN 1988).

Ort Inbetriebnahme Förderhöhe (m)

Ort Inbetriebnahme Förderhöhe (m)

Fritzlar/Eder vor 1400 60 Marburg/Lahn 1572 115 Grünberg 1419, neu 1560 55 Altwildungen 1580 90 Frankenberg/Eder 1502 55 Braunfels/Lahn vor 1616 105 Landau/Waldeck 1535 60 Trendelburg/Diemel vor 1618 55 Weilburg/Lahn 1555 60 Urach/Schwäb. Alb 1715 160

Abb. 14: Das seit 1535 betriebene Pumpwerk in Landau/Waldeck

Die größte Wasserradanlage Europas arbeitete ab 1685 in Marly an der Seine zur Ver-sorgung des Schlossparks von Versailles. 14 unterschlächtige Räder mit 12 m Durch-messer trieben eine vierstufige Wasserhebeanlage mit 259 Pumpen an. Störungsfrei gearbeitet hat die Anlage offenbar selten, konnte dann aber etwa 3200 m³ Wasser pro Stunde (900 l/s) 155 m hoch fördern [CHRISTIANY 2012].

Eine Meisterleistung der Hydrotechnik ist die 32,7 km lange Soleleitung von Reichen-hall zur neuen Saline Traunstein/Bayern mit ihren Pumpwerken [Kurtz 1978]. Erforder-lich wurde die Leitung, weil im Einzugsgebiet der Saalach nicht mehr genug Holz für die Salzsiederei zur Verfügung stand. Die Anlage, 1617–1619 von Vater und Sohn Reiffenstuel erbaut, musste vor Inzell 255 m Anstieg überwinden (Abb. 15), wozu 7 Pumpstationen mit Kolbenpumpen erforderlich waren, angetrieben von oberschlächti-gen Wasserrädern. Nach 173 Jahren, in denen etwa 7 Mio. m³ (90 bis 130 m³ täglich) gefördert worden waren, ersetzte man die Wasserräder nach und nach durch die leis-tungsstärkeren Wassersäulenmaschinen (s. 2.1).

Page 12: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

12 M. Döring

Abb. 15: Soleleitung Reichenhall-Traunstein [Nach STALLER 1995, pp 124]

1.5 Literatur zu Abschnitt 1

BAGG, A. (2001): Wasserhebevorrichtungen im Alten Mesopotamien. Wasser & Boden H. 6, pp 40-47.

BÉLIDOR, B.F. (1737): Architecture hydraulique. Paris.

BERTHEL, H. (1993): Wasser im Mittelalter. WWT, Teil 1: 3, pp 41-44, Teil 2: 4, pp 42-44, Teil 3: 5, pp 39-43, Teil 4: 6, pp 46-49, Teil 5: 7, pp 38-41, Teil 6: 8, pp 39-42.

BOITHIAS, J. L., VERNHE, A. (1989): Les moulins a mer et les anciens meuniers du litto-ral. Créer.

CHRISTIANY, J. (2012), Der Canal de l’Eure – Ein unvollendetes Werk. Deutsche Was-serhistorische Gesellschaft DWhG 20.1, pp 343-362.

DÖRING, M. (2005), Weilburg und sein Wasser – Die Wasserversorgung der barocken Residenz im 18. und 19. Jahrhundert. DWhG, Bd. S1.

HEIMANN, S., DREWES, U., LEVEAU, P. (1993): Abflussberechnungen für die römischen Aquädukte der Stadt Arles und der Mühlen von Barbegal. WW 9, pp 490-493.

HOFFMANN, A. (1988): Frühe Trinkwasser-Pumpwerke in Hessen. Wasser & Boden 4, pp 203-206.

JÜTTEMANN, H. (1990), Die Stockmühlen von Apriach in Kärnten. Der Mühlstein 2/1990, pp 21-23.

KREINER, R. (2000): Mühlen mit horizontalen Wasserrädern: Zu Geschichte und Ver-breitung der Turbinenmühle. Frontinus-Schriften 24, pp 135-157.

KURTZ, H. (1978): Die Soleleitung von Reichenhall nach Traunstein 1617-1619. Deut-sches Museum, Abhandlungen & Berichte 1/2.

Page 13: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 13

NEUBURGER, A. (1919): Die Technik des Altertums. Leipzig.

PAULINYI, A., TROITZSCH, U. (1997): Mechanisierung und Maschinisierung 1600-1840. In: Propyläen Technikgeschichte, Bd. 3, pp 33-41.

RÖDER, J. und G. (1993): Die antike Turbinenmühle in Chemtou. In: RAKOB, F. Simit-thus 1. pp. 95-102.

SCHNITTER, N. (1989): Mittelalterliche Wasserkraftnutzung in der Schweiz. Wasser, Energie, Luft 4/5, pp 81-89.

SCHNITZER, V. (etwa 2001): Tell Shihab Water Mills. Unveröffentlichter Forschungsbe-richt.

STALLER, W. (1995): Hanns und Simon Reiffenstuel, Leben und Werk. Jb. des Hist. Vereins f. d. Chiemgau.

2 Zylinder-Kolben-Prinzip: die Wassersäulenmaschine Die Erfindung der Wassersäulenmaschine war die erste grundlegende Innovation seit der Erfindung des Wasserrads. Ihre Konstruktion setzte exakte Metallbearbeitung, für den Dauerbetrieb geeignete Dichtungen, eine automatische Steuerung und Druckrohre voraus (Abb. 16). Während bei oberschlächtigen Wasserrädern die nutzbare potentielle Energie dem Raddurchmesser entsprach, konnten nun Druckhöhen von einigen hundert Metern in einer Stufe genutzt werden. Die Maschinen waren Langsamläufer mit 4 bis 12 Takten pro Minute. Sie eigneten sich daher besonders für den Antrieb träger Systeme wir Kolbenpumpen und Fördermaschinen im Bergbau.

Abb. 16: Prinzip der Wassersäulenmaschine

Die Idee, in dieser Form Energie zu gewinnen, wurde 1624 in Frankreich erstmals er-folgreich umgesetzt. 1737 beschrieb Bélidor in seiner „Architecture hydraulique“ die dortige Maschine, die beim Heben von Wasser arbeitete. Die ersten im Dauerbetrieb brauchbaren Wassersäulenmaschinen gehen auf Georg Winterschmidt in Clausthal/Harz

Page 14: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

14 M. Döring

zurück, der 1747 einen Prototyp und wenige Jahre später 14 weitere Maschinen im Oberharzer Bergbau einsetzte. Wegen ihrer kompakten Bauweise und dem günstigen Verhältnis von Betriebs- zu Pumpwasser (4:1) waren sie den traditionellen Wasserrä-dern (18:1) zwar überlegen. Wegen der vielen Betriebsstörungen, die auf die kompli-zierte Mechanik, Dichtungsprobleme und Druckstöße zurückzuführen waren, bewährten sie sich jedoch zunächst noch nicht. Die letzte Maschine der ersten Generation (Abb. 18) arbeitete bis 1808 im Bergbau von Schemnitz (heute Banska Stiavnica, Slo-wakei).

Für eine Renaissance sorgte gegen Ende des 18. Jhs. Georg von Reichenbach in Bayern mit technisch wesentlich verbesserten Einzylindermaschinen, mit denen er 1792 bis 1810 die Wasserräder der seit 1619 betriebenen Soleleitung Reichenhall-Traunstein ersetzte. Die Maschinen arbeiteten ohne nennenswerte Reparaturen bis 1958. Sein Meisterstück lieferte Reichenbach 1817 mit einer Hochdruckmaschine an der Solelei-tung Berchtesgaden-Reichenhall, die bei 106 m Antriebsdruck Salzsole 359 m hoch förderte und dafür – infolge der höheren Dichte der gesättigten Sole – etwa 40 bar Druck aufbaute (Abb. 17). Damit war nach 2000 Jahren der bis dahin geltende Weltre-kord für Druckleitungen von 20 bar überboten, gehalten von der in der 1. Hälfte des 2. Jhs. BC aus Bleirohren gebauten Madradag-Wasserleitung in Pergamon.

Abb. 17: Die Wassersäulenmaschine an der Soleleitung Berchtesgaden-Reichenhall in Illsank.

Oben: Pumpenhaus. Unten: Hydraulisches System

Page 15: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 15

Abb. 18: Entwicklung der Wassersäulenmaschinen

Mit der Stilllegung der Reichenhaller Maschinen (1958) erlosch die Wassersäulentech-nik. Erhalten sind im Salzbergwerk Berchtesgaden die Maschine von Illsank, im Pum-penhaus Mauthäusel bei Inzell die dortige Maschine am originalen Standort, ein Exemplar in der ‚Reichen Zeche’ in Freiberg und – schwer zugänglich ebenfalls am originalen Ort – die Brendel’sche Maschine in der ‚Mordgrube’, ebenfalls in Freiberg.

Page 16: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

16 M. Döring

Eine Fortentwicklung der Wassersäulentechnik für kleine Leistungen ist der ab 1870 in Zürich gebaute Schmidt’sche Wassermotor, eingesetzt meist für die Trinkwasserförde-rung hoch gelegener Ortschaften und Einzelhäuser. Eine betriebsbereite Anlage für eine Förderhöhe von 230 m arbeitet in Rothenburg im Odenwald.

2.1 Literatur zu Abschnitt 2

BÉLIDOR, B.F. (1737): Architecture hydraulique. Paris.

DÖRING, M. (2012): Energieerzeugung über und unter Tage – Die Reichenbach-Jordan’schen Wassersäulenmaschinen. DWhG 19, pp 39-59.

FREYMANN, K. (1995): Georg von Reichenbach und seine Solepumpen. In: Salz macht Geschichte. Augsburg, pp 165-171.

VAN DYCK, W. (1912): Georg von Reichenbach. Dt. Museum München.

WAGENBRETH, O. (1990), Bergbau im Erzgebirge, Technische Denkmale und Geschich-te. Leipzig.

3 Impuls-Prinzip: Hydraulischer Widder Einer der Hauptstörfaktoren bei der frühen Wassersäulentechnik war der Druckstoß beim Betätigen der Ventile und beim Lastwechsel des Arbeitskolbens. Diese Impuls-kraft wird beim Hydraulischen Widder gezielt eingesetzt. Erfunden wurde die Maschine 1796 von den Gebrüdern Montgolfier, den Erfindern des Heißluftballons, die in ihrer Patentschrift schrieben, beim Schließen eines Ventils trete eine Kraft wie der ‚Stoß eines Widders’ auf. Die Energiemaschine wird vor allem im ländlichen Raum der Ent-wicklungs- und Schwellenländer eingesetzt. In Deutschland arbeiten noch etwa 20 Widder für die lokale Wasserversorgung. So am Schloss Hohenzollern (Hechingen), in Vielbrunn und Rothenberg im Odenwald oder im Oytal bei Oberstdorf.

Zu Beginn eines Arbeitszyklus’ (Abb. 19) ist das Ventil V1 geöffnet, das Antriebswas-ser Q strömt unter Beschleunigung ins Freie. Die wachsende Fließgeschwindigkeit führt zu einem Unterdruck, wodurch Ventil V1 abrupt schließt. Der so induzierte Druckstoß, der höher als die zu fördernde Wassersäule sein muss, öffnet Ventil V2, Wasser strömt kurzzeitig in den Windkessel und komprimiert die Luft. Die Impulsenergie des Druck-stoßes ist damit abgebaut, V2 schließt und V1 öffnet infolge des Druckabfalls. Die Dekompression der Luft drückt die Fördermenge q in den Hochbehälter. Mit dem Ab-fluss durch V1 beginnt der nächste, weniger als eine Sekunde dauernde Zyklus. Der beste Wirkungsgrad von bis zu 80 % wird bei einem Verhältnis H : h = 1 : 5 und Q : q = 10 : 1 erzielt.

Page 17: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 17

Abb. 19: Hydraulischer Widder. Oben: Wirkungsweise. Unten: Modelle für Triebwassermengen von

2 bis 700 l/min. (Foto: Pfister & Langhanss, Nürnberg)

3.1 Literatur zu Abschnitt 3

LORENZ, H. (1910): Theorie des Hydraulischen Widders. VDL-Zeitschrift H. 1, pp 88-90.

MÖNNINGHOFF, H. (1980): Der Hydraulische Widder. gwf-wasser/abwasser 121,/1, pp 32-34.

Page 18: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

18 M. Döring

4 Rotationsprinzip II: Turbinen Der früheste Entwurf einer turbinenähnlichen Energiemaschine findet sich bei Leonardo da Vinci (1452-1519) – zu früh für die damaligen technischen Möglichkeiten. Erste theoretische Überlegungen stellte Leonhard Euler 1755 auf der Basis der hydromecha-nischen Thesen D. Bernoullis (1730 ff) an. Zur praktischen Ausführung kam es nicht. Diese gelang erst B. Fourneyron (1802-1867), der 1827 in Anlehnung an die Seg-ner’schen Experimente mit dem Reaktionsprinzip einen Prototyp für 1,40 m Fallhöhe entwarf. Seine zweite, 1834 gebaute Maschine war bereits praxistauglich. Sie wurde in einem Textilbetrieb in St. Blasien/Schwarzwald eingesetzt und leistete bei 108 m Fall-höhe 30 kW.

Nach mehreren Entwicklungsstufen, vor allem von Henschel (1837), entwickelte J. B. Francis 1846 die nach ihm benannte Turbine mit radial von außen nach innen zu- und axial ausströmendem Wasser. Fast ausschließlich im erzgebirgischen Bergbau ein-gesetzte Maschinen sind die von Fr. Wilhelm Schwamkrug aus dem Fourneyron-Typ entwickelten und nach ihm benannten Turbinen [WAGENBRETH 1990, pp 59 ff].

Ein anderer Entwicklungsstrang geht auf die südtiroler Löffelräder, Stockräder mit halbkugelförmigen Schaufeln, zurück (Abb. 20). L. A. Pelton unterteilte 1880 die Halb-kugeln durch eine Mittelscheide in zwei ovale Hälften. Dadurch wurde der zurückpral-lende Wasserstrahl seitlich ausgeworfen und wirkte nicht mehr bremsend auf den Ar-beitsstrahl. Der so aktivierte Rückstoß verdoppelte nahezu den Wirkungsgrad. Die axial durchströmte, 1915 von V. Kaplan entwickelte Turbine ist das jüngste Basismodell der modernen Turbinentechnik.

Die ersten für die Stromerzeugung eingesetzten Wasserkraftwerke arbeiten ab 1876 in Schloss Linderhof/Bayern, 1879 in St. Moritz/Schweiz und 1890 [MOSONYI 1956]. Die weitere Entwicklung der Turbinen- und Kraftwerkstechnik ist allgemein bekannt, so-dass auf ihre Wiedergabe verzichtet werden kann.

Abb. 20: Südtiroler Löffelrad (Foto: Dt. Museum) und Pelton-Laufrad im Kraftwerk Nendaz der Grd.

Dixence (Schweiz)

Page 19: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 19

Die Vielfalt der Energiegewinnung aus Wasser wird nachstehend am Beispiel der Ober-harzer Wasserwirtschaft gezeigt, wo (mit Ausnahme des hydraulischen Widders) vom Wasserrad bis zum modernen Kavernenkraftwerk alle oben beschriebenen Energiema-schinen eingesetzt wurden.

4.1 Literatur zu Abschnitt 4

ESCHER, R. (1921): Die Theorie der Wasserturbinen. Berlin.

KACZYNSKI, J. (1991): Stauanlagen – Wasserkraftanlagen. Düsseldorf.

MOSONYI, E. (1956): Wasserkraftwerke. Budapest.

REDTENBACHER, F. (1860): Theorie und Bau der Turbinen, Mannheim.

WAGENBRETH, O. (1990), Bergbau im Erzgebirge, Technische Denkmale und Geschich-te. Leipzig.

5 Weltkulturerbe Oberharzer Wasserwirtschaft Das Welterbekomitee der UNESCO hat am 1. August 2010 in Brasilia die Oberharzer Wasserwirtschaft zum Weltkulturerbe erklärt. Zum 8. Mal erhielt damit eine wasserbau-liche Anlage diese Auszeichnung. Neben den Bewässerungssystemen von Schuschtar (Iran), Aflaj (Oman) und Dujianyang (China), dem römischen Aquädukt Pont du Gard, dem Canal du Midi (beide Frankreich), dem barocken Aquädukt von Caserta (Italien) und den Schiffshebewerken am Canal du Centre (Belgien) verfügt nun auch Deutsch-land über ein anerkanntes wasserbauliches Denkmal von internationaler Bedeutung und weltweiter Einzigartigkeit (Tab. 2). Erstmals wurde damit auch eine historische Einrich-tung zur Energieerzeugung aus Wasser in den Rang eines Weltkulturerbes erhoben [TEICKE/DÖRING 2011].

Tab. 2: Die Oberharzer Wasserwirtschaft im Vergleich.

Bergbaurevier Oberharz Freiberg

(Sachsen) Kongsberg (Norwegen)

Banska Stiavnica (Slowakei)

Bauzeit 1520 - 1949 1524 - 1882 1660 - 1957 17.-19. Jh.

Gräben und Stollen (km) 500 135 50 130

Teiche (Anzahl) 143 18 65 59

davon bis heute angestaut 63 15 16 23

Der oft verwendete Begriff Oberharzer ‚Wasserregal’ bezeichnet nicht die baulichen Anlagen, sondern das vom Landesherrn verliehene Recht (Regal = Regel), sich das für den Betrieb der Montanindustrie erforderliche Wasser zu beschaffen und zu nutzen. Die

Page 20: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

20 M. Döring

Begriffe ‚Wasserwirtschaft’ und ‚Wasserregal’ werden heute gleichwertig nebeneinan-der benutzt.

5.1 Übersicht

Spätestens seit dem 13. Jh. ging im Oberharz Bergbau auf Blei und Silber um [BARTELS 1992]. Ein Problem war von Anfang an das den Gruben zusickernde Bergwasser, das anfangs von ‚Wasserknechten’ mit Ledereimern auf Leitern (‚Fahrten’) zu Tage getra-gen wurde. Mit zunehmender Tiefe der Gruben, Mitte des 16. Jhs. bereits über 100 m, war die Wasserhaltung nur noch mit Pumpen möglich, die von oberschlächtigen Was-serrädern angetrieben wurden.

Das Antriebswasser leiteten die Bergleute aus den kleinen Bächen der Harzhochfläche herbei. Weil deren Abfluss, vor allem im Winter, nicht ausreichte, baute man mehr als 140 Teiche und bis zu 15 km lange ober- und unterirdische Sammelgräben, die den Oberharz bis zum Brockengebiet durchziehen. Das Ergebnis waren horizontal und ver-tikal vernetzte Graben-, Teich- und Stollensysteme (Abb. 21, 22), die zwischen 1770 und 1870 ihren größten Umfang erreichten [SCHMIDT 1989]. War eine Grube erschöpft, dann wurden deren Gräben aufgegeben, Teichdämme komplett abgetragen und das Material anderswo wieder aufgeschüttet. Die in Tab. 2 genannten Anlagen waren also zu keiner Zeit insgesamt in Betrieb.

Der Bergbau in St. Andreasberg wurde 1908, in Clausthal 1930 und in Bad Grund 1992 eingestellt. Als 1980 auch die beiden Kavernenkraftwerke in Clausthal (Tab. 4) abge-schaltet wurden, waren noch etwa 70 km Gräben und 63 Teiche betriebsbereit. Diese wasserwirtschaftlichen Anlagen, inzwischen Baudenkmal, wurden am 1.4.1991 den landeseigenen Harzwasserwerken (HWW, seit Nov. 1996 GmbH) mit dem Auftrag übertragen, den Erhalte des Denkmals sicher zu stellen. Zu diesem Zweck wurde 1991/2 in Clausthal ein Betriebshof eingerichtet, der mit eigenem Personal und Etat ausgestattet ist.

Die meisten der bereits weit vor 1900 stillgelegten Gräben und Teiche bilden das ‚pas-sive’, die 1980 noch funktionstüchtigen Anlagen das ‚aktive’ Denkmal, das weiterhin in diesem Zustand erhalten wird. Weltkulturerbe ist die Gesamtheit aller passiven und aktiven Systeme einschließlich der bis zu 30 km langen Entwässerungsstollen, der Ka-vernen für Wasserräder und Turbinen sowie der Schifffahrtskanal für Erztransporte 360 m unter Tage.

Page 21: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 21

Abb. 21: Gräben, Wasserläufe und Teiche um Clausthal-Zellerfeld [Grafik: HWW]

Abb. 22: Teichkaskade bei Clausthal, bis 1980 Speicher für das Kraftwerk ‚Wilhelm II’. Vorn die drei

Pfauenteiche (erbaut vor 1661), im Hintergrund der Hirschlerteich (1717)

Page 22: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

22 M. Döring

5.2 Gräben, Wasserläufe und Teiche

Das Bestreben der alten Bergleute war es, das Wasser auf möglichst hohem Niveau zu halten und möglichst wenig ungenutzt wegfließen zu lassen. So führte man Gräben oft kilometerweit am Hang hin und her, um z. B. ein weit entferntes Wasserrad versorgen zu können. Der Vertikalabstand der Gräben von 9 bis 12 m entsprach etwa dem Durch-messer der üblichen Wasserräder. Das Ergebnis waren parallele Grabenzüge, die man-che Täler des Oberharzes in bis zu 7 Etagen durchziehen. Zur Abkürzung von Gräben, zur Erleichterung des Winterdienstes (Abb. 23) oder zur Überwindung von Wasser-scheiden wurden etwa 30 bis zu 1 km lange Überleitungsstollen (‚Wasserläufe’) gebaut.

Abb. 23: Gräben: Links: Zellerfelder Kunstgraben. Die Bögen trugen im Winter eine Abdeckung aus

Fichtenstangen und –zweigen, um das Zufrieren zu verhindern (Foto: HWW). Rechts: Huttaler

Graben mit gemauertem Rechteckquerschnitt.

Bis auf den Oderteich mit seiner Staumauer haben alle Teiche Erddämme mit einer Dichtung aus Rasensoden (Abb. 24), die bis 1715 auf die Wasserseite aufgelegt wurden (‚Alte Bauweise’). Zum Schutz vor Mäusen und Eis verwendete man ab 1715 Kerndich-tungen aus dem gleichen Material (‚Neue Bauweise’) und baute viele ältere Teiche um.

Das Wasser wurde durch ein Rohr aus Baumstämmen (‚Striegelgerenne’) entnommen, verschließbar mit einem Konus aus Holz (Abb. 25). Dieser wurde mit einer Stange betätigt, die bei der alten Bauweise in einem im Wasser stehenden Gerüst (Abb. 26), ab 1715 in einen von Dichtungsmasse ummantelten Schacht in der Dammmitte unterge-bracht war. Am luftseitigen Dammfuß befand sich ein Gegenstau (‚Widerwaage’), um

Page 23: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 23

das Holzrohr dauerhaft feucht zu halten. So konnten einige Striegel aus dem 17. und 18. Jh. bis heute betriebsbereit erhalten werden.

Abb. 24: Oberharzer Staudämme. Oben: Bauweise mit Oberflächendichtung (bis 1715). Unten: Bauweise

mit Kerndichtung (ab 1715)

Page 24: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

24 M. Döring

Abb. 25: Hölzerner Grundablass (‚Striegel’)

Abb. 26: Striegelgerüst am Carler Teich (Clausthal)

Oderteich

Ein Unikat des frühneuzeitlichen Talsperrenbaus ist der 1715 bis 1721 erbaute Odert-eich mit 1,7 Mio. m³ Fassungsvermögen, bis ins späte 20. Jh. die größte Talsperre Deutschlands. Weil in den umliegenden Wäldern weder geeignetes Dammschüttmateri-al noch Rasensoden zu finden waren, entstand das 19 m hohe Bauwerk aus großen Gra-nitblöcken mit einer Kerndichtung aus gestampftem Granitsand (Abb. 27). Die äußerst robuste und dichte Konstruktion erforderte bis heute keine nennenswerten Reparaturen. Das Wasser gelangt durch den 7 km langen Rehberger Graben nach St Andreasberg, wo es bis 1908 die Wasserräder des Bergbaus und seitdem vier moderne Wasserkraftwerke treibt (s. 5.6).

Page 25: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 25

Abb. 27: Oderteich, Stausee (Foto HWW) und Mauerquerschnitt [nach Schmidt 1989]. 1, 2: Granitmau-

erwerk, 3: Dichtung, 4: Grundablasstunnel, 5: Striegel, 6: Striegelschacht, 7: Striegelgestänge,

8: Striegelhaus.

5.3 Wasserräder

In der ersten Bergbauperiode des 12. und 13. Jhs. wurde das Wasser zwar noch über-wiegend per Hand oder Haspel gehoben, in den größeren Gruben arbeiteten aber auch schon sog. Bulgen- und Heinzenkünste, die bereits von Wasserrädern angetrieben wur-den (Abb. 28). Mitte des 14. Jhs. folgte, ausgelöst durch klimatische Veränderungen und die Pest, ein Niedergang des Oberharzer Bergbaus, der erst im frühen 16. Jh. neu belebt wurde. Den Durchbruch zum neuzeitlichen Bergbau des 16. bis 19. Jhs. ermög-lichte die um 1540 von H. Eschenbach im sächsischen Zinnbergbau (wieder) erfundene antike Kurbelwelle und die um die gleiche Zeit reaktivierte Saug- und Druckpumpe aus Holz mit bis zu 10 m Förderhöhe. Etwa 10 Pumpen mit dazwischenliegenden offenen Becken konnten von einem ‚Kunstrad’ (Abb. 29) angetrieben werden und bildeten ins-gesamt eine ‚Pumpenkunst’. Damit war für Jahrhunderte das Problem der Wasserhal-tung tiefer Bergwerke gelöst (DÖRING 2003).

Für einen 500 m tiefen Schacht benötigte man so z. B. 5 Kunsträder und 50 bis 60 Pum-pen. Für den untersten Pumpensatz war ein rd. 500 m langes Gestänge, für den nächst-höheren 400 m usw. erforderlich. Um das Antriebswasser mehrfach nutzen zu können, wurden die Räder übereinander angeordnet. Dadurch befand sich z. B. das unterste von 5 Rädern in 60 m Tiefe. Für den Abfluss wurde in diesem Niveau ein ‚Lösungsstollen’ angesetzt, der in einem der benachbarten Täler zu Tage austrat. Ein Bergwerksschacht der damaligen Zeit musste so nicht nur Förderung und Leitern (‚Fahrten’), sondern auch eine Vielzahl auf- und abgehender Balkenwerke aufnehmen. Für die Förderung, bei der zum Heben und Senken der Erztonnen zwei Drehrichtungen erforderlich waren, kamen um 1550 ‚Kehrräder’ mit zwei gegenläufigen Schaufelkränzen auf, die direkt mit dem Haspel (‚Seilkorb’) gekoppelt waren (Abb. 29, 30).

Page 26: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

26 M. Döring

Abb. 28: Energieerzeugung und Wasserfördertechnik im Oberharzer Bergbau seit dem Mittelalter

Abb. 29: Kehrrad und Seilkorb um 1550. [nach AGRICOLA 1556]

Page 27: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 27

Abb. 30: Nachbauten von Wasserrädern (am Betriebshof der HWW in Clausthal). Links: 11,50 m großes

Kunstrad, rechts: 9 m großes Kehrrad mit Bremsrad und Seilkorb.

Wenn unmittelbar am Bergwerk kein Antriebswasser zur Verfügung stand, übertrug man die Energie vom Wasserrad zum Schacht mit bis zu 1,2 km langen, von Kurbeln angetriebenen, langsam hin und her gehenden Balken, den ‚Feldgestängen’. Für die Förderung wurde die Drehbewegung des Rades in Längsbewegung und diese am Schacht in die Rotation des Haspels zurückverwandelt. Die letzte dieser ‚Treibmaschi-nen’ arbeiteten bis 1924 an der Schwarzen Grube in Lautenthal, das letzte Kehrrad bis 1944 in der Roten Grube in Freiberg/Sachsen.

5.4 Wassersäulenmaschinen (WSM)

Georg Winterschmidt gelang es 1747 in Clausthal/Harz, die erste praxistaugliche und ein Jahr später 14 weitere Wassersäulenmaschine in Betrieb zu nehmen, die sich von 1748 bis 1766 trotz immer neuer Betriebsstörungen als Pumpenantriebe bewährten. Die Maschinen mussten schließlich wegen Wassermangels abgeschaltet werden. Trotz ihres geringen Wasserbedarfs wurden die Wassersäulenmaschinen im Harz zunächst nicht weiter entwickelt. Man blieb bei den traditionellen Wasserrädern.

Maschinenmeister J. Friedrich Mende in Freiberg (Sachsen) verbesserte die Oberharzer Technik, sodass von seinen vier 1771 in Betrieb genommenen Zwillingsmaschinen eine bis 1796 arbeitete. Allerdings führten wie schon im Harz der Verschleiß der ledernen Dichtungen, die Steuerungsmechanik mit ihren beweglichen Teilen und die Druckstöße

Page 28: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

28 M. Döring

beim Lastwechsel immer wieder zu Betriebsstörungen, was zur Folge hatte, dass auch der Sächsische Bergbau auf die Weiterentwicklung verzichtete.

Wieder aufgegriffen wurde die Wassersäulentechnik 1820 von Chr. Friedrich Brendel in Freiberg, der sich zwar noch an den Maschinen des 18. Jhs. orientierte, die Schwach-stellen jedoch durch bessere Materialien und exaktere Fertigung weitgehend ausschalten konnte. In die Technikgeschichte eingegangen ist seine 1824 in die ‚Mordgrube’ einge-baute Zweizylindermaschine, die bis 1899 arbeitete. Insgesamt wurden von 1826 bis 1913 im Sächsischen Bergbau 169 Brendel’sche Wassersäulenmaschinen eingesetzt [WEISBACH 1851; WAGENBRETH 1990, pp 53, 122 ff].

An der Wende zum 19. Jh. hatten die Oberharzer Gruben eine Teufe von über 250 m unter dem Niveau des 1799 fertig gestellten, 19 km langen ‚Tiefen Georg-Stollens’ erreicht, sodass sich die dezentrale Wasserhaltung mit Dutzenden von Kunsträdern in den teilweise baufälligen Schächten kaum noch aufrecht erhalten ließ. So entstand das Vorhaben, die Wasserhaltung mit Hilfe eines 6,5 km langen Sammelstollens an einer Stelle zu konzentrieren und dafür einen neuen Schacht, den ‚Silbersegen’ zu bauen (Abb. 31). Die Wasserförderung bis in den 102 m höheren ‚Tiefen Georg-Stollen’ sollte durch vier große Kunsträder und 36 Pumpen erfolgen.

Als während der mehrjährigen Diskussionen weitere Bergwerke an die neue ‚Wasser- strecke’ angeschlossen werden sollten, brachte der Maschinen-Inspektor J. C. Jordan die Wassersäulenmaschine ins Gespräch. Die Bedenken des Bergamtes, die auf die Störungsanfälligkeit der Winterschmidt’schen Maschinen zurückgingen, konnte Jordan mit Hinweis auf die verbesserte Maschinentechnik, die geringeren Kosten und die seit 30 Jahren erfolgreich arbeitenden Reichenbach’schen Maschinen in Bayern zerstreuen. Jordans Entwurf orientierte sich jedoch nicht an Reichenbach, sondern an den Balan-cier-Maschinen seines Lehrers Brendel in Freiberg [DÖRING 2012].

Das Bergamt bestimmte jedoch nicht Brendel, sondern Reichenbach zum Gutachter, der 1822 ein neues Konzept ohne Balancier auf der Basis seiner Maschine in Illsank präsen-tierte. Als Kompromiss entstanden 1830 und 1835 zwei Reichenbach’sche Einzylin-dermaschinen (Tab. 3), die mit einem von Jordan konzipierten hydraulischen Balancier arbeiteten. Dafür senkte er die Maschinen um 22 m unter den ‚Tiefen-Georg-Stollen’ ab, sodass der Gegendruck im Rücklaufrohr das Gewicht des Pumpengestänges kom-pensieren konnte (Abb. 31). Nach einigen Verbesserungen arbeiteten die Maschinen störungsfrei bis 1864, als die Tiefe Wasserstrecke als ‚Ernst-August-Stollen’ zu Tage durchgetrieben war.

Page 29: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 29

Abb. 31: Wasserhaltung im Schacht ‚Silbersegen’

Tab. 3: Die Wassersäulenmaschinen Silbersegen (A) und Königin Marie (B), technische Daten [Jordan

1837, Fickler 1878]

A B

Wasserbedarf l/min. 800 1600

Antriebsdruck m 176 368

Arbeitsdruck m 198 597

Förderhöhe der Pumpen m 102 233

Fördermenge l/min 890 1.900

Antriebskolbendurchmesser mm 400 310

Kolbenhub mm 1.750 625

Takt /min 4 12

Die Reichenbach-Jordan’schen Wassersäulenmaschinen sorgten im Harz dafür, dass Dampfmaschinen – auch wegen der hohen Kohlenpreise – nur eingeschränkt eingesetzt wurden. Ihren Abschluss fand die Wassersäulentechnik in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. mit den bis dahin leistungsstärksten Maschinen im Schacht ‚Königin Marie’ bei Clausthal, die 15 Kunsträder, 270 Pumpen und 10 000 lfdm. Gestänge ersetzten. Die

Page 30: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

30 M. Döring

beiden Aggregate arbeiteten mit fast 60 bar Arbeitsdruck und förderten 1,9 m³/min in einer Stufe 233 m hoch (Tab. 3). Die letzte Wassersäulenmaschine wurde im Oberharz 1923, die letzte weltweit 1958 an der Soleleitung Reichenhall-Traunstein stillgelegt, fast 200 Jahre nach Erfindung der Dampfmaschine [Döring 2012].

5.5 Schifffahrt und Fahrkunst

Die ‚Tiefe Wasserstrecke’ war nicht nur Entwässerungsstollen, sondern von 1835 bis um 1905 auch Schifffahrtskanal. Etwa 50 bis zu 9 m lange hölzerne Kähne transportier-ten das Erz in hölzernen Containern zu den Förderschächten. Die Kähne wurden in einer Werft unter Tage gebaut. Da sie keinen Motor hatten, mussten sie von je zwei Mann an einem an der Stollenfirste befestigten, 1834 von Oberbergrat Albert in Claust-hal erfundenen Drahtseil, per Hand vorangezogen werden (Abb. 32).

Abb. 32: Unterirdischer ‚Kanal’. Unter der Stollenfirste das ‚Antriebsseil’

Die langsame Auf- und Abwärtsbewegung der Wassersäulenmaschine eignete sich neben dem Antrieb von Pumpen auch für den Betrieb der 1833 in Clausthal erfundenen ‚Fahrkunst’. Dazu befestigte man anfangs auf den nebeneinander gegenläufig langsam auf und ab gehenden Pumpengestängen Trittbretter und Haltegriffe im Abstand der Pumpen-Hubhöhe, sodass die Bergleute nun ohne besonderen Kraftaufwand ein- und ausfahren konnten.

Wenige Jahre später entstanden vom Pumpengestänge unabhängige Fahrkünste, wofür auch das neue Albert’sche Drahtseil eingesetzt wurde. Im 800 m tiefen ‚Samson-schacht’ in St. Andreasberg wurde 1837 die erste Drahtseil-Fahrkunst eingebaut (Abb. 33). Die Bergleute mussten bis zur tiefsten Sohle 228 Mal umsteigen, wofür sie eine Stunde benötigten. Reibung und Gewicht waren durch Rollensysteme soweit redu-ziert, dass sechs Personen die Fahrkunst durch ihr Eigengewicht in Bewegung halten konnten. 50 Bergleute konnten gleichzeitig ein- oder ausfahren. Die Fahrkunst im

Page 31: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 31

‚Samson’ – mittlerweile die weltweit einzige ihrer Art – vermittelt heute den Zugang zu den Wasserkraftwerken ‚Grüner Hirsch’ und ‚Sieberstollen’ (s. 5.6).

Abb. 33: Fahrkunst im Samsonschacht in St. Andreasberg (Foto: Licht- und Kraftwerke Harz)

5.6 Kavernenkraftwerke im Bergbau

Die wichtigsten Voraussetzungen für den Betrieb unterirdischer Wasserkraftwerke als Nachnutzung des Bergbaus waren in Form der Schächte und Lösungsstollen bereits vorhanden. Zwischen 1898 und 1942 entstanden im Oberharz 6 mit Peltonturbinen ausgestattete Kraftwerke, von denen zwei bis heute Strom ins öffentliche Netz liefern (Tab. 4). Von 1914 bis 1972 arbeiteten auch im Freiberger Bergbau zwei Kavernen-kraftwerke, von denen das Werk ‚Dreibrüderschacht’ über einen unterirdischen Aus-gleichsspeicher von 1,5 Mio. m³ Inhalt verfügte [DÖRING 1993].

Page 32: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

32 M. Döring

Tab. 4: Kavernenkraftwerke in Oberharz und Freiberg.

Kraftwerk Turbinen Betrieb

von...bis

Fallhöhe

(m)

Durch-fluss

(l/s)

Leis-

tung

(kW)

Mittl.

MWh/Jahr

System Clausthal-Bad Grund

Wilhelm II (Clausthal) 6 Pelton 1898-1980 364 1686 4 556 16 000

Ottiliae (Clausthal) 2 Pelton 1942-1980 332 584 1 500 10 000

Meding(Clausthal) 2 Pelton 1902-1967 158 134 167 360

Hilfe Gottes (Bad Grund) 2 Pelton bis 1995 77 + 137 490 416 6 500

System St. Andreasberg

Grüner Hirsch (Andreasberg) 1 Pelton 1922-heute 141 400 450 3 083

Sieberstollen (Andreasberg) 1 Pelton 1912-heute 199 174 240 1 438

Summe Harz 7 329 37 381

System Freiberg

Constantin-Schacht 2 Pelton 1922-69 134 2381 2 280

13 300 Dreibrüder-Schacht 3 Pelton

1 Francis

1914-72

1922-69

124

3426

3 750

Summe Freiberg 6 030 13 300

System Clausthal-Bad Grund

Das leistungsstärkste Werk ‚Wilhelm II.’ in Clausthal erhielt Wasser aus dem 15 km langen Dammgraben, dem wichtigsten und wasserreichsten der Oberharzer Wasserwirt-schaft. Zufluss und Entnahme wurden in 6 Teichen ausgeglichen (Abb. 22). Die seit 1892 dort tätigen vier Wassersäulenmaschine für den Antrieb der Fahrkunst, der Blind-

Page 33: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 33

förderung, der Pumpen und der Kompressoranlage wurden nach und nach durch sechs Peltonturbinen ersetzt. Das Rücklaufwasser floss 11 km weit durch den Ernst-August-Stollen zu Tage ab (Abb. 34, 35). Auf dem gleichen Niveau arbeitete das Kraftwerk ‚Ottiliae’, das sein Wasser aus dem 12 km langen, doppelten ‚Rosenhöfer’ Grabenzug mit 12 Teichen erhielt. Das Wasser der Innerste nutzten die Werke ‚Hilfe Gottes’ und ‚Meding’ in Bad Grund, letzteres auf dem Niveau des 120 m über dem ‚Ernst-August-Stollen’ gelegenen ‚Tiefen-Georg-Stollens’.

Abb. 34: Kraftwerksystem Clausthal–Bad Grund

Abb. 35: Das 1980 stillgelegte Kraftwerk ‚Wilhelm II’.

Page 34: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

34 M. Döring

System St. Andreasberg

Die Förderung im ‚Samsonschacht’ wurde 1908 eingestellt. Wenige Jahre später ließ die Deutsche Baryth-Industrie aus Bad Lauterberg zwei Wasserkraftwerke übereinander in Höhe der beiden Entwässerungsstollen, dem 1,4 km langen Grünhirschler- und dem 3,1 km langen Sieberstollen einbauen, die den Schacht in 141 bzw. 199 m Tiefe errei-chen (Abb. 36). Die energetisch günstigere Gesamtnutzung auf dem unteren Niveau ließ sich wegen der Bedienung alter Wasserrechte am oberen Stollen nicht verwirkli-chen. Beide Kraftwerke speisen Strom ins öffentliche Netz. Den Zugang ermöglicht immer noch die Fahrkunst aus dem Jahr 1837. Das Wasser, mit dem auch die oberirdi-schen Kraftwerke ‚Grundstraße’ und ‚Teichtal’ betrieben werden, liefert der Oderteich aus dem frühen 18. Jh.

Abb. 36: Kraftwerkssystem St. Andreasberg

Abb. 37: Kraftwerk ‚Grüner Hirsch’

Page 35: 2500 Jahre Energie aus Wasser - iww.rwth-aachen.de€¦ · nachgewiesene Antrieb wurde bis ins 18. Jh. in Frankreich eingesetzt [Bélidor 1737; Röder 1993]. Dabei arbeitete das Laufrad

2500 Jahre Energie aus Wasser 35

5.7 Literatur zu Abschnitt 5

AGRICOLA, G. (1556), De re metallica libri XII. Basel (Div. Nachdrucke).

BARTELS, C. (1992): Vom frühneuzeitlichen Montangewerbe zur Bergbauindustrie. Erzbergbau im Oberharz 1635-1866, Bochum, ISBN 3-921533-53-8.

DÖRING, M. (1993): Unterirdische Wasserkraftwerke im Bergbau. WW 5, pp 272-278.

DÖRING, M. (1996): Die Wasserkraftwerke im Samsonschacht in St. Andreasberg/Harz. Wasserkraft und Energie 3, pp 24-34.

DÖRING, M. (2003): Montane Energiegewinnung aus Wasserkraft in Harz und Erzge-birge. DWhG 3, pp 21-46.

DÖRING, M. (2012): Energieerzeugung über und unter Tage – Die Reichenbach-Jordan’schen Wassersäulenmaschinen. DWhG 19, pp 39-59.

FICKLER (1878), Die Wassersäulenmaschine im Königin Marien-Schacht bei Clausthal. Zeitschrift für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen im Preussischen Staate XXVI, pp 233-239.

JORDAN, J. C. (1837): Beschreibung der Wassersäulen-Maschinen im Silberseegener Richtschacht bei Clausthal. In: Archiv für Mineralogie, Geognosie, Bergbau und Hüt-tenkunde X, pp 3-90.

SCHMIDT, M. (1989): Die Wasserwirtschaft des Oberharzer Bergbaues. Schriftenreihe der Frontinus-Ges. Bd. 13.

TEICKE, J., DÖRING, M. (2011): Die Oberharzer Wasserwirtschaft ist Weltkulturerbe. KW Teil 1: H. 1, pp 41-45; Teil 2: H. 2, pp 98-104.

WAGENBRETH, O. (1990), Bergbau im Erzgebirge, Technische Denkmale und Geschich-te. Leipzig.

WEISBACH, J. (1851/67): Lehrbuch der Ingenieur- und Maschinen-Mechanik. Braun-schweig.

Bildnachweis

Alle Fotos und Skizzen, sofern nicht anders vermerkt, vom Verfasser.

Anschrift des Verfassers

Prof. Dr.-Ing. Mathias Döring Wilhelm-Busch-Str. 8 D-31079 Adenstedt Email: [email protected]