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ORIENTIERUNGEN 134 ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK Europäische Bankenaufsicht Ordnungspolitische Positionen Armut und Reichtum in Deutschland Kuba Abkehr vom „tropischen“ Sozialismus? Wirtschaftsnobelpreis Der Ökonom als Ingenieur Postwachstumsökonomie Ein Zukunftsmodell? LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN Dezember 2012

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Page 1: ZUR WIRTSCHAFTS- UND …...Trotz der erheblichen Fortschritte, die in der Vergangenheit gemacht wurden, Europäische Bankenaufsicht Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik

ORIENTIERUNGEN

134ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK

Europäische BankenaufsichtOrdnungspolitische Positionen

Armut und Reichtumin Deutschland

KubaAbkehr vom „tropischen“ Sozialismus?

WirtschaftsnobelpreisDer Ökonom als Ingenieur

PostwachstumsökonomieEin Zukunftsmodell?

LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN

D e z e m b e r 2 012

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Ordnungspolitische Positionen � Europäische Bankenaufsicht

Thomas Hartmann-Wendels Notwendigkeit einer europäischen Bankenaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

Michael Kemmer Auf dem Weg zu einer europäischen Bankenaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . 6

Bert Van Roosebeke Bankenaufsicht bei der EZB: Doppelte Quadratur des Kreises . . . . . . . . 10

Europa und Deutschland �

Richard Reichel Neue Geldordnung statt europäischer Bankenunion:Ein Beitrag zu mehr Finanzstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Hans-Joachim Haß Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit für die Eurozone . . . . . 24

Peter Westerheide Jahresgutachten des Sachverständigenrates:„Stabile Architektur für Europa – Handlungsbedarf im Inland“ . . . . . . 30

Philip Plickert Armut und Reichtum in Deutschland:Das Elend des Sozialstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

InternationaleWirtschaftspolitik �

Andreas Freytag Ist die multilaterale Handelsordnung überholt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

Uwe Optenhögel Kuba auf der Suche nach einem eigenen Reformweg . . . . . . . . . . . . . . . 48

ÖkonomischeTheorie und Praxis �

Axel Ockenfels/ Menschen und Märkte:Achim Wambach Die Ökonomik als Ingenieurwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

Niko Paech Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

� Inhalt

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Editorial

1Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Retten hat Vorfahrt: Schwindel auf der Zeitachse

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble sehen sich im Erbe Konrad Adenauers. Nach den Verwüstungen der Nazi-Herr-schaft und des Zweiten Weltkriegs gab Adenauer das politische Ziel vor: „Eu-ropa muss geschaffen werden“. Gestützt auf die Idee „Europa“ wurde dieWirklichkeit „Europa“ auf den Weg gebracht. Und bis heute beschäftigt diepolit-ökonomische Wanderung auf diesem Weg die Bürger, die Politiker unddie Wissenschaftler. Von einer politischen Union allerdings ist keine Redemehr. Dafür aber von der Währungsunion unter dem monetären Dach desEuro. Es sind freilich – im Gegensatz zur frühen Freude am Versprechen „Eu-ropa“ – keine durchgängig von Begeisterung getragenen Reden, die gehal-ten werden. Und das ist – angesichts der aktuellen und der absehbaren öko-nomischen und politischen Qualität der Euro-Währungsunion – nochzurückhaltend formuliert.

Der – etwas pauschal sogenannte – Süden und mittlerweile auch Frankreichmüssten abwerten. Dann sähen die Bürger, wohin eine zukunftsvergesseneHaushaltspolitik führt. Da könnte ihnen der Wechselkurs Auskunft geben. ImKorsett des Euro kann ein Land oder eine Ländergruppe in der Eurozoneaber nicht abwerten. Der Kurs des Euro im Gefüge der Weltwirtschaft gilt füralle Mitglieder der Währungsunion. Daher: Die Retterei in der Eurozone hatdas „Bail-out“ – das Herauspauken überschuldeter Staaten – nicht zum hierund da praktizierten Rechtsverstoß degradiert, sondern – aus „europapoliti-scher Sicht“ – quasi zur Pflicht erhoben. Das Retten wird angeboten – unddamit zum Bestandteil des „guten“ Rechts der Eurozone erklärt. Da öffnetsich den Mitgliedstaaten eine ganz andere Welt als die vertragsrechtlich fi-xierte, mahnende Erklärung: „Wer fiskalisch über die Stränge schlägt, darfund kann nicht auf Hilfe hoffen. In der Währungsunion kommt die Hilfenicht aus der Nachbarschaft, sondern aus der Disziplin der je eigenen Haus-halts-, Steuer- und Lohnpolitik.“

Wer sich die Mühe macht, die mittlerweile erreichten Rettungssummen aufder Zeitachse der noch kurzen Geschichte des Euro abzutragen, der gewahrtein bedenklich stimmendes Anwachsen des Schwindels. Und zwar des Schwin-dels in zweifacher Bedeutung des Wortes: des Schwindels, mit dem die Poli-tik – nicht überall, aber doch hier und da – mittlerweile im Umgang mit dem„Retten“ hantiert; und des Schwindels, den der steuerzahlende Bürger ver-spürt, wenn er beim Lesen der neuesten Nachrichten einen Rechenschieberbraucht, um sich eine Vorstellung von den Summen zu machen, die da in derEurozone hin- und hergeschoben werden. Die Ratingagentur „Moody’s“ über-nimmt derweil die Funktion des außer Dienst gestellten Marktes: So wurdejetzt Frankreich herabgestuft. Das Land habe an Wettbewerbsfähigkeit ein-gebüßt. Das ist wohl so. Und man brauchte nicht Moodys, wenn die Franzo-sen ihren Franc noch hätten. Der würde ihnen täglich anzeigen, wie es um dieWettbewerbsstärke des Landes steht. Märkte kennen keinen Schwindel auf derZeitachse.

Hans D. Barbier

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Ordnungspolitische Positionen

2 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Notwendigkeit einereuropäischen BankenaufsichtProf. Dr. Thomas Hartmann-WendelsUniversität zu Köln

� Die Finanzkrise hat die Notwendigkeit einer international einheitlichenBankenaufsicht deutlich gemacht. In einer globalisierten Finanzwelt öffnet ei-ne rein national ausgerichtete Bankenaufsicht der Regulierungsarbitrage Türund Tor, da Regulierungsvorschriften durch das Ausweichen auf einen Stand-ort mit weniger strikter Aufsicht leicht umgangen werden können.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die Hypo Real Estate. Die Schieflage dieser Bankwurde maßgeblich durch die zur Hypo-Real-Estate-Gruppe gehörende in Ir-land ansässige Depfa ausgelöst. Die Hypo Real Estate war bewusst als eine Hol-ding gestaltet worden mit der Konsequenz, dass weder die Holding selbst nochdie zur Holding gehörenden im Ausland domizilierenden Banken der deut-schen Bankenaufsicht unterlagen. In alten Geschäftsberichten der Depfa istnachzulesen, warum der Sitz nach Irland verlegt wurde. Es ging darum, die imVergleich zum deutschen Pfandbriefgesetz großzügigeren Bestimmungen desirischen Pfandbriefgesetzes zu nutzen. Letztlich war es aber gerade das Aus-nutzen dieser großzügigeren Bestimmungen, das die Depfa und mit ihr die Hy-po Real Estate in Schwierigkeiten brachte.

Ein weiteres Beispiel waren die sogenannten Structured Investment Vehicles(SIV) bzw. Conduits, die einige Banken, unter anderem die IKB und die Sach-senLB, in Irland angesiedelt hatten. Die Schieflage dieser Zweckgesellschaftenriss die jeweilige Muttergesellschaft mit in den Abgrund. Ausschlaggebend fürdie Wahl des Standorts war wiederum die im Vergleich zu Deutschland wenigerrestriktive Handhabung der Bankenaufsicht durch die irischen Behörden.

Maßnahmen zur Harmonisierung der Bankenaufsicht

Eine internationale Angleichung der Bankenaufsicht wird seit vielen Jahrenverfolgt. Ziel des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht ist, in allen wichtigenIndustrienationen einheitliche Regulierungsstandards zu installieren. Inner-halb der Europäischen Union (EU) geht man bei der Umsetzung des Regel-werks „Basel III“ einen neuen Weg: Die künftigen Eigenkapitalvorschriften sol-len erstmals zu einem großen Teil als eine europäische Verordnung umgesetztwerden. Diese Verordnung wird unmittelbar in allen Ländern geltendes Auf-sichtsrecht, eine Umsetzung in nationales Recht ist nicht mehr notwendig. Da-mit entfallen alle nationalen Wahlrechte.

Auch in der Zusammenarbeit der nationalen Aufsichtsbehörden hat sich be-reits einiges getan: Für grenzüberschreitend tätige Banken wurden „Collegesof Supervisors“ gegründet, in denen nationale Aufsichtsbehörden zusammen-arbeiten und ihre Informationen und Einschätzungen austauschen. Die Ent-scheidungen über bankenaufsichtliche Maßnahmen liegen jedoch nach wievor bei den nationalen Aufsichtsbehörden. Die europäische Bankenaufsichts-behörde, die European Banking Authority (EBA), sowie die Vorgänger-Institu-tion CEBS (Community of European Banking Supervisors) haben Vorgabenfür eine einheitliche Umsetzung der Regulierungsvorschriften erarbeitet.Trotz der erheblichen Fortschritte, die in der Vergangenheit gemacht wurden,

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Europäische Bankenaufsicht

3Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

gibt es immer noch keine einheitliche europäische Bankenaufsicht. Dies sollkünftig anders werden.

Bis Ende dieses Jahres sollen die grundsätzlichen Rahmenbedingungen für ei-ne europäische Bankenaufsicht festgelegt werden. Elemente dieser Banken -union sind neben der europäischen Bankenaufsicht der Zugang zu Hilfen ausdem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) und – inzwischen wenigerwahrscheinlich – eine europäische Einlagensicherung. Bis eine europäischeBankenaufsichtsbehörde ihre Arbeit aufnehmen kann, müssen jedoch eineReihe grundlegender Fragen geklärt werden.

Europäische Bankenaufsicht für alleoder nur für systemrelevante Institute?

So muss entschieden werden, ob die europäische Bankenaufsicht für alle Kre-ditinstitute in der Europäischen Union zuständig sein soll oder nur für großesystemrelevante Häuser. Für eine Unterstellung aller Banken unter eine euro-päische Einlagensicherung spricht, dass es keine Zwei-Klassen-Bankenaufsichtgeben soll, sondern – nicht zuletzt aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit –alle Institute gleichermaßen beaufsichtigt werden sollen. Dem wiederum kannman entgegenhalten, dass eine zentrale europäische Aufsichtsbehörde die na-tionalen Besonderheiten nicht hinreichend würdigt. Dies betrifft in Deutsch-land vor allem die Sparkassen und Kreditgenossenschaften, die jeweils in ei-nem Finanzverbund zusammengeschlossen sind, eine Konstruktion, die es indieser Form in anderen Ländern nicht gibt. Inzwischen zeichnet sich ab, dassfür Kreditinstitute, die von geringerer finanzieller, wirtschaftlicher und auf-sichtsrechtlicher Bedeutung sind, die nationalen Aufsichtsbehörden im Nor-malfall zuständig bleiben.

Eng verbunden mit der Frage der Zuständigkeit ist die Aufteilung der Kompe-tenzen zwischen der europäischen Aufsichtsbehörde und den nationalen Auf-sichtsbehörden. Nach den jüngsten Vorschlägen des EU-Rates liegt zwar dieletztendliche Entscheidungskompetenz bei der europäischen Aufsichtsbehör-de; die nationalen Aufsichtsinstanzen können aber Entscheidungen vorschla-gen, die als angenommen gelten, sofern die europäische Aufsicht nicht wider-spricht. Damit wird erreicht, dass die höhere Kompetenz der jeweiligen natio-nalen Aufsichtsbehörden bei der Beurteilung rein national tätiger Banken bes-ser berücksichtigt wird; andererseits besteht die Gefahr, dass das Ziel einheit-licher Aufsichtsstandards verfehlt wird.

Eignung der EZB als Bankenaufsichtsbehörde

Die bisher vorgelegten Pläne laufen darauf hinaus, dass die europäischeBanken aufsicht bei der Europäischen Zentralbank (EZB) angesiedelt werdensoll. Unbestritten ist, dass eine Zentralbank stets in die Bankenaufsicht invol-viert sein muss. Für eine effektive Geldpolitik ist die Zentralbank auf die Er-kenntnisse angewiesen, die bei der Aufsicht über die Banken gewonnen wer-den. Zudem kann nur eine Zentralbank die Stabilität des Finanzsystems insge-samt sicherstellen; das heißt, die makroprudenzielle Aufsicht kann in der Re-gel nicht ohne die Zentralbank ausgeübt werden.

Strittig ist aber, ob die Bankenaufsicht ausschließlich bei der EZB verankertsein soll. Zunächst stellt sich das Problem, dass nicht alle Länder innerhalb derEuropäischen Union zum Euro-Währungsraum gehören. EU-Länder ohne Eu-

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Ordnungspolitische Positionen

4 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

ro haben wesentlich geringere Mitwirkungsmöglichkeiten bei der EZB; sie wer-den daher möglicherweise befürchten, auf eine europäische Bankenaufsichtzu wenig Einfluss nehmen zu können.

Ein zentraler Kritikpunkt an der Übertragung der Bankenaufsicht auf die EZBbetrifft deren Unabhängigkeit. Hier sind zwei Aspekte zu unterscheiden:

� Hauptaufgabe einer Zentralbank ist die Wahrung der Geldwertstabilität.Dieses Ziel kann mit den Aufgaben einer Bankenaufsicht kollidieren. Da imZuge der Schieflage einer Bank auch immer die Effektivität der Bankenauf-sicht infrage gestellt wird, besteht die Gefahr, dass eine Zentralbank versuchenkönnte, Not leidende Banken durch die Gewährung großzügiger Liquiditäts-spritzen möglichst unauffällig zu retten. Dies mag kurzfristig gelingen; lang-fristig werden die Ursachen für die Schwierigkeiten einer Bank dadurch nichtbeseitigt, sodass zu befürchten ist, dass die als Liquiditätshilfen ausgereichtenKredite nicht zurückgezahlt werden. Darüber hinaus ist die Liquiditätsversor-gung nicht vereinbar mit dem Ziel der Geldwertstabilität.

� Umgekehrt besteht aber auch die Möglichkeit, dass eine Zentralbank dieEinführung von Finanzprodukten behindert, wenn sie hierdurch ihre Fähig-keit, die Geldpolitik steuern zu können, gefährdet sieht. Aus diesem Motiv he -raus hat die Deutsche Bundesbank bis in die 1990er Jahre hinein die Einfüh-rung innovativer Finanzprodukte in Deutschland verzögert.

Eine Bankenaufsicht übt hoheitliche Rechte aus. Sie kann zum Beispiel die Ab-berufung von Geschäftsleitern verlangen oder die Schließung und Abwicklungvon Banken anordnen. Insbesondere Letzteres kann erhebliche fiskalischeWirkungen haben, etwa wenn die Bankenaufsicht die Schließung einer großensystemrelevanten Bank anordnet und der Staat sich gezwungen sieht, zur Sta-bilisierung des Finanzsystems mit finanziellen Mitteln einzugreifen oder dieAbwicklung mit Steuergeldern abzufedern.

Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) untersteht aus die-sem Grund in Deutschland der Fach- und Rechtsaufsicht des Finanzministeri-ums. Eine mehrfach erwogene vollständige Übertragung der Bankenaufsichtan die Bundesbank scheiterte stets daran, dass die Bundesbank ihre Unabhän-gigkeit gefährdet sah, wenn sie im Hinblick auf ihre Tätigkeit im Rahmen derBankenaufsicht dem Finanzministerium unterstellt würde.

Eine ähnliche Problematik stellt sich für die EZB. In ihren Statuten ist festge-legt, dass sie ähnlich wie die Bundesbank unabhängig ist. Für eine Ausübungder Bankenaufsicht wäre jedoch eine demokratisch legitimierte Kontrolle not-wendig. Ein Kompromiss könnte darin bestehen, dass bei aufsichtlichen Ent-scheidungen anders als bei geldpolitischen Entscheidungen eine Stimmenge-wichtung der nationalen Vertreter nach dem jeweiligen EZB-Kapitalanteil vor-genommen wird.

Europäische Bankenaufsicht und Haftungsunion

Die Bemühungen für die Einrichtung einer europäischen Bankenaufsichtwurden in den letzten Monaten mit großer Intensität vorangetrieben. Ins-besondere Frankreich hat sich vehement dafür eingesetzt, dass die europä -ische Banken aufsicht bereits zum 1. Januar 2013 ihre Arbeit aufnimmt. Da-hinter steckt allerdings weniger das Streben nach einer wirksamen Verbes-serung der Bankenaufsicht als vielmehr der Wunsch, mit der europäischen

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Europäische Bankenaufsicht

5Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Bankenaufsicht eine gemeinschaftliche Haftung für die Banken innerhalbder EU zu installieren. Hierzu sind im Zeitablauf unterschiedliche Ideenentwickelt worden.

Ursprünglich war geplant, mit der Bankenaufsicht auch die Einlagensiche-rungssysteme innerhalb der EU zusammenzulegen. Dies hätte eine massiveUmverteilung von Ländern mit stabilem Bankensystem und mit hoch dotier-ten Einlagensicherungseinrichtungen hin zu Ländern mit labilen Banken undschlecht kapitalisierten Sicherungssystemen bedeutet. Eine europäische Einla-gensicherung würde nicht nur – wie bisher – eine Harmonisierung des Min-dest-Sicherungsniveaus beinhalten, sondern auch die Obergrenzen der Einla-gensicherung vereinheitlichen. Kaum vorstellbar ist, wie die Sicherungssyste-me der Sparkassen und Kreditgenossenschaften, die nicht auf Einlagensiche-rung, sondern auf Institutssicherung abzielen, in ein solches System hätten in-tegriert werden können.

Inzwischen scheint man von dem Ziel einer europäischen Einlagensicherungabgerückt zu sein. Stattdessen wird die Idee verfolgt, dass mit Einrichtung ei-ner europäischen Bankenaufsicht angeschlagene Banken finanzielle Hilfenaus dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) erhalten können. In die-sem Fall würden nicht die Sparer, sondern die Steuerzahler für die Risiken derBanken in anderen Ländern haften. Ein von Bundesbankpräsident Jens Weid-mann kürzlich gemachter Vorschlag sieht vor, einen europäischen Restruktu-rierungs- und Abwicklungsfonds für Not leidende Banken zu schaffen, der vonden Banken gespeist wird. Hier wären primär wieder die Sparer und Anteils -eigner der Banken in der Haftung; auf den Steuerzahler müsste nur zurückge-griffen werden, wenn der Fonds überfordert wäre.

Bankenrettung als Vehikel für die Rettung überschuldeter Staaten?

Grundsätzlich gilt, dass eine Sicherungseinrichtung aufgrund der Diversifika-tionswirkungen umso stabiler ist, je größer der Kreis derjenigen ist, die in die-se Sicherung einbezogen werden. Bei der europäischen Bankenunion bestehtallerdings der Verdacht, dass es nicht oder zumindest nicht ausschließlich umdie Banken geht, sondern um Hilfen für hoch verschuldete Staaten. Die Ban-ken sind der größte Kreditgeber der Staaten, wobei in den letzten Jahren einedeutliche Tendenz besteht, vorrangig in die Staatsanleihen des eigenen Landeszu investieren.

Die Bankenrettung kann damit leicht zum Vehikel für eine verdeckte Rettungüberschuldeter Staaten werden. Dies erklärt, warum die rasche Einführung dereuropäischen Bankenaufsicht vor allem von den Staaten mit Verschuldungs-problemen gefordert wird. Es wäre aber fatal, wenn das sinnvolle Ziel, einewirksame europäische Bankenaufsicht zu schaffen, in den Hintergrund trittund stattdessen nur darauf geschielt wird, wie eine Vergemeinschaftung derSchulden möglichst rasch erreicht werden kann. �

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Ordnungspolitische Positionen

6 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Auf dem Weg zu einereuropäischen BankenaufsichtDr. Michael KemmerHauptgeschäftsführer und Mitglied des Vorstandesdes Bundesverbandes deutscher Banken

� Nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union zählt dieErrichtung eines Binnenmarkts zu den grundlegenden politischen Zielen derEuropäischen Union (EU). Die bei langfristiger Betrachtung zweifellos zukonstatierende Entwicklung zu einem immer stärker vereinheitlichten ge-meinsamen Markt verläuft indes nicht ohne Brüche. Namentlich seit demAusbruch der Finanzkrise in den Jahren 2007 und 2008 hat die Integrationder Finanzmärkte in Europa vielmehr abgenommen. Im Zuge der europä -ischen Staatsschuldenkrise hat sich dieser Trend weiter zugespitzt. Inzwischenist eine zunehmende Fragmentierung der Märkte entlang der nationalenGrenzen zu verzeichnen, die auch Ausdruck einer tief greifenden Vertrauens-krise ist, in der sich die Finanzmärkte befinden.

Das Ziel eines europäischen Binnenmarkts – und dazu gehört nicht zuletzt derFinanz-Binnenmarkt – darf auch in Zeiten der Krise nicht aus den Augen ver-loren werden. In diesem Zusammenhang kann man Ludwig Erhard zitieren mitden Worten „die Integration Europas ist notwendiger denn je, ja sie ist gerade-zu überfällig geworden“. Wobei aus seiner Sicht „die beste Integration Europasnicht auf der Schaffung neuer Ämter und Verwaltungsformen oder wachsen-der Bürokratien beruhen sollte“.

Grundstein für eine europäische Finanzmarktarchitektur

Die Schaffung neuer Institutionen und Regeln bedarf unbestritten einerRechtfertigung. Schon die Feststellungen der von der Europäischen Kommis-sion unter dem Eindruck der Finanzmarktkrise im Jahr 2008 eingesetzten Ex-pertengruppe für Finanzaufsicht unter Leitung des früheren französischenZentralbankchefs Jacques de Larosière haben allerdings gezeigt, dass neben Ver-säumnissen mancher nationalen Aufsichtsbehörden es dem seinerzeit gelten-den „Regulierungsrahmen in Europa … an Geschlossenheit“ gefehlt habe.Dies gelte vor allem wegen der Spielräume für die nationale Umsetzung dereuropäischen Regelungen, so die Expertengruppe in ihrem Ende Februar2009 vorgelegten Abschlussbericht.

Mit der Schaffung eines europäischen Finanzaufsichtssystems Anfang 2011wurde aus diesem Befund die richtige Konsequenz gezogen und ein Grund-stein für eine neue europäische Finanzmarktarchitektur gelegt: Neben den na-tionalen Aufsichtsbehörden sollten künftig der Europäische Ausschuss für Sys-temrisiken, drei europäische Finanzaufsichtsbehörden im Banken-, Versiche-rungs- und Wertpapiersektor sowie ein behördenübergreifender gemeinsamerAusschuss der europäischen Aufsichtsbehörden eine kohärente Anwendungdes Aufsichtsrechts gewährleisten.

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Europäische Bankenaufsicht

7Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Europäische Bankenaufsicht: Fluch oder Segen?

Die Staatsschuldenkrise hat den Ruf nach einer noch stärkeren Vergemein-schaftung der Bankenaufsicht begründet. Ziel ist die Errichtung einer Banken -union, die drei Elemente enthält: die Ablösung der nationalen Bankenauf-sicht – mindestens der Euro-Staaten – durch eine europäische Bankenaufsicht,die Errichtung eines von der Kreditwirtschaft getragenen europäischen Ab-wicklungs- bzw. Restrukturierungsfonds sowie die Schaffung einer einheit-lichen EU-Einlagensicherung.

Die Staats- und Regierungschefs der Eurozone haben auf ihrem Gipfel-TreffenEnde Juni 2012 zur Sicherstellung und Stärkung der Finanzstabilität sowie zurDurchbrechung des „Teufelskreises zwischen Banken und Staatsanleihen“ an-gekündigt, dass die Europäische Kommission einen Vorschlag für einen ein-heitlichen Aufsichtsmechanismus, der die Europäische Zentralbank (EZB) ein-beziehe, vorlegen werde. Nach der Etablierung einer solchen zentralen euro-päischen Aufsicht soll eine direkte Rekapitalisierung von Banken durch denEuropäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ermöglicht werden.

Mitte September dieses Jahres hat die Europäische Kommission einen solchenVorschlag vorgelegt. Im Kern sehen die hierzu vorgestellten zwei Verord-nungsentwürfe die Bündelung der Bankenaufsicht in der Eurozone bei derEZB vor. Die Zentralbank soll ihre Aufgaben innerhalb eines einheitlichen Auf-sichtsmechanismus wahrnehmen, dem neben der EZB die nationalen Auf-sichtsbehörden angehören. Ferner soll die EZB im europäischen Finanzauf-sichtssystem mitwirken. Ein Vorschlag, der nicht unumstritten ist, weil die na-tionalen Aufsichtsbehörden Kompetenzen abgeben müssen. Kontrovers wirdinsbesondere der Anwendungsbereich einer europäischen Bankenaufsicht dis-kutiert, sowohl räumlich – gesamte EU oder nur die Eurozone? – als auch be-züglich der Frage, ob alle oder nur „systemisch bedeutsame“ und staatlichunterstützte Institute beaufsichtigt werden sollen.

Der Vorschlag wirft eine Reihe von Fragen auf, die noch geklärt werden müs-sen. Doch die Grundsatzentscheidung ist richtig. Eine EU-Bankenaufsicht die-ses Zuschnitts würde zur weiteren Integration der europäischen Finanzmärktebeitragen und die Stabilität des Finanzsystems sowie der Währungsunion stär-ken. Zudem könnte die Aufsicht von den Interessen der Mitgliedstaaten stär-ker entkoppelt werden.

Eine Krise macht nicht am Ärmelkanal halt

Folgerichtig wäre es, einen einheitlichen Aufsichtsmechanismus für alle EU-Mitgliedstaaten einzurichten. Die aus einer wirtschaftlichen Schieflage einesKreditinstituts resultierenden Risiken sind keine Frage der Landeswährung; ei-ne Krise macht nicht an Ländergrenzen halt. Außerdem gehört zu einem ge-meinsamen Finanz-Binnenmarkt auch eine einheitliche Aufsicht für alle Kre-ditinstitute.

Aber angesichts des angekündigten politischen Widerstands einiger EU-Mit-gliedstaaten im Rat, insbesondere Großbritanniens, wäre dieser Ansatz nichtkonsensfähig. Die vorgesehene Beschränkung der Aufsicht auf die Eurozone,verbunden mit einer Einstiegsmöglichkeit für Nicht-Euro-Länder, erscheint da-mit als nächstbester und realistischer Ansatz. Diese Option ermöglicht Nicht-Euro-Ländern die Teilnahme am neuen Aufsichtssystem und eröffnet Raumfür weitere Integration.

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Ordnungspolitische Positionen

8 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Unabhängig hiervon bleibt die weitere EU-Harmonisierung wichtig. Die be-reits bestehende europäische Bankenaufsichtsbehörde, die European BankingAuthority (EBA), muss darauf achten, dass keine Wettbewerbsverzerrungenzwischen der Eurozone und anderen EU-Aufsichtsbehörden – insbesondere inder nicht teilnehmenden City of London – entstehen.

Kein Zwei-Klassen-Aufsichtsrecht

Der Ansatz der Europäischen Kommission, alle Kreditinstitute in der Eurozo-ne unabhängig von ihrer Rechtsform der Aufsicht der EZB zu unterstellen, hatinsbesondere in Deutschland heftige Reaktionen ausgelöst. Teils wird gefor-dert, die Aufsicht auf systemrelevante Kreditinstitute zu beschränken. Die Ein-beziehung aller Institute ist jedoch erforderlich, um ein Zwei-Klassen-Recht beider Bankenaufsicht zu vermeiden. Für gleiche Geschäfte, für gleiche Risikenund für alle Marktteilnehmer müssen die gleichen Aufsichtsregeln gelten undeinheitlich angewandt werden. Insbesondere die jüngeren Erfahrungen habengezeigt, dass Regulierungsunterschiede den Wettbewerb verzerren und zu Ri-sikokonzentrationen führen können.

Zudem hat beispielsweise die Krise der „Cajas“ – der spanischen Sparkassen –erneut deutlich gezeigt, dass nicht vorhergesagt werden kann, welches Unter-nehmen des Finanzsektors eine Gefahr für die Finanzmarktstabilität darstellenkann. Die „Cajas“ wären – worauf der Sachverständigenrat zur Begutachtungder gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem aktuellen Jahresgutachtenhinweist – von den üblichen Kriterien für Systemrelevanz nicht erfasst gewesen.Hinzu tritt, dass – so der Sachverständigenrat weiter – eine Trennung desBanken systems entlang der Systemrelevanz Anreize dafür schafft, ein Institut soaufzustellen, dass es unter die vermeintlich laxere nationale Aufsicht falle. Last,but not least: Die Möglichkeit der direkten Bankenrekapitalisierung durch denESM ist nur dann sinnvoll, wenn die Kreditinstitute zuvor auch von einer ge-meinsamen Aufsicht überwacht werden; andernfalls drohen Fehlanreize.

Zusammenarbeit der EZB mit den nationalen Aufsichtsbehörden

Die Erfüllung der Aufsichtsaufgaben wird nur in enger Zusammenarbeit zwi-schen der EZB und den nationalen Aufsichtsbehörden möglich sein. Demträgt der Vorschlag der Europäischen Kommission insoweit Rechnung, als dieEZB und die nationalen Behörden zusammenarbeiten sollen. Über wichtigeaufsichtsrechtliche Maßnahmen mit Außenwirkung – wie die Erlaubnisertei-lung bzw. der Entzug – soll jedoch allein die EZB entscheiden.

Die Einbeziehung der Expertise der nationalen Aufseher trägt zum einen demSubsidiaritätsprinzip Rechnung. Zum anderen dient diese föderale Strukturauch der Verwaltungsökonomie, da die nationalen Aufseher die Institute orts-nah beaufsichtigen können. Richtig ist auch, dass im Außenverhältnis allein dieEZB Entscheidungen treffen soll. Andernfalls würde durch ein Nebeneinandervon Einzelentscheidungen der verschiedenen nationalen Aufsichtsbehördendas Ziel einer einheitlichen Bankenaufsicht unterlaufen.

Die im Vorschlag vorgesehene, rudimentär geregelte Zusammenarbeit mussallerdings stärker konkretisiert werden. Vorbild könnte hier die in Deutschlandpraktizierte, in der „Richtlinie zur Durchführung und Qualitätssicherung derlaufenden Überwachung der Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute durchdie Deutsche Bundesbank“ (sogenannte Aufsichtsrichtlinie) geregelte Zu-

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Europäische Bankenaufsicht

9Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

sammenarbeit der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) mitder Deutschen Bundesbank sein: Die laufende Überwachung der Institute wirdvon der Deutschen Bundesbank wahrgenommen, die die Ergebnisse und Be-wertungen unverzüglich der BaFin zur Verfügung stellt. Die BaFin nimmt danneine abschließende Beurteilung und Entscheidung über eventuelle Maßnah-men vor.

Ein grundsätzlich weit gefasster Anwendungsbereich der europäischenBanken aufsicht bedeutet nicht zugleich, dass alle Institute in entsprechendemUmfang und unmittelbar von der EZB beaufsichtigt werden müssen. Bei dergebotenen weiteren Ausgestaltung des einheitlichen Aufsichtsmechanismussollte daher den Unterschieden bei Größe, Komplexität, Geschäftsmodell, Ri-siko und Vernetzung eines Instituts Rechnung getragen werden. Dies sollte sichinsbesondere bei der Intensität der Aufsicht durch die EZB niederschlagen –hier muss eine sinnvoll konzipierte Kooperation zwischen der EZB und den na-tionalen Aufsichtsbehörden einsetzen.

Trennung der Geldpolitik von der Bankenaufsicht

Die Europäische Kommission hat sich für eine Ansiedlung der europäischenBankenaufsicht bei der EZB entschieden. Sie folgt dem Vorbild in 14 Mitglied-staaten der Eurozone, in denen die nationalen Zentralbanken für die Banken-aufsicht zuständig sind. Nicht zuletzt die Diskussion um die im Koalitionsver-trag zwischen CDU/CSU und FDP vorgesehene, in der Folgezeit allerdings wie-der verworfene Konzentration der Bankenaufsicht bei der Deutschen Bundes-bank hat gezeigt, welch hohe Bedeutung der Unabhängigkeit einer Zentral-bank beigemessen wird.

Allerdings besteht zwischen den geldpolitischen Aufgaben der EZB und derBankenaufsicht durchaus ein Spannungsverhältnis. Letztere bedarf der demo-kratischen und parlamentarischen Legitimation, nicht nur bei schwerwiegen-den Eingriffsakten. Daher muss bei einer Übertragung von Aufsichtsaufgabenauf die EZB gewährleistet werden, dass sich die Funktion der Bankenaufsichtund das Mandat zur Geldwertstabilität strikt unabhängig voneinander erfüllenlassen. Interessenkonflikte müssen vermieden werden. Letztlich wird sich diesnur mit einer organisatorisch konsequenten Trennung beider Aufgabenberei-che erreichen lassen.

Europäische Bankenaufsicht ist kein Allheilmittel

Die Vorstellung, dass mit einer einheitlichen europäischen Bankenaufsicht derTeufelskreis zwischen Banken und Staatsanleihen durchbrochen wird, greift zukurz. Um die zu enge Beziehung zwischen Risiken von Staatsanleihen und na-tionalen Banken zu lösen, ist in erster Linie die Konsolidierung der Staats-haushalte erforderlich. Der Euro wird nur dann langfristig gesunden können,wenn sich auch die Politik in Europa ändert, und zwar in Richtung tragfähigerStaatsfinanzen und hoher internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Dazu gehörtdie auch in der Praxis spürbare Einsicht, dass eine solide Haushaltspolitik kei-ne Sekundärtugend, sondern die Grundlage für wirtschaftliche Entwicklungund Wohlstand ist. Eine europäische Bankenaufsicht kann nur ein Baustein ei-nes umfassenden Lösungskonzepts sein.

Nach den ambitionierten Plänen soll die EZB-Aufsicht bereits am 1. Januar2013 starten und schrittweise die Aufsicht über alle Institute übernehmen. An-

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Ordnungspolitische Positionen

10 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

gesichts der mit der Errichtung einer europäischen Bankenaufsicht verbunde-nen komplexen Fragen, etwa im Hinblick auf die Austarierung der aufsichts-behördlichen Kapazitäten auf europäischer und auf nationaler Ebene, wäre eswünschenswert, wenn sich die Politik die erforderliche Zeit nehmen würde.Ein „Schnellschuss“ kann leicht zum Fehlschuss werden. �

Bankenaufsicht bei der EZB:Doppelte Quadratur des KreisesDr. Bert Van RoosebekeFachbereichsleiter Finanzmarkt- und Telekommunikationsregulierung am Centrum für Europäische Politik (CEP), Freiburg

� Nach langen Diskussionen und zähen Verhandlungen zwischen Ministerratund Europäischem Parlament konnten am 1. Januar 2011 die drei neuen eu-ropäischen Aufsichtsbehörden für Banken, Versicherungen und Wertpapier-firmen ihre Arbeit aufnehmen. Keine zwei Jahre später soll die Aufsichtsbe-hörde für Banken, die European Banking Authority (EBA), quasi über Nachtentmachtet und im Wesentlichen von der Europäischen Zentralbank (EZB) ab-gelöst werden.

EZB-Bankenaufsicht als Mittel zum Zweck

Entscheidend war der Gipfel des Europäischen Rates am 29. Juni 2012. Dort rie-fen die Staats- und Regierungschefs der Euro-Staaten die Europäische Kommis-sion dazu auf, „in Kürze“ Vorschläge für ein „einheitliches europäisches Banken -aufsichtssystem“ zu unterbreiten. Das tat die Kommission am 12. September2012 dann auch. Sie schlug vor, die EZB zur ausschließlich zuständigen Banken -aufsichtsbehörde der Eurozone zu ernennen, und legte Änderungsvorschlägefür die EBA-Verordnung vor, die im Wesentlichen das Machtverhältnis zwischenEuro-Staaten und Nicht-Euro-Staaten neu regeln sollen.

Die Euro-Staatschefs hatten auf Drängen Spaniens, Italiens und Frankreichs aufdem Gipfel beschlossen, dass der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM)Not leidende Banken künftig auch direkt rekapitalisieren darf. So wollten dieStaaten einen offiziellen ESM-Antrag sowie die damit verbundenen Sparaufla-gen und Kontrollen vermeiden. Insbesondere Deutschland setzte aber durch,dass es eine solche Finanzspritze an die Banken nur geben kann, wenn auch die– bisher nationale – Bankenaufsicht einer europäischen Kontrolle unterworfenwird. ESM-Geld für die Banken ist daher nur mit einer zentralen Bankenauf-sicht bei der EZB möglich.

Das Vorhaben, die Bankenaufsicht im Euroraum bei der EZB zu zentralisieren,geht daher nicht auf den Wunsch der Euro-Staaten zurück, eine möglichst neut -rale und qualitativ hochwertige Aufsicht herzustellen. Vielmehr wird die Ein-richtung der EZB-Aufsicht von einigen Mitgliedstaaten als notwendige Hürdefür die Rekapitalisierung maroder Banken durch den ESM gesehen.

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Europäische Bankenaufsicht

11Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Argumente für eine Zentralisierung der Bankenaufsicht

Der Vorschlag der EU-Kommission zur EZB-Bankenaufsicht ist sehr weitgehend.Die Kommission will die essenziellen aufsichtsrechtlichen Aufgaben und Befug-nisse der nationalen Aufsichtsbehörden auf die EZB übertragen. Damit wird dieEZB zur zentralen Bankenaufsichtsbehörde im Euroraum, und die nationalenAufsichtsbehörden verlieren weitgehend ihre Befugnisse. Für eine solche supra -nationale Zentralisierung der europäischen Bankenaufsicht gibt es gute Argu-mente:

� Die Entwicklung des europäischen Finanzbinnenmarkts hat zu einer starkenVernetzung innerhalb der europäischen Finanzwirtschaft geführt. Viele euro-päische Banken sind über wechselseitige Geschäftsbeziehungen miteinanderverknüpft. Dies erschwert es, die Bankenaufsicht nach wie vor unter nationalenAufsichtsbehörden zu verteilen. Das ist zwar nicht unmöglich – verwiesen wer-den kann auf die Zusammenarbeit nationaler Aufsichtsbehörden –, setzt jedochein hohes Maß an Zusammenarbeit, Kollegialität und Unabhängigkeit der na-tional agierenden Aufsichtsbehörden voraus. Jedenfalls dürfte der Reibungs-verlust geringer sein, wenn nur eine Behörde für die gesamte Aufsicht zustän-dig ist.

� Die supranationale Zentralisierung erschwert bei der Aufsicht die Berück-sichtigung von Partikularinteressen in den jeweiligen Mitgliedstaaten.

� Die Zentralisierung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass gleichen Fällen inunterschiedlichen Mitgliedstaaten mit gleichen Aufsichtsmaßnahmen begegnetwird, unabhängig davon, wo sie auftreten. Einschränkend gilt hier allerdingsder Einwand, dass EU-einheitliche Regulierungs- und Aufsichtsstandards („sin-gle rulebook“) – welche die EBA entwickelt – derzeit noch nicht ausreichendvorhanden sind. Auch übernimmt die EZB die bestehenden nationalen Befug-nisse der nationalen Aufsichtsbehörden, und diese sind von Land zu Landunterschiedlich ausgestaltet.

Probleme aus juristischer Sicht

Die Europäische Union hat nicht die Kompetenz, die Bankenaufsicht bei derEZB zu zentralisieren. Der Artikel 127 Absatz 6 im Vertrag über die Arbeitsweiseder Europäischen Union (AEUV) erlaubt dies nicht. Allerdings führt dessenWortlaut zu keinem eindeutigen Ergebnis. Nach der deutschen Fassung kannder Ministerrat „besondere“ Aufgaben der Finanzaufsicht auf die EZB übertra-gen. Der englische und der französische Vertragstext sprechen dagegen von„specific tasks“ bzw. „missions spécifiques“ im Gegensatz zu „special legislativeprocedure“ bzw. „procédure législative spéciale“ (besonderes Gesetzgebungs-verfahren). „Specific“ bzw. „spécifique“ bedeutet neben „begrenzt“ auch „genaufestgelegt“. Je nach Übersetzung müssen die übertragenen Aufgaben also ledig-lich eindeutig beschrieben sein, oder es darf nur ein Teil der Aufsichtsaufgabender nationalen Aufsichtsbehörden an die EZB übertragen werden. Nach derdeutschen Sprachfassung ist auch eine Beschränkung auf inhaltlich bedeutsameAufgaben denkbar. Diese Auslegung ist in der englischen und französischenSprachfassung nicht möglich, da zwischen „special“ bzw. „spécial“ und „specific“bzw. „spécifique“ – also „besonders“ und „bestimmt“ – differenziert wird.

Der Blick auf die Systematik führt jedoch zu der Lesart, dass nur ein begrenzterTeil der Aufsichtsaufgaben übertragen werden darf. Nach Artikel 127 Absatz 5AEUV „trägt (das Europäische System der Zentralbanken) zur reibungslosen

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Ordnungspolitische Positionen

12 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Durchführung der von den zuständigen Behörden auf dem Gebiet der Aufsichtüber die Kreditinstitute … ergriffenen Maßnahmen bei“. Nach Artikel 25.1EZB-Satzung kann die EZB „die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten inFragen des Geltungsbereichs und der Anwendung der Rechtsvorschriften derUnion hinsichtlich der Aufsicht über die Kreditinstitute … beraten und von die-sen konsultiert werden“.

Entscheidend ist, dass die EZB also nach diesen beiden Vorschriften nur eineunterstützende und beratende Rolle spielen soll. Auch die Entstehungsge-schichte dieser Vorschriften weist in diese Richtung: Mit der Einschränkung, wo-nach nur „besondere“ Aufgaben der Europäischen Zentralbank übertragenwerden können, sollte den Mitgliedstaaten entgegengekommen werden, die ei-ne starke Rolle der Zentralbank in der Bankenaufsicht kritisch sahen. Auch soll-te die EZB – anders als ebenfalls diskutiert – nicht als „zuständige Behörde“ be-nannt werden können.

Folglich darf die EZB die Aufgaben der Bankenaufsicht nicht vollständig wahr-nehmen. Der Katalog der „ausschließlichen Zuständigkeiten“ der EZB, welchedie EU-Kommission vorgeschlagen hat, enthält aber sämtliche Kernkompeten-zen einer Bankenaufsichtsbehörde. Bei den nationalen Aufsichtsbehörden ver-bleiben lediglich Randkompetenzen wie der Verbraucherschutz, die Bekämp-fung der Geldwäsche und die Beaufsichtigung von Kreditinstituten aus Dritt-ländern. Damit könnte die EZB die Bankenaufsicht faktisch vollständig wahr-nehmen, was unzulässig ist. Um den Kommissionsvorschlag in Einklang mitdem Europäischen Vertrag zu bringen, wäre es notwendig, die Eingriffsmög-lichkeiten der EZB deutlich zu begrenzen.

Probleme aus ökonomischer Sicht

Abgesehen von den Vorteilen, die grundsätzlich mit einer Zentralisierung derAufsicht verbunden sind, ist höchst problematisch, dass die zentrale europä -ische Bankenaufsicht gerade bei der Europäischen Zentralbank angesiedeltwerden soll:

� Innerhalb der EZB kann es zu Interessenkonflikten mit der Geldpolitik kom-men. So können die Leitzinsen der EZB zu fallenden Aktienkursen führen, wasBanken dazu zwingt, Abschreibungen vorzunehmen. Damit besteht die Gefahr,dass die EZB in ihren geldpolitischen Entscheidungen Rücksicht nimmt auf dieNöte der Banken – oder gar auf die des ESM, der Banken dann direkt rekapita-lisieren darf. Dies wird zu höheren Inflationserwartungen führen, weil die Be-völkerung nicht länger glauben wird, dass die EZB vorrangig Preisniveaustabi-lität anstrebt.

� Gegenüber der Politik gerät auch die geldpolitische Unabhängigkeit derEZB unter Druck. Erwiesenermaßen sind Notenbanken bei weitgehender Un-abhängigkeit am ehesten in der Lage, niedrige und stabile Inflationserwartun-gen zu erreichen. In Fragen der Bankenaufsicht scheint eine solche Unabhän-gigkeit allerdings schwer vorstellbar. Die fiskalischen Folgen von Bankenauf-sichtsentscheidungen in Krisenfällen können weitreichend sein und sogar dieBonität ganzer Staaten gefährden. Daher muss damit gerechnet werden, dassPolitiker versuchen werden, Aufsichtsentscheidungen der EZB zu beeinflussen.

Diese beiden Probleme – interne Interessenkonflikte und die Gefährdung derexternen geldpolitischen Unabhängigkeit – ließen sich theoretisch lösen, in-dem die geldpolitischen und aufsichtsrechtlichen Tätigkeiten in der EZB voll-

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Europäische Bankenaufsicht

13Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

ständig voneinander getrennt würden: durch eine „chinesische Mauer“. DieseMauer bedarf zweier Komponenten: Notwendig wäre zum einen ein mit Letzt-entscheidungskompetenzen ausgestattetes Aufsichtsgremium der EZB, wel-chem zum anderen keine Mitglieder des für die Geldpolitik zuständigen EZB-Rats angehören.

Die Vorschläge der EU-Kommission enthalten allerdings keine dieser beidenKomponenten. Der EZB-Rat soll Aufsichtsaufgaben und Beschlussfassungen aufdas neu eingerichtete Aufsichtsgremium innerhalb der EZB übertragen kön-nen, er bleibt aber für dessen Überwachung zuständig und übernimmt die Ver-antwortung für dessen Entscheidungen. Grund dafür dürfte ein juristischesProb lem sein. Artikel 129 Absatz 1 AEUV legt abschließend fest, dass der EZB-Rat und das Direktorium die Beschlussorgane der EZB sind. Demnach ist es ju-ristisch nicht möglich, das Aufsichtsgremium mit Letztentscheidungsbefugnis-sen auszustatten. Nur so kann aber das Aufsichtsgremium vom EZB-Rat abge-koppelt werden und können interne Interessenkonflikte der EZB zwischenGeldpolitik und Bankenaufsicht vermieden werden. Auch die personelle Tren-nung zwischen Bankenaufsicht und Geldpolitik ist nicht gegeben. Nach demKommissionsvorschlag gehören mindestens zwei Personen aus dem EZB-Ratdem Aufsichtsgremium an.

Widerspruch zwischen Unabhängigkeit und Demokratieprinzip

Mit der Ernennung der EZB zur zentralen Bankenaufsichtsbehörde der Euro-zone sind jedoch mindestens vier weitere Probleme verbunden:

� So verfügt die EZB – anders als die EBA – über keinerlei Erfahrung in derkonkreten Bankenaufsicht. Ein vorhandener Mehrwert der EZB-Aufsicht ist da-her nicht ersichtlich.

� Auch erscheint es politisch ausgeschlossen, dass die EZB-Aufsicht auf dieBanken außerhalb der Eurozone, insbesondere auf die britischen Banken, aus-gedehnt wird. Das wünschenswerte Szenario, wonach die gesamte EU-Banken-landschaft zentral beaufsichtigt wird, ist damit auch deshalb von vornherein aus-geschlossen, weil die Aufsicht gerade bei der EZB angesiedelt ist. Darüber hi -naus ist angesichts der Bedeutung des Finanzplatzes London fragwürdig, wiesinnvoll eine auf den Euroraum beschränkte Aufsicht ist.

� Ein dritter Nachteil der Aufsicht durch die Europäische Zentralbank liegtdarin begründet, dass Bankenaufsicht keine exakte Wissenschaft darstellt, son-dern auf Einschätzungen und Ermessensentscheidungen fußt. Fehlentschei-dungen sind daher unvermeidbar. Werden solche Fehlentscheidungen aber vonder Zentralbank getroffen, können sie negative Auswirkungen auch auf ihregeldpolitische Reputation haben.

� Viertens ist die Europäische Zentralbank nach Primärrecht in allen ihrenAufgaben – und damit auch in der Bankenaufsicht – unabhängig (Artikel 282Absatz 3 AEUV). Gleichzeitig müssen Entscheidungen der Bankenaufsichtaber demokratisch legitimiert sein. Dazu müssen diese umfassend rechen-schaftspflichtig sein. Die vorgesehenen Berichtspflichten der EZB – etwa demEuropäischen Parlament gegenüber – und Fragerechte des Parlaments rei-chen nicht aus. Weitere Rechenschaftspflichten würden aber wiederum dieUnabhängigkeit der EZB zu sehr einschränken. Der Widerspruch zwischenUnabhängigkeit der EZB und Demokratieprinzip ist für die Bankenaufsichtnicht lösbar.

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Ordnungspolitische Positionen

14 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Verhältnis zwischen Eurozone und Nicht-Eurozone

Zudem verursacht die Euro-Bankenaufsicht bei der EZB komplexe Folgeprob -leme im Verhältnis zwischen Euro-Staaten und Nicht-Euro-Staaten. Zum einenbedarf die geplante Verordnung zur Zentralisierung der Bankenaufsicht bei derEZB der Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten im Ministerrat, also auch der Zu-stimmung der Nicht-Euro-Staaten. Diese können sich zwar freiwillig der EZB-Aufsicht unterwerfen. Wie sie innerhalb der EZB als Nicht-Euro-Staat ihr Mit-spracherecht bei Aufsichtsfragen wahrnehmen sollen, ist aber ungeklärt und ju-ristisch umstritten. Weder im EZB-Rat noch im EZB-Direktorium – den einzigenEZB-Gremien mit Letztentscheidungskompetenz – sind Nicht-Euro-Staaten ver-treten. Die Zustimmung der Nicht-Euro-Staaten ist damit alles andere als sicher.

Noch schwerwiegender – und für die Zustimmung der Nicht-Euro-Staaten imMinisterrat wohl entscheidend – dürfte das Verhältnis der EZB zur bestehendeneuropäischen Bankenaufsichtsbehörde, der EBA, sein. Nicht ganz ohne Grundbefürchten die Nicht-Euro-Staaten, dass die Euro-Staaten über die EZB die EBAdominieren werden und daher instrumentalisieren könnten. Um zu vermei-den, dass hieran die EZB-Aufsicht gänzlich scheitert, hat die EU-KommissionÄnderungen der EBA-Verordnung vorgeschlagen. Damit versucht sie, die Auf-gaben der EBA anzupassen, ohne diese vollständig ins Abseits zu schieben.

Es ist aber schlicht unmöglich, eine schlagkräftige EBA – was dem Wunsch derNicht-Euro-Zone entspricht – mit einer unabhängigen EZB zu kombinieren.Die EU-Kommission versucht es dennoch und entwirft ein komplexes Gebilde,welches zum Scheitern verurteilt ist. So soll die Unabhängigkeit der EZB ge-wahrt werden, indem direkte Weisungen der EBA an die EZB nicht möglichsind. Schlichtungssprüche der EBA und ihre Anweisungen in Krisenfällen sinddaher für die EZB unverbindlich, während die nationalen Aufsichtsbehördenaus Nicht-Euro-Staaten ihnen nachkommen müssen. Das Ergebnis ist eine er-hebliche Schwächung der Autorität der EBA. Schlichtungsentscheidungen ver-lieren ihren Zweck, wenn nur eine Konfliktpartei diese befolgen muss.

Um die EBA nicht komplett zu marginalisieren, schlägt die EU-Kommission vor,dass die EBA Schlichtungs- und Krisenanweisungen direkt – also an der EZBvorbei – an einzelne Banken richten kann. Auch wenn fraglich ist, ob es dazukommen wird, verstößt diese Möglichkeit gegen die primärrechtlich garantier-te Unabhängigkeit der EZB. Die Befugnis der EBA, Beschlüsse direkt an ein Fi-nanzinstitut zu richten, kommt im Ergebnis einem Weisungsrecht gegenüberder EZB gleich, da die EZB ihre Aufsichtsentscheidungen nicht mehr frei tref-fen kann: Die EZB-Entscheidungen dürfen den EBA-Beschlüssen nicht wider-sprechen. Sinnvoll kann die EBA also nur arbeiten, wenn sie der EZB gegen -über ein Weisungsrecht ausüben kann. Gerade dies ist aber mit der primär-rechtlich verankerten Unabhängigkeit der EZB nicht vereinbar.

Europäische Bankenaufsichtsbehörde: Vorprogrammierte Dominanz der Eurozone

Zwar hat die EU-Kommission darauf verzichtet, dass der EZB – stellvertretendfür die Euro-Staaten – ein Sitz im zentralen Entscheidungsgremium der EBA zu-gesprochen wird. Nach wie vor stimmen also die 27 nationalen Aufsichtsbehör-den im Rat der Aufseher über die EBA-Entscheidungen ab. Das ändert aller-dings nichts daran, dass 17 der 27 Mitgliedstaaten Euro-Staaten sind. Erschwe-rend kommen zwei Dinge hinzu: Erstens bekommt die EZB die Aufgabe, imVorfeld von EBA-Entscheidungen einen gemeinsamen Standpunkt der natio-

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Europäische Bankenaufsicht

15Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

nalen Aufsichtsbehörden der Euro-Staaten zu koordinieren. Folglich ist damitzu rechnen, dass die Euro-Staaten zumindest versuchen werden, mit einer Stim-me zu sprechen. Zweitens herrscht weitgehend Personalidentität zwischen demAufsichtsgremium der EZB und dem Rat der Aufseher der EBA. Die Vertreterder 17 Aufsichtsbehörden der Euro-Staaten sind Mitglieder sowohl im Auf-sichtsgremium der EZB – neben sechs EZB-Vertretern – als auch im Rat der Auf-seher der EBA, wo sie gegenüber den Vertretern der zehn Nicht-Euro-Staatendie Mehrheit bilden.

Diese Macht entspricht zwar den tatsächlichen Gegebenheiten, aber die EBAdürfte in der Folge viele ihrer grundsätzlich sinnvollen Kontrollfunktionen derEurozone gegenüber verlieren. EBA-Schlichtungen zwischen der EZB-Aufsichtund der Aufsichtsbehörde eines Nicht-Euro-Staates sowie EBA-Entscheidungenüber potenzielle Rechtsverletzungen seitens der EZB-Aufsicht werden ad absur-dum geführt. Die Vertreter der Eurozone im Rat der Aufseher müssen über ei-ne Entscheidung urteilen, die sie im EZB-Aufsichtsgremium selbst getroffen ha-ben. Auch die Schlichtung der EBA, die durchaus eine relevante Kontrollfunk-tion haben kann, wird für die Eurozone irrelevant. Künftig ist allein die EZB fürdie zentralen Aufsichtsaufgaben zuständig. Aufsichtsentscheidungen der EZB,die allein die Eurozone betreffen, können daher künftig nicht länger von derEBA im Schlichtungsverfahren überprüft werden, da es nichts mehr zu schlich-ten gibt. Das ist problematisch, da nationale Interessen auch die Neutralität derEZB-Aufsicht beeinträchtigen können.

Eine wichtige Koordinierungsfunktion der EBA dürfte der Dominanz der Eu-rozone ebenfalls zum Opfer fallen. Die rechtsverbindlichen Beschlüsse der EBAin Krisenzeiten erfordern nur eine einfache Mehrheit. Da die Aufseher der Eu-ro-Staaten im Rat der Aufseher über diese Mehrheit verfügen, können sie schonmit einer moderaten Koordination untereinander verbindliche Krisenmaßnah-men für die gesamte EU aussprechen. Folge wird sein, dass die Nicht-Euro-Staa-ten im Ministerrat unter Umständen versuchen werden, die rechtlich geforder-te Feststellung einer Krise, wofür die qualifizierte Mehrheit erforderlich ist, zublockieren. Die gerade in solchen Fällen notwendige EU-weite Koordinierungder Aufsichtsmaßnahmen wird daher nur inoffiziell und außerhalb der EBAstattfinden können, was in höchstem Maße problematisch ist.

Linderungsversuche der Europäischen Kommission

Ab 2017 finden die neuen Abstimmungsregeln, die mit dem Lissabon Vertrageingeführt wurden, im Ministerrat und auch in der EBA volle Anwendung. DieEuro-Staaten – vorausgesetzt deren Anzahl verringert sich nicht – verfügendann über eine qualifizierte Mehrheit. Alle rechtsverbindlichen technischenStandards der EBA werden daher von der EZB in erheblichem Maße bestimmtwerden können.

Die EU-Kommission, die sich dieser Machtverschiebung bewusst sein dürfte,versucht über Änderungen der Abstimmungsmodalitäten der EBA die Überle-benschancen ihres Vorhabens im Ministerrat zu sichern. Sie stärkt den Einflussder unabhängigen EBA-Gremien bei der Schlichtung und beim Vorgehen ge-gen EU-Rechtsverletzungen der Aufsichtsbehörden. Dort sind die Nicht-Euro-Staaten überproportional vertreten. Auch schlägt sie vor, dass der von Euro-Staaten dominierte Rat der Aufseher der EBA den Beschlussvorschlag einesGremiums nur noch unter verschärften Bedingungen ablehnen kann.

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Ordnungspolitische Positionen

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Die Entwicklung einheitlicher Regulierungs- und Aufsichtsstandards bleibtauch künftig Aufgabe der EBA, und diese Standards sind ebenfalls für die EZBverbindlich. Damit ist auch unter der neuen Aufsichtsstruktur die SchaffungEU-weit einheitlicher Bankenregeln („single rulebook“) möglich. Für die Ko-härenz der EZB-Aufsicht innerhalb der Eurozone sind diese Standards be-sonders wichtig: Nur mit einem umfassenden „single rulebook“ kann die EZBähnliche Aufsichtsfälle in allen Euro-Staaten ähnlich behandeln.

Der Versuch der Europäischen Kommission, die Bankenaufsicht neu zu regeln,gleicht einer doppelten Quadratur des Kreises. Erstens führt die primärrecht-lich gebotene und grundsätzlich notwendige Unabhängigkeit der EZB zu un-überwindbaren Konflikten. Zweitens ergeben sich aus der Zuständigkeit derEZB-Aufsicht nur für die Eurozone und der Zuständigkeit der EBA für die ge-samte EU unauflösliche Konflikte. Durch eine Zentralisierung der Euro-Ban-kenaufsicht bei der EBA würden zumindest die Beeinträchtigung der Unab-hängigkeit der EZB durch die von der EBA wahrzunehmenden Kontrollfunk-tionen, Interessenkonflikte zwischen Bankenaufsicht und Geldpolitik innerhalbder EZB sowie die politische Einflussnahme auf aufsichtsrechtliche Entschei-dungen der EZB vermieden. Soll die EZB dennoch für die Bankenaufsicht inder Eurozone zuständig sein, müssen der EBA zumindest für die Eurozonesämtliche Befugnisse zur Schlichtung, zum Erlass von Krisenmaßnahmen undzum Vorgehen gegen Rechtsverletzungen entzogen werden. Dies wiederumführt zu massiven Friktionen mit der Aufsicht in den Nicht-Euro-Staaten. �

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17Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Neue Geldordnung statt europäischer Bankenunion:Ein Beitrag zu mehr FinanzstabilitätProf. Dr. Richard ReichelGeschäftsführer des Forschungsinstituts für Genossenschaftswesen an der Universität Erlangen-Nürnbergund Professor für Volkswirtschaftslehre an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management, Essen

Die derzeit diskutierten Vorschläge zur Schaffung einer europäischen Bankenunion sind nicht geeignet, die Stabilität des

Finanzsystems zu verbessern. Sie führen lediglich zu einer Verschiebung von Haftung und gehen am Kern der Ursa-

chen von Finanzkrisen vorbei. Ursachenadäquat wäre dagegen eine fundamentale Neuordnung des Geldsystems, die eine

übermäßige Expansion der Geldmenge verhindert.

Die Vorschläge der Europäischen Kommission zurSchaffung einer europäischen Bankenunion sor-gen derzeit für Streit in der europäischen Politik,aber auch innerhalb der deutschen Ökonomen-Zunft. Am Anfang stand ein offener Brief an dieBevölkerung von einer Professorengruppe umHans-Werner Sinn.1 Dieser Brief thematisiert dieHaftungsrisiken, die auf deutsche Sparer im Zugeeiner solchen Bankenunion zukommen würden.Sinns Initiative blieb nicht lange unbeantwortet.Eine andere Gruppe von Ökonomieprofessorenantwortete mit einem eigenen Positionspapier –der sogenannten Frankfurter Stellungnahme –und sprach sich klar für eine europäische Banken -union aus. Zu den Erstunterzeichnern gehört Beatrice Weder di Mauro, ehemaliges Mitglied desSachverständigenrats.2 Wer sich von der ökonomi-schen Wissenschaft neutrale Aufklärung und Weg-weisung erhofft, bleibt angesichts dieses Zwists rat-los zurück, zumal beide Stellungnahmen von einergroßen Zahl von Professoren unterzeichnet wur-den und sich in beiden Gruppen renommierteVertreter ihres Fachs befinden.

Uneinheitliche Signale kommen auch aus der kre-ditwirtschaftlichen Praxis. Die Sparkassen und dieKreditgenossenschaften haben sich zwischenzeit-lich eindeutig positioniert und am 13. Septemberdieses Jahres einen offenen Brief an die Bundes-kanzlerin verfasst.3 Darin wenden sie sich gegen ei-ne Vergemeinschaftung der Einlagensicherung.Einzelnen Komponenten einer Bankenunion, bei-

spielsweise einer europäischen Aufsicht über sys-temrelevante Großbanken, stehen die Vertreterder Sparkassen und Kreditgenossenschaften prin-zipiell nicht ablehnend gegenüber, wohl aber ei-ner gemeinsamen europäischen Haftung für dieEinlagen. Die privaten Banken hingegen habendie Pläne zu einer Bankenunion als langfristigesZiel begrüßt, einschließlich des Vorschlags einergemeinsamen europäischen Einlagensicherung;allerdings fehlten gegenwärtig die Voraussetzun-gen dafür, und eine europäische Einlagensiche-rung könne erst der letzte Schritt sein.4

Trennung von Bankschulden und Staatsschulden

Der Vorschlag der Europäischen Kommission um-fasst drei Elemente einer Bankenunion:5 eine eu-ropäische Bankenaufsicht, einen europäischenAbwicklungs- und Restrukturierungsmechanismusfür Banken in Schieflage und eine Europäisierungder nationalen Sicherungssysteme.

Zunächst einmal verspricht man sich von einerBankenunion eine Kappung der unheilvollen Ver-bindung zwischen Staats- und Bankschulden.Allerdings wird bereits im Ansatz übersehen, dassdas Bankschuldenproblem nicht auf das Staats-schuldenproblem reduziert werden kann. Belastetwerden Bankbilanzen einerseits durch Staatspa-piere von oft zweifelhaftem Wert, andererseitsaber wesentlich durch risikoreiche und ausfallge-fährdete Kredite, die an die Privatwirtschaft verge-

1 www.faz.net/aktuell/wirtschaft/protestaufruf-der-offene-brief-der-oekonomen-im-wortlaut-11810652.html2 www.macroeconomics.tu-berlin.de/fileadmin/fg124/allgemein/Stellungnahme_zur_Europaeischen_Bankenunion.pdf3 www.bvr.de/p.nsf/index.html?ReadForm&main=6&sub=1&ParentUNID=AF7C51C203D78978C1257A77002FDFD1

4 www.bankenverband.de/publikationen/ods/aktuelles-stichwort-bankenunion5 ec.europa.eu/internal_market/finances/docs/committees/re-form/20120912-com-2012-510_de.pdf

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Europa und Deutschland

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ben wurden, oder durch Verbindlichkeiten derBanken untereinander. Eine Überwindung derStaatsschuldenkrise löst also das Problem derBankschulden genauso wenig wie umgekehrt.Schon gar nicht wird mit einer Bankenunion dastiefer sitzende Problem der latenten Zahlungsbi-lanzkrise der Euro-Südstaaten und ihrer mangeln-den Wettbewerbsfähigkeit angegangen.

Beschränkt man sich auf die Staatsschuldenprob -lematik, so können Maßnahmen zur Auftrennungder Verbindung zwischen Staats- und Bankschul-den durchaus vorteilhaft sein. Denkbar wäre esbeispielsweise, europaweite Eigenkapitalvorschrif-ten für Kredite an den Staat einzuführen. KeineStaatsanleihe ist zu einhundert Prozent sicher. ImSinne europäischer Harmonisierung wäre, wenndie Eigenkapitalunterlegung für alle Länder ein-heitlich und beispielsweise in Abhängigkeit vomRating eines Landes vorgeschrieben würde. Aller-dings scheint dieses Problem nicht auf der Tages-ordnung der europäischen Politik zu stehen. DieRegierungen haben kein Interesse an einer sol-chen Vorschrift, da sie den Absatz von Staatsanlei-hen erschweren dürfte.

Deutlich wird dies auch an den Vorschlägen zur Si-cherung der Bankenliquidität, die im Rahmen desRegelwerks „Basel III“ des Baseler Ausschusses fürBankenaufsicht gemacht werden. Danach geltenStaatspapiere neben Barmitteln und Einlagen beiZentralbanken als hochliquide Aktiva. Staatsanlei-hen sind in guten Zeiten liquide, in Krisen stellensie aber weniger einen Liquiditätspuffer dar, son-dern bergen erhebliches Abschreibungspotenzial.Kreditinstitute würden somit aufsichtsrechtlich ge-zwungen, erhöhte Risiken einzugehen. Für dieBanken würde eine Eigenkapitalunterlegung vonStaatskrediten erhöhte Eigenkapitalquoten impli-zieren, die erst einmal erreicht werden müssen.

Die Kappung von Bankrisiken und Staatsschul-den ist nur möglich, wenn die Staaten selbst dasRisiko ihrer Schuldverschreibungen reduzierenund ihre Haushalte in Ordnung bringen. Gegen-wärtig herrscht die absurde Vorstellung, der Staatkönne Banken mittels Regulierungsvorschriftenvor Risiken schützen, die er selbst schafft. EineEuropä isierung kann diese Absurdität auch nichtauflösen.

Fragwürdige Forderungen

Unverständlich bleibt, was die Frankfurter Stel-lungnahme mit ihrer Forderung nach einer „Eu-

ropäisierung der Kreditversorgung“ bezweckenwill, mit der konjunkturelle Schocks als Folge vonSparprogrammen gedämpft werden sollen. Ange-sichts der gegenwärtig verfolgten expansiven Geld-politik der Europäischen Zentralbank (EZB) stelltsich die Frage nach dem Sinn einer solchen For-derung. Die EZB hat die Funktion des Interban -ken marktes bereits teilweise übernommen, um dieLiquiditätsengpässe angesichts gesunkenen Ver-trauens der Banken untereinander zu überbrü-cken. Diese Kreditversorgung ist ohnehin „euro-päisch“. Sollte bei dieser Forderung an einen„Normalzustand nach Ende der Euro-Krise“ ge-dacht sein, ist sie ebenfalls schwer verständlich. Indiesem Fall würde der Geldmarkt bei wiederge-wonnenem Vertrauen ohnehin wieder funktionie-ren, und „europäisch“ wäre er dann so, wie er esvor der Krise war. Als Mittel zur Krisenbewältigungist der Vorschlag also wenig geeignet.

Auch der Ansatz eines europäischen Abwicklungs-und Restrukturierungsfonds für Banken in Schief-lage wird von der Frankfurter Stellungnahme be-grüßt. Fraglich ist allerdings, wo die Mittelausstat-tung für einen solchen Fonds herkommen soll. Daeine Ansparung von Barmitteln erhebliche Zeit inAnspruch nehmen und die Akkumulation von Ei-genkapital im Bankensektor beeinträchtigen dürf-te, liegt es nahe, Restrukturierungsaufwendungendurch Kredite zu finanzieren. Genau dies schlägtdie Frankfurter Stellungnahme vor, wenn sie denEuropäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) odereine „verstärkte europäische Einlagensicherung“ins Spiel bringt. Würde man den ESM nutzen, soläge allerdings lediglich eine Umverteilung der Ri-siken vor. Private Gläubiger würden entlastet unddie Steuerzahler belastet, da für den ESM die Staa-ten haften. Faule Altschulden würden also ledig-lich durch neue, potenziell nicht weniger fauleSchulden ersetzt.

Diese Idee steht im Widerspruch zur Feststellungdes Frankfurter Manifests, dass es keinesfalls umeine Vergemeinschaftung der Haftung für Bank-schulden gehen dürfe. Offenbar ist dieser Wider-spruch den Verfassern der Stellungnahme aufge-fallen, denn es heißt auch, die Abwicklung vonBanken könne „weitestgehend“ ohne Steuermittelauskommen – wie weitgehend, wird allerdingsnicht gesagt. Man erhofft sich wohl, dass die Haf-tung nicht zu weit gehen wird. Offenkundig han-delt es sich hier also um einen ordnungspolitischproblematischen Vorschlag, der sich überdiesdurch Naivität auszeichnet.

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Finanzstabilität

19Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Europäische Einlagensicherungund die Rolle von Regionalbanken

Eine europäische Einlagensicherung als weiteresElement der Bankenunion scheint vordergründigein geeignetes Instrument zu sein, den Banken-sektor krisensicherer zu machen. Die von derFrankfurter Stellungnahme geforderte und vonHans Werner Sinn kritisierte europäische Lösungerwähnt aber mit keinem Wort die unterschied-lichen Geschäftsmodelle und Strukturen der eu-ropäischen Banken. Regional orientierte Kredit-genossenschaften oder Sparkassen sind mit inter-national tätigen Groß- und Investmentbankennicht vergleichbar.

Zwar gibt es hier wie dort Schieflagen, doch ist de-ren Ursache grundverschieden. Im Kern entste-hen Schieflagen zunächst weniger dadurch, dassKredite an die Realwirtschaft „auf breiter Front“ausfallen, auch wenn Ausfälle im Einzelfall vor-kommen. Problematische Schieflagen sind ent-standen, weil wie im Fall Spaniens Vermögens-preisblasen finanziert worden sind, die später ge-platzt sind, oder im Fall Irlands Staatsgarantien fürfaule Kredite gewährt wurden bzw. sich internatio-nal agierende Großbanken mit ihren finanziellenEngagements weit von der Realwirtschaft entfernthatten.

Eine solche Strategie kann man bei regional täti-gen Kreditgenossenschaften und Sparkassen nichtausmachen. Weder haben sie zur Überhitzung ein-zelner Sektoren beigetragen noch haben sie sicham „Kasino“ im Allgemeinen beteiligt. Ein empiri-scher Beleg dafür ist auf makroökonomischer Ebe-ne zu finden, wenn man die aggregierte Bilanz-summe mit der Entwicklung des nominalen Brut-toinlandsprodukts (BIP) vergleicht. Entsprechen-de Zahlen für den kreditgenossenschaftlichen Sek-tor (einschließlich der Zentralinstitute) zeigen,dass sich die Relation zwischen Bilanzsumme undBruttoinlandsprodukt seit dem Jahr 2000 – mit ge-ringen Schwankungen – um zehn Prozent bewegt.

Dies zeigt, dass deutsche Genossenschaftsbankenihre Geschäftstätigkeit im Gleichgewicht mit derrealwirtschaftlichen Entwicklung ausgedehnt ha-ben. Insofern ist auch nicht verwunderlich, dassdie Wertberichtigungen der Genossenschaftsban-ken seit dem Jahr 2000 nicht zugenommen, son-dern im Trend abgenommen haben. ÄhnlicheEntwicklungen lassen sich bei den Sparkassen fest-stellen. Eine Ausweitung der Einlagensicherungauf die europäische Ebene würde bedeuten, dassHaftungsmasse umverteilt würde, die zur Absiche-

rung der Risiken von Kreditinstituten dient, die ri-sikofreudiger agieren – und dies dann sicherlichauch weiterhin tun werden.

Den deutschen Regionalbanken ist es bisher im-mer gelungen, Schieflagen in ihren eigenen Rei-hen aus eigener Kraft zu bewältigen. Dennochwird verschiedentlich die Notwendigkeit einerbreiter aufgestellten Einlagensicherung damit be-gründet, dass sich Kreditgenossenschaften undSparkassen selbst in ausreichendem Maße beiste-hen könnten, nicht aber ihren Zentralinstituten.Diese These wird beispielsweise von Gerhard Schick,dem finanzpolitischen Sprecher von Bündnis90/Die Grünen im Bundestag, vertreten.6

Die aggregierte Bilanzsumme der Landesbankenbeträgt gegenwärtig circa 1 400 Milliarden Euround ist damit um gut 30 Prozent höher als jene derSparkassen. Außerdem hat die jüngere Vergan-genheit gezeigt, dass die Landesbanken in die Spe-kulationsexzesse auf den Finanzmärkten verwi-ckelt waren. Dies wird nicht nur an öffentlich ge-wordenen Einzelfällen deutlich, sondern auch ander Entwicklung dieser Bankengruppe in Relationzum Bruttoinlandsprodukt. Hatte diese Relationim Jahr 2000 noch bei unter 58 Prozent gelegen,so blähte sich die Bilanzsumme der Landesbankenbis Mitte 2008 auf fast 65 Prozent des Bruttoin-landsprodukts auf.

Im genossenschaftlichen Sektor war dies aller-dings nicht der Fall. Einerseits hat es hier keineBilanzblase der Zentralinstitute gegeben, und an-dererseits ist das Verhältnis zwischen Zentral- undPrimärstufe anders. Die genossenschaftlichen Pri-märbanken verfügen über eine Bilanzsumme, dieetwa zweieinhalbmal so groß ist wie die der Zent -ral institute. Nichts spricht hier also gegen einweiterhin zuverlässiges Funktionieren der spar-teneigenen Einlagensicherung. Bei den Landes-banken gibt es dagegen Argumente für eine Re-organisation der Einlagensicherung, um derenKrisenanfälligkeit zu verringern. Ob die Siche-rung allerdings auf europäischer Ebene angesie-delt sein sollte, ist eine andere Frage. Eine Einbe-ziehung in ein nationales Sicherungssystem, dasalle international tätigen Großbanken umfasst,wäre eine Alternative.

Bei den privaten Banken sehen die Dinge andersaus. Hier liegt, gemessen an der Zahl und Größeder Institute, eine weit höhere Markt- und damit

6 www.welt.de/print/die_welt/wirtschaft/article109235951/Deutschlands-Probleme-mit-der-Bankenunion.html

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Europa und Deutschland

20 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

auch Risikokonzentration vor. Mit hoher Wahr-scheinlichkeit kann somit das Sicherungssystemder privaten Banken eine ernste Schieflage einesgroßen Instituts nicht auffangen. So ist auch dievorsichtige Zustimmung zu einer europäischenBankenunion, die aus dem Lager der privaten Ban-ken zu hören ist, erklärlich. Hätte der Bankensek-tor die Einlagensicherungsvolumina der Kreditge-nossenschaften und Sparkassen zur Verfügung,könnte er einige Risiken entschärfen. Bisher habenPrivatbanken jedenfalls einen Garantierahmen von2,2 Milliarden Euro aus dem Finanzmarktstabilisie-rungsfonds (SoFFin) eingeräumt bekommen.7

Probleme einer europäischenEinlagensicherung

Die Frage ist nicht, ob die Einlagensicherung eu-ropäisch oder national organisiert ist. Entschei-dend ist, ob ausreichend Mittel vorgehalten wer-den. Die Mittel können sehr wohl national undspartengetrennt organisiert werden. Was hier „aus-reichend“ ist, kann angesichts des weitgehend un-geklärten Volumens fauler Kredite in der Handeuropäischer Banken aber kaum bestimmt wer-den. Hier läge eine lohnenswerte Aufgabe für eineeuropäische Aufsicht. Bisher gibt es allerdings kei-ne Unterstützung für die These, dass eine europä-ische Aufsicht mehr Transparenz schaffen könnteoder effizienter funktionieren würde. Man schauenur auf die Erfahrungen mit den Stresstests dereuropäischen Bankenaufsichtsbehörde EBA (Eu-ropean Banking Authority).8 Offenkundig istBinnenmarkt-Kommissar Michel Barnier der An-sicht, Effizienz werde allein deshalb hergestellt,weil die Aufsicht europäisch sei. Einen Beweis fürdiese These bleibt er schuldig.

Ein weiteres Argument für eine europäische Einla-gensicherung wird wiederum von Gerhard Schickvorgebracht. Ihm geht es um eine „Entlastung derEZB“. Die Zentralbank habe wegen des Fehlens ei-ner solchen Einlagensicherung bereits die Ret-tung kriselnder Banken in Spanien sichergestellt,und diese Rettungsaktion sei auch mit Risiken fürdie deutschen Steuerzahler verbunden. Nur dassin diesem Fall sowohl eine demokratische Kont -rolle als auch „Auflagen und Gegenleistungen“fehlten.9 Zweifelsohne ist die These, die Europä -

ische Zentralbank sei mit ihrer Rettungspolitik Ri-siken für den Steuerzahler eingegangen, richtig.Richtig ist auch, dass wirksame Kontrollmechanis-men durch die Anteils eigner, also die National-staaten fehlen.

Dennoch greift das Argument zu kurz. Schick sug-geriert, eine europäische Einlagensicherung ge-währleiste eine bessere demokratische Kontrolle.Hier scheint der Wunsch der Vater des Gedankenszu sein. Wie bereits bei den Entscheidungen derEuropäischen Zentralbank deutlich geworden ist,ist auch bei einer europä ischen Aufsichtsbehördemit weitgehenden Vollmachten und Durchgriffs-rechten von einer Majorisierung durch die unsoli-de wirtschaftenden Staaten auszugehen. Sperrmi-noritäten oder eine Mitsprache nach Haftungsan-teilen wird es für die beteiligten Länder wohlkaum geben, und wenn, so besteht die Gefahr po-litischen Drucks, einmal festgelegte Grundsätzeaufzugeben. Die Geschichte der Währungsunionliefert reichhaltiges Anschauungsmaterial für die-se Befürchtung.

Außerdem ist nochmals auf die Problematik derBereitstellung ausreichender Haftungsmassen füreine solche Einlagensicherung hinzuweisen. DieGefahr besteht, dass eine europäische Einlagensi-cherung zunächst auf die Haftungsmassen der so-lideren Länder zugreift und dass – wenn diesenicht ausreichen sollten – wieder der Steuerzahlerin die Bresche springen muss. Dann wiederumwürden Fakten geschaffen, die „alternativloses“Handeln nötig machen würden. Eine deutscheBundesregierung würde sich gegen entsprechen-de Forderungen kaum ernsthaft wehren.

Schicks Forderung nach einer europäischen Einla-gensicherung ist aus einem weiteren Grundschwer nachvollziehbar. Aufgabe der Europä -ischen Zentralbank ist nicht, monetäre Staatsfi-nanzierung zu betreiben, und noch viel weniger,angeschlagenen nationalen Bankensystemen zuhelfen. Das Argument, man müsse auf eine euro-päische Einlagensicherung ausweichen, hört sichvor diesem Hintergrund wie eine beachtenswerteordnungspolitische Position an. Das ist sie abernicht, da ein solches Sicherungssystem lediglichRisiken auf eine andere supra nationale Behördeumverteilen würde.

Die Währungsordnung ist das Problem

Alle Vorschläge in Richtung einer Bankenuniongehen ohnehin an den tieferen Ursachen der Kri-

7 www.fmsa.de/de/fmsa/soffin/instrumente/massnahmen-ak-tuell/index.html8 www.zeit.de/wirtschaft/2011-12/stresstest-eba-ergebnisse9 www.ftd.de/unternehmen/finanzdienstleister/:europaeische-einlagensicherung-gerhard-schick-bankenunion-im-interesse-der-steuerzahler/70049315.html

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Finanzstabilität

21Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

se vorbei. Die Ursachen sind letztlich im System ei-nes ungedeckten Papiergeldstandards zu suchen,das einer Expansion der Geldmenge keine Gren-zen setzt. Diese Geldmengenexpansion, die so-wohl Zentralbankgeld wie Buchgeld umfasste, kammit der Aufhebung der Goldeinlösepflicht des US-Dollar im Jahr 1971 in Gang und ist im Zeitalterdes Euro beschleunigt weitergelaufen.

Der klassische Goldstandard hatte bereits im Jahr1914 aufgehört zu existieren. So konnte man inden Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg ein sig-nifikantes, sich ab dem Jahr 2000 beschleunigen-des Ansteigen des Verhältnisses zwischen aggre-gierten Bilanzsummen der Geschäftsbanken unddem Bruttoinlandsprodukt beobachten. Lag die-ses Verhältnis um 1950 noch bei etwa 50 Prozent,so stieg es bis zum Jahr 2008 auf über 200 Pro-zent.10

Bei einem Anteil der Kredite an der durchschnitt-lichen Bilanzsumme von 50 Prozent ist es nichtverwunderlich, dass sich bei einem daraus resul-tierenden Verhältnis von Krediten zum BIP vonüber 100 Prozent viele Kredite als faul erweisen.Weitere Geldmengenexpansion durch Erhöhungder von den Zentralbanken zur Verfügung gestell-ten Kreditmenge kann die erforderlichen Wertbe-richtigungen eine Zeitlang aufschieben, letztlichverhindern lässt sich eine Korrektur jedoch nicht.Dagegen sprechen schon die extrem niedrigen Ei-genkapitalquoten der Geschäftsbanken. Ausnah-men sind wiederum die Sparkassen und Genos-senschaftsbanken.

Man könnte nun der Ansicht sein, der Anstieg derQuoten sei kein Problem, weil er die zunehmendeMonetisierung entwickelter Volkswirtschaften re-präsentiere und möglicherweise sogar die Effi-zienz der Kapitalmärkte erhöhe. Eine solche Sicht-weise ist in der entwicklungsökonomischen Litera-tur vertreten worden. Mit Blick auf Entwicklungs-und Schwellenländer mag sie eine gewisse Berech-tigung haben. Selbst für die heutigen Industriena-tionen lässt sich ein Anstieg der Verhältnisse „Bi-lanzsumme der Banken/BIP“ und „Kredite/BIP“zwischen 1870 und 1900 feststellen. Damals befan-den sich die heutigen entwickelten Staaten tat-sächlich in einer Transformationsphase, so wieheute viele Schwellenländer. Solche exzessiven

Werte wie gegenwärtig sind allerdings damals beiWeitem nicht erreicht worden.

Übermäßiges Geldmengenwachstumbefördert Finanzkrisen

Der These der „monetären Modernisierung“ ha-ben schon früh die Konjunkturtheoretiker der Ös-terreichischen Schule widersprochen. Folgt manLudwig von Mises und Friedrich A. von Hayek, sosteht eine überreichliche Geldversorgung im Zent -rum sowohl von Konjunkturkrisen als auch vongroßen Währungskrisen. Leider ist die Österrei-chische Schule weitgehend von der Mainstream-Ökonomie marginalisiert worden, sodass einschlä-gige empirische Untersuchungen selten sind.

Eine Ausnahme ist die Arbeit von Moritz Schularickund Alan M. Taylor, die nicht nur umfangreichesDatenmaterial zusammengetragen haben, son-dern die sich auch der Frage widmen, ob die Ös-terreichische Konjunkturtheorie eine empirischeFundierung hat. Das Ergebnis der ökonometri-schen Untersuchungen ist eindeutig ausgefallen.Übermäßige Kreditexpansion spielt für die Erklä-rung von Finanz- und Konjunkturkrisen eine he -rausragende Rolle. Dabei ist es sekundär, ob dieKreditexpansion vom Geschäftsbankensektor odervon der Zentralbank ausgeht.

Die Österreichische Schule hatte primär die Zent -ralbanken im Blickfeld. Wie es scheint, erhält dieneokeynesianische Sicht, wie sie etwa von HymanMinsky vertreten wurde, ebenfalls empirischeUnterstützung. Ein Beispiel sind die Bilanzsummender Zentralbank sowie des Geschäftsbankensektorsin Großbritannien. So sank nach dem Zweiten Welt-krieg das Verhältnis zwischen Zentralbankgeldmen-ge und Bruttoinlandsprodukt auf circa vier Prozentim Jahr 1992 ab. Der Quotient war niedriger als zuZeiten des Goldstandards, als er etwa sieben Pro-zent betrug. Die Bilanzsumme der Geschäftsbankenhingegen explodierte nach 1972 förmlich. Sie stiegin Relation zum Bruttoinlandsprodukt von unter100 Prozent um 1970 auf über 500 Prozent gegen-wärtig.11

Auch die deutschen Erfahrungen mit dem Gold-standard sprechen für diese Sichtweise. So gingzwar die Deckung der monetären Basis durch

10 Vgl. Moritz Schularick/Alan M. Taylor, Credit booms gone bust:Monetary policy, leverage cycles and financial crises, 1870–2008,NBER Working Paper 15512, 2009. Die Verhältnisse in Großbritan-nien, Deutschland und den USA werden getrennt beleuchtet in: Sa-scha Binder/Dorothea Schäfer, Banken werden immer größer, in:DIW Wochenbericht 32/2011, Seiten 1–9.

11 Vgl. Piergiorgio Alessandri/Andrew G. Haldane, Banking on theState, Paper based on a presentation delivered at the Federal Re-serve Bank of Chicago twelfth annual International Banking Con-ference on „The International Financial Crisis: Have the Rules of Fi-nance Changed?“, 25. September 2009, Seiten 24 ff.

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Europa und Deutschland

22 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Gold in der Regel weit über die festgesetzte Drit-teldeckung hinaus, die volkswirtschaftliche Geld-menge expandierte jedoch ab 1895 überdurch-schnittlich stark. Stieg die Bilanzsumme der No-tenbanken im Zeitraum von 1900 bis 1913 um le-diglich 57 Prozent, also um jahresdurchschnittlich3,5 Prozent, so expandierte die Bilanzsumme derGeschäftsbanken um 123 Prozent, was einerdurchschnittlichen jährlichen Steigerungsrate um6,3 Prozent entsprach.12 Die volkswirtschaftlicheGeldmenge verdoppelte sich in dem Zeitraum.13

Die Folge war eine Umkehrung der bis 1895 eherdeflationären Entwicklung und die Entstehung ei-ner – wenn auch nach heutigen Maßstäben sehrgeringen – Inflation, da das Geldmengenwachs-tum das reale Wirtschaftswachstum überstieg. Willman also in einem Papiergeldstandard eine wirk-same Begrenzung der Geldmengenexpansion si-cherstellen, muss man sowohl die Zentralbank-geldmenge als auch die Buchgeldmenge im Augebehalten. Letztlich lassen sich Finanzkrisen nurdurch wirksame Begrenzung der volkswirtschaft-lichen Geldmengenexpansion verhindern.

Nur knappes Geld ist gutes Geld

Insbesondere von liberalen Ökonomen ist dieIdee des Währungswettbewerbs in die Diskussiongebracht worden. Folgt man Friedrich A. von Hayek,so würde die Zulassung konkurrierender Privat-währungen das staatlich legitimierte Papiergeldevolutionär verdrängen und stabile monetäre Ver-hältnisse herbeiführen.

Hier sei ein Vorschlag vorgestellt, der ohne kom -pletten Systemwechsel zu größerer Stabilität desmonetären Sektors und damit auch zu einer stabi-leren Realwirtschaft beitragen könnte. Er bestehtaus drei Elementen:

� Zum einen ist dies die Wiedereinführung derGolddeckung der monetären Basis, sei es in Formeiner Proportionaldeckung – bei der ein bestimm-ter Teil der Notengeldmenge durch Gold gedecktist – oder in Form eines Fiduziärsystems – bei demein bestimmter Teil der Notengeldmenge unge-deckt ist, während die darüber hinausgehende

Geldmenge zu hundert Prozent gedeckt ist. Zweckwäre die Begrenzung der Expansion der Zentral-bankgeldmenge. Gegen eine solche Maßnahme,die auch im nationalen Alleingang durchgeführtwerden könnte, werden regelmäßig zwei Argu-mente vorgebracht: Erstens, dass hierfür die Men-ge des verfügbaren Goldes nicht ausreichen wür-de; das ist indes lediglich eine Frage des De-ckungsgrades und des festzusetzenden Goldprei-ses. Schwerer wiegt der zweite Einwand, wonach esrein zufällig wäre, dass die Expansion der Geld-menge mit der Expansion der Wirtschaft Schritthalten würde. Hierzu ist anzumerken, dass dieGolddeckung lediglich einen Anker gegen eine zustarke Expansion der Zentralbankgeldmenge dar-stellt. Das volkswirtschaftliche Geldangebot hinge-gen könnte durchaus elastisch im Einklang mitdem realen Wachstum expandieren, wenn eineflexible (aber eben nicht übermäßige) Expansionder Buchgeldmenge zugelassen würde.

� Dies impliziert einen variablen Geldschöp-fungsmultiplikator, der beispielsweise über flexib -le Mindestreservesätze erreicht werden könnte.Dieses Instrument wurde allerdings bereits vorEinführung des Euro durch die Bundesbank auf-gegeben. Im Sinne einer Begrenzung der Kredit-geldschöpfung wären also flexible, aber generelldeutlich höhere Mindestreservesätze erforderlich.

� Um die Risikotragfähigkeit des Bankensystemszu erhöhen, sollte auch über eine Erhöhung derEigenkapitaldecke nachgedacht werden. Vorschlä-ge in diese Richtung werden im Rahmen der Re-gulierungsentwürfe von Basel III bereits gemacht.Fraglich ist aber, ob sie angesichts der dünnen Ei-genkapitalausstattung vieler Banken quantitativausreichend sind. Systematisch untersucht wurdediese Frage durch eine Studie, die zum Ergebniskommt, dass weit höhere Eigenkapitalquoten nö-tig sind, um Banken auch bei schweren realwirt-schaftlichen Schocks krisenfest zu machen.14 DieAutoren ermitteln einen Wert von circa 17 Prozentder Bilanzsumme für das harte Kernkapital. Dasmag hoch erscheinen und lässt sich auch nicht,ebenso wie die Schaffung eines Restrukturie-rungsfonds, in wenigen Jahren erreichen.

Leider wird in der Studie nicht nach unterschied-lichen Geschäftsmodellen der Banken differen-ziert. Anzunehmen ist aber, dass das relativ risiko-arme Geschäftsmodell der Sparkassen und Kredit-12 Vgl. Richard Tilly, Verkehrs- und Nachrichtenwesen, Handel,

Geld-, Kredit- und Versicherungswesen 1850–1914, in: WolfgangZorn (Hrsg.), Handbuch der deutschen Wirtschaftsgeschichte,Stuttgart 1976, Seite 591.13 Vgl. Richard Tilly, Zeitreihen zum Geldumlauf in Deutschland1870–1913, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Vo-lume 187, 1972/73, Seite 346.

14 Vgl. David Miles/Jing Yang/Gilberto Marcheggiano, OptimalBank Capital, Bank of England Discussion Paper No. 31: revised andexpanded version, 2011.

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Finanzstabilität

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genossenschaften geringere Eigenkapitalquotenerforderlich machen würde. Auch leuchtet es ein,dass an große, international tätige Geschäftsban-ken die höchsten Eigenkapitalanforderungen zustellen sind. Andererseits sind diese Institute vonausreichenden Eigenkapitalquoten im Sinne derStudie am weitesten entfernt. Also müssen zukünf-tige Regulierungsvorschriften an dieser Stelle an-setzen und nach den unterschiedlichen Geschäfts-modellen differenzieren.

Gegen dieses Maßnahmenbündel dürften sichWiderstände regen. Eine Golddeckung verhindertdiskretionäre geldpolitische Maßnahmen zur Kri-senbekämpfung und nimmt den Regierungenwirtschaftspolitischen Gestaltungsspielraum. Diesist der Preis für höhere Krisenresistenz; ob die Po-litik bereit ist, diesen Preis zu zahlen, bleibt abzu-warten. Höhere Mindestreserven und höhere Ei-genkapitalanforderungen15 dürften auf Wider-stand der Banken stoßen, da beide Maßnahmen

die Eigenkapitalrendite verringern und Krediteverteuern. Allerdings, so zeigt die Untersuchung,sind diese Effekte begrenzt.

Das Renditeargument ist aber noch aus einem an-deren Grund wenig überzeugend, da die gegen-wärtige extreme Niedrigzinspolitik der Europä -ischen Zentralbank im Zuge der Euro-Rettung dieGeschäftsbasis der Banken massiv aushöhlt. Ex-trem niedrige Zinsen haben eine Schrumpfungder Zinsspanne und damit massive Ertragseinbrü-che zur Folge.16 Betroffen sind besonders Regio-nalbanken wie Kreditgenossenschaften17 undSparkassen, bei denen circa 70 Prozent der Erträ-ge dem klassischen Zinsgeschäft zuzurechnensind. Die gegenwärtige Geldpolitik schafft also zu-künftige Instabilitäten in Sektoren, die sich bisherals stabil erwiesen haben. Letztlich ist dies die Kon-sequenz der nunmehr seit drei Jahren betriebe-nen Politik des „Durchwurstelns“ und der Verlage-rung der Probleme in die Zukunft. �

15 Historisch betrachtet sind hohe Eigenkapitalquoten nicht unge-wöhnlich: Die Eigenkapitalquote der britischen und US-amerikani-schen Geschäftsbanken betrug um das Jahr 1880 circa 15 bis 25Prozent; vgl. Piergiorgio Alessandri/Andrew G. Haldane, a. a. O.,Seite 24.

16 Vgl. Richard Reichel, Gibt es ein „Gesetz der sinkenden Zins-spanne“ bei Kreditgenossenschaften?, in: Zeitschrift für das gesamteGenossenschaftswesen, 2000, Seiten 203–213.17 Vgl. Peter Aubin, Das Risiko Niedrigzinsniveau, in: GenoGraph9/2012, Seiten 32–35.

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Europa und Deutschland

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Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit für die EurozoneDr. Hans-Joachim HaßBundesverband der Deutschen Industrie, Leiter der Abteilung „Wirtschafts- und Industriepolitik“

Zum Jahresende 2012 trüben sich Stimmung und Lage der Wirtschaft in der Eurozone deutlich ein. Die südeuropä ischen

Krisenstaaten befinden sich in einer mehr oder minder schweren Rezession, auch Frankreich ist davon erfasst. Konse-

quent marktwirtschaftliche Politik, die die Volkswirtschaften für den globalen Wettbewerb öffnet, muss die Strategie

zur Überwindung der Krise sein.

Deutschland zeigt bisher selbst inmitten einer re-zessiven Nachbarschaft robustes Wachstum. Aberauch hier trüben sich die Wachstumsaussichtenfür die zweite Jahreshälfte spürbar ein. Auf Dauerkann sich in einem aufs Engste verflochtenenWirtschaftsraum eben auch eine wirtschaftlichnoch so starke und wettbewerbsfähige Volkswirt-schaft nicht dem Abwärtssog ihrer schwächelndenNachbarn entziehen. Die Lösung der hartnäcki-gen und vielschichtigen Eurokrise wird durch die-se Gemengelage nicht eben einfacher. Überbor-dende Staatsschulden haben die Wachstumsbasisder betroffenen Ökonomien erodieren lassen, un-zureichendes Wachstum erschwert oder gefährdetdie notwendige Haushaltskonsolidierung. Sehrleicht kann dies in einen Teufelskreis münden,dessen Durchbrechen jedwede politische Gestal-tungskraft überfordern könnte.

Fast fünf Jahre liegt der Ausbruch der Finanz- undWirtschaftskrise bereits zurück, im Mai 2012 hatsich die erstmalige Zuspitzung der Griechenland-Krise schon zum zweiten Mal gejährt. Diese frag-würdigen Jubiläen zeigen schonungslos, wieschwer und tief die Eurozone vom Krisengesche-hen getroffen ist, und dies, obwohl die Finanz-und Wirtschaftskrise keineswegs in Europa ihrenUrsprung fand, sondern weit entfernt jenseits desAtlantiks. Offenbar hat diese Krise wie ein Kataly-sator tief verwurzelte wirtschaftliche Schwächenund hartnäckige politische Unzulänglichkeiten inder Eurozone offengelegt. Andere Wirtschaftsräu-me waren beim Weg aus der Krise schneller underfolgreicher, wenngleich sich auch hier ein äu-ßerst differenziertes Bild zeigt. In den USA ver-dichten sich langsam die Anzeichen für eine nach-haltigere Erholung von Wachstum und Beschäfti-gung. Die aufstrebenden Schwellenländer, allen

voran die BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, In-dien und China), folgen einem gedämpften, aberimmer noch dynamischen Wachstumstrend.

Lediglich die Eurozone schwächelt bei der Über-windung der Krise; sie ist heute die Krisenregionim weltwirtschaftlichen Gefüge schlechthin. Wür-den die globalen Finanzmärkte und in ihrem Ge-folge mit zeitlicher Verzögerung dann auch dieweltweiten Gütermärkte erneut einbrechen, wäredie regionale Quelle dieser Verwerfungen wohlnicht jenseits, sondern diesseits des atlantischenOzeans zu verorten. Die auslösenden Impulsehierzu gingen wohl von Europa aus. Dabei ist dasKrisengeschehen im Euroraum längst weitaus viel-schichtiger, als es das Problem der ausgeufertenStaatsverschuldung suggeriert. Mangelnde Wett-bewerbsfähigkeit der Wirtschaft, unzureichendeEinbindung in die Weltwirtschaft, fehlende Wachs-tumsdynamik, steigende Arbeitslosigkeit, kriselndeBankensysteme sowie wachsende Ungleichgewich-te in den Leistungsbilanzen kommen hinzu. Es istkeinesfalls überzogen, mittlerweile von einer fun-damentalen Krise der europäischen Gemein-schaftswährung und des Euroraums zu sprechen.Die noch vor sechs Monaten vorherrschende Dik-tion, es handele sich nicht um eine Eurokrise, son-dern um eine Staatsschuldenkrise im Euroraum,verfängt nicht mehr.

Europa weiterhin im Reparaturmodus

Europa hat es seit Ausbruch der Krise nicht ge-schafft, aus dem Reparaturmodus der Krisenbe-wältigung herauszukommen. Zahlreiche europä -ische Gipfeltreffen führten zu ebenso zahlreichenBeschlüssen zur Beherrschung des Krisengesche-

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Überwindung der Wirtschaftskrise

25Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

hens: Die temporäre Europäische Finanzstabilisie-rungsfazilität EFSF wurde mehrfach aufgestockt,der dauerhafte Europäische Stabilisierungsmecha-nismus ESM ist mittlerweile in Kraft, mit den Be-schlüssen des sogenannten „Six Pack“ sollen dieWettbewerbsfähigkeit gestärkt und die makroöko-nomischen Ungleichgewichte überwacht werden,mit dem europäischen Fiskalvertrag soll mehrHaushaltsdisziplin erzwungen werden, mit demPakt für Wachstum und Beschäftigung sollen zu-sätzliche Investitionen in den europäischen Wirt-schaftsraum mobilisiert und so die europäischeWachstumsbasis gestärkt werden.

All diese Einzelmaßnahmen führten bislang je-doch nicht zu einem großen zukunftsweisendenWurf bei der Rahmensetzung und der institutio-nellen Architektur der Eurozone. Europa bliebmit Reformen bezüglich seiner Regeln und Insti-tutionen weit hinter den Notwendigkeiten zurück.Das gesamte Instrumentarium zur Bewältigungder Krise lieferte keine überzeugenden Erklärun-gen, sondern verharrte in technokratischen Ein-zelmaßnahmen. Das notwendige Vertrauen konn-te so nicht wiederhergestellt werden. Der systema-tische Abfluss von Kapital, die Auflösung von Spar-guthaben und der sich ausbreitende Investitions-Attentismus in den Krisenländern sind hier deutli-che Warnhinweise.

Verloren gegangenes Vertrauen bei den Wirt-schaftssubjekten hat einen hohen Erklärungswertfür die Hartnäckigkeit und Tiefe der Krise im Eu-roraum. Doch nicht nur als Deutungsansatz fürdie Vergangenheit, auch mit Blick auf die Zukunftspielt Vertrauen die entscheidende Rolle. Vertrau-en ist eine herausragende Triebfeder für dieWachstumsperspektiven eines Wirtschaftsraums.Ohne Vertrauen fehlt dem Wachstum gewisserma-ßen der Nährboden. Fehlt die Vertrauensbasis, ge-rät der Wirtschaftskreislauf ins Stocken, bleibendie notwendigen langfristigen Investitionen ausund fällt im Gefolge das Wachstum zurück. Mehrnoch: Fehlendes oder unzureichendes Vertrauenuntergräbt auch die mentalen Voraussetzungendes Wachstums, indem es Leistungsbereitschaft,Zukunftsengagement und Arbeitsmotivation zer-stört.

Vertrauen als Voraussetzungfür Wirtschaftswachstum

Die vorrangige Aufgabe der Wirtschaftspolitik inEuropa besteht darin, das Vertrauen der Marktteil-nehmer – Unternehmen, Kapitalanleger und Kon-

sumenten – in die Handlungsfähigkeit und Anpas-sungsflexibilität der Eurozone als Ganzes und ih-rer einzelnen Mitglieder zurückzugewinnen. Ge-lingt dies nicht, wäre sogar der bisher erreichteGrad der Integration in Europa gefährdet. Nurüber breites und nachhaltiges Vertrauen gibt es ei-nen Ausweg aus der erdrückenden Problemmixturaus überbordender Staatsverschuldung, schwa-chem Wirtschaftswachstum und überschießendenLeistungsbilanzungleichgewichten. Dass dieseHerausforderung in Europa eine wirtschaftspoliti-sche Herkulesaufgabe markiert, versteht sich an-gesichts der Problemdimension von selbst. Er-schwerend kommt hinzu, dass es angesichts derVielschichtigkeit und Differenziertheit der Prob -lem lagen in den einzelnen Mitgliedstaaten der Eu-rozone keine einfachen, pauschalen Lösungengibt. Ein Königsweg, der allen betroffenen Volks-wirtschaften gleichermaßen gerecht wird, stehtnicht zur Verfügung.

Versucht man, die Hauptursachen des Vertrauens-schwundes in die Eurozone zu ergründen, stößtman schnell auf die fehlende Konsequenz undWeitsicht bei der vertraglichen und institutionel-len Weiterentwicklung der politischen Union Eu-ropas. Diese Versäumnisse sind nachzuholen. Zwarsind die notwendigen politischen Mehrheiten füreinen mutigen und Richtung weisenden Schritthin zu einem neuen Regelwerk und einer neueninstitutionellen Architektur der Eurozone zurzeitnicht kurzfristig organisierbar. Die politischeUnion Europas überfordert offensichtlich dasgegenwärtige politische Europa. Auch Deutsch-land scheint überfordert, weil es bis heute nichtwillens ist, eine seiner Größe und ökonomischenBedeutung entsprechende Führungsrolle bei derVertiefung der politischen Integration in Europazu übernehmen. Ohne eine klare langfristige Ziel-orientierung wird sich das notwendige Vertrauenjedoch nicht zurückbilden. Erst wenn ersichtlichwird, welchem langfristigen Ziel die beschlossenenMaßnahmen dienen, können sie von den Bürgernund den Märkten richtig verstanden und bewertetwerden.

Erst durch die Einbettung in ein langfristiges Ziel-portfolio können notwendige Einzelmaßnahmenihre vertrauensstiftende Wirkung entfalten. Undan der Spitze dieses Zielportfolios steht in der lan-gen Frist die Vollendung der politischen UnionEuropas. Das für nachhaltiges Wachstum notwen-dige Vertrauen der Wirtschaftssubjekte wird sichnur einstellen, wenn die bisher getroffenen Maß-nahmen konsequent umgesetzt werden. Bishersetzte immer unmittelbar nach getroffenen Be-

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Europa und Deutschland

26 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

schlüssen eine an Vielstimmigkeit kaum zu über-treffende Kakophonie an Interpretationsversu-chen und Verbesserungsvorschlägen ein, die dasmühsam Erreichte sogleich wieder zunichtemach-te. Dieses Zerreden getroffener Beschlüsse mussein Ende haben. Den Beschlüssen muss auch Zeiteingeräumt werden, um ihre Wirkungen entfaltenzu können. Auch Geduld gehört zur notwendigenVertrauensbildung.

Wachstum und Konsolidierung –keine Gegensätze

Eine Politik für mehr Wirtschaftswachstum in Eu-ropa muss an den spezifischen Problemlagen undan den differenzierten Chancenpotenzialen inden einzelnen Ländern ansetzen. Dabei ist auchder jeweilige historische Kontext zu beachten,denn in Jahrhunderten gewachsene politische undwirtschaftliche Strukturen können nicht einfachbeiseitegeschoben werden, sondern müssen dasFundament des jeweiligen Lösungswegs bilden.Grundlage eines solchermaßen problemadäqua-ten und ursachengerechten Politikansatzes musseine gründliche, von politischen Befindlichkeitenbefreite Bestandsaufnahme von Wettbewerbsstär-ken und -schwächen in den einzelnen Euro-Mit-gliedstaaten sein. Eine solchermaßen objektivierteLandkarte von Chancen und Problemen markiertdie politischen Handlungsnotwendigkeiten.

Häufig werden – selbst von renommierten Ökono-men – Haushaltskonsolidierung und Wirtschafts-wachstum in eine konträre, sich widersprechendePosition gebracht. Die notwendige Sanierung öf-fentlicher Haushalte wird dabei gelegentlich alsAusteritätspolitik diffamiert, die zu einem „Ka-puttsparen“ der europäischen Volkswirtschaftenführe. Eine solche Betrachtungsweise unterschlägtsystematisch die langfristigen Wirkungen der Kon-solidierung auf Vertrauen und Wachstumsmög-lichkeiten. Naturgemäß darf die Wirtschafts- undFinanzpolitik nicht bei der Konsolidierung stehenbleiben, sie darf sich nicht im Sparen erschöpfen.Wachstum und Konsolidierung sind somit keineGegensätze, sondern sie bedingen einander. Daseine darf nicht zulasten des anderen vernachläs-sigt werden.

Ohne grundlegend konsolidierte Staatshaushaltegibt es einerseits weder anhaltende Stabilität nochnachhaltiges Wachstum der Volkswirtschaften. So-lide Staatsfinanzen sind die beste Krisenvorsorge –in Deutschland, in Europa und in der Welt. Nach-haltige Haushaltskonsolidierung ist andererseits

auf Dauer nur mit zusätzlichem Wirtschaftswachs-tum zu erreichen. Der aussichtsreichste Weg zumErfolg führt über Wirtschaftswachstum und überdamit verbundene Steuermehreinnahmen. Sokönnen die betroffenen Volkswirtschaften aus ih-ren Schulden herauswachsen. Beide Politiksträngeerfordern jedoch nicht nur entschlossenes Han-deln, sondern auch Geduld. Weder entfaltet dieKonsolidierungspolitik ihre positiven Wachstums-wirkungen unmittelbar, noch führt ein höheresWachstum sofort zu einem Schuldenabbau.

Wettbewerbsfähigkeit – Schlüssel zu mehr Wachstum

Europa und insbesondere die Eurozone stehenvor einer doppelten Herausforderung aus Haus-haltskonsolidierung und Wachstumsstimulierung.Politisch bedeutet dies, dass der Europäische Fis-kalpakt, mit dem die notwendige Haushaltsdiszi-plin sichergestellt werden soll, um Maßnahmen er-gänzt werden muss, die auf eine Steigerung derinternationalen Wettbewerbsfähigkeit und damitauf ein höheres Wachstumspotenzial der europä -ischen Volkswirtschaften hinwirken. Der Globali-sierungswettbewerb ist deutlich schärfer und in-tensiver geworden. Die wirtschaftlichen Gewichtein der Welt verschieben sich in hohem Tempo. Vorallem sind es die bevölkerungsreichen Schwellen-länder, die in kürzester Zeit zu weltwirtschaft-lichen Schwergewichten heranwachsen. In einersolchen Ausgangssituation die europäische Wett-bewerbsfähigkeit nachhaltig zu steigern, ist einegroße He raus forderung.

Das wirtschaftliche Gewicht Europas in der Weltgerät nicht nur durch die aufstrebenden Schwel-lenländer unter Druck. Die ungünstige demogra-phische Entwicklung auf dem alten Kontinent tutein Übriges. Bereits heute ist Europa der mit Ab-stand wachstumsschwächste Wirtschaftsraum inder Welt. Dieser Befund geht dabei keineswegs aufdie jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise zurück.Die strukturelle Wachstumsschwäche Europasschwelt bereits seit vielen Jahren. Auch noch sowortreiche und bedeutungsschwangere Politik-strategien, wie etwa die bereits im März 2000 ver-abschiedete und im Anschluss kläglich gescheiter-te Lissabon-Strategie und die im Gefolge entwi-ckelte EU-2020-Strategie, konnten an diesem Be-fund bislang etwas ändern. Im Gegenteil: Im Zugeder jüngsten Krise verloren Europa und die Euro-zone weiter an ökonomischem und politischemTerrain.

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Überwindung der Wirtschaftskrise

27Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Eine vergemeinschaftete Politik zur Steigerungvon Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachs-tum stößt offenbar schnell an Grenzen. Erfolg ver-sprechender wäre es, wenn die EU-Mitgliedstaatenihre jeweiligen Wirtschaftspolitiken konsequentauf Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähig-keit fokussieren würden. Dies entspräche nichtnur dem immer stärker in den Hintergrund tre-tenden Subsidiaritätsprinzip, auch den nationaldifferenzierten Problemlagen und Stärken-Schwä-chen-Profilen der einzelnen Volkswirtschaftenwürde so Rechnung getragen. Die europäischenVolkswirtschaften müssen sich im Zuge einer Stra-tegie für mehr Wettbewerbsfähigkeit stärker denWeltmärkten und der Globalisierung zuwenden.Dies klingt beinahe selbstverständlich, ist es in derpolitischen Praxis allerdings nicht.

Dass Deutschland heute im innereuropäischenVergleich bei der Wettbewerbsfähigkeit, beimWirtschaftswachstum und bei der Beschäftigungso gut dasteht, hat viel damit zu tun, dass sich dasLand und seine Unternehmen konsequent derGlobalisierung zugewandt haben. Deutschland istso zum Globalisierungsgewinner geworden. DasLand hat es geschafft, an den globalen Mega-trends, die den weltwirtschaftlichen Strukturwan-del antreiben, überdurchschnittlich teilzuhaben.Schlüssel hierfür ist ein Spezialisierungsmuster inder Wirtschafsstruktur, das passgenau auf die An-forderungen dieses Wandels zugeschnitten ist.Dies muss auch das Ziel der wettbewerbsschwa-chen Mitglieder der Eurozone sein; ihr Globalisie-rungsgrad muss deutlich steigen. Je weiter mansich heute in Europa von Nord nach Süd bewegt,desto geringer wird tendenziell der Globalisie-rungsgrad der Volkswirtschaften.

Wachstum über den Markt, nicht über den Staat

Nachhaltiges Wirtschaftswachstum entsteht inmarktwirtschaftlichen Ökonomien auf dem Markt,nicht beim Staat. Nur wettbewerbsfähige Unter-nehmen mit ihren wertschöpfenden Aktivitätenam Markt können das notwendige Wirtschafts-wachstum erzeugen und die hierfür notwendigenBeschäftigungsmöglichkeiten anbieten. Der Staatselbst kann das Wachstum nicht erzeugen, wohlkann er aber durch das Setzen geeigneter Rah-menbedingungen und durch das Schaffen derinfra strukturellen Voraussetzungen das Wachstumbefördern. Dies ist eine ökonomische Binsenweis-heit.

Umso erstaunlicher ist, dass dieser Zusammen-hang heute in Europa keineswegs wirtschaftspoliti-sches Allgemeingut ist. Allerorten liebäugeln Öko-nomen, Publizisten und Politiker mit dem Staat alsHauptakteur beim Wirtschaftswachstum. Hoch do-tierte staatliche Wachstums- und Konjunkturpro-gramme sollen nicht nur das Wachstum per se be-fördern, sie sollen gleichzeitig auch noch für gu-tes, das heißt nachhaltiges und ökologischesWachstum sorgen. In welchen Sektoren und mitwelchen Technologien ein solches Wachstum zuerzeugen ist, das weiß nach dieser Philosophie derStaat am allerbesten.

Deutschland ist mit seinem im Großen und Gan-zen marktwirtschaftlichen Kurs bislang gut gefah-ren. Zwar ist es im Zuge der Krisenbewältigung ander einen oder anderen Stelle vom Pfad dermarktwirtschaftlichen Tugend abgewichen undhat an ordnungspolitischer Klarheit und Konse-quenz eingebüßt. Binnen weniger Jahre hat sichdas Land jedoch vom „kranken Mann“ zumWachstumsmotor Europas entwickelt, der nichtnur überraschend schnell den tiefen krisenbe-dingten Einbruch überwunden hat, sondern auchdas finanzpolitische Rückgrat der gesamten Euro-Rettung bildet. Die Erkenntnis dieser Zusammen-hänge sollte es den kriselnden Euro-Staaten leich-ter machen, einen marktwirtschaftlichen Kurs inder Wirtschafts- und Finanzpolitik zu verfolgen,ohne Staatsinterventionen, ohne Schulden, ohneaufwendige Ausgabenprogramme.

Faule Kompromisse darf es an dieser Stelle nichtgeben, weil alle Erfahrung lehrt, dass schuldenfi-nanzierte Programme kein dauerhaftes Wirt-schaftswachstum, sondern bestenfalls ein kurzfris-tiges Strohfeuer generieren können. Schuldenfi-nanzierte staatliche Ausgabenprogramme würdenan den Ursachen der vielschichtigen Problemlagein der Eurozone vorbeigehen. Während in denKrisenjahren 2008/2009 die globale Nachfrageeinbrach und es daher gerechtfertigt war, mitstaatlichen Nachfrageprogrammen gegenzusteu-ern, sind die heutigen Probleme in den Krisenlän-dern eher struktureller Natur und auf der Ange-botsseite der Volkswirtschaften verortet.

Die überbordende Staatsverschuldung ist einesdieser angebotsseitigen Kernprobleme in der Eu-rozone; viele andere Probleme leiten sich darausab. In einer solchen Situation die Staatsverschul-dung weiter in die Höhe zu treiben, um kurzfristi-ge Nachfrageimpulse auszulösen, hieße, den Teu-fel mit dem Beelzebub auszutreiben. Keine derangebotsseitigen Strukturschwächen würde ge-

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Europa und Deutschland

28 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

löst, die Nachfragewirkung würde rasch verpuf-fen, der abzutragende Schuldenberg würde hö-her und damit unüberwindlicher werden. In derPolitik wird bislang zu viel Phantasie und Energieauf das Ausgeben von Geld verwendet. Problema-tisch wird dies insbesondere dann, wenn es sichdabei um Geld handelt, das der Staat noch garnicht über sein Steuer- und Abgabensystem einge-nommen hat.

Privates Investitionskapital mobilisieren

Eine Schlüsselrolle für mehr Wirtschaftswachstumund höhere Wettbewerbsfähigkeit kommt den In-vestitionen zu. Sie erweitern die Produktionsmög-lichkeiten, schleusen neues technisches Wissen indie Herstellungsprozesse, erschließen neue Märk-te und sorgen für Arbeitsplätze. Anlagebereites In-vestitionskapital ist heute global mobil. Diese Ka-pitalmobilität ist es, die den Globalisierungswett-bewerb antreibt. Die einzelnen Wirtschaftsstand-orte müssen sich diesem Wettbewerb um knappeund mobile Faktoren stellen, dies gilt auch für dieKrisenländer der Eurozone. Nur dorthin, wo dieInvestitionsbedingungen gut sind und wo sichneue Märkte auftun, wird das Investitionskapitalströmen.

Eine „Willkommenskultur“ für Investitionen, dasist es, was die wachstums- und investitionsschwa-chen Euro-Mitglieder brauchen. Von einer sol-chen Willkommenskultur kann in den Krisenlän-dern der Eurozone nicht die Rede sein. Im Gegen-teil: Überbordende Bürokratie, unzureichendfunktionierende Verwaltungen, hohe standortab-hängige Kosten und zahlreiche weitere Widrigkei-ten machen Investoren das Leben in diesen Län-dern schwer. Die Länder stecken nicht in erster Li-nie deshalb in der Rezession, weil der Defizitabbaudas Wachstum abwürgt, sondern weil sie nicht at-traktiv genug sind für privates Kapital für die drin-gend benötigten Investitionen.

Hier gilt es anzusetzen: Investitionshemmnissemüssen abgebaut und marktkonforme Anreize fürInvestitionen gesetzt werden. Dies gilt sowohl fürden Bereich marktorientierter Unternehmensin-vestitionen als auch für Investitionen in die Infra-struktur. Angesichts der abzubauenden Schulden-höchststände sind die öffentlichen Haushalteüberfordert, den Modernisierungs- und Ausbau-bedarf in der Infrastruktur allein zu tragen. Besse-re Rahmenbedingungen sind notwendig, um pri-vates Anlagekapital für Investitionen in die Infra-struktur zu mobilisieren. In den öffentlichen

Haushalten der betroffenen Staaten sind durchein Umschichten von konsumtiven zu investivenAusgaben Spielräume für eine investitionsorien-tierte Wachstumspolitik zu schaffen. Privates In-vestitionskapital, das nach rentabler Anlage sucht,ist weltweit reichlich vorhanden. Den eigenenStandort für dieses Kapital attraktiv zu machen, istdas Gebot der Stunde.

Neben den nationalen Volkswirtschaften ist auchdie Europäische Union als Ganzes gefordert, Wirt-schaftswachstum durch Investitionen zu beför-dern. Nicht nur die Krisenländer leiden unter ei-nem Investitions-Attentismus, sondern er erfasstwegen fehlenden Vertrauens der Investoren in dieeuropäische Politik und in das europäische Wirt-schaftsmodell Europa bzw. die Eurozone als Gan-zes. Ansatzpunkte der Gemeinschaft zur Stärkungdes Investitionsgeschehens bestehen vor allemdort, wo es um Infrastrukturen geht, die transeu-ropäisch wirken. Mit „Trans-European Networks“und „Connecting Europe“ liegen bereits inhaltli-che Konzepte vor, die nun im Rahmen einer euro-päischen Wachstumsinitiative forciert angegan-gen, umgesetzt und weiterentwickelt werden kön-nen. Allein im Bereich der europäischen Energie-netze wird der Investitionsbedarf in den kommen-den zehn Jahren auf rund 200 Milliarden Euro ge-schätzt. Ähnlich großen Investitionsbedarf gibt esauch in der Verkehrs- und der Telekommunika-tionsinfrastruktur. Für all dies sind Finanzmittelnotwendig; auch hier gilt jedoch: Vorrang für pri-vates Kapital.

Industrie als Wachstumstreiber

Eine Wachstumsinitiative für Europa, die erfolg-reich sein will, wirft die Frage auf, in welchen Sek-toren der Wirtschaft dieses Wachstum generiertwerden kann und soll. Blickt man diesbezüglichauf Deutschland, so wäre die Antwort klar: ZweiDrittel des Wirtschaftswachstums der vergangenenbeiden Jahre wurden in der deutschen Industrieerzeugt, nimmt man die industrienahen Dienst-leistungen hinzu, erhöht sich dieser Wachstums-beitrag sogar auf drei Viertel. Industrie und indus-trienahe Dienstleistungen bilden zusammen einenKernsektor, der für ein knappes Drittel der Wert-schöpfung in Deutschland steht.

Dieser Kernsektor bildet Deutschlands Wachs-tumsbasis; ohne ihn wäre Deutschland nach derjüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise nicht soschnell wieder auf einen auskömmlichen Wachs-tumspfad zurückgekehrt. Anders als in den meis-

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Überwindung der Wirtschaftskrise

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ten anderen hoch entwickelten Volkswirtschaftenist in Deutschland der Wertschöpfungsanteil derIndustrie in den letzten Jahren gegen den allge-meinen Trend hoch geblieben. Demgegenüberweisen die europäischen Krisenländer eine tiefgreifende und weiter fortschreitende Deindustri-alisierung auf. Dies rächt sich jetzt in der Krise,weil Wachstums- und Wertschöpfungspotenzialefehlen.

Dieser Befund legt nahe, dass eine erfolgreicheWachstumsinitiative für Europa industriebasiertsein muss. Die Stärkung der europäischen Indus-trie ist ohne Alternative, auch hier gibt es jedochkeine allgemeingültige Strategie. Die einzelnenMitglieder der Eurozone verfügen über spezifi-sche Profile in ihrer Wirtschaftsstruktur. Diese Dif-ferenzierung muss von einer wachstumsorientier-ten Wirtschaftspolitik beachtet werden. Eine sol-che Politik muss zudem marktwirtschaftlich sein,das heißt, sie muss über günstige Rahmenbedin-gungen und Infrastrukturen versuchen, Wert-schöpfungspotenziale zu heben, ohne eine be-stimmte idealtypische Wirtschaftsstruktur herbei-lenken zu wollen.

So erfolgreich und wettbewerbsfähig die deutscheindustriebasierte Wirtschaftsstruktur in Deutsch-land ist, so wenig taugt sie als einfach zu überneh-mende Blaupause für andere Staaten. Wohl aberbildet die deutsche Industrie aufgrund ihrer Grö-

ße, Ausdifferenzierung und Wettbewerbsstärkeden Anker für die Erneuerung der europäischenWirtschaftsstruktur. Nicht Deutschland imitieren,sondern für industrielle Kooperation mit Deutsch-land wettbewerbsfähig werden, ist eine Erfolg ver-sprechende Strategie für die europäischen Part-nerländer mit industriellem Aufholbedarf.

Sollen Industrie und industrienahe Dienstleistun-gen in den Fokus einer europäischen Wachstums-initiative gerückt werden, so braucht die Politikhierfür einen langen Atem. International wettbe-werbsfähige Industriestrukturen lassen sich nichtüber Nacht herbeifördern. Deindustrialisierungs-prozesse, die bereits über längere Zeit wirksamsind, lassen sich nicht kurzfristig stoppen oder garzurückdrehen. Diese Erfahrung musste beispiels-weise Großbritannien machen, das über langeJahre seinen Industriesektor zugunsten des Fi-nanzstandorts London systematisch vernachläs-sigt hatte. Mit dem im Jahr 2009 vorgestellten in-dustriepolitischen Konzept „New industry, newjobs“ versuchte das Land, seine geschrumpfte in-dustrielle Basis zu reanimieren – bislang ohnedurchschlagenden Erfolg. Zeit wird somit zumkritischen Faktor bei der Krisenbewältigung. Sowie auch die in den betroffenen Ländern notwen-digen Strukturreformen hinreichend Zeit benöti-gen, um ihre Wirkungen zu entfalten, so brauchterst recht eine Re-Industrialisierung Europas Zeitund Geduld. �

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Europa und Deutschland

30 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Jahresgutachten des Sachverständigenrates: „StabileArchitektur für Europa – Handlungsbedarf im Inland“Dr. Peter WesterheideChefvolkswirt der BASF SE und Research Fellow am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), Mannheim

Das aktuelle Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung stellt

auch in diesem Jahr die Schulden- und Wirtschaftskrise in Europa in den Mittelpunkt. Neben ausführlichen Analysen zur

Situation der Krisenländer in Südeuropa werden Reformoptionen für den institutionellen Rahmen der Europäischen Wäh-

rungsunion und zur Regulierung der Finanzmärkte erörtert. Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Energiewende in

Deutschland und die Lehren, die aus den Entwicklungen am Strommarkt in den letzten Jahren zu ziehen sind. Das Gut-

achten ist im Internet abrufbar unter www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de.

Die aktuelle Konjunkturprognose des Sachver-ständigenrates erfolgt vor dem Hintergrund einervon besonderer Unsicherheit geprägten weltwirt-schaftlichen Lage. Entscheidend für die konjunk-turellen Perspektiven sei vor allem die Entwick-lung im Euroraum: „Die Prognose ist stark von derAnnahme abhängig, dass das Vertrauen in die In-tegrität des Euroraums nicht weiter erodiert“ (TZ78). Aber auch die Konsolidierungsmaßnahmenin den USA – deren Umfang derzeit noch nichtabsehbar ist und die im Allgemeinen unter demBegriff „fiskalische Klippe“ subsumiert werden –bergen erhebliche Risiken.

Für Deutschland erwartet der Sachverständigen-rat, dass der Tiefpunkt der wirtschaftlichen Akti-vität bereits im vierten Quartal 2012 erreicht wer-de. Er prognostiziert allerdings für das Jahr 2013lediglich eine Wachstumsrate von 0,8 Prozent desBruttoinlandsprodukts. Im Gegensatz zum Vorjahrkommt dieser schwache Zuwachs ausschließlichvon der Binnennachfrage. Er wird vor allem vomprivaten Konsum getragen, der wie im Vorjahrrund einen halben Prozentpunkt zum Wachstumbeiträgt. Auch die staatlichen Konsumausgabensteuern 0,2 Prozentpunkte zum gesamtwirtschaft-lichen Wachstum bei. Die Bauinvestitionen liefernebenfalls jeweils einen kleinen Beitrag von 0,2 Pro-zentpunkten zum Wachstum. Sie profitieren vorallem von der robusten Wohnungsbaukonjunktur,weniger vom öffentlichen Bau und vom Wirt-schaftsbau.

Der Außenbeitrag, der im Vorjahr die leicht rück-läufigen Anlageinvestitionen und einen negativenBeitrag bei den Lagerinvestitionen kompensieren

konnte, wird nach Auffassung des Rates im Jahr2013 keinen positiven Beitrag leisten können. Ne-ben der Euro-Krise liegt dem eine im Vergleichzum allgemeinen Prognosehorizont konservativeEinschätzung der Wachstumsperspektiven in denwichtigen Exportmärkten USA und China zugrun-de. Für die USA erwarten die Sachverständigen alsFolge der negativen fiskalpolitischen Impulse le-diglich ein Wachstum von 1,5 Prozent. Auch fürChina wird keine Wachstumsbelebung für 2013prognostiziert (7,7 Prozent).

Das Bruttoinlandsprodukt im Euroraum wirdnach der Prognose des Rates im kommenden Jahrinsgesamt beinahe stagnieren (- 0,1 Prozent). Por-tugal, Italien, Spanien und Griechenland werdenin der Rezession verharren, Frankreich wird mit0,3 Prozent allenfalls schwach wachsen. Vor die-sem Hintergrund ist von den Exporten kein we-sentlicher Impuls zu erwarten. Die Importe wer-den wegen des stabilen Zuwachses beim privatenVerbrauch und einer zunehmenden Investitions-neigung dagegen deutlich stärker als im Vorjahrwachsen (2012: 2,5 Prozent, 2013: 4,2 Prozent).

Mitglieder des Rates

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Franz(Vorsitzender)Prof. Dr. Peter BofingerProf. Dr. Claudia M. BuchProf. Dr. Lars P. FeldProf. Dr. Christoph M. Schmidt

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Sachverständigenrat

31Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Die Arbeitsmarktlage wird voraussichtlich weitge-hend stabil bleiben: Sowohl die Zahl der Erwerbs-tätigen als auch die der Arbeitslosen wird nurleicht ansteigen. Die Quote der registrierten Ar-beitslosigkeit wird um 0,1 Prozentpunkte auf 6,9Prozent zunehmen, während die anders abge-grenzte international vergleichbare Erwerbslosen-quote um 0,1 Prozentpunkte auf 5,2 Prozent sin-ken wird.

Bezieht man die Unterbeschäftigung mit ein – alsodiejenigen Personen, die an arbeitsmarktpoliti-schen Maßnahmen teilnehmen oder sich im Vor-ruhestand befinden und deshalb nicht als arbeits-los gelten –, dann ergibt sich für 2012 eine weitaushöhere Quote, die aufgrund der positiven Arbeits-marktentwicklung aber rückläufig ist: Während2011 noch 9,7 Prozent der Erwerbspersonenunterbeschäftigt waren (inklusive der registriertenArbeitslosen, aber ohne Kurzarbeit), werden es imJahr 2012 voraussichtlich nur noch neun Prozentsein. Trotz der positiven Entwicklung am Arbeits-markt konnten damit 2012 immer noch knappvier Millionen Personen keine Beschäftigung amersten Arbeitsmarkt finden.

Eingetrübte Lageder südeuropäischen Länder

Auch in diesem Jahr erörtert der Sachverständi-genrat ausführlich die makroökonomische Lageund die Möglichkeiten zur Verbesserung der insti-tutionellen Rahmenbedingungen im Euroraum.

Die Situationsanalyse fällt ernüchternd aus: DieLage der südeuropäischen Länder hat sich massiveingetrübt, die Verschuldung hat trotz aller Kon-solidierungsanstrengungen zugenommen. Wieschon in seinem im Juli 2012 veröffentlichtenSondergutachten zur Euro-Krise untergliedert derSachverständigenrat die Krise in drei Teilkomple-xe: eine Staatsschuldenkrise, eine makroökonomi-sche Krise und eine Bankenkrise. Fatalerweise ver-stärken sich diese Teilkrisen in einem Teufelskreis:Die Schuldenkrise zwingt zu Konsolidierungsan-strengungen, die das gesamtwirtschaftliche Wachs-tum zumindest kurzfristig dämpfen. Die damit ein-hergehenden Einnahmenverluste und Zusatzaus-gaben des Staates sowie die Maßnahmen, die zurBankenrettung erforderlich sind, verschlimmerndie Staatsschuldenkrise. Höhere Staatsschuldenführen zu höheren Risikoprämien am Staatsschul-denmarkt. Im Endeffekt sinken die Kurse staat-licher Wertpapiere, was wiederum die Bankbilan-zen belastet. Die Banken haben außerdem höhere

Kreditausfälle bei privaten Schuldnern zu be-fürchten. Beide Effekte verringern die Kreditver-gabebereitschaft und -möglichkeit des Bankensys-tems, was wiederum die makroökonomische Kriseverstärkt. Vor diesem Hintergrund habe die Eu-ropäische Zentralbank „als einzige uneinge-schränkt handlungsfähige Institution des Euro-raums“ (TZ 106) Maßnahmen zur Stabilisierungdes Währungsraums (Bankenrefinanzierung, An-kündigung unbegrenzter Anleiheankäufe) tref-fen müssen.

Kritisch setzt sich der Rat mit der „systematischenUnterschätzung“ der makroökonomischen Effekteder Konsolidierungspolitik durch die volkswirt-schaftlichen Prognostiker auseinander: „Das ver-deutlicht, wie schwierig es ist, die Auswirkungenvon Sparprogrammen und Strukturreformen imVoraus abzuschätzen“ (TZ 113). Er verweist dabeiauf den Internationalen Währungsfonds (IWF),der noch im September 2011 für das Wirtschafts-wachstum in Italien und Spanien eine positive Ent-wicklung und für Portugal und Griechenland le-diglich Rückgänge um rund zwei Prozent erwartethabe: „Mittlerweile liegen die voraussichtlichen Zu-wachsraten für das Jahr 2012 um bis zu vier Pro-zentpunkten unter diesen Werten“ (TZ 113). Ähn-lich wie die Prognose des IWF lag allerdings auchdie letztjährige Prognose des Sachverständigenra-tes deutlich zu hoch: Für den gesamten Euroraumerwartete er im November 2011 noch eine Wachs-tumsrate von 0,9 Prozent für 2012. Im aktuellenGutachten geht der Rat dagegen von einem Rück-gang um 0,7 Prozent aus.

Mittlerweile sind bei den Leistungsbilanzdefizitenund bei den Lohnstückkosten Verbesserungen inden Krisenländern festzustellen. Der Rat erkenntdiese Entwicklungen als positiv an, warnt aber da-vor, sie überzubewerten. So lässt sich die Verbesse-rung der Leistungsbilanzdefizite zumindest teil-weise auch durch die allgemeine Nachfrageschwä-che und den Rückgang der Importe erklären. Ins-besondere in Spanien sind aber auch deutlicheZuwächse der Exporte zu verzeichnen. In der Ver-besserung der Lohnstückkosten kommt auch diesogenannte Entlassungsproduktivität zum Aus-druck: „Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sichdie Produktivität eines Landes statistisch alleinschon dann verbessern kann, wenn Arbeitnehmermit einer geringeren Produktivität entlassen wer-den“ (TZ 121). Neben der im Grundsatz positivenEntwicklung außenwirtschaftlicher Eckdaten ver-weisen auch Reformindikatoren darauf, dass diesüdeuropäischen Länder bereits erhebliche An-

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Europa und Deutschland

32 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

strengungen zur Steigerung ihrer Wettbewerbsfä-higkeit unternommen haben.

Maastricht 2.0:Ein Reformkonzept für Europa

Im Gegensatz zu den verhalten positiven Entwick-lungen bei einigen makroökonomischen Kenn-zahlen sieht der Rat nur wenige Fortschritte imBankensektor: „Höhere Eigenkapitalanforderun-gen, anhaltende Wertverluste auf der Aktivseiteund die ungünstigeren konjunkturellen Perspekti-ven haben sich zusammen mit einer abgeschwäch-ten Kreditnachfrage zunehmend negativ auf dieKreditvergabe der Banken ausgewirkt“ (TZ 124).Aus diesem Grund habe die Europäische Zentral-bank (EZB) auch die Refinanzierung der Bankenmassiv stützen müssen. In dieser Hinsicht unter-scheide sich die Geldpolitik der EZB auch funda-mental von derjenigen der englischen und deramerikanischen Notenbank: Während diese vor al-lem zusätzliche Staatsanleihen und private Anlei-hen im Rahmen ihrer „Quantitative Easing“-Pake-te gekauft hätten, habe sich die EZB vor allem aufdie Refinanzierung der Banken fokussiert (durchSenkung der Mindestreservesätze und der Besi-cherungsanforderungen sowie Verlängerung derLaufzeiten bei den Refinanzierungsgeschäften).

Sehr kritisch bewertet der Sachverständigenrat dieAnkündigung eines unbegrenzten Erwerbs vonStaatsanleihen am Sekundärmarkt im Rahmen desProgramms „Outright Monetary Transactions“(OMT) der EZB. Auch wenn diese Interventionennur nach erfolgreichem Antrag auf Unterstützungdurch die Rettungsschirme – den EuropäischenStabilisierungsmechanismus (ESM) beziehungs-weise die Europäische Finanzstabilisierungsfazi-lität (EFSF) – erfolgen sollen und bei Nichteinhal-tung der Voraussetzungen sofort gestoppt werdenmüssen: „Es ist nicht auszuschließen, dass im poli-tischen Prozess der Anreiz besteht, die Einhaltungeines Programms zu attestieren, um so die weitereUnterstützung durch die EZB zu gewährleisten.Die damit verbundene Aufweichung der Grenzezwischen Geld- und Fiskalpolitik ist daher in ho-hem Maße bedenklich und allenfalls als Notlösungzu sehen, nicht aber als dauerhafter Stabilisie-rungsmechanismus“ (TZ 134).

Entwarnung gibt der Sachverständigenrat dage-gen in puncto Inflation. Im aktuellen konjunktu-rellen Umfeld seien die Inflationsgefahren im Eu-roraum insgesamt, aber auch in Deutschlanddenkbar gering. Auch die aktuellen Entwicklun-

gen bei den deutschen Immobilienpreisen besor-gen das Gremium nicht: Hier handele es sich bis-lang eher um einen Aufholprozess als um einefundamentale Fehlentwicklung.

Die bisherigen institutionellen Reformen (vor al-lem die Reform des Stabilitäts- und Wachstums -paktes und des Fiskalvertrages sowie die Mechanis-men zur Überwachung makroökonomischer Un-gleichgewichte) im Euroraum sind nach Ansichtdes Rates noch unzureichend. Die Sachverständi-gen sprechen sich daher abermals für einen kon-sequenten Ausbau der drei Säulen einer stabili-tätsorientierten Fiskalpolitik, eines effektiven Kri-senmechanismus und einer leistungsfähigen Fi-nanzmarktregulierung aus. Dieses nun als „Maast-richt 2.0“ apostrophierte Konzept wurde in seinenGrundzügen bereits in den Gutachten der beidenVorjahre vorgestellt.

Einige Fortschritte seien bereits erzielt worden,aber viele Baustellen blieben noch. Im Rahmender ersten Säule müsse zum Beispiel noch nachge-schärft werden: Die Fiskalregeln zur Vermeidungeiner übermäßigen Verschuldung seien zwargrundsätzlich ausreichend, allerdings ist die Ein-leitung von Sanktionsverfahren durch Feststellungvon Verstößen bislang nicht hinreichend automa-tisiert. Hier spricht sich der Sachverständigenratdafür aus, dass dem Europäischen Rat die Ent-scheidungsbefugnis entzogen und auf die Europä-ische Kommission übertragen werden solle. Auchsolle gegen die Nichteinhaltung von Schulden-bremsen künftig vor dem Europäischen Gerichts-hof geklagt werden können. In der zweiten Säule –der Einrichtung eines europäischen Krisenmecha-nismus – fehle es vor allem noch an einer Insol-venzordnung für Staaten und einer Konditionie-rung des Zugangs zum Europäischen Stabilitäts-mechanismus in Abhängigkeit vom Schuldenstandeines Landes.

Um erfolgreich auf einen langfristigen Stabilitäts-pfad einschwenken zu können, müssen die beste-henden übermäßigen Staatsschulden konsequentabgebaut werden. In diesem Zusammenhangdringt der Rat abermals darauf, den von ihm emp-fohlenen Schuldentilgungspakt umzusetzen. DerSchuldentilgungspakt, der erstmals im Jahresgut-achten 2011/12 skizziert und im Sondergutachtenzur Eurokrise nochmals ausführlich diskutiert wur-de, setzt auf eine sukzessive Ersetzung auslaufen-der Schulden durch neu emittierte Gemein-schaftsanleihen. Für diese Anleihen haften die Eu-ro-Länder zeitlich begrenzt gemeinsam. Allerdingserhebt jedes einzelne Land Steuern, die die regel-

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Sachverständigenrat

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mäßige Bedienung und Tilgung seiner Schuldenermöglichen sollen, und hinterlegt Sicherheitenin Höhe von 20 Prozent der auszulagerndenSchulden.

Europäische Bankenunion –Sorgfalt geht vor Schnelligkeit

Einen sehr ausführlichen Teil widmet das Gutach-ten abermals der Reform der Bankenaufsicht undder Finanzmarktregulierung. Die geplanten Ver-schärfungen der bankenaufsichtsrechtlichen Re-geln seien zu begrüßen, im Detail aber unzurei-chend. Das Gutachten kritisiert in diesem Zu-sammenhang, dass Staatsanleihen in den Bankbi-lanzen auch nach den neuen europäischen Regu-lierungsvorschlägen nach wie vor nicht mit Eigen-kapital unterlegt werden müssen. Außerdem seivorgesehen, lediglich die Meldung und späterauch die Veröffentlichung einer von der Aktiv-struktur unabhängigen Eigenkapitalquote – diesogenannte Leverage Ratio – vorzuschreiben,nicht aber eine verbindliche Untergrenze dafürvorzugeben. Eine solche Untergrenze würde einAbsicherungsminimum garantieren und die Be-wertungsspielräume von Banken zur Verringerungihrer Eigenkapitalanforderungen einschränken.Der Rat spricht sich in diesem Zusammenhang füreine Leverage Ratio von mindestens fünf Prozentdes Geschäftsvolumens aus.

Die aktuell diskutierte Einführung einer Banken -union – die Voraussetzung zur Refinanzierung vonBanken direkt aus Mitteln des Europäischen Stabi-litätsmechanismus ist – wird von den Sachverstän-digen im Grundsatz begrüßt. Sie umfasst eine zent -ralisierte Bankenaufsicht, einheitliche Mechanis-men zur Restrukturierung und gegebenenfalls Ab-wicklung von Banken sowie ein einheitliches euro-päisches Sicherungssystem. Der Sachverständigen-rat fordert schon seit Langem eine stärkere Zentra-lisierung der Bankenaufsicht in Europa. Dafürsprechen viele Argumente, zum Beispiel die bisherunzureichende Koordinierung der nationalen Auf-sichtsbehörden und die Verschleppung von Prob -lemen nationaler Banken, die erhebliche Risikenfür die europäische Geldpolitik mit sich bringenkann. Außerdem führt der Rat mögliche Zielkon-flikte zwischen stabilitätsorientierter Bankenauf-sicht und nationalen Fiskalpolitiken an, denen ei-ne europäische Bankenaufsicht möglicherweisebesser widerstehen könne als eine nur mit nationa-len Durchgriffsrechten ausgestattete Aufsicht.

Kritisch sieht der Sachverständigenrat allerdingsdie geplante Ansiedlung der europäischen Ban-kenaufsicht unter dem Dach der EZB. Damit seienpotenzielle Zielkonflikte verbunden: „Beispiels-weise könnte eine Notenbank, die zugleich Auf-sichtsfunktionen innehat, davor zurückschrecken,ihre Zinsen zu erhöhen, wenn sich hierdurch diefinanzielle Lage der Banken verschlechtern wür-de“ (TZ 304). Außerdem bestehe die Gefahr, dassdie Notenbank für die Bankenrettung verein-nahmt werde, wenn kein unabhängiger Finanzie-rungsmechanismus auf europäischer Ebene exis-tiere, der diese Aufgabe im Bedarfsfall überneh-men könne. Schließlich stelle sich das Problemder demokratischen Kontrolle: Hier ist der Sach-verständigenrat der Auffassung, dass die Unab-hängigkeit der Notenbank es erfordere, „dass die-se außerhalb der üblichen demokratischen Kont -rolle operieren kann. Im Gegensatz dazu muss ei-ne Aufsichtsbehörde durch hinreichend demokra-tisch legitimierte Instanzen kontrolliert werden“(TZ 304). Der bisher vorliegende Vorschlag derEuropäischen Kommission versuche dies durch ei-ne Rechenschaftspflicht der EZB gegenüber demEuropäischen Parlament nur in Bezug auf ihreAufsichtstätigkeit zu lösen. Nach Auffassung desSachverständigenrates wäre es besser, die Aufsichtdirekt bei einer unabhängigen Behörde – zum Bei-spiel einer entsprechend ausgebauten EuropeanBanking Authority (EBA) – anzusiedeln. Würdeman die Bankenaufsicht tatsächlich der EZB über-tragen, wäre eine stärkere personelle Trennung ih-rer beiden Funktionen ratsam. Insbesondere solleder Vorsitzende des Aufsichtsgremiums nicht dengeldpolitischen Führungsgremien angehören.

Eine gemeinsame europäische Bankenaufsicht sol-le nach Möglichkeit alle Banken einbeziehen undsich nicht nur auf die Aufsicht über die großen,systemrelevanten Banken beschränken. Dagegensprechen mögliche Ausweichreaktionen, aberauch die Systemrelevanz vieler kleiner Banken, dieähnlichen Einflüssen ausgesetzt sind und die sichähnlich verhalten (wie zum Beispiel im spanischenSparkassensektor): „Alle Banken sollen daher vomGrundsatz her einheitlich behandelt werden“ (TZ308) – ein klares implizites Verdikt des Rates gegendie Tendenz auch der deutschen Sparkassen sowieVolks- und Raiffeisenbanken, Sonderregelungenfür sich beanspruchen zu wollen.

Eine europäische Einlagensicherung sieht derSachverständigenrat im Grundsatz als sinnvoll an.Die Voraussetzungen für ihre Einführung seien imMoment gleichwohl noch nicht gegeben. Insbe-sondere würden bereits bestehende Risiken verge-

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Europa und Deutschland

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meinschaftet, wenn zuvor keine entsprechendeRestrukturierung durchgeführt würde: „Dies kä-me dem Abschluss einer Versicherung gleich,nachdem der Schadensfall bereits eingetreten ist“(TZ 315). Die Restrukturierung von Krisenbankensolle am besten einer europäischen Restrukturie-rungsagentur übertragen werden, die über eine ri-sikoadäquate Bankenabgabe finanziert werde.

Zur Einrichtung einer europäischen Bankenunionempfiehlt der Sachverständigenrat ein dreistufigesKonzept. Im ersten Schritt sollten der rechtlicheRahmen geschaffen und die Institutionen aufge-baut werden. Dafür wird „im Idealfall“ (TZ 335)ein Jahr veranschlagt. In den folgenden vier Jah-ren würde die sogenannte Qualifizierungsphasedurchlaufen: In dieser Phase beantragen die na-tionalen Banken, nach Größenklassen abgestuft,ihre Aufnahme in die Bankenunion. Sie könnendann eintreten, wenn sie die Anforderungen desRegelwerks „Basel III“ vollumfänglich erfüllen undsich einer gründlichen Neubewertung ihrer Aktiv-seite unterzogen haben. Banken, die sich nichtqualifizieren können, müssen gegebenenfalls„zwangsweise restrukturiert oder abgewickelt wer-den“ (TZ 340). In Phase drei könnte dann einevollumfängliche Bankenunion starten, in derKont rolle und Haftung für die Bankenrekapitali-sierung auf europäischer Ebene liegen. Diese Pha-se würde erst 2019 starten. Allerdings könnte dieÜbertragung der großen systemrelevanten Ban-ken in das neue System wohl deutlich früher abge-schlossen sein.

Finanzpolitik: Trotz guter Haushaltszahlenkein uneingeschränktes Lob

Im finanzpolitischen Kapitel des diesjährigen Gut-achtens greift der Rat zum wiederholten Mal dasProblem der Diskriminierung des Eigenkapitalsbei der Unternehmensfinanzierung auf. Währenddie Zinsen auf Fremdkapital auf der Ebene desUnternehmens vom steuerpflichtigen Gewinn ab-gezogen werden können, sind Eigenkapitalerträgesowohl auf Unternehmensebene als auch auf Ebe-ne der Anteilseigner steuerpflichtig und unterlie-gen nach wie vor einer Doppelbesteuerung. DieseSchlechterstellung trifft im gegenwärtigen Systemim Wesentlichen die Beteiligungsfinanzierung, we-niger die Selbstfinanzierung aus einbehaltenenGewinnen. Aus diesem Grunde müssen sich insbe-sondere junge Unternehmen, die zur Investitions-finanzierung auf Mittelzuflüsse von außen ange-wiesen sind, vergleichsweise teuer finanzieren – zu-mindest dann, wenn ihnen nur eingeschränkte

Möglichkeiten der Fremdfinanzierung zur Verfü-gung stehen. Insgesamt können diese Regelungendazu führen, dass die Eigenkapitalfinanzierungeingeschränkt und die Investitionstätigkeit beein-trächtigt wird.

Vor diesem Hintergrund schlägt der Sachverstän-digenrat das Konzept der „Zinsbereinigung desGrundkapitals“ (TZ 407) vor. Im Grundsatz be-deutet dies – analog zum Abzug von Fremdkapi-talzinsen vom steuerpflichtigen Unternehmens-gewinn – den Abzug eines kalkulatorischen Ei-genkapitalzinses auf das um Gewinnrücklagen ge-minderte Grundkapital. Bei der Höhe dieses Zins-satzes könne man sich an den Kreditzinsen fürneue Kredite im Unternehmenskreditgeschäftorientieren.

Der deutschen Finanzpolitik stellt der Sachver-ständigenrat kein uneingeschränkt gutes Zeugnisaus. Zwar seien die Erfolge auf den ersten Blick be-eindruckend: Immerhin weist der staatliche Fi-nanzierungssaldo in diesem Jahr voraussichtlicheinen positiven Wert auf (+0,1 Prozent). Aller-dings besteht nach Berechnung des Sachverstän-digenrats nach wie vor ein konjunkturbereinigtesstrukturelles Defizit in Höhe von 0,4 Prozent desBruttoinlandsprodukts. Die Lage der Staatsfinan-zen hat sich vor allem durch gestiegene Steuerein-nahmen und eine bessere Finanzlage bei den Sozi-alversicherungen aufgehellt. Darunter sind gleich-wohl Sondereffekte: neben dem außergewöhnlichgeringen Zinsniveau zum Beispiel auch zahlenmä-ßig schwache Rentenzugangskohorten in den letz-ten Jahren. Das geringe Zinsniveau kann mögli-cherweise noch längere Zeit anhalten, ein weitererRückgang ist aber kaum zu erwarten. Bei den Ren-tenausgaben sind in Zukunft wieder steigendeZahlen zu erwarten. Auch die Verbesserung derLage am Arbeitsmarkt und die damit verbundeneEntlastung der Arbeitslosenversicherung wird sichvoraussichtlich so nicht fortschreiben lassen: „Da-mit ist in allen drei Ausgabenbereichen, in denengrößere positive Konsolidierungsbeiträge erreichtwurden, nicht mit einer Fortsetzung dieser Ent-wicklung zu rechnen“ (TZ 360). Auch in der Pfle-ge- und in der Krankenversicherung werden dieAusgaben im Trend deutlich steigen.

Stärkere Konsolidierungsanstrengungen hält derSachverständigenrat daher für unerlässlich, unteranderem durch Rückführung der staatlichen Kon-sumausgaben (zurückhaltende Verbeamtung, An-passung der Beamtenversorgung, Effizienzsteige-rung in der öffentlichen Verwaltung und im Bil-dungswesen) und durch den Abbau von Steuer-

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Sachverständigenrat

35Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

vergünstigungen. Der Rat mahnt abermals unzu-reichende Konsolidierungsfortschritte auf derEbene der Länder und Kommunen an. Besorgnis-erregend sei vor allem die zunehmende Verschul-dung von Gemeinden durch Kassenkredite zurDeckung von laufenden Ausgaben.

Viele Baustellen bei der Energiewende

Aus aktuellem Anlass befasst sich das Gutachtenausführlich mit der Energiewende und den nachnunmehr einem Jahr vorliegenden Erfahrungen.Problematische Entwicklungen zeigen sich dem-nach bei der Versorgungssicherheit: So kam es ver-mehrt zu kritischen Netzsituationen, zum Beispielbei einem außergewöhnlich hohen Anfall anStrom aus Windkraftwerken und zugleich starkausgelasteten Erzeugungskapazitäten im Südender Republik. Die Strompreise sind vor allem auf-grund des starken Ausbaus der erneuerbarenEnergien und deren Subventionierung im Rah-men des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG)durch die EEG-Umlage von 3,59 ct/kWh auf 5,28ct/kWh gestiegen.

Anders als vielfach behauptet, entfalle nur ein klei-ner Teil der Umlage (1,04 ct/kWh) auf die Frei-stellung energieintensiver Unternehmen: „Somitist der überwiegende Teil der EEG-Umlage demFörderinstrument selbst zuzurechnen, nicht derPrivilegierung eines Teils der Verbraucher. Versu-che von Interessenverbänden, denjenigen Teil derEEG-Umlage, der nicht der Privilegierung vonUnternehmen zuzuschreiben ist, ab dem Jahr2013 in Höhe von 4,24 ct/kWh, anderweitig zu be-gründen, sind ebenso durchsichtig wie fragwür-dig“ (TZ 447). Auch die Netzentgelte seien für dieKostensteigerungen verantwortlich. In diesem Zu-sammenhang regt das Gutachten an, die Netzkos-ten nicht mehr ausschließlich verbrauchsabhän-gig, sondern im Rahmen von monatlich zu ent-richtenden Anschlussgebühren zu decken.

Als „Großbaustellen“ der Energiewende sieht derRat den Netzausbau, den Zubau von grund- undspitzenlastfähigen konventionellen Kraftwerkensowie den Umstieg auf ein kosteneffizienteres För-dersystem an: „Aus Sicht der Umwelt-, Energie-und Wirtschaftspolitik gilt es, diese drei Großbau-stellen der Energiewende zu einem Gesamtkon-zept zu verzahnen. … Ein solches Konzept ist je-doch bisher nicht zu erkennen“ (TZ 453). Im Zu-sammenhang mit der Vorhaltung konventionellerKraftwerkskapazitäten, um die Flexibilität des Net-zes zu gewährleisten, stelle sich die Frage, ob eine

an der tatsächlichen Einspeisung gebundene Ver-gütung über den Strompreis kostendeckend seinkönne und genügend Anreize zur Schaffung vonErsatzkapazitäten biete. Hinreichende Evidenz fürdie Schaffung eines Kapazitätsmarktes – im Gegen-satz zum aktuellen Vergütungsmodell über denStrompreis: ein Energy-Only-Markt – gebe es aller-dings noch nicht; es bestehe zudem die Gefahr er-heblicher Mitnahmeeffekte bei der Einrichtung ei-nes Kapazitätsmarktes. Vor einer Änderung desMarktdesigns solle man daher prüfen, ob mannicht an anderen Stellschrauben drehen könne.Hier sei unter anderem an die Flexibilisierung derNachfrage bei Engpasssituationen und eine Dere-gulierung des Marktes zu denken, die höherePreisspitzen ermöglichen. Auch der grenzüber-schreitende Stromhandel in einem europäischenintegrierten Netz biete noch Potenziale.

Im Hinblick auf die Förderung der erneuerbarenEnergien spricht sich der Rat für den Übergangvon einer fixen und technologieabhängigen Preis-steuerung zu einer Mengensteuerung aus. Im ers -ten Schritt solle eine pauschale Einspeisevergü-tung eingeführt werden, statt wie bisher zwischenverschiedenen Technologien zu differenzieren.Im zweiten Schritt könne dann auf eine aufwendi-gere Lösung umgestellt werden: Ein entsprechen-des, auf sogenannten Grünstromzertifikaten basie-rendes Modell hatte der Sachverständigenrat be-reits in seinem letzten Jahresgutachten vorgestellt.

Wenig Neues bei den arbeitsmarktpolitischen Empfehlungen

Der Sachverständigenrat warnt in seinem arbeits-marktpolitischen Kapitel davor, angesichts der un-bestreitbaren Erfolge die Reformen der Agenda2010 wieder zurückzudrehen: „Deutschland solltedie Früchte der seinerzeitigen Reformanstrengun-gen, die es nun erntet, nicht durch unkluge Revi-sionen aufs Spiel setzen“ (TZ 519). Dass sich dieErwerbstätigenzahl mit rund 41,6 Millionen Per-sonen 2012 vermutlich auf einem neuen Höchst-stand befindet und die Anzahl der sozialversiche-rungspflichtigen Arbeitsverhältnisse überpropor-tional steigt, rechnet der Rat unter anderem derbeschäftigungsfreundlichen Lohnpolitik und denArbeitsmarktreformen der Agenda 2010 zu. Umsowichtiger sei es, nun keine weiteren „Sperrklin-ken“ (TZ 541) in den Arbeitsmarkt einzubauen,zum Beispiel in Form von Lohnuntergrenzen (vul-go: Mindestlöhnen). Das Gutachten spricht sichim Gegensatz dazu für eine weitere Flexibilisie-rung des Arbeitsmarktes aus. Hier finden sich vie-

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Europa und Deutschland

36 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

le langjährige Forderungen wieder, unter ande-rem die Erweiterung des Günstigkeitsprinzipsnach § 4 Absatz 3 Tarifvertragsgesetz auf die Be-schäftigungssicherheit, die Verkürzung von Tarif-bindungsdauern nach Verbandsaustritt einesUnternehmens, weitreichendere Freiheiten fürBetriebsvereinbarungen mit nicht tarifgebunde-nen Unternehmen (Freistellung von § 77 Absatz 3Betriebsverfassungsgesetz) sowie die Abschaffungvon Allgemeinverbindlichkeitserklärungen vonTarifverträgen.

Eine ausführliche Analyse findet sich im diesjähri-gen Gutachten zu den Ursachen und der Aussage-fähigkeit des langfristigen trendmäßigen Rück-gangs der Lohnquote im Hinblick auf die perso-nelle Einkommensverteilung in Deutschland. Derseit Anfang der 1980er Jahre zu beobachtendeRückgang der Lohnquote könne auf eine Reiheverschiedener Ursachen zurückgeführt werden.Neben dem sektoralen Strukturwandel vom In-dustrie- zum Dienstleistungssektor und innerhalbder Industrie, der zunehmenden Globalisierung,dem damit einhergehenden Wettbewerbsdruckund der sinkenden Verhandlungsmacht der Ge-werkschaften sei vor allem der technische Fort-schritt, insbesondere die zunehmende Verbrei-tung von Informations- und Kommunikations-technologien, dafür ausschlaggebend.

Bei der Interpretation der Daten sei zu berück-sichtigen, dass die Lohnquote zwar mittlerweilewieder das Niveau des Jahres 1960 erreicht habe,das Realeinkommen sich seither aber verdreifachthabe. Zudem könne die funktionelle Einkom-mensverteilung keineswegs mit der personellenEinkommensverteilung gleichgesetzt werden:Auch Arbeitnehmer beziehen schließlich Kapital-einkommen. Ein eindeutiger Zusammenhang zwi-schen der Lohnquote und der personellen Ein-kommensverteilung der Markteinkommen, ge-messen am Gini-Koeffizienten, kann für Deutsch-land demzufolge nicht hergestellt werden. Zudemist zu berücksichtigen, dass die Verteilung derMarkteinkommen durch staatliche Transfers wei-ter nivelliert wird. Zu konstatieren sei indes, dassdie Ungleichheit der personellen Einkommens-verteilung auch unter Berücksichtigung dieserFaktoren in Deutschland in der Tendenz seit An-fang der 1990er Jahre bis Mitte der 2000er Jahrezugenommen hat.

In diesen Befunden sieht der Sachverständigenratallerdings keine Legitimation zu weiterreichendenUmverteilungsmaßnahmen. Er verweist vielmehrauf die Bedeutung der Bildungspolitik zur Qualifi-

kation von Arbeitnehmern und empfiehlt die Fo-kussierung der staatlichen Förderung der Vermö-gensbildung auf untere Einkommensschichten so-wie die Verbreiterung des erforderlichen Finanz -wissens durch gezielte Bildungsangebote. Auchdie Spreizung der Lohnstruktur sei zu begrüßen.Man sollte hier nicht nivellierend eingreifen, in-dem etwa Mindestlöhne festgesetzt werden: „DemArbeitslosen nutzt ein Mindestlohn nichts, wennes bei dieser Entlohnung kaum Arbeitsplätze gibt,er bliebe der Verlierer“ (TZ 578). Vielmehr sei essinnvoll, niedrige Arbeitsentgelte durch das Ar-beitslosengeld II aufzustocken.

Weiterhin Reformbedarf in der sozialen Sicherung

Aufgrund der erfreulichen Beschäftigungsent-wicklung haben sich auch die Finanzen der Sozi-alversicherungssysteme in den letzten Jahren po-sitiv entwickelt. Dennoch sieht der Sachverständi-genrat erheblichen Reformbedarf insbesonderein der Kranken- und Pflegeversicherung.

Auf der Einnahmenseite der gesetzlichen Kran-kenversicherung spricht er sich für einen schnel-leren Übergang zu weitgehend einkommensun-abhängig finanzierten Beiträgen aus. Nach Mo-dellrechnungen, die er in diesem Zusammenhanganführt, ergeben sich erhebliche positive gesamt-wirtschaftliche Effekte aus einer einkommensun-abhängigen Finanzierung des Arbeitnehmerbei-trags zur Krankenversicherung, weil damit sowohlein höheres Arbeitsangebot als auch eine geringe-re Substitution von Arbeit durch Kapital einher-gehen. Darüber hinaus hätten einkommensunab-hängige Versicherungsbeiträge den Vorteil besse-rer Vergleichbarkeit zwischen verschiedenen An-bietern und würden eine höhere Äquivalenz vonLeistung und Beitrag aufweisen. Eine weitgehen-de Einkommensunabhängigkeit des Arbeitneh -merbeitrags würde einen Schritt in Richtung desvom Sachverständigenrat schon lange präferier-ten Modells der Bürgerpauschale bedeuten: Indiesem Modell käme es gleichwohl auch zu einerAbschaffung des einkommensabhängigen Arbeit-geberbeitrags, zu einer Versicherungspflicht fürdie gesamte Bevölkerung und zu einer Abschaf-fung der beitragsfreien Mitversicherung von nichterwerbstätigen Ehegatten.

Auf der Ausgabenseite der Krankenversicherungspricht sich der Rat für eine Stärkung einzelver-traglicher Elemente zwischen Krankenkassen undLeistungsanbietern aus. Die Umsetzung dieses

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Sachverständigenrat

37Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Vorschlags muss allerdings mit anderen Zielen –insbesondere der Deckelung der Budgets zur„Eindämmung der angebotsinduzierten Nachfra-ge“ (TZ 632) und der Sicherstellung der flächen-deckenden Versorgung – kompatibel sein.

Im Bereich der Krankenhausfinanzierung mahntder Rat – wie schon in früheren Gutachten – eineAbschaffung des dualen Finanzierungsmodells(Deckung der laufenden Kosten durch die Kran-kenversicherungen und der Investitionskostendurch die Bundesländer) an. Das duale Modellführe zu ineffizienten Allokationen und Wettbe-werbsverzerrungen. Laufende Kosten und Investi-tionskosten ließen sich – bei partieller Ersetzbar-keit von Arbeits- durch Kapitaleinsatz – nicht von-einander trennen; außerdem sei die Planungsfä-higkeit der Länder im Hinblick auf den langfristi-gen Bedarf an Krankenhausplätzen infrage zustellen. Die Investitionsentscheidungen unterlä-gen häufig kurzfristigem politischem Kalkül. DerSachverständigenrat spricht sich daher für einModell der Krankenhausfinanzierung aus einerHand durch die Krankenkassen aus, die ihrerseitsdurch Steuermittel aus dem Gesundheitsfonds da-für kompensiert werden sollen.

In der Pflegeversicherung fehle es nach wie voran einer langfristig tragfähigen Finanzierung. Dasjüngst verabschiedete Gesetz zur Neuausrichtungder Pflegeversicherung habe lediglich den Leis-tungskatalog zugunsten der Demenzkranken er-weitert und den Beitragssatz dafür angehoben.Diese Beitragssatzerhöhung reiche aber langfris-tig nicht einmal aus, um die Zusatzkosten derLeistungsausweitung zu decken. Auch die staat-lichen Zulagen für eine private Pflegeversiche-rung werden kritisch beurteilt. Ohne eine ent-sprechende Absenkung des Leistungsniveaus dergesetzlichen Pflegeversicherung komme es ver-mutlich vor allem zu Mitnahmeeffekten und

wegen des Kontrahierungszwangs bei den geför-derten Angeboten zu einer Negativselektion vonPersonen mit einem hohen Risiko.

Im Hinblick auf die Rentenversicherung unter-stützt der Sachverständigenrat die derzeit disku-tierte obligatorische Versicherung von Selbständi-gen. Er wendet sich allerdings entschieden gegeneine Zuschussrente für langjährig Versicherte, de-ren Einkommen auf maximal 850 Euro je Monataufgestockt werden: Damit soll die Inanspruch-nahme der sozialen Grundsicherung vermiedenwerden. Dieser Vorschlag sei obsolet, da zur sozia-len Absicherung eben genau diese Grundsiche-rung existiere. Außerdem führten diese Zusatz-leistungen zu Ungleichbehandlungen, Fehlanrei-zen und Mitnahmeeffekten sowie zu einer Zusatz-belastung der jüngeren Generationen. Stattdes-sen setzt der Sachverständigenrat auf präventiveMaßnahmen gegen Altersarmut, wie zum Beispieleine Versicherungspflicht für nicht obligatorischabgesicherte Selbständige und – in einem breite-ren Ansatz – auf eine adäquate Bildungspolitikzur Verringerung der Armutsgefährdung bereitsab dem Kindesalter.

Mehrere Minderheitsvotenvon Peter Bofinger

Auch im Jahresgutachten 2012/2013 werdennicht alle Empfehlungen des Sachverständigenra-tes einstimmig gegeben: Peter Bofinger, der gewerk-schaftsnahe Vertreter im Rat, kann wesentlicheTeile der arbeitsmarktpolitischen Analyse undEmpfehlungen der Ratsmehrheit nicht mittragen.Er widerspricht außerdem der Einschätzung derRatsmehrheit zur Ineffizienz des EEG, dem Re-formvorschlag zur Unternehmensbesteuerung so-wie einigen Empfehlungen zur fiskalischen Säuledes Maastricht-2.0-Konzepts. �

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Europa und Deutschland

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Armut und Reichtum in Deutschland:Das Elend des SozialstaatsDr. Philip PlickertWirtschaftsredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“

Studien zeigen, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland zugenommen hat. Über Ursache und Ausmaß von Armut

und Reichtum herrscht jedoch Uneinigkeit. Manche Kritiker machen den ausgeuferten Sozialstaat verantwortlich für

zunehmende Armut.

Vor mehr als einem halben Jahrhundert kam Lud-wig Erhards Buch „Wohlstand für alle“ heraus. Die-ses Versprechen hat den Diskurs in der Aufbauzeitgeprägt und die Bürger begeistert. Tatsächlich hatsich in den fünfziger und sechziger Jahren des letz-ten Jahrhunderts ein Massenwohlstand inDeutschland herausgebildet, wie er noch in derWeimarer Zeit undenkbar schien. Autos, Haus-haltsgeräte, Urlaub – all das wurde auch fürDurchschnittsverdiener bei disziplinierter Spar-samkeit erschwinglich. Von einer „nivelliertenMittelstandsgesellschaft“ sprach Helmut Schelskyschon 1953, obwohl es damals noch Millionen vonAusgebombten und Flüchtlingen gab, die in Not-unterkünften hausten und erhebliche Entbehrun-gen erlebten.

Die Grundstimmung in der frühen Bundesrepub -lik war aber optimistisch. Findige Unternehmerlegten in den „Wirtschaftswunderjahren“ denGrundstein für große Vermögen. Angestellte undsogar Arbeiter konnten mit Fleiß und Sparsamkeitein Eigenheim erwerben. Freilich wuchs schon inden Jahren des Aufschwungs die Ungleichheit, wieder Verteilungsforscher Anthony Atkinson erkannthat, weil einige Unternehmer zu schnellem Reich-tum kamen. Das war aber akzeptiert, weil es auchfür die breite Mehrheit bergauf ging. Seit einigenJahren hat sich jedoch, trotz des heute viel höhe-ren Lebensstandards, eine eher pessimistische,nörglerische Stimmung durchgesetzt. Der Auf-stiegsoptimismus ist verflogen. Von einer wachsen-den, gar unüberwindlichen Kluft zwischen Armund Reich ist die Rede. Angeblich ist die Mittel-schicht akut bedroht und von Abstiegsängsten ge-plagt. In linken Kreisen wird das graue Bild derDDR beschönigt, wo mehr Gleichheit herrschte,diese aber durch Unfreiheit erkauft war.

Armut in Deutschland?

Wohlstand für alle – ade? Mit statistischen Kons -trukten lässt sich behaupten, dass in der Bundes-republik breite Armut herrscht. „Jede/r Fünfte inDeutschland von Armut oder sozialer Ausgren-zung betroffen“, betitelte das Statistische Bundes-amt kürzlich eine Mitteilung. Rund 16 MillionenMenschen (19,9 Prozent der Bevölkerung) seienvon Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen.Verblüffend, dass ausgerechnet Tschechien imEU-Vergleich die niedrigste Armuts- beziehungs-weise Ausgrenzungsquote von 14,4 Prozent auf-weist. Las man in der Mitteilung etwas genauernach, so wurde klar, dass in Deutschland nicht je-der Fünfte, sondern nur jeder Zwanzigste (5,3 Pro-zent) von materieller Entbehrung betroffen ist,weil er sich zum Beispiel kein Auto, keinen Farb-fernseher, keine Waschmaschine und keine einwö-chige Urlaubsreise leisten kann. Weiter vermelde-ten die Statistiker 15,8 Prozent „Armutsgefährde-te“, also Menschen mit einem verfügbaren Ein-kommen unter 60 Prozent des Median-Einkom-mens. Die Quote bei den Senioren liegt etwas nie-driger. Von einer speziellen Altersarmut kann alsokeine Rede sein, den Senioren geht es heute imDurchschnitt besser als vielen jungen Familien.

Wie bei allen Definitionen von „relativer Armut“ist die Aussagekraft der „Armutsgefährdungsquo-te“ fragwürdig. Selbst wenn alle Einkommen inder Gesellschaft sprunghaft stiegen oder sich garverdoppelten, die relative Armut bliebe gleich. DieVerengung der Gerechtigkeitsdebatte auf Vertei-lungsfragen ist eine der zweifelhaftesten Entwick-lungen seit den 1970er Jahren, als die Politik miteinem starken Ausbau des umverteilenden Sozial-staats begann. Wie der Historiker Paul Nolteschreibt, war der Gerechtigkeitsbegriff in den ers -

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Armut und Reichtum

39Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

ten drei Jahrzehnten der Bundesrepublik „zwi-schen Recht und Freiheit, Würde und Chancenaufgespannt“. Seit den siebziger Jahren dominier-te die Sicht der Verteilungsgerechtigkeit. Der Sozi-alstaat hatte seinen Preis: ständige Defizite undwachsende Schuldenberge zulasten der Zukunft.Lange Zeit wurde die Verletzung der Generatio-nengerechtigkeit fraglos hingenommen.

Ungleiche Verteilung von Vermögen und Einkommen

Deutschland ist ein reiches Land. Die DeutscheBundesbank schätzt das Gesamtvermögen derDeutschen auf rund zwölf Billionen Euro. Das Net-tovermögen hat sich seit der Wiedervereinigungnominal mehr als verdoppelt. Von 2007 bis 2012ist es – trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise – um1,4 Billionen Euro gestiegen. Wahr ist aber auch,dass die Ungleichheit zugenommen hat. DieseEntwicklung verdeutlicht auch der kürzlich veröf-fentlichte erste Entwurf des Armuts- und Reich-tumsberichts der Bundesregierung. WenigenHaushalten gehört viel, vielen Haushalten gehörtwenig.

Westdeutsche Haushalte haben im Durchschnittmehr als doppelt so viel Vermögen wie Haushalteim Osten; Männer haben meist mehr als Frauen;Selbständige und Pensionäre sind vermögenderals Angestellte und Arbeiter; Ältere haben mehrals Berufsanfänger. Die Vermögen sind insgesamtungleicher verteilt: Der Anteil des obersten Zehn-tels ist innerhalb eines Jahrzehnts von 45 auf 53Prozent gestiegen, der unteren Hälfte der Bevöl-kerung gehört nach den Zahlen der Einkommens-und Verbrauchsstichprobe (EVS) bloß ein Prozentder Vermögen.

Allerdings gibt es Zweifel, ob diese Zahlen dieWirklichkeit ganz erfassen. Es liegt auf der Hand,dass Selbständige über ein höheres Nettohaus-haltsvermögen verfügen müssen (nach der EVS imDurchschnitt 257 000 Euro) gegenüber Beamten(155 000 Euro), Angestellten (108 000 Euro) undArbeitern (79 000 Euro). Selbständige müssenmehr Kapital für das Alter ansparen. Diese Vorsor-gevermögen werden in der Statistik erfasst, wäh-rend der Barwert von Pensions- und gesetzlichenRentenansprüchen nicht berücksichtigt wird. Al-lein dadurch erscheint die Vermögensverteilungs-statistik verzerrt, die Ungleichheit zwischen denHaushalten wird überschätzt. Rechnete man die fi-nanziellen Ansprüche aus der umlagefinanziertengesetzlichen Rente an oder gäbe es wie in einigen

anderen Ländern ein stärker kapitalgedecktesRentensystem, wäre keineswegs die Hälfte der Be-völkerung ohne Vermögen. Dieser Punkt fällt aberin der oft genug neidgetriebenen Diskussion meistunter den Tisch.

Weniger stark als die Vermögen sind die Einkom-men ungleich verteilt, doch hat auch hier dieSpreizung deutlich zugenommen. Im Entwurf desArmuts- und Reichtumsberichts zitiert die Bundes-regierung eine Studie des Deutschen Instituts fürWirtschaftsforschung (DIW), wonach die realenLohneinkommen von Vollzeitbeschäftigten von2000 bis 2010 stark auseinandergedriftet sind.Während sie im Durchschnitt moderat um 1,2 Pro-zent wuchsen, habe das unterste Zehntel fast neunProzent eingebüßt, das oberste Zehntel hingegenkonnte um 5,1 Prozent hinzugewinnen. Zu Rechtschrieben die Beamten des Sozialministeriums, dieden Entwurf verfasst haben: „Eine solche Einkom-mensentwicklung verletzt das Gerechtigkeitsemp-finden der Bevölkerung und kann den gesell-schaftlichen Zusammenhalt gefährden.“

Allerdings kamen schon wenige Wochen späterneue Zahlen aus dem DIW, die eine Trendwendesignalisieren: Erstmals seit Jahren ist die Einkom-mensspreizung nicht mehr gestiegen, sondernscheint gestoppt. „Nach einer rückläufigen Ent-wicklung bis ins Jahr 2005 erfolgte die Trendwen-de in der Einkommensentwicklung vor allem dankder guten Arbeitsmarktentwicklung“, erklärte derDIW-Soziologe Jan Goebel, der zuvor zu den eifrigs -ten Warnern vor einer immer ungleicheren Ge-sellschaft zählte. Dabei hatte offenbar die Krise ei-nen entscheidenden Effekt, denn sie hat die Kapi-taleinkommen gedämpft.

Mehr Gerechtigkeit durcheine Vermögenssteuer?

Für die Zunahme der Einkommensungleichheitgibt es verschiedene Gründe. Der Druck auf denNiedriglohnsektor hat vor allem wegen Globalisie-rung, Strukturwandel und technischem Fort-schritt zugenommen. Eine auf High-Tech-Güterspezialisierte Wirtschaft mit stark automatisierterProduktion hat weniger Verwendung für Gering-qualifizierte. Gleichzeitig können die Hochqualifi-zierten, die Unternehmer und die Kapitalbesitzerdie Vorteile der globalen Wirtschaft besser aus-schöpfen. Die Kurven des DIW zeigen aber, dassdie Spreizung der Einkommen zuletzt wieder ab-genommen hat. Der Gini-Koeffizient, der die Un-gleichverteilung misst – 0 bedeutet absolute

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Europa und Deutschland

40 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Gleichheit, 1 absolute Ungleichheit – ist seit 2005deutlich gesunken. Nach DIW-Angaben fiel er fürdie Markteinkommen im Osten um neun Prozentauf knapp 0,5 – der Rückgang der Arbeitslosigkeitschlug dort besonders durch – und im Westen umdrei Prozent auf etwa 0,48.

Die Markteinkommen werden dann vom Steuer-und Sozialstaat nivelliert. Nach Umverteilung be-trägt der Gini-Koeffizient in Westdeutschlandknapp 0,3 und im Osten 0,25. Damit liegt Deutsch-land unterhalb des Durchschnitts aller OECD-In-dustriestaaten von 0,31. Deutlich ungleicher sinddie Einkommen in Großbritannien (Gini-Koeffi-zient 0,34) und in den Vereinigten Staaten (0,38)verteilt. Auch die japanische Gesellschaft, in derextrem hohe Managergehälter unüblich sind, hatmehr Einkommensungleichheit, ebenso Italien.Lediglich in den egalitären skandinavischen Staa-ten wie Norwegen, Schweden und Dänemark sinddie Einkommen gleicher verteilt.

Linke Parteien, Gewerkschaften, Sozialverbändeund andere Organisationen trommeln unterdes-sen für mehr Umverteilung. Schon jetzt werdendie Wohlhabenden über die progressive Einkom-mensteuer kräftig zur Kasse gebeten. Das obersteZehntel der Bestverdienenden trägt mehr als 50Prozent, die obere Hälfte 94 Prozent des Lohn-und Einkommensteuer-Aufkommens bei. Das ge-nügt den linken Parteien nicht. Sie wollen eineAnhebung der Spitzensätze der Einkommensteuerund vor allem Substanzsteuern: Die Sozialdemo-kraten fordern ein Prozent Vermögenssteuer, dieGrünen zehn Jahre je 1,5 Prozent, die Linksparteiwill gar fünf Prozent abschöpfen. Verdi-Chef FrankBsirske hat eine einmalige Abgabe von 10 bis 30Prozent auf Millionenvermögen befürwortet.

Da das meiste Vermögen in (Familien-)Unterneh-men gebunden ist, wären viele zu einem Teilver-kauf oder zur Kreditaufnahme gezwungen. DieAbgaben würden Investitionen, Wachstum und Ar-beitsplätze gefährden. Schon bei einer Vermö-genssteuer von einem Prozent, die auf Betriebs-vermögen erhoben wird, würden Investitionen vielunrentabler, wie der Finanzwissenschaftler ClemensFuest an einem Beispiel vorgerechnet hat. Wennein Unternehmer 100 Euro investiert und eineRendite von fünf Prozent erzielt, zahlt er bei einerSteuerbelastung von 40 Prozent zwei Euro an denFiskus. Kommt aber noch mal ein Euro Vermö-genssteuer hinzu, so steigt die Gesamtbelastungauf drei Euro. „Die steuerliche Gesamtbelastungder Investitionserträge würde von 40 auf 60 Pro-zent steigen. Das Wachstum würde einbrechen“,

warnt Fuest. Unklar ist, ob es mit dem verfassungs-rechtlichen Gleichheitsgrundsatz vereinbar wäre,Betriebsvermögen von einer Vermögenssteuer aus-zunehmen. Der Bundesfinanzhof hat schon hin-sichtlich der Regelung für die Erbschaftsteuer, dieBetriebserben bevorzugt, Bedenken angemeldet.

Unverdienter Reichtum?

Unbestritten werden Erbschaften in Zukunft einewachsende Rolle in Deutschland spielen. Nach ei-ner Studie des Deutschen Instituts für Altersvor-sorge werden in diesem Jahrzehnt Vermögen vonrund 2,6 Billionen Euro vererbt, das wäre um einFünftel mehr als im vergangenen Jahrzehnt. Die„Wirtschaftswunder“-Generation tritt ab und über-trägt ihre Vermögen, die in der langen Friedens-zeit stärker als je zuvor gewachsen sind. Das wecktNeid wegen „unverdienten Reichtums“ und Be-gehrlichkeiten des Staates. Das bisherige Aufkom-men der Erbschaftsteuer, die den Ländern zu-steht, beträgt etwa vier Milliarden Euro im Jahr. InEuropa gibt es zahlreiche Länder – etwa Schwe-den, Österreich, einige Kantone der Schweiz unddie meisten spanischen Regionen –, die keine Erb-schaftsteuer erheben.

Ein gewisser steuerlicher Ausgleich ist Teil der So-zialen Marktwirtschaft. Wichtiger als Umvertei-lung sind aber gute Rahmenbedingungen, damitsozialer und beruflicher Aufstieg gelingen kann.Die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 ha-ben mit dazu beigetragen, die strukturelle Ar-beitslosigkeit zu senken. Mit dem demographi-schen Wandel werden demnächst Fachkräfteknapp. In den meisten süddeutschen Landkreisenherrscht praktisch Vollbeschäftigung. Damit sinddie Chancen gut, durch Erwerbsarbeit seinen Le-bensunterhalt zu verdienen und Vermögen anzu-sparen. Einige Forscher, etwa Reinhard Pollak vomWissenschaftszent rum Berlin, haben zwar eine ge-sunkene soziale Mobilität in der bundesdeutschenGesellschaft beklagt. Der Soziologe Wolfgang Lau-terbach von der Universität Potsdam kam jedoch zudem Schluss, dass die Aufstiegschancen gegen -über den 1980er Jahren eher wieder zugenom-men haben. Zu echtem Reichtum kommen abernur Unternehmer, ergaben Lauterbachs empiri-sche Untersuchungen. Mehr als die Hälfte derMillionäre haben nach Befragungen ihr Vermö-gen hauptsächlich durch unternehmerische Leis-tungen geschaffen.

Die oft gehörte Klage über eine angeblich stetigschrumpfende Mittelschicht, die sogar unter „Sta-

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Armut und Reichtum

41Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

tuspanik“ leide – so hieß es in einer umstrittenenStudie des DIW –, ist ein Klischee. Der Anteil derMittelschicht hat zwar etwas abgenommen: nachDIW-Berechnungen von etwa 64 auf 61,5 Prozentim Krisenjahr 2009, seitdem ist er aber wieder ge-stiegen. Ein rasanter Abstieg ist keinesfalls zu be-obachten. Eine jüngere Studie des Instituts derdeutschen Wirtschaft Köln zeigt: Es gibt jährlichetwa zwei Prozent, die in die untere Einkommens-schicht absteigen, doch die meisten davon steigenbald wieder auf. Von einer Massenverelendung zusprechen, wäre irreführend.

Leistung statt Konsumorientierung

Wahr ist, dass sich auch eine neue Unterschichtgebildet und verfestigt hat, die es in der Bundesre-publik seit den 1970er Jahren nicht mehr gab. Da-für gibt es zwei Hauptgründe:

� Die Problemgruppen wachsen durch bil-dungsferne Einwanderer und ihre Nachkom-men. Der Soziologe Meinhard Miegel hat die Da-ten aus dem Sozioökonomischen Panel (SOEP),die das DIW für seine Studien erhebt, bis 2008ausgewertet und kam zu dem Ergebnis, dass von4,1 Millionen zusätzlichen Personen in deruntersten Einkommensschicht etwa 2,9 Millio-nen einen Migrationshintergrund haben. Hierzeigt sich eher das Ergebnis einer verfehlten Ein-wanderungspolitik als ein grundsätzliches Versa-gen der Sozialen Marktwirtschaft. Nicht mehrSozialleistungen, sondern mehr Hilfen undDruck zu sprachlicher und beruflicher Integra-tion wären angebracht.

� Der zweite Grund ist die Auflösung der tradi-tionellen Familien und die Zunahme von armuts-gefährdeten Alleinerziehenden, vor allem Frauen,die gar nicht oder höchstens Teilzeit arbeiten.Übernimmt aber der Sozialstaat als „Vater Staat“die Versorgungs- und Hilfefunktionen, die früherFamilien leisteten, so kann er die Auflösung der fa-miliären Solidarität sogar noch verstärken.

In Deutschland gibt es einen weit ausgebauten So-zialstaat. Stellenweise schwächt er aber die Eigen-initiative oder lähmt sie sogar, indem das sozialeNetz zur Falle wird. Die über viele Jahrzehnte aufVerteilungsgerechtigkeit fixierte Debatte hat dieEinebnung materieller Unterschiede zum Ideal er-hoben, dabei aber Illusionen genährt. Eine leer-laufende Umverteilungspolitik und fortdauerndeAlimentierung der „sozial Schwachen“ nützt die-sen nicht. Vielmehr müsste eine anspruchsvolleSozialpolitik einen Mentalitätswechsel betreiben:Statt der Konsumorientierung muss wieder dieLeistung im Vordergrund stehen.

Eine illusionslose Sozialpolitik fördert und for-dert. Es gilt, die (Selbst-)Blockaden der Unter-schicht aufzubrechen, die sich zum Teil schon inder zweiten Generation in der Abhängigkeit vonSozialleistungen eingerichtet hat. Migranten müs-sen sich zum Erwerb deutscher Sprachkenntnisseverpflichten, junge Leute die für eine beruflicheAusbildung nötige Disziplin aufbringen. Gleich-heit kann im freiheitlichen Staat nur in einem an-näherungsweise gleichen Zugang zu Bildungs-chancen und offenen Arbeitsmärkten bestehen.Eine auf materielle Gleichheit fixierte Debatteweckt dagegen unerfüllbare Erwartungen, aus de-nen Enttäuschung und Frustration folgen. �

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Internationale Wirtschaftspolitik

42 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Ist die multilaterale Handelsordnung überholt?Prof. Dr. Andreas FreytagProfessor für Wirtschaftspolitik an der Friedrich-Schiller-Universität, Jena

In den 1990er Jahren waren angesichts der stärker werdenden Globalisierung Praktiker, Politiker und Wissenschaftler

beseelt von der Idee weltweiten Freihandels zur Mehrung des Wohlstands. Inzwischen werden Rufe nach dem Abbau

von Handelsschranken gern überhört oder bleiben Lippenbekenntnisse. Angesichts der globalen Wirtschafts- und Fi-

nanzkrise sowie der Staatsschuldenkrise in der Europäischen Union frönen viele lieber staatlichem Interventionismus

und protektionistischer Handelspolitik.

Im Jahr 2009 nahm der Welthandel in einem seitden 1930er Jahren nicht gekannten Ausmaß ab.Ein Jahr später war er bereits wieder auf Erho-lungskurs – die Lehren aus der großen Depressionvor 80 Jahren wirkten: Es gab keine Welle protek-tionistischer Maßnahmen. Dies war eine wesentli-che Voraussetzung für die Überwindung der Welt-wirtschaftskrise, weil viele Arbeitsplätze weltweitvom Außenhandel abhängig sind. Allerdings istEnde 2012 nur wenig Anlass zum Optimismus ge-geben, gerade in Deutschland. Die Exporte in dieEuropäische Wirtschafts- und Währungsunion(EWU), insbesondere in die Krisenländer, sankenim zweiten Quartal 2012 drastisch. Zudem wird be-fürchtet, dass sich die Schwäche der Eurozone ne-gativ auf andere Länder, zum Beispiel auf Schwel-lenländer wie China und Brasilien oder auf Ent-wicklungsländer, auswirkt. Insgesamt schrumpftder Welthandel seit etwa einem Jahr wieder.

Allerdings kommt Ungemach nicht nur von derkonjunkturellen Schwäche einiger Länder, son-dern auch von einer schon recht lang anhalten-den Blockade innerhalb der Welthandelsorganisa-tion (WTO). Die multilaterale Handelsliberalisie-rung war bereits vor der jüngsten Weltwirtschafts-krise ins Stocken geraten; nach der Krise scheinendie WTO-Mitglieder noch zurückhaltender zusein, was eine weitergehende Liberalisierung an-geht. Die Doha-Runde zur weiteren Marktöffnunginsbesondere zum Nutzen der ärmsten Länderkommt nicht voran, und es ist fraglich, ob sie über-haupt abgeschlossen wird. Im Gegenteil: Die han-delspolitischen Maßnahmen der WTO-Mitgliedersind seit 2008 intensiver geworden.1 Vor allem rü-cken die sogenannten nicht-tarifären Handels-

hemmnisse in den Vordergrund. Diese Maßnah-men sind wesentlich intransparenter und selekti-ver und damit diskriminierender als Zölle.

Parallel zu den Schwierigkeiten auf der multilate-ralen Ebene hat sich seit Gründung der WTO imJahr 1994 ein weit verbreiteter Regionalismus bzw.Bilateralismus entwickelt. Anfang 2012 waren 511regionale Freihandelsabkommen bei der WTO ge-meldet, 319 waren in Kraft, wobei zu berücksichti-gen ist, dass die hohe Anzahl auch darin begrün-det ist, dass Güter- und Dienstleistungsabkommengetrennt gezählt werden. Allerdings ist es verfehlt,die Diskussion um regionale Integration auf dieFrage der Einräumung von Präferenzen für diePartnerländer zu reduzieren.2 Der internationaleHandel hat sich derart weiterentwickelt, dass Gü-ter und Dienste komplementär gehandelt werdenund dass ausländische Direktinvestitionen eben-falls parallel zum Handel fließen. Vor diesemHintergrund muss man der Frage nachgehen, obund inwieweit die existierende Welthandelsord-nung zeitgemäß ist. In den Worten des ÖkonomenRichard Baldwin ist zu fragen, ob die Welthandels-ordnung des 20. Jahrhunderts zum Handel des21. Jahrhunderts passt.

Was ist neu in der Handelspolitik?

Die Weltwirtschaftskrise bewirkte eine Intensivie-rung der Staatstätigkeit, auch im Außenhandel.Das Vertrauen in den Staat ist trotz des offenkun-digen Staatsversagens, das der Krise vorausging,weltweit gestiegen. In den Vereinigten Staaten ist

1 Unter www.globaltradealert.org findet man einen umfassendenÜberblick über die handelspolitischen Maßnahmen in der Welt.

2 Vgl. Richard Baldwin, 21st Century Regionalism: Filling the Gapbetween 21st Century Trade and 20th Century Trade Rules, WTOStaff Working Paper ERSD-2011-08, Genf 2011.

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Welthandelsordnung

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insbesondere die Subventionierung des Wohnei-gentums in Verbindung mit dem geldpolitisch ver-ursachten Anstieg der Vermögenspreise als Krisen-ursache zu nennen. In der Europäischen Union istes die ungezügelte Staatsverschuldung, die in derSchuldenkrise der EWU ihren vorläufigen Höhe-punkt gefunden hat. Die Staatsschuldenkrise istzwar von der Weltwirtschaftskrise unabhängig,wurde aber von ihr befeuert. Im Zuge der Welt-wirtschaftskrise hat es zahlreiche und anhaltendeheimische Kriseninterventionen gegeben: zumBeispiel Haftung für Fremdschulden im Finanz-sektor, Konjunkturpakete und Lockerungen derGeldmarktpolitik. Konsens besteht darüber, dassdie antizyklische Politik im Jahr 2009 sachgerechtwar und in weiten Teilen verantwortungsbewusstdurchgeführt wurde – als Beispiel mag in Deutsch-land die Ausweitung des Kurzarbeitergeldes zurVermeidung von Entlassungen dienen.

Dennoch dürften die Auswirkungen vieler Staats-eingriffe schwerwiegend sein. Zum einen sind diewestlichen Industrienationen in nicht gekanntemAusmaß verschuldet, was die bereits zuvor beste-henden Schwierigkeiten in der Eurozone und denVereinigten Staaten verschärft. In Europa gab eseine weitere Zuspitzung der Haushaltsprobleme,die in der Staatsschuldenkrise mündeten und aufdie die EZB offenbar mit der Monetisierung derDefizite reagieren will, weil in der EWU kaum po-litische Bereitschaft zu Reformen und Haushalts-disziplin besteht. Dies dürfte privatwirtschaftlicheSpar-, Investitions- und Innovationsanstrengungenbehindern; außerdem könnte es wettbewerbsein-schränkend wirken.

Zum zweiten – und damit eng verbunden – beste-hen handelspolitische Risiken. Die handelspoliti-schen Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise wa-ren zwar relativ moderat: Die Welt ist nicht in ei-nen „Wie du mir, so ich dir“-Protektionismus ge-stürzt. So hat laut WTO der Einsatz von Handels-schranken, die an der Landesgrenze wirken, nurein Prozent des internationalen Handels betrof-fen. Das berücksichtigt jedoch nicht den neuarti-gen nicht-grenzbezogenen Protektionismus. Diessind hauptsächlich komplexe inländische Regulie-rungen, die über die Grenze hinaus wirken undden internationalen Handel benachteiligen. Etli-che Interventionen in der Krise können diese Wir-kung haben: unklare Bestimmungen auf den Fi-nanzmärkten, die grenzübergreifende Geschäftebeeinträchtigen; Einschränkungen der öffent-lichen Auftragsvergabe („buy local“); Industrie-subventionen; neue Produkt- und Prozessstan-dards – einschließlich Umweltstandards zur Förde-

rung erneuerbarer Energien und zur Bekämpfungdes Klimawandels.

Nicht-tarifäre Handelshemmnisse, zum BeispielRegulierungen, sind undurchsichtiger als Zölle.Sie werden zudem weniger durch WTO-Regelneingeschränkt und breiten sich dadurch schnelleraus. Dies konnte bereits in den 1970er Jahren undAnfang der 1980er Jahre beobachtet werden, alsheimische Interventionen zur Bekämpfung exter-ner Schocks zu schleichendem Protektionismusführten. Dies sollte im Interesse auch der Schwel-len- und Entwicklungsländer frühzeitig unterbun-den werden.

Politik im Würgegriffder Interessengruppen

Immer noch sind die USA und die EU diewichtigs ten Akteure im Welthandel, wenngleichihre Bedeutung schwindet. Dies mag mit ihremVerhalten zusammenhängen, denn beide verfol-gen zurzeit eine defensive Strategie in der Han-delspolitik. Wirtschaftliche Schwäche im Inlandwird nicht zum Anlass für Reformen und zu einerproduktivitätserhöhenden Intensivierung desWettbewerbs genutzt. In den Vereinigten Staatenist das Bild recht düster: Die Handelspolitik stehtin der Prioritätsliste des Weißen Hauses an einerunteren Stelle. Präsident Barack Obama ist nicht inerster Linie ein Verfechter des Freihandels, und erhat einflussreiche protektionistische Kräfte in sei-ner Umgebung, vor allem die Gewerkschaften. Diederzeitige US-Regierung ist keine treibende Kraftbei Initiativen zur Öffnung der Märkte. Die USAscheinen im Begriff zu sein, ihre führende Rolleim Welthandel aufzugeben. So droht ein globalesVakuum, denn es scheint sich kein angemessenerErsatz zu finden, wenn es um die Öffnung derMärkte und die Stärkung von Handelsregeln geht.

In der Europäischen Union jedenfalls wird manauf absehbare Zeit vergeblich nach diesem Ersatzsuchen. Der EU-Binnenmarkt wird durch dieSchuldenkrisen der Mitgliedstaaten, das noch im-mer schlecht funktionierende Bankensystem, denSubventionswettlauf in der Industrie, die erstarr-ten Arbeitsmärkte, die aufgeblasenen und teils ver-schwenderischen Wohlfahrtsstaaten sowie die zwi-schenstaatlichen Uneinigkeiten belastet. Als inden 1970er und 1980er Jahren das letzte Mal eine„Eurosklerose“ zu beobachten war, bestand die Re-aktion der europäischen Handelspolitik in stei-gendem Protektionismus gegenüber Nicht-Mit-gliedstaaten der EU. Die negativen Folgen konnte

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Internationale Wirtschaftspolitik

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Europa erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahreeindämmen, als der gemeinsame Binnenmarktvorbereitet wurde. Viele Jahre wurden verschenkt.

Die EU läuft Gefahr, dass sich eine solche Entwick-lung wiederholt, obwohl der Außenhandel in Eu-ropa heute bedeutender als vor 20 Jahren ist. Diesgilt gerade für Deutschland, das seine Exporte inden Nicht-Euroraum seit Gründung der Wäh-rungsunion noch erhöht hat. Die Freihandelsin-teressen Deutschlands und anderer großer euro-päischer Länder werden trotzdem nicht angemes-sen vertreten, was seine Begründung auch in derfehlenden politischen Unterstützung hat.

Die Ursache dafür ist leicht zu erraten, aberschwer zu belegen: Die organisierten Interessen-gruppen haben die Politik fest im Griff. Die Wirt-schafts- und Außenhandelspolitik in der EU seit2001 ist nur mithilfe der ökonomischen Theorieder Interessengruppen erklärbar. Stichworte hiersind Agrarpolitik, Bankenrettung, EuropäischerRettungsfonds und die deutsche Abwrackprämie.Diese Maßnahmen und Politiken sind wenigerdurch ökonomische Vernunft als durch Interesseneinzelner Gruppen motiviert. Für die wirtschaftli-che Dynamik in Europa ist es wesentlich, dass sichdie Politik aus diesem Würgegriff der Interessen-gruppen befreit. Genau dies wurde vor 20 Jahrenmit dem europäischen Binnenmarkt eindrucksvollvorgeführt. Sowohl nach innen als auch nach au-ßen gab es einen Deregulierungs- bzw. Liberalisie-rungsschub, die in einen Produktivitätsschubmündeten. Derzeit jedoch ist dies nicht zu erwar-ten. Im Gegenteil: Die Weichen stehen in Europaauf Verschleppung des Strukturwandels und lang-fristige Stagnation.

Weltweit steigender Protektionismus

China zählt nunmehr neben den USA und der EUzu den großen Akteuren im Welthandel. Einerseitshat das Land während der Krise auf einen starkenAusbau des Protektionismus verzichtet, anderer-seits wurden jedoch auch keine Anstrengungenfür Liberalisierungen im Außenhandel und im Be-reich der Direktinvestitionen unternommen.Durch das Fehlen von strukturellen Reformen imInland und durch den schleichenden Protektio-nismus drohen somit auch in der ferneren Zu-kunft Spannungen im Außenhandel. Chinas Ant-wort auf die Krise liegt im Wesentlichen in derUnterstützung des öffentlichen Sektors, wohl aufKosten der inländischen Privatwirtschaft und derausländischen multinationalen Unternehmen.

Dies verstärkt Chinas grundsätzliche wirtschaftli-che Schwäche, die sich in hoher Sparneigung,Überinvestitionen und einem zu niedrigen Kon-sum äußern. Gegenwärtig droht China zudem ei-ne erhebliche Abschwächung des Wachstums.

Mit der hohen Sparneigung in China ist ein weite-res politisch ungelöstes Problem der Weltwirt-schaft verbunden: die sogenannten globalen Un-gleichgewichte. In den Vereinigten Staaten wirdoft der Vorwurf erhoben, der chinesische Ren-mimbi sei deutlich unterbewertet, weshalb die chi-nesische Wirtschaft mehr exportiere als importie-re. Dieser Vorwurf ist nicht gerechtfertigt. Selbstwenn der Renmimbi gegenüber dem US-Dollarvon der chinesischen Regierung unterbewertet wä-re, ist diese Politik eher geeignet, Inflation zu er-zeugen als Exportüberschüsse hervorzurufen. DieExportüberschüsse sind vielmehr das Resultat derhohen Sparneigung in der chinesischen Wirt-schaft. Diese wiederum ist das Ergebnis einer Poli-tik, die zu wenig auf den Konsum setzt und dieLöhne der Arbeiter zu gering hält.

Insofern schadet die chinesische Regierung weni-ger den Vereinigten Staaten, die sich nicht auf An-weisung Pekings verschuldet haben, als vielmehrChina selbst. In den Vereinigten Staaten wiederumsind die Leistungsbilanzdefizite das Ergebnis einergeringen Sparneigung in Kombination mit hohenprivaten und staatlichen Konsumausgaben. Ob-wohl diese Logik der US-amerikanischen Adminis-tration nicht fremd sein dürfte, könnten die Han-delsdefizite China gegenüber eine politische Ar-gumentationsgrundlage für weitere Protektions-maßnahmen bilden.

Andere große Schwellenländer haben sich auchnach diesem Muster verhalten: Sie haben bereitsdurchgeführte marktwirtschaftliche Reformennicht wieder aufgehoben, haben aber gleichwohlweitere Liberalisierungen im Inland ausgesetztund so mit einer leichten Ausdehnung der protek-tionistischen Maßnahmen auf die Weltwirtschafts-krise reagiert. Südafrika beispielsweise hat die Zöl-le auf Textilien im Herbst 2009 erhöht, ohne dabeigeltendes Recht zu verletzen. Da die angewandtenZölle auf einige Textilien deutlich unter den Zoll-linien lagen, konnte ihre Erhöhung legal vorge-nommen werden.

Wo steht die Doha-Runde?

Wenn schon die großen Akteure im Welthandelkeine Impulse für eine Liberalisierung des Welt-

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Welthandelsordnung

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handels setzen, stellt sich die Frage, ob die WTOentscheidend eingreifen kann. Skepsis ist ange-bracht. Seit der Veröffentlichung der Doha-Deve-lopment-Agenda im November 2001 ist wenig pas-siert. Im Sommer 2004 gab es eine Vereinbarungzu Agrarsubventionen, die man als Ausnahme undinsofern als Durchbruch bezeichnen kann: einVerbot von Exportsubventionen. Gerade ange-sichts der seit einiger Zeit wieder steigenden Le-bensmittelpreise wäre es geboten, die Planwirt-schaft in der Agrarpolitik aufzugeben und dieMärkte zu öffnen. Die Beendigung der Exportsub-ventionen verliert temporär an Dringlichkeit,wenn die Weltmarktpreise stark steigen. Allerdingssind Exportsubventionen immer ein stark verzer-render Eingriff in den Markt.

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Vereinbarungenvon 2004 Realität werden, ist gering. In der WTOgilt, dass eine einzelne Vereinbarung nur dannumgesetzt wird, wenn das gesamte Abkommensteht sowie alle Details beschlossen und vereinbartsind. Solange es nicht zum Abschluss kommt, istdas Verbot der Exportsubventionen gegenstands-los. Man kann davon ausgehen, dass die Mitglieds-länder der Organisation für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung (OECD) denAgrarprotektionismus im Jahr 2012 nicht aufge-ben wollen; sie werden Mittel und Wege suchen,selbst dieses enge Ergebnis aus dem Jahr 2004 zuverwässern. Selbst wenn es also zu einem Ab-schluss kommt, wären dessen Ergebnisse vermut-lich sehr bescheiden. Kaum etwas wäre im Kampfgegen den aufkommenden nicht-tarifären Protek-tionismus erreicht.

Insgesamt sieht es also düster aus. Die Doha-Run-de stockt, und um die Reputation der WTO ist esschlecht bestellt. Das im Dezember 2011 abgehal-tene Ministertreffen der WTO-Mitglieder, das zu-gleich das höchste Gremium darstellt, hat weniggebracht und ist in der Öffentlichkeit weitgehendunbeachtet geblieben. Die Gründe für diese Situa-tion liegen sicherlich auch in der schieren Größeder Organisation mit annähernd 160 unterschied-lichen Ländern. Neben den OECD-Ländern fin-den sich Schwellenländer und ehemals kommu-nistische Ökonomien wie Russland und China, wo-bei gerade China sich offensichtlich – zumindestvordergründig – diszipliniert an die WTO-Regelnhält. Zudem werden die Themen komplexer unddie Verhandlungen schwieriger. Je mehr der Zoll-abbau vorangeschritten ist, desto mehr haben dieProtektionisten aller Nationen nach intransparen-ten und selektiven Instrumenten gesucht. Sie sind

fündig geworden: Die Vielfalt an nicht-tarifärenHandelshemmnissen ist groß.

Gibt es Alternativen zur multilateralen Ordnung?

Auf der Suche nach Liberalisierungspotenzialenfinden sich immer wieder Initiativen zur Bildungregionaler Handelsblöcke, wobei der Begriff re-gional irreführend ist. Unter den über dreihun-dert gültigen Abkommen sind zahlreiche zwi-schen Ländern, die nicht benachbart sind odergar auf einem Kontinent liegen. Diese Abkom-men zeigen den Willen zur Marktöffnung, werdenjedoch seit Jahrzehnten kritisch beobachtet. Folgtman der traditionellen Argumentation im Sinnevon Jacob Viner, so haben regionale Freihandelsab-kommen entgegengesetzte Wirkungen für dieMitglieder und Drittstaaten.3 Letztere leiden un-ter der Intensivierung des Außenhandels zwi-schen den Mitgliedern.

Die Intensivierung des Außenhandels innerhalbder Freihandelsregion ist aber nicht in jedem Fallwohlfahrtssteigernd ebendort. Neben der Han-delsschaffung durch den Abbau der Handels-hemmnisse beeinträchtigt Handelsumlenkung,das heißt die Umlenkung von vorteilhaftem Han-del mit Drittländern zu den Mitgliedsländern, dieWohlfahrt der Mitglieder. Diese Erkenntnisse le-gen einen skeptischen Blick auf bilaterale Abkom-men nahe, der dadurch unterstützt wird, dass vieleFreihandelszonen mit komplizierten Ursprungsre-geln zur Verhinderung der Handelsablenkung,das heißt der Einfuhr von Waren in die Freihan-delszone über das Mitgliedsland mit den jeweilsniedrigsten Barrieren, bestehen. Je mehr Freihan-delszonen ein Land angehört, desto mehr – wo-möglich sehr unterschiedliche – Ursprungsregelngelten für die Unternehmen.

Gegen diese Sicht der Dinge gibt es allerdings be-rechtigte Einwände, weil sich die Struktur desAußenhandels in den vergangenen Jahren grund-legend gewandelt zu haben scheint.4 Anstatt dassvollständig in einem Land hergestellte Fertigpro-dukte international getauscht werden, besteht derAußenhandel heute aus ausgefeilten internationa-len Wertschöpfungsketten. Häufig wird ein Pro-dukt auf unterschiedlichen Produktionsstufenmehrfach zunächst importiert, dann exportiertund anschließend wieder importiert. Diese Ströme

3 Vgl. Jacob Viner, The Customs Union Issue, New York 1950.4 Vgl. Richard Baldwin, a. a. O.

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Internationale Wirtschaftspolitik

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sind nicht auf bilaterale Freihandelszonen be-schränkt, sondern wechseln zwischen den Zonen.Protektion und Diskriminierung können da nurschaden, weil die Exporte in der nächsten Stufebehindert sind; man könnte von einer unbeab-sichtigten Zolleskalation sprechen.

Hinzu kommt, dass diese Form der Produktionmit einem Anstieg der ausländischen Direktinves-titionen einhergeht. Es muss also auch Investi-tionsschutzregeln geben, die wiederum erhöhteDisziplin der Mitglieder einer Freihandelszone er-fordern. Die empirische Literatur zeigt, dass Han-delsumlenkung in der jüngeren Vergangenheitseltener auftritt, also die Diskriminierung vonDrittstaaten abnimmt. Deshalb spricht Baldwinauch davon, dass der alte Konflikt zwischen Multi-lateralismus und Bilateralismus nicht mehr in derbisherigen Form existiert.5 Damit verliert auch dieFrage an Bedeutung, ob regionale Integration einTreiber oder ein Hindernis der multilateralenOrdnung ist. Beides scheint mittlerweile komple-mentär zu sein.

Zum Sinn des freien Außenhandels

Aus dem Grund mehren sich die Stimmen, die ver-langen, die Doha-Runde in ihrem Absolutheitsan-spruch aufzugeben und stattdessen einzelne The-men voranzutreiben, wenn sich andere nicht reali-sieren lassen.6 Thematische Abkommen, zum Bei-spiel über die Öffnung der Agrarmärkte, wärenein echter Fortschritt. Vor allem gilt es, den Markt-zugang für Agrarprodukte aus Entwicklungslän-dern in die Märkte der Schwellenländer und derOECD-Länder zu verbessern. Nur unter einer dau-erhaft glaubwürdigen marktwirtschaftlichen Ord-nung der weltweiten Agrarmärkte werden die An-reize gesetzt, um Potenziale der Landwirtschaft inden Entwicklungsländern zu nutzen. Dies gilt um-so mehr, als dass die Doha-Runde vor bald zehnJahren als Entwicklungsrunde begann. Ihr erfolg-reicher Teil-Abschluss wird unwahrscheinlicher,aber nicht weniger wichtig.

Vielleicht sollte man sich in der gegenwärtigenKrise der Doha-Runde nochmals vor Augen füh-ren, welchen Sinn eine multilaterale Handelsord-nung hat. Jan Tumlir, der langjährige, inzwischen

verstorbene Chefökonom des Allgemeinen Zoll-und Handelsabkommens (GATT) hat die einzigsinnvolle Begründung für gegenseitige Zugeständ-nisse im Handel, also Vereinbarungen zum Abbauvon Zöllen und nicht-tarifären Handelsbarrieren,darin gesehen, dass Regierungen mithilfe auslän-discher Handelspartner ihr Sklavendasein den na-tionalen Interessengruppen gegenüber beenden.Eine im gesamtwirtschaftlichen Interesse handeln-de Regierung würde diesen Abbau selbständig be-treiben, jedoch ist ein solches Interesse politischoftmals nicht rational.

Die Regierungen müssen wieder eine Langfrist-perspektive einnehmen und kurzfristige Einzelin-teressen nicht mit gesamtwirtschaftlicher Wohl-fahrt verwechseln. Das ist nicht einfach, die Welt-handelsorganisation kann dabei unterstützen.Das nächste Ziel ist daher die Entwicklung inRichtung einer Post-Doha-Agenda, die sich mitden tatsächlichen Gegebenheiten des 21. Jahr-hunderts – insbesondere der Überwindung derBlockadehaltung organisierter Interessen – be-fasst. Um die WTO wieder zu aktivieren, muss dasFührungsvakuum, das durch die USA, die EU undeinige wichtige Schwellenländer hinterlassen wur-de, beseitigt werden.

Zur Rolle der Schwellenländer in der Handelspolitik

Kann die Gruppe der zwanzig wichtigsten Indus-trie- und Schwellenländer (G20) hierbei eine Hil-fe sein? Skepsis ist angebracht. Bisher erwies siesich als ineffektiv in Bezug auf die Handelspolitik.Dennoch gibt es Lichtblicke. Im Seoul-Consensus,dem Abschlussdokument des G20-Gipfels im No-vember 2010 in Korea, ist der Abschluss der Doha-Runde genauso verankert wie die Beseitigung derglobalen Ungleichgewichte sowie die Beendigungder Lebensmittelknappheit für die Armen. DiesenZielen kann uneingeschränkt zugestimmt werden.Wege zu diesen Zielen werden allerdings nicht ge-nannt, eine bindende Verpflichtung der Mitglie-der gibt es ebenfalls nicht. Bestenfalls kann dieG20 unter diesen Umständen als ein nützlichesDiskussions-Forum dienen.

Wenn es schlecht läuft, werden die kommendenBeschlüsse so ausgelegt, dass der Welthandel wei-ter eingeschränkt wird. Dies wäre zum Beispielder Fall, wenn die Beseitigung der Handelsbi-lanzdefizite durch den Aufbau von Handelsbar-rieren angegangen würde oder die Sicherstellungder Ernährung durch verstärkte Anwendung

5 Vgl. ebenda.6 Vgl. Richard Baldwin/Simon J. Evenett, Next Step for the Doha-Round: Introducing a New eBook, www.voxeu.org vom 28. Mai 2011;ohne Verfasser, Boxed in. Global Trade Has Turned down Sharply thisYear. The Outlook Is Pretty Bleak, too, in: The Economist vom 8. Sep-tember 2012.

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planwirtschaftlicher Methoden erreicht werdensollte. Allgemein akzeptierte Ziele würden dannmit weiteren Entwicklungshemmnissen für vielearme Menschen in den Entwicklungsländernkonterkariert.

Noch besteht aber Hoffnung für den Multilatera-lismus. Es liegt nicht nur im Interesse des Westens,den Welthandel weiter zu liberalisieren. Geradedie Schwellenländer, die in der G20 Mitgliedersind und die – zu Recht – mehr Mitsprache in derglobalen Gemeinschaft fordern, sollten großesInteresse an offenen Märkten haben. Sie werdenin der Welt nur dann ernst genommen werden,wenn sie wesentliche Schritte zur Verbesserungder internationalen Ordnung initiieren. Es nütztniemandem, wenn die BRICS-Staaten (Brasilien,Russland, Indien, China und Südafrika) Marktöff-nung im Westen fordern, aber selber keine Ange-bote machen. Das Gleiche gilt für Entwicklungs-länder.

Durch eine konzertierte Aktion mit konkreten An-geboten für Marktöffnung kann der Westen unterDruck gesetzt werden.7 Denn die mittelfristigeAufgabe besteht darin, die Liberalisierungsmaß-nahmen in den Bereichen Handel und ausländi-sche Direktinvestitionen in Verbindung mit natio-nalen Strukturreformen wieder aufzunehmen.

Klar ist, dass dies in erster Hinsicht eine Angele-genheit für unilaterale Maßnahmen der Regierun-gen und den Standortwettbewerb unter diesen ist.Durch internationale politische Kooperation imRahmen der WTO und der G20 kann dies unter-stützt werden, jedoch sollte davon nicht allzu vielerwartet werden. Es sei denn, die Schwellenländerergreifen die Initiative zur Ingangsetzung globalwirkender Mechanismen.

Die Handelspolitik ist ein Spiegel der allgemeinenWirtschaftspolitik zu Beginn dieser Dekade – esdroht nach den durchaus sinnvollen Kriseninter-ventionen nun ein Rückfall in eine Phase des Pro-tektionismus mit unausgereiftem Keynesianismus.Heute scheint wieder ein tief sitzender, empirischjedoch nicht gestützter Glaube in die Fähigkeitund das Wissen staatlicher Instanzen zu bestehen.Leider ist die Qualität der staatlichen Aufgabener-füllung nicht mitgewachsen; viele staatliche Aus-gaben und Aktivitäten dienen Interessengruppen.Somit hängt die nahe Zukunft der Handelspolitikauch davon ab, inwieweit es gelingen kann, das un-heilvolle Zusammenspiel organisierter Interessenund staatlicher Bürokratien zu unterbrechen. Dieweitere Liberalisierung bzw. eine Umkehr vomWeg in den versteckten Protektionismus ist nichtder einzige, aber ein wichtiger Baustein für denWeg aus der Weltwirtschaftskrise. �

7 Vgl. Andreas Freytag/Sebastian Voll, Protektionismus in derKrise? – Die Chance für die Schwellenländer, endlich ernst genom-men zu werden, in: Wirtschaftsdienst, 2009, Heft 3, Seiten 167–171.

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Internationale Wirtschaftspolitik

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Kuba auf der Suche nach einem eigenen ReformwegDr. Uwe OptenhögelDirektor des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung für Kuba in Santo Domingo (Dominikanische Republik)

Der Mythos des „tropischen Sozialismus“ ist verblasst. Dieser Erkenntnis verschließt sich inzwischen auch die kubani-

sche Regierung nicht mehr. Erstmals seit dem Ende des Ostblocks beschreitet Kuba einen Reformweg, der das Modell

einer zentral gelenkten Staatsverwaltungswirtschaft ernsthaft zu ändern versucht.

Einerseits hört man von wirtschaftlichen Refor-men und Aufbruch in Kuba: Privatpersonen kön-nen heute dort Autos kaufen und verkaufen, einekleine Firma mit Angestellten gründen, langfristigLand für die landwirtschaftliche Produktion pach-ten und Immobilien erwerben oder verkaufen. So-wohl Genossenschaften als auch private Produzen-ten dürfen ihre erzeugten Nahrungsmittel direkt,das heißt unter Umgehung der staatlichen Ver-marktungsagentur, an den Staat oder den Touris-mussektor verkaufen.

Andererseits erhöhte die Regierung Anfang Sep-tember die Zölle auf Kleinimporte, die als Post-oder Geschenksendungen von im Ausland leben-den Kubanern oder als Handgepäck bei Flügen inrelativ großen Mengen ins Land kamen. Dieser in-offizielle Importweg bildete zu einem guten Teildas Rückgrat des Schwarzmarktes, ohne den derkubanische Alltag kaum zu organisieren ist. Darü-ber hinaus ist er eine wichtige Versorgungsquellefür den gerade erst aufkeimenden Privatsektor imHinblick auf Güter, die der offizielle Markt nichtbereitzustellen in der Lage ist. Der Unmut in derBevölkerung ist daher groß. Derartige Maßnah-men tragen ebenso wenig zum Vertrauen in diePolitik bei wie die anfänglich hohen Steuersätzefür die neuen Selbständigen.

Begleitet werden die widersprüchlichen Signalevon Meldungen über Stromausfälle, die weite Tei-le der Insel über Stunden lahmlegten, oder vondem Gerücht, dass in Havanna 70 Prozent desWassers nicht am Wasserhahn der Konsumentenankommen, sondern vorher in den maroden Lei-tungen versickern.

Die Langlebigkeitdes tropischen Sozialismus

Diese Meldungen illustrieren die vielschichtigeHerausforderung, vor der Präsident Raúl Castround seine Regierung stehen, seit sie sich ent-schlossen haben, die erfolglose Planwirtschaft sow -jetischer Prägung umzubauen. Im kubanischenJargon spricht man nicht von Reformen, sondernvon „Aktualisierung des Wirtschaftsmodells“. Defacto handelt es sich aber um die Suche nach ei-nem neuen Wirtschaftsmodell. Dass ernsthafte Re-formanstrengungen in Kuba erst fast ein Viertel-jahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangseinsetzen, ist im Westen lange mit Unverständnisbetrachtet worden. Anders als erwartet, ist der tro-pische Sozialismus im Gefolge des Niedergangsder Sowjetunion nicht zusammengebrochen, undauch das inzwischen 50 Jahre andauernde US-Em-bargo hat Kuba nicht in die Knie zwingen können.Die Insel hat zwar eine harte Zeit hinter sich. Siehat sich aber ihre nationale Souveränität bewahrtund so weiterhin die Chance, ihren Übergangs-prozess selbst zu steuern. Und das ist derzeit dieoberste politische Maxime in Havanna.

Die Langlebigkeit des kubanischen Sozialismusmacht zum einen deutlich, dass er gesellschaftlichund politisch nicht einfach eine Kopie Osteuropasist. Kuba ist nicht halb so katholisch wie Polen. Diekubanischen Gewerkschaften sind nach wie vorder intakte Transmissionsriemen der Partei in denBetrieben, aber keine patriotische Massenbewe-gung mit eigenen Ideen wie die „Solidarność“ der1980er Jahre in den ehemaligen Ostblockstaaten.In Havanna ist weder ein charismatischer Arbei-terführer vom Schlage Lech Wałęsas noch ein An-walt der Bürgerrechte vom Format eines VáclavHavel in Sicht.

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Desweiteren – und das ist im Westen übersehenworden – genoss die Führung Fidel Castros und sei-ner „comandantes“ nach der Revolution für langeZeit hohe Legitimität. Ihre Revolution ermöglich-te einer ganzen Generation von Kubanern erstma-lig den Zugang zu Bildung, Kultur, Gesundheitund Altersversorgung. Seine besten Jahre erlebtedas Modell in den 1980er Jahren, als Kuba einenbescheidenen Wohlstand erreichte, was den My-thos des kubanischen Sozialstaats in einem Ent-wicklungsland begründete. Damit und mit seinemerfolgreichen Internationalismus wurde Kuba zurReferenz für die Dritte Welt und für weite Teileder Linken weltweit.

Sogar die katholische Kirche, die durch den kom-promisslosen Atheismus der bärtigen Revolutionä-re über Jahrzehnte ein Schattendasein auf der In-sel führte, erkennt heute die Legitimität des kuba-nischen Sozialismus an. Sie zeigt Interesse an ei-nem Erfolg der Reformen und arbeitet mit der Re-gierung Raúl Castros zusammen. Wie der Kardinalvon Havanna, Jaime Ortega, in Gesprächen mitwestlichen Politikern immer wieder betont, giltder kubanische Sozialismus der katholischen Kir-che als das Ergebnis eines vom Volk getragenenKampfs um nationale Unabhängigkeit und somitals identitätsstiftend – anders als in Mittel- undOsteuropa, wo er 1945 auf den Panzern der RotenArmee anrollte.

Allerdings hatte die Aufrechterhaltung des Sozia-lismus alten Stils nach 1990 einen hohen Preis.Die Kosten werden erst jetzt im Angesicht ernst-hafter Reformversuche in ganzer Höhe deutlich.Und es wird auch klar, dass die heutigen Reform-anstrengungen unter bedeutend schwierigerenBedingungen ablaufen, als es Anfang der 1990erJahre der Fall gewesen wäre. In den mehr als 20Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ha-ben sich unter der Oberfläche machtpolitischerStabilität Wirtschaft und Gesellschaft in Kuba ra-dikal verändert.

Das ökonomische Erbe der 1990er Jahre wiegt schwer

Zwischen 1990 und 1993 schrumpfte das kubani-sche Sozialprodukt um mehr als ein Drittel, derAußenhandel ging um 80 Prozent zurück. Die In-dustrieproduktion kam mit Kapazitätsauslastun-gen von zehn bis 20 Prozent fast zum Erliegen.Selbst Grundnahrungsmittel wurden knapp: Nachoffiziellen Angaben reduzierte sich der durch-

schnittliche Kalorienverbrauch der Bevölkerungzwischen 1989 und 1993 um ein Drittel.

Im Rahmen der Arbeitsteilung des „Rates fürgegenseitige Wirtschaftshilfe“ war Kuba darauffestgelegt, Zucker sowie andere Nahrungsmittelund Rohstoffe zu liefern. Als die sozialistischeWirtschaftsgemeinschaft und die sowjetischenSubventionen wegbrachen, war schnell klar, dassdie kubanische Ökonomie vollständig umgebautwerden musste. Diese Aufgabe übertrug Fidel Cas-tro seinem Bruder und damaligen Verteidigungs-minister Raúl und dessen „Forcas Armadas Revo-lutionarias“ (FAR). Die erfolgreiche Erledigungdieser Mission markierte den Einstieg des kubani-schen Militärs in die Wirtschaft, und zwar in diemodernen, außenhandelsrelevanten Sektoren.

Seitdem haben die FAR ihren Einfluss auf dieÖkonomie ausgeweitet und sind heute die trei-bende Kraft hinter den Reformen. Seinerzeit ge-lang es, den Zusammenbruch abzuwenden, je-doch konnten die neu aufgebauten Wirtschafts-sektoren Tourismus, Nickelexport sowie – in ge-wissem Umfang – Gesundheitsdienstleistungenund Biotechnologie nicht so weit entwickelt wer-den, dass sie den Devisenbedarf des Landes de-cken. Seit Jahren lebt Kuba mit einem strukturel-len Außenhandelsdefizit, mit hohen Auslands-schulden und – dadurch bedingt – mit einer Li-quiditätsklemme des Staates.

Im Zuge dieser Neuorientierung wurden die tradi-tionellen Wirtschaftssektoren vernachlässigt. Mitt-lerweile hat die Insel eine Wirtschaftsstruktur, inder die „produktiven“ Sektoren nur knapp einViertel der Wertschöpfung ausmachen, der Dienst-leistungssektor hingegen über drei Viertel.1 Kuba-nische Ökonomen sprechen von einer „dysfunk-tionalen Tertiarisierung“,2 die die zukünftige Ent-wicklung der Ökonomie bedroht. Seit Anfang der1990er Jahre ist die Volkswirtschaft nicht in der La-ge, die notwendige Kapitalerneuerung, also dieGrundlage ihrer Existenz zu gewährleisten. DieBruttoanlageinvestitionen machten 2007 nurnoch 13,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus.3Das entspricht der Hälfte des Wertes von 1989 und

1 Vgl. Oficina Nacional de Estadísticas (ONE), Panorama Económicoy Social 2007, Havanna 2008.2 Pedro Monreal (2007), Industrial Policy and Clusters in Cuba, in:Jorge I. Domínguez/Omar Everleny Pérez Villanueva/Lorena Barbe-ria (Hrsg.), The Cuban Economy at the Start of the Twenty-First Cen-tury, 2008.3 Vgl. Carmelo Mesa Lago, La economía cubana en la encrucijada:el legado de Fidel, el debate sobre el cambio y las opciones de Raúl;Documento de Trabajo, No 19/2008, Real Instituto Elcano.

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etwa der Hälfte dessen, was kubanische Ökono-men als notwendig ansehen für nachhaltiges Wirt-schaftswachstum. Auch im regionalen Vergleichlag Kuba weit unter dem lateinamerikanischenDurchschnitt von circa 20 Prozent.4

Kubas Abhängigkeit von Venezuela

An dieser Entwicklung änderten auch die von Fi-del Castro akquirierten Subventionen nichts, dienach der Machtübernahme Hugo Chavez‘ in Vene-zuela Ende der 1990er Jahre einsetzten. Diese Hil-fen hielten lediglich die marode Planwirtschaft amLeben und lieferten der kubanischen Führung dieGelegenheit, die vergleichsweise moderaten Libe-ralisierungen vom Anfang des Jahrzehnts aus ide-ologischen Gründen wieder zurückzunehmen –die Partei malte das Gespenst einer neuen Bour-geoisie an die Wand. Trotz der traumatischen Er-fahrungen aufgrund der Abhängigkeit von derSow jetunion nach deren Zusammenbruch schätz-te Fidel Castro die Gefahren weiterer Liberalisie-rungen offenbar höher ein als den Preis, den manfür eine neue Abhängigkeit – dieses Mal von HugoChavez‘ Öl-Renten-Ökonomie – zu zahlen bereitwar.

Wie zu Zeiten der Sowjetunion, als Kuba mit demErlös aus dem Wiederverkauf geschenkten sowjeti-schen Öls seinen Devisenhaushalt aufbesserte,wird heute das venezolanische Öl für denselbenZweck genutzt. Experten gehen davon aus, dassein signifikanter Anteil des kubanischen Bruttoin-landsprodukts (BIP) auf diese Weise von Venezue-la finanziert wird; genaue Angaben dazu gibt esnicht. Fest steht aber, dass das venezolanische En-gagement über die Jahre gewachsen ist. Es hataber noch nicht die Dimension der damaligenSubventionen aus der Sowjetunion und den ande-ren Ostblockstaaten erreicht, die bis zu 22 Prozentdes kubanischen BIP ausmachten.

Würde die Unterstützung durch Venezuela überNacht wegfallen, würde sich Kubas ohnehin ange-spannte Wirtschaftslage weiter verschlechtern.Und ob man sich eine Neuauflage der „Sonderpe-riode in Friedenszeiten“, wie die erste Hälfte der1990er Jahre nach dem Ende der Sowjetunion inKuba genannt wurde, leisten kann, darf bezweifeltwerden. Damals hatte man etwas zuzusetzen, heu-te sind sowohl die politischen Legitimationsreser-

ven als auch die ökonomische Substanz aufge-braucht.

So erweist sich die selbstgewählte Abhängigkeitvon Venezuela im Nachhinein als schwere Hypo-thek. Kuba macht nach einem verlorenen Jahr-zehnt heute da weiter, wo es Ende der 1990er Jah-re aufgehört hatte. Doch inzwischen sind die Aus-gangsbedingungen bedeutend schlechter: DasLand ist weitgehend deindustrialisiert, es gibtkaum noch intakte Wertschöpfungsketten, kaumhorizontale Verflechtungen bzw. funktionale Ar-beitsteilung zwischen Wirtschaftssektoren, die Pro-duktivität ist weiter gesunken, die Infrastrukturweiter verfallen, die Korruption gestiegen.5 Undohne den Schwarzmarkt ist das Alltagsleben fürdie Kubaner kaum zu bewältigen.

Zwei Währungen und ein verdrehtes Lohngefüge

Vor dem Hintergrund dieser Wirtschaftslage ist esnicht verwunderlich, dass die sozialen Dienstleis-tungen, einst der Stolz der Revolution, nicht mehrbezahlbar sind und zusehends schlechter werden.Dabei hält die Regierung Raúl Castros an einer am-bitionierten Sozialpolitik fest. So ist in den vergan-genen Jahren der Anteil der Sektoren Bildung,Gesundheit und soziale Sicherheit am BIP weitergestiegen. Angesichts der insgesamt niedrigenWirtschaftsleistung reicht diese Prioritätensetzungaber nicht aus, um die Standards zu halten.

Aus Sicht der Beschäftigten und Rentner mündeteder Umbau der kubanischen Wirtschaft nach demZusammenbruch des Ostblocks in einen dramati-schen Kaufkraftverlust, von dem man sich bis heu-te nicht erholt hat. Das wirtschaftspolitische Ins -trumentarium dazu lieferte die Notenpresse. Zwi-schen 1990 und 1993 erreichte die Inflation bis zu183 Prozent, was bei konstant gehaltenen Löhnenund Renten einer individuellen Enteignung zu-gunsten der Aufrechterhaltung der Staatsbetriebeund der kollektiven Sozialleistungen gleichkam.6

Die gleichzeitige Dollarisierung der Ökonomiemündete 2004 in das bis heute funktionierendeduale Währungssystem. Die doppelte Währung

4 Comisión Económica para América Latina y el Caribe (CEPAL),Balanza preliminar de las economías de América Latina y el Caribe(2003–2007), Santiago.

5 Vgl. Esteban Morales, Corrupción: ¿la verdadera contrarrevolu-ción?, Unión de Escritores y Artistas de Cuba, 2010(www.uneac.org.cu).6 Für eine detaillierte Analyse vgl. Pavel Vidal Alejandro, Desafiosmontarios y financieros, in: Pavel Vidal Alejandro/Omar Everleny Pé-rez Villanueva (Hrsg.), Miradas a la economía cubana, La Habana2012.

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wurde zum wesentlichen Ausgangspunkt sozialerDifferenzierung. Da die Gehälter auf Kuba im mitniedriger Kaufkraft ausgestatteten kubanischenPeso gezahlt werden, aber ein Großteil der Güterdes täglichen Bedarfs in der konvertiblen Wäh-rung CUC gehandelt wird, geht es Kubanern, dieZugang zu Devisen haben, weitaus besser als den-jenigen, denen dieser Zugang verwehrt bleibt.Hinzu kommt, dass der kubanische Peso stark anWert eingebüßt hat. Im Jahr 2010 verfügte der Re-allohn gerade noch über 27 Prozent des Wertesvon 1989.7 Der Zugang zur Hartwährung ergibtsich über Remittenten von Kubanern in der Dias -pora oder durch Verbindungen zu den entspre-chenden Wirtschaftssektoren, wie Tourismus undAußenhandel. In der Regel übersteigen die Zu-satzeinkünfte aus „remesas“ und aus informelleroder privatwirtschaftlicher Tätigkeit das reguläreEinkommen erheblich.

Damit wird bezahlte Lohnarbeit zunehmend un-bedeutender. Das System setzt also falsche Anreize.Die Tatsache, dass ein Kellner, ein Taxifahrer odereine Reinigungskraft in einem Touristenhotel einVielfaches vom Lohn eines Arztes oder Lehrersverdient, führt zur Umkehrung der kubanischenSozialpyramide. Vor diesem Hintergrund fragensich viele Jugendliche, ob sich eine gute Ausbil-dung überhaupt lohnt, da man mit Schwarzmarkt-geschäften viel höhere Einkommen erzielen kann.Und immer mehr hoch qualifizierte Fachkräftewandern in Bereiche ab, in denen gute Verdienstelocken.

Wechsel des Politikstils in Kuba

Mit der Ineffizienz der Wirtschaft haben sich Re-gierung und Volk voneinander entfremdet. Dieökonomische Misere untergräbt den Pakt, der Ku-ba über Jahrzehnte zusammengehalten und poli-tisch stark gemacht hat: den postrevolutionärenPakt zwischen Elite und Volk, der politische Loya-lität gegen nationale Unabhängigkeit, sozialenSchutz und die Abschaffung der Armut ein-tauschte. Die Generation, die die Revolution mit-erlebt und davon profitiert hat, stirbt aus. Undder jungen Generation bietet die unproduktivePlanwirtschaft weder eine Arbeits- noch eineKonsumpers pektive. Das ist einer der Gründe, wa-rum junge Kubaner in großer Zahl emigrierenoder zumindest davon träumen. Die Generationder unter 30-Jährigen hat die goldenen 1980ernicht bewusst erlebt. Sie kennt im Wesentlichen

die prekären Lebensverhältnisse während undnach der „Sonderperiode in Friedenszeiten“ An-fang der 1990er Jahre. „Ich lebe eine Utopie, dienicht die meine ist“,8 ist die weitverbreitete Wahr-nehmung dieser Generation. Die Bindung an dieRevolution ihrer Eltern verliert sich, und die Loy-alität zum Regime schwindet.

Unter der Oberfläche machtpolitischer Stabilitäthaben sich seit 1990 die vormals homogenen sozi-alen Strukturen verändert.9 Hatte doch Fidel Cas-tro selbst den berühmten Satz von Karl Marx ausder Kritik des Gothaer Programms als Maßstabpropagiert: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedemnach seinen Bedürfnissen.“ Für die Revolutionsge-neration war diese Maxime identitätsstiftend. In-zwischen hat sie jedoch ihre Glaubwürdigkeit ver-loren. Heute gibt es in Kuba wieder soziale Exklu-sion. Wer keinen Zugang zur konvertiblen Wäh-rung hat, läuft Gefahr, in Armut abzurutschen. Da-von sind vor allem die wachsende Gruppe allein-stehender alter Menschen, Alleinerziehende undAfrokubaner betroffen. Gleichzeitig wird die indi-viduelle Herkunft für den Bildungserfolg zuneh-mend wichtiger.

Während man die Krise der frühen 1990er Jahreals Folge der Auflösung des sozialistischen Blocksund damit als von außen induziert interpretierthatte, wird der gegenwärtige Zustand als Folge desineffizienten Wirtschaftsmodells gesehen. Keinerdrückt das drastischer aus als der Präsident selbst,etwa bei seiner Rede vor der kubanischen Natio-nalversammlung im Dezember 2010, als er warnte:„Entweder wir ändern uns, oder wir gehen unter.“Die Regierung räumt eigene Fehler ein und kon-zentriert sich darauf, weitere zu vermeiden. Vorbeisind auch die Zeiten, in denen kubanische Offi-zielle jedes Problem auf der Insel mit dem US-amerikanischen Embargo rechtfertigten.10

Hinzu kommt ein Regierungsstil Raúls, der sichvon dem seines Bruders Fidel unterscheidet. Das

7 Vgl. ebenda.

8 Vgl. die Hörfunksendung im Deutschlandfunk von Peter B. Schu-mann mit dem Titel „Ich lebe eine Utopie, die nicht die meine ist“.Eine Lange Nacht der kubanischen Dissidenz, Deutschlandradio Kul-tur, 1. September 2012.9 Nimmt man den Gini-Index zur Messung der Einkommensvertei-lung, ergibt sich für Kuba: Er stieg von 0,24 Ende der 1980er Jahreauf circa 0,38 Ende der 1990er Jahre und wird heute auf circa 0,50geschätzt (offizielle Berechnungen gibt es nicht). Damit nähert mansich wieder dem Durchschnitt Lateinamerikas.10 Das US-Embargo erfüllt seit geraumer Zeit für Kuba eine para-doxe Doppelfunktion. Es fügt dem Land wirtschaftspolitisch erheb-lichen Schaden zu und engt seinen Handlungsspielraum ein. Gleich-zeitig wirkt es politisch stabilisierend. Denn es bietet die Chance,das Feindbild des übermächtigen imperialistischen Nachbarn imNorden zu kultivieren, gegen den man sich nur mit revolutionärerDisziplin und Einigkeit zur Wehr setzen kann.

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letzte Jahrzehnt der Regierung Fidels war von Ten-denzen einer De-Institutionalisierung der Politikgeprägt. Das betraf sowohl die Partei als auch denStaat. Unter dem Motto „die Schlacht der Ideen“kehrte Fidel zu einer Art Kampagnenpolitik zu-rück, die die Schaffung von Parallelstrukturen mitElementen der Massenmobilisierung verband unddamit die formalen Strukturen aus Partei undStaat umging. De facto wurde Kuba in dieser Zeitmehr von einer kleinen Beratergruppe um den„comandante“ regiert als von der Regierung undihrer Administration. Dieses extrem zentralistischeModell beinhaltete ein hohes Maß an Intranspa-renz, Ineffizienz und Unberechenbarkeit.

Raúl hat mit diesem System Schluss gemacht undeinen kollektiveren Führungsstil eingeführt. Diestaatlichen Institutionen wurden wieder in ihreFunktionen eingesetzt. Damit wurde ihnen wiederdie Verantwortung für die Ergebnisse der Politikübertragen. Begleitet wird dieser Prozess von einervorsichtigen Dezentralisierung von Entscheidun-gen in der Administration und in die Regionen.Dabei hat Raúl zwar keine Gelegenheit ausgelas-sen, darauf hinzuweisen, dass die kommunistischePartei verfassungsgemäß wieder ins Zentrum derkubanischen Politik rücken muss. Eine genauereBetrachtung der politischen Praxis lässt allerdingsan der proklamierten eindeutigen Führungsrolleder Partei Zweifel aufkommen. Die vollzogene Re-Institutionalisierung scheint eher von einer Mi-schung aus staatlichen, militärischen und Partei-strukturen geprägt zu sein.

Auf der Suche nach einemnachhaltigen Entwicklungsmodell

Nach monatelangen öffentlichen Diskussionenverabschiedete der VI. Parteitag der Kommunisti-schen Partei Kubas im April 2011 die „Leitlinienzur Wirtschafts- und Sozialpolitik“. Dieses Doku-ment stellt einen politischen Handlungsplan fürdie Suche nach einem nachhaltigeren Entwick-lungsmodell dar. Zur Debatte steht eine neue Ba-lance zwischen Staats-, Genossenschafts- und Pri-vatsektor. Kuba beschreitet den Weg zu einer ge-mischten Wirtschaft. Dabei wird kein Zweifel da -ran gelassen, dass die Reformen den Sozialismusretten und ihn nicht schwächen oder abschaffensollen. Der überwiegende Teil der Ökonomie sollauch in Zukunft planwirtschaftlich organisiertwerden, die wichtigsten Produktionsmittel blei-ben staatlich. Das Leitmotiv der Reformen ist derAbschied von einem paternalistischen Staat.

Privatisierungen in den Bereichen Handwerk undKleingewerbe sowie die private Produktion undVermarktung von Nahrungsmitteln auf langfristigvom Staat verpachtetem Land sollen die Wendebringen. Die großen Staatsbetriebe sollen mehrAutonomie bei der Unternehmensführung be-kommen. Flankierend wird der Genossenschafts-sektor gestärkt, und Subventionen wie zum Bei-spiel Lebensmittelkarten und Kantinen in Staats-betrieben werden abgebaut. Bereits im Vorfeldder Leitlinien hatte es einzelne Neuerungen mitstruktureller Wirkung gegeben. So wurde dasRentenalter von 60 auf 65 Jahre heraufgesetzt. Eswurde eine Art „Rechnungshof“ eingerichtet, dernicht nur das Finanzgebaren der staatlichen Ver-waltung und Betriebe überwacht, sondern sichauch mit einigem Erfolg der Bekämpfung derKorruption widmet.11

Die Umsetzung der auf dem Parteitag beschlosse-nen Leitlinien wurde auf dem Arbeitsmarkt be-gonnen, der durch massive Unterbeschäftigungund niedrige Arbeitsproduktivität gekennzeichnetist.12 Bis April 2011 sollten 500 000 Staatsbediens -tete „freigesetzt“ werden, bis 2015 soll die Zahl auf1,3 Millionen steigen – angesichts einer Erwerbs-bevölkerung von 4,9 Millionen sind das ehrgeizigeZiele. Die „freigesetzten“ Arbeitskräfte sollen dieLohnkosten senken, die extrem niedrige Arbeits-produktivität in den Staatsbetrieben soll gesteigertwerden. Der neu zu schaffende Privatsektor unddie Kooperativen sollen die Arbeitskräfte aufneh-men und das Dienstleistungs- und Warenangebotverbessern. Durch ihre Steuerzahlungen sollen dieneuen Selbständigen zur Verbesserung der Staats-finanzen beitragen. In der Landwirtschaft sollendie Maßnahmen zu einer schnellen Erhöhung derProduktion führen, um ebenso schnell die Impor-te landwirtschaftlicher Produkte – Kubas Import-quote liegt bei circa 80 Prozent – zu substituierenund dem Staat dadurch finanziellen Spielraum zuverschaffen.

Dieser Reformschritt auf dem Arbeitsmarkt bliebbereits in den Ansätzen stecken. Selbst kubani-schen Experten war unklar, wo das zukünftigeHeer der Arbeitsuchenden unterkommen sollte.Die Liste der für die Selbständigkeit freigegebe-

11 Im Jahresbericht 2011 von Transparency International wird dasEngagement der kubanischen Regierung gegen Korruption gewür-digt: Kuba stieg im Ranking von Platz 69 auf 61.12 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Unterbeschäftigung, Ar-beitslosigkeit und Produktivität in Kuba die ausgezeichnete Analysevon: Carmelo Mesa-Lago, El desempleo en Cuba: de oculto a visi-ble. ¿Podrá emplearse el millón de trabajadores que será despe-dido?, in: Espacio Laical 4/2010 (http://espaciolaical.org/con-tens/24/5966.pdf).

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nen Berufe erweckte zunächst den Eindruck, alsstamme sie aus dem 19. Jahrhundert; sie wird nunallmählich für moderne Berufe erweitert. Die Hin-dernisse für einen Erfolg dieses Reformabschnittsliegen in der Umsetzung begleitender bzw. vorbe-reitender Schritte, die ein Funktionieren der neu-en Mikro- und Kleinunternehmen erst ermög-lichen. Dazu zählen Maßnahmen wie zum Beispielder Aufbau von Kreditlinien, Regelungen zu Steu-ern und Sozialabgaben, Import- und Exportbe-stimmungen und eine Strukturreform im Banken-system. Der Prozess geht dennoch weiter, aller-dings wesentlich langsamer als geplant. Verlässli-che Daten dazu sind bislang nicht verfügbar. NachAngaben der Gewerkschaften waren 2011 circa800 000 Beschäftigte von Umstrukturierungspro -zessen betroffen.

Erfolgreicher verläuft dagegen der Ausbau vonHandwerk und Kleingewerbe bzw. Dienstleistun-gen. Nach offiziellen Angaben ist die Zahl der „Be-schäftigten auf eigene Rechnung“ von circa145 000 in 2008 auf circa 360 000 bis 380 000 Ende2011 gestiegen. Bis 2015 soll der Sektor nach denVorstellungen der Regierung etwa 35 Prozent derBeschäftigung und einen ähnlich großen Anteil ander Wertschöpfung des Landes ausmachen.

Zieht man eine Zwischenbilanz der bisherigen„Aktualisierungen“, fällt auf, dass sie eher einemMuster von „trial and error“ als einem Masterplanfolgen. Ein weiteres Merkmal ist ihre langsameUmsetzung, bei der das Motiv politischer Kontrol-le den Aspekt der Freisetzung von Initiative zu do-minieren scheint. Ob man sich den Luxus leistenkann, die Reformen in den Worten Raúl Castros„sin prisa, pero sin pausa“ – ohne Hast, aber ohnePause – voranzutreiben, wird die Realität zeigen.In gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten schlu-gen sich die Maßnahmen bis 2011 noch nichtnennenswert nieder. Diese lagen für die vergan-genen Jahre bei 2,5 bis drei Prozent. Damit liegtKuba – auch mit Reformen – unterhalb derdurchschnittlichen Wachstumsrate von circa vierProzent in der Region.

Selbst bei einem durchschlagenden Erfolg der Re-formen blieben die Effekte weitgehend auf denBinnenmarkt und den Arbeitsmarkt beschränkt.Sollte sich die Versorgungslage verbessern und derRaum für private Initiative und Verantwortungdauerhaft geschaffen werden, wäre das für Kubaein großer Schritt. Aber auch wenn man eine ge-mischte Wirtschaft anstrebt, von der nur ein Teilden Regelungsmechanismen des Marktes ausge-setzt wird, bleibt die Agenda weiterer notwendiger

Strukturreformen lang: eine neue Politik im Hin-blick auf den Außenhandel und ausländische Di-rektinvestitionen, eine betriebliche und gesamt-wirtschaftliche Innovationspolitik, der Aufbau ei-nes funktionsfähigen Steuersystems, eine Zu-sammenführung der beiden Währungen und ins-gesamt eine Wachstumsstrategie, die dem Staat fi-nanziellen Handlungsspielraum bringt.

Eine Reform, zwei Geschwindigkeiten

Viele Kubaner gehen davon aus, dass die Wirt-schaftsreformen über kurz oder lang einen politi-schen Wandel mit sich bringen. Anlässlich des Be-suchs des Papstes auf der Insel im März 2012machte der für die Umsetzung des politischenHandlungsplans zuständige Vizepräsident des Mi-nisterrates Marino Murillo allerdings deutlich, dasseine politische Reform zurzeit nicht auf der Agen-da steht. Die Regierung sieht keineswegs nur eineGefahr darin, die gesellschaftliche Kontrolle überden Prozess zu verlieren, sollten die Liberalisie-rungen zu schnell und zu weit gehen. Vor allemwerden interne Widerstände ausgemacht, und derPräsident hält keine Rede, in der er nicht auf dennotwendigen „Mentalitätswandel“ – so die offiziel-le Terminologie – hinweist, allerdings, wie esscheint, mit begrenzter Wirkung. Insbesonderedie zahlreichen mittleren Kader aus der Partei ha-ben bei der Einführung von mehr Transparenz,bei der Teilprivatisierung von Wirtschaftssektorenund Dezentralisierung an die Kommunen, Provin-zen und Staatsbetriebe Macht und Privilegien zuverlieren. Auch ist bislang nicht ersichtlich, ob essich lediglich um eine Dezentralisierung von Kont -rolle oder tatsächlich um die Delegation von Ver-antwortlichkeit und Entscheidungsbefugnis han-deln wird.

Im Hinblick auf den als notwendig proklamiertenMentalitätswandel trifft man nun die Geister, dieman rief. Eine ganze Generation von Personen,die heute in Kuba Entscheidungspositionen undVerantwortung innehaben, sind nicht ausgebildetworden, um zu entscheiden, sondern um Ent-scheidungen abzunicken. Sie sind keine Füh-rungspersönlichkeiten, sondern Funktionäre, Teileines vertikalen Systems, das kaum Spielraum füreigenverantwortliche Entscheidungen und Kreati-vität lässt. Alles wird abgesichert, und in Umkeh-rung eines kubanischen Sprichworts heißt es: „Al-le bitten lieber um Erlaubnis als um Verzeihung.“

Ob die bisherigen Anreize ausreichen, die Bevöl-kerung zu überzeugen, ihre knappen Ressourcen

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und ihre auf dem Schwarzmarkt gezeigten Orga-nisations- und Improvisationsfähigkeiten auch un-ter legalen Bedingungen einzusetzen, bleibt abzu-warten. Ebenso gut könnten bürokratische Verant-wortungslosigkeit und der Primat politischer Kont -rolle die für einen Erfolg der Maßnahmen not-wendige Risikobereitschaft und Initiative abwür-gen. Vieles deutet darauf hin, dass Kuba auf demWeg in eine Politik der zwei Geschwindigkeiten ist:In der Wirtschaft werden die Reformbeschlüssedes Parteitags umgesetzt, politisch verweigern da-gegen Teile der Partei und der mittleren Kader inder Verwaltung bis dato eine Anpassung an dieneue Realität.

Ob sich die Parteibürokratie mit einer längerfristi-gen Blockadehaltung einen Gefallen tut, wird da-von abhängen, wo man am Ende des Weges steht.Die Wirtschaftsreformen entfalten bereits eigeneDynamik. Dabei werden die ökonomischen Verän-derungen nicht nur von anderen Gruppen in derFührung ausgelöst, die ideologisch weniger festge-legt sind. Die Politik in den einzelnen Reformfel-dern wird auch in den dafür gegründeten Kom-missionen zur Umsetzung der Parteitagsbeschlüs-se breiter und unter Hinzuziehung von regie-rungsexternen Experten diskutiert. Die Maßnah-men sind damit für die Gesellschaft transparenterals die bisherige Politik.

Kubas eigener Weg?

Der begonnene Reformprozess erinnert an dieAnfänge der Umstrukturierungen in China undVietnam: Kuba begibt sich auf den Weg des Wan-dels unter Leitung der Partei. Kubas Reformenfinden aber in einem gänzlich anderen interna-tionalen Umfeld statt als die Transformationspro-zesse in Asien oder Osteuropa. Eine schnelle undweitgehende marktwirtschaftliche Öffnung ist an-gesichts der Erfahrungen mit der Transformationin Osteuropa und angesichts der von der Globali-sierung geschaffenen Ungleichgewichte und Un-gerechtigkeiten unattraktiv geworden. Die anhal-tende Krise des Finanzkapitalismus angloamerika-nischer Provenienz ist nicht nur Wasser auf dieMühlen der alten Garde in Kuba. Auch die jünge-ren international versierten und pragmatischenReformbefürworter stehen einer überhasteten In-tegration Kubas in die globale Ökonomie mit ei-

niger Skepsis gegenüber. Außerdem sind Havan-na die unschönen Begleiterscheinungen desstaatskapitalistischen asiatischen Entwicklungs-wegs – rasant wachsende soziale Ungleichheit,Korruption und ruinierte Ökologie – nicht ver-borgen geblieben.

Im Vergleich zu China und Vietnam, aber mehrnoch zu den osteuropäischen Ländern Anfang der1990er Jahre, ist das kubanische Reformtempo umeiniges langsamer. Auch wird die Ökonomie beiWeitem nicht in dem Maße geöffnet, wie dies etwain Asien seit Mitte der 1980er Jahre geschehen ist.Beim heutigen Stand der Globalisierung dürftedem Inselstaat der klassische Weg einer nachho-lenden Industrialisierung aber ohnehin verstelltsein. Die Chance auf erfolgreiche Integration indie globale Wirtschaft könnte eher darin beste-hen, eine Cluster-Ökonomie aufzubauen, die sichentsprechende Nischen auf dem Weltmarkt er-schließt – so, wie dies einigermaßen erfolgreichauf dem Sektor der Biotechnologie gelungen ist.Der für einen solchen Entwicklungsweg wesentli-che Produktionsfaktor ist der einzige, über denKuba im Überfluss verfügt: seine gut ausgebildeteBevölkerung.

Man setzt in Havanna auf eine „transición orde-nada“, einen geregelten Übergang. Nur so glaubtdie Regierung, die Revolution retten zu können.Es soll kein Modell kopiert, sondern eine eigeneStrategie gefunden werden. Ob der von Raúl Cas-tro eingeschlagene pragmatische Pfad konsequentbeschritten wird, ist weiterhin offen. Selbst wenndie eingeleiteten Reformschritte gelingen, blei-ben jede Menge weiterer struktureller Herausfor-derungen bestehen. Dennoch: Auf der Basis desguten Bildungsniveaus und mit einer Mischungaus kubanischer Gelassenheit und dem in hartenZeiten erworbenen Improvisationsvermögenkönnten die „Aktualisierungen des Wirtschafts-modells“ einen Ausweg aus der ökonomischenAgonie weisen. Der Schlüssel zum Erfolg liegt al-lein in Kuba. Ganz ohne Risiko und vollständigunter Kontrolle wird der Wandel aber kaum zuhaben sein. Vielleicht braucht die Führung mehrMut und Vertrauen in die eigene Bevölkerung,damit der prophetische Wink von Fidel Castro ausdem Jahr 2005 nicht Wirklichkeit wird, als ermeinte, die Revolution könne nur von innen be-siegt werden. �

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Menschen und Märkte:Die Ökonomik als IngenieurwissenschaftProf. Dr. Axel Ockenfels/Prof. Achim Wambach, Ph. D.Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität zu Köln

Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften 2012 geht an die US-amerikanischen Ökonomen Alvin E. Roth und Lloyd

S. Shapley „für die Theorie stabiler Allokationen und die Praxis des Marktdesigns“. Mit ihren Arbeiten haben die bei-

den Wissenschaftler das Fundament für ein eigenes Forschungsfeld geschaffen: das Marktdesign.

Eine der wichtigsten Aufgaben von Märkten undsozialen Prozessen ist die Zusammenführungzweier Parteien. Käufer und Verkäufer, Schülerund Schulen, Studierende und Universitäten, Or-ganspender und Organempfänger müssen zuei -nander finden. Das Design dieser Märkte, dasheißt die Bestimmung der Regeln und die Ausge-staltung der Institutionen, die für diese Märktemaßgeblich sind, ist das Arbeitsgebiet des Markt-designs. Alvin Roth und Lloyd Shapley haben sich da-bei mit Märkten beschäftigt, die ohne Preise aus-kommen müssen. Zum Beispiel werden Organeund Studienplätze aus guten Gründen nicht ver-steigert. In den 1960er Jahren lieferte Shapley zu-sammen mit David Gale, der 2008 verstarb, die the-oretischen Grundlagen zu solchen Märkten. Rotherkannte in den 1990er Jahren, wie diese Arbeitengenutzt werden können, um die Funktionsweiserealer Märkte zu verbessern.

Doch der Transfer aus der Theorie in die Praxisverlangte viele Adaptionen – die Modelle musstenangepasst, Erkenntnisse aus der Psychologie undder Verhaltensökonomik einbezogen, Marktstruk-turen im Labor und in Computersimulationen ge-testet werden. Das Zusammenspiel dieser Elemen-te der Wissenschaft charakterisiert das For-schungsfeld des Marktdesigns, das mittlerweileweit über die Zuteilungsmärkte von Roth und Shapley hinausgeht. So werden in Energiemärkten,Auktionsmärkten wie eBay, bei der Vergabe vonTelekommunikationslizenzen, in der öffentlichenBeschaffung und im privaten Einkauf die Erkennt-nisse des Marktdesigns erfolgreich eingesetzt.Aber der Erkenntnistransfer erfolgt auch in dieandere Richtung: Die Beschäftigung mit den re -alen Problemen gibt viele Impulse für die For-schungsarbeiten in der Wissenschaft.1

Märkte ohne Preise – Matching-Märkte

Die bahnbrechende Arbeit von Gale und Shapleyaus dem Jahr 1962 trägt den Titel „College Admis-sions and the Stability of Marriage“. Das Problem:Zwei Gruppen – seien es Studenten und Univer-sitäten, Schüler und Schulen oder eben Frauenund Männer – wollen zusammenfinden. Abernicht jeder kann dabei seine erste Wahl bekom-men, da beispielsweise die Anzahl der Studien-und Schulplätze begrenzt ist. Nun gibt es vieleMöglichkeiten, ein Zuteilungsverfahren zu gestal-ten. Um beispielsweise Schüler und Schulen zu-sammenzubringen, könnte man Schüler der Schu-le zuteilen, in dessen Schulbezirk sie wohnen. EineAlternative wäre die Direktbewerbung von Schü-lern an Schulen, wobei eine Schule, die zu vieleBewerbungen bekommt, Schüler abweisen muss.Diese Schüler müssen dann an anderen Schulenunterkommen.

Die Forschungsfrage lautet: Wie sieht bei solchenProblemen ein möglichst guter Zuteilungsmecha-nismus aus? Diese Frage kann aber nicht beant-wortet werden, ohne zunächst eine zweite Frage zuklären: Was ist überhaupt ein „guter“ Zuteilungs-mechanismus? Gale und Shapley haben diese zweiProbleme formal gelöst. Um ihre Antwort zu ver-stehen, hilft ein Beispiel: Angenommen, es gäbefünf Frauen und fünf Männer, die sich zu Paarenfinden sollen. Jede Frau und jeder Mann habe ei-ne bestimmte Präferenzreihung über die Perso-nen des anderen Geschlechts (zum Beispiel findetFrau A Mann B am attraktivsten, dann folgt MannC, ..., aber Mann A ist inakzeptabel). Ein Zutei-

1 Vgl. Gary E. Bolton/Axel Ockenfels, Behavioral economic engi-neering, Journal of Economic Psychology, 33 (3), 2012, Seiten 665–676.

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Ökonomische Theorie und Praxis

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lungsmechanismus führt die Frauen und Männerzu Paaren zusammen.

Zunächst geht es darum, zu klären, was ein guterZuteilungsmechanismus ist. Ein Verdienst von Galeund Shapley ist, zur Beantwortung dieser Frage dasKriterium der Stabilität entwickelt zu haben: EinZuteilungsergebnis ist stabil, wenn sich kein Paarfinden lässt, das gern zusammen wäre, aber durchdas verwendete Verfahren nicht zusammenge-kommen ist. Außerdem darf keine Person mit je-mandem ein Paar bilden, der für sie unakzeptabelist. Oder anders ausgedrückt: Wenn beispielsweiseMann A Frau B besser findet als die, der er zuge-teilt wurde, dann muss es so sein, dass Frau B miteinem Mann ein Paar bildet, den sie besser findetals Mann A – oder Frau B ist ohne Partner undzieht diese Situation der Partnerschaft mit Mann Avor. Falls dem nicht so wäre, wäre das Ergebnis desZuteilungsmechanismus instabil. Dann könntensich Mann A und Frau B besser stellen, indem siesich von ihrem jeweiligen Partner trennen und eineigenes Paar bilden.

Stabilität ist in der sogenannten kooperativenSpieltheorie ein generelles Lösungskonzept. Diekooperative Spieltheorie analysiert Koalitionsbil-dung von Spielern unter der Annahme, dass jegli-che Konflikte innerhalb einer Koalition durch ver-bindliche Absprachen gelöst werden können. Er-gebnisse sind stabil, wenn keine Koalition ihre Mit-glieder durch eine Abweichung von dem Ergebnisbesser stellen kann. Das Stabilitätskonzept ist ver-wandt mit dem sogenannten Nash-Gleichgewichtin der nicht-kooperativen Spieltheorie. Dortspricht man von einem Gleichgewicht, wenn sichkein Individuum durch Abweichung besser stellenkann.2 Auch ein Wettbewerbsgleichgewicht ist un-ter gewissen Bedingungen stabil, zumindest wenndie Individuen genügend Zeit und Fähigkeitenmitbringen, alle Verbesserungsoptionen aller Koa-litionen auszuloten.

Der Gale-Shapley-Algorithmus

Nachdem Gale und Shapley das Kriterium der Sta-bilität für einfache Zuteilungsmärkte definiert hat-ten, entwickelten sie einen effektiven Zuteilungs-mechanismus, der diese Eigenschaft erfüllt: den„Gale-Shapley-Algorithmus“. Dieser Mechanismus

verläuft in mehreren Runden: Jeder Mann gehtzunächst zu seiner präferierten Frau. Wenn in die-ser Runde bei einer Frau mehrere Männer anfra-gen, darf sie sich aus dieser Gruppe von Männernden ihr genehmsten vorläufig auswählen. In dernächsten Runde gehen die abgewiesenen Männerzu ihrer zweiten Wahl. Damit kann es passieren,dass eine Frau in der ersten Runde einen Mannvorläufig ausgewählt hat, und nun in der zweitenRunde ein oder mehrere Männer auf sie zukom-men. Der Algorithmus sieht dann vor, dass dieFrau aus dieser Gruppe der neuen Männer unddem Mann aus der ersten Runde den ihr ge -nehms ten Mann auswählt. Somit ist es denkbar,dass die Frau den Mann aus Runde 1 abweist, dasie in Runde 2 jemand Passenderen gefunden hat.

Dieses Verfahren geht anschließend in die nächsteRunde, die ähnlich abläuft. Abgewiesene Männergehen zu der Frau, die in ihrer Präferenz eine Stu-fe tiefer steht. Frauen wählen vorläufig den Mannaus der Gruppe der zu ihr kommenden Männeraus, der in ihrer Präferenz am weitesten obensteht. Auf diese Art „arbeiten“ sich die Männer inihrer Präferenzreihung nach unten, während sichdie Frauen in ihrer Präferenzreihung hoch be-wegen. Formal kann man zeigen, dass dieser Pro-zess in endlicher Zeit zu einem Ende kommt, unddass das Ergebnis „stabil“ ist. Mann A mag ja eineFrau besser finden als die, mit der er am Ende einPaar bildet, aber dann muss es so sein, dass dieseFrau einen Mann hat, den sie besser findet alsMann A, da sie die Möglichkeit hatte, mit Mann Aein Paar zu bilden.

Um diesen Algorithmus in der Praxis einsetzen zukönnen, muss eine Vielzahl von Problemen gelöstwerden. So ist zu klären, ob die Marktteilnehmerüberhaupt Interesse haben, ihrer Präferenzrei-hung wahrheitsgemäß nachzugehen, oder ob sieversuchen könnten, diesen Prozess zu manipulie-ren, indem sie beispielsweise zuerst zu einem po-tenziellen Partner gehen, der weiter unten auf ih-rer Präferenzreihung steht. Diese Frage beantwor-tete Roth in einer Arbeit, die er 1982 veröffentlich-te.3 Darin zeigte er, dass sich im Gale-Shapley-Al-gorithmus nur eine Seite gemäß ihrer Präferenzenverhalten wird – im oben beschriebenen Beispieldie Seite der Männer –, während sich die andereSeite besser stellen kann, wenn sie nicht immer ge-mäß ihrer Präferenzen auswählt. Das Verfahren istalso nicht „strategiesicher“.

3 Alvin E. Roth, The Economics of Matching: Stability and Incenti-ves, Mathematics of Operations Research, Volume 7, 4, 1982, Seiten617–628.

2 Für eine neuere Arbeit, die sich sowohl kooperativer als auchnicht-kooperativer spieltheoretischer Konzepte bedient, vgl. John F.Nash/Rosemarie Nagel/Axel Ockenfels/Reinhard Selten, The Me-thod of Agencies Coalition Formation in Experimental Games. Pro-ceedings of the National Academy of Sciences, im Erscheinen.

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Wirtschaftsnobelpreis

57Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Wendet man den Gale-Shapley-Algorithmus aller-dings auf Situationen an, bei denen man die Aus-wahlkriterien der einen Seite kontrollieren kann,wie beispielsweise von Schulen, kann man sicher-stellen, dass das Verfahren sowohl strategiesicherals auch stabil ist. Zudem hat Roth mit seinen Ko-autoren in diversen Arbeiten zeigen können, dassdie Anreize und Möglichkeiten, das System zu sei-nen Gunsten zu manipulieren, in der Praxis untergewissen Bedingungen sehr gering sind.4

In zahlreichen Feld-, Labor- und Computerstudienkonnte gezeigt werden, dass Stabilität bzw. Instabi-lität im Sinne von Gale und Shapley tatsächlich dieentscheidenden Bestimmungsgründe für den Er-folg bzw. Misserfolg von realen Zuteilungsmärktensind.5 Instabile Zuteilungsverfahren führen typi-scherweise zu chaotischen, ineffizienten und inak-zeptablen Markträumungsprozeduren und -ergeb-nissen, mit teils sehr hohen Kosten unbefriedigen-der Zuteilungen für die Beteiligten.

Ein Anwendungsfall

Einer von vielen Anwendungsfällen des Gale- Shapley-Algorithmus ist der „New York City HighSchool Match“.6 2003 kontaktierte der Planungs-manager des New York City Department of Edu-cation Alvin Roth, da ihm die Zuteilung von Schü-lern auf weiterführende Schulen große Sorgenbereitete. New York hat sieben weiterführendeSchulen mit etwa 500 Kursprogrammen. JedesJahr bewerben sich über 90 000 Schüler auf dieverschiedenen Programme. Die Kursprogrammehaben verschiedene Kriterien, nach denen sieSchüler aufnehmen. Ein Teil der Plätze wird ver-lost. Bei einigen Programmen wird den SchülernPriorität gegeben, die in der Nähe wohnen; fürandere Programme sind die Abschlussnoten aus-schlaggebend.

Bis 2003 war das Zuteilungsverfahren so, dass sichdie Schüler auf bis zu fünf Programme bewerbenkonnten. Nachdem die Schulen ihre Entscheidun-gen getroffen hatten, erhielten die Bewerber vonden jeweiligen Schulen einen Brief mit einer Zusa-ge, einer Absage oder einem Platz auf der Warte-liste. Jeder Schüler durfte, falls er mehrere Zusa-gen bekam, eine davon annehmen, sowie einenWartelistenplatz behalten. Die weiteren Zusagenund Wartelistenplätze (falls vorhanden) musste erablehnen. Dann ging das Verfahren in zwei weite-re Runden, in denen jeweils Schulen mit nun freigewordenen Plätzen diese an Schüler auf der War-teliste vergeben konnten. Falls am Ende Schülerkeinen Platz im Verfahren erhalten hatten, wur-den Restplätze manuell vergeben. Daneben gab esnatürlich auch die Möglichkeit zur Klage, diereichlich genutzt wurde.

Dieses Verfahren, das viele Parallelen zur Zutei-lung von Studienplätzen in Deutschland aufweist,wies mehrere gravierende Schwächen auf: So er-hielten etwa 30 000 Schüler keinen Platz in einemProgramm, das sie gewählt hatten. Außerdem wardie Wahl der Programme „strategisch“ – den Schü-lern wurde von Beratern empfohlen, nicht unbe-dingt ihre bevorzugten Programme zu wählen, daes sein konnte, dass wenn sie dort abgelehnt wur-den, die weiteren Programme, für die sie sich auchnoch interessiert hätten, bereits belegt waren.

Roth und seine Mitarbeiter entwickelten nun einneues Verfahren auf der Basis des Gale-Shapley-Al-gorithmus. Dabei wird den Schülern gestattet, biszu zwölf Kursprogramme anzugeben. Im Verfah-ren wird dann zuerst jeder Schüler seiner erstenWahl zugeteilt. Die Schulen (und Kursprogram-me) wählen die Schüler auf Basis ihrer Kriterienvorläufig aus. Ist ein Programm überbelegt, wer-den die abgelehnten Schüler ihrer zweiten Wahlzugeteilt, bei der dann geprüft wird, ob die jeweili-gen Schüler die Kriterien besser erfüllen als dieje-nigen, die man vorläufig in der ersten Runde ak-zeptiert hat, usw. Das Ganze läuft mittels einerSoftware im Hintergrund ab, sodass die Schülerdas Prozedere nicht mitbekommen. Erst wenn dieZuteilung für alle erfolgt ist, erhalten die Schülerein Schreiben mit genau einem Angebot. DiesesVerfahren ist erfolgreich. Im ersten Jahr erhieltennur etwa 3 000 Schüler statt wie bisher 30 000Schüler keinen Platz in einem der Programme, diesie gewählt hatten.

4 Vgl. Alvin E. Roth/Elliott Peranson, The Redesign of the MatchingMarket for American Physicians: Some Engineering Aspects of Eco-nomic Design, American Economic Review, 89, 1999, Seiten 748–780; Fuhito Kojima/Parag A. Pathak, Incentives and stability in largetwo-sided matching markets, American Economic Review, 99, 2009,Seiten 608–627.5 Vgl. zum Beispiel Alvin E. Roth, New Physicians: A Natural Expe-riment in Market Organization, Science, 250, 1990, Seiten 1524–1528; John H. Kagel/Alvin E. Roth, The Dynamics of Reorganizationin Matching Markets: A Laboratory Experiment Motivated by a Na-tural Experiment, Quarterly Journal of Economics, 115, 2000, Sei-ten 201–235.6 Vgl. Atila Abdulkadiroglu/Parag A. Pathak/Alvin E. Roth, Strategy-proofness versus Efficiency in Matching with Indifferences: Rede-signing the NYC High School Match, American Economic Review, 99,5, 2009, Seiten 1954–1978.

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Ökonomische Theorie und Praxis

58 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 (4/2012)

Weitere Forschungsfelder im Design von Matching-Märkten

Alvin Roth implementierte ähnliche Verfahren fürdie Zuteilung von Medizinstudenten auf Kliniken7

und die Zuteilung von Schülern auf Schulen inBoston.8 Er entwickelte eine Nieren-Tauschbörse,9bei der Nierenerkrankte, die einen Spender ha-ben, der nicht mit ihnen kompatibel ist, diese Nie-re mit einem anderen Spender-Empfänger-Paartauschen können, die vor dem komplementärenProblem stehen. Jede neue Anwendung wirft aberimmer neue, spezifische Probleme auf, die es imMarktdesign zu berücksichtigen gilt. So wolltenbeispielsweise bei der Zuteilung von Medizinstu-denten (Ehe-)Paare in derselben Klinik arbeiten.In Boston lehnten es Eltern ab, dass Schüler Plätzeuntereinander tauschen können, was beispiels-weise bei Studienplätzen in Deutschland möglichist. Beim Nierentausch ist wichtig, darauf zu ach-ten, dass Spender zeitgleich operiert werden, dabei Meinungsänderung eines Spenders diesernicht zur Spende gezwungen werden kann. Diesbeschränkt die Größe des Tauschringes.

Formal kann gezeigt werden, dass unter solchenpraxisrelevanten Bedingungen zuweilen die klassi-schen Resultate der Wirtschaftstheorie verloren ge-hen und man als Wissenschaftler mit einer Vielzahlvon nicht-konstruktiven „Unmöglichkeitsresulta-ten“ konfrontiert wird.10 Es ist ein Verdienst von Al-vin Roth zu zeigen, wie die Theorie und andereökonomische Methoden eingesetzt und fortentwi-ckelt werden können, um dennoch ökonomisch so-lide Empfehlungen für das Marktdesign geben zukönnen. Die Arbeiten von Roth und Shapley zu Mat-ching-Märkten haben die Wissenschaft geprägtund werfen weiterhin viele inte ressante Fragen auf.

Ein Zweig der Forschung beschäftigt sich mit derFrage, warum auf diesen Märkten Preise nicht zu-gelassen sind, und was dies wiederum für Auswir-kungen auf das optimale Zuteilungsverfahren hat?Alvin Roth hat mehrere Arbeiten dazu geschrie-ben. Dabei definiert er die Ablehnung von Geldals Nebenbedingung, die im Marktdesign berück-sichtigt werden muss.11 Neuere Arbeiten versu-

chen, die Präferenz der Gesellschaft, die ursäch-lich für das Verbot von Preisen ist, zu modellieren.Ein Ansatz ist der gesellschaftliche Wunsch, finan-ziell schwächere Personen etwa bei der Schulwahloder bei der Nierenzuteilung nicht benachteiligenzu wollen.12

Eine andere Forschungsrichtung geht von der Be-obachtung aus, dass der Gale-Shapley-Algorithmusnur ordinale Präferenzen berücksichtigt, alsoSchule A ist besser als Schule B. Neue Ansätze ver-suchen, auch die kardinalen Eigenschaften derPräferenzen – Schule A ist viel besser als Schule B,während Schule B nur wenig besser ist als Schule C– zu nutzen.13 Dies ließe sich beispielsweise umset-zen, indem den Schülern 100 Punkte gegebenwerden, die sie dann auf die Schulen verteilenkönnen, um die Intensität ihrer Präferenz zumAusdruck zu bringen.

Bei Zuteilungsmärkten gibt es auch in der „Praxisdes Marktdesigns“ noch viel Handlungsbedarf.Wer einmal versucht hat, für sein Kind einen Kin-dergartenplatz zu finden, weiß, wie mühselig undineffizient die gängigen Zuteilungsverfahren sind.Auch die Zuteilung von Schülern auf Schulen, vonReferendaren auf Schulen, von Studienbewerbernauf Universitäten oder von Studenten auf Semi-narplätze kann mit den Instrumenten des Markt-designs untersucht werden. 2010 wurde ein euro-päisches Netzwerk gegründet, in dem sich Wissen-schaftler aus den Wirtschaftswissenschaften, derSoziologie und der Wirtschaftsinformatik treffen,um Erfahrungen mit solchen Verfahren auszutau-schen.14

Der Ökonom als Ingenieur

Während bislang die Wirtschaftsnobelpreise fürErkenntnisse der Grundlagenforschung vergebenwurden, wurde in diesem Jahr explizit die „Praxisdes Marktdesigns“ ausgezeichnet. Die Arbeitenvon Roth und Shapley haben diese Praxis geprägt.Sie haben gezeigt, wie Forschung und Praxis sichgegenseitig befruchten. Roth hat sich in die realeWelt gewagt, um ein stabiles und effizientes Designfür die jeweiligen Märkte zu entwickeln. Wie einIngenieur hat er sich in den verschiedenen Fä-

7 Vgl. Alvin E. Roth/Elliott Peranson, a. a. O.8 Vgl. Atila Abdulkadiroglu/Parag A. Pathak/Alvin E. Roth/TayfunSönmez, The Boston Public School Match, American Economic Re-view, Papers and Proceedings, Volume 95, 2, 2005, Seiten 368–371.9 Vgl. Alvin E. Roth/Tayfun Sönmez/M. Utku Ünver, Kidney Ex-change, Quarterly Journal of Economics, 119, 2, 2004, Seiten 457–488.10 Vgl. zum Beispiel Alvin E. Roth/Elliott Peranson, a. a. O.11 Vgl. Alvin E. Roth, Repugnance as a Constraint on Markets, Jour-nal of Economic Perspectives, 21, 3, 2007, Seiten 37–58.

12 Vgl. Katharina Huesmann/Achim Wambach, Constraints on Mat-ching Markets Based on Moral Concerns, working paper, 2012.13 Siehe zum Beispiel Atila Abdulkadiroglu/Yeon-Koo Che/YosukeYasuda, Resolving Conflicting Preferences in School Choice: the Bos-ton Mechanism Reconsidered, American Economic Review, 101, 1,2011, Seiten 399–410.14 www.matching-in-practice.eu/

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Wirtschaftsnobelpreis

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chern bedient: die Spiel- und Auktionstheorie alstheoretisches Fundament, die Verhaltensökono-mik, um die Marktteilnehmer besser zu verstehen,Laborexperimente, um verschiedene Szenarien zutesten, und die Wirtschaftsinformatik zur Imple-mentierung der Verfahren. Die neu geschaffenenMärkte wurden anschließend evaluiert. Die wis-senschaftlichen Erkenntnisse haben seine Anwen-dungen in der Praxis gelenkt, die Erkenntnisse ausder Praxis haben seine theoretischen und experi-mentellen Arbeiten stimuliert.15 Diese Vorgehens-weise definiert das Arbeitsfeld des Marktdesigners,des ökonomischen Ingenieurs.

Das Feld des Marktdesigns geht über Zuteilungs-märkte hinaus. Alle zentralisierten Märkte sind zu-gänglich für die Methoden des Marktdesigns. Eineinteressante Anwendung für einen Markt, in demPreise eine wichtige Rolle spielen, sind (Online-)Auktionen. In einer Serie von Arbeiten von AlvinRoth und Axel Ockenfels 16 wird gezeigt, dass mini-male Änderungen der Regeln, wie eine Auktionendet, erheblichen Einfluss auf die Erlöse für denVerkäufer, die Gebote der Bieter und die Auswahldes Gewinners haben können. So führen eBay-Auktionen mit ihrem auf die Sekunde festgelegtenEnde zu sehr spätem Bieten, mit teils chaotischemAuktionsverlauf in den letzten Sekunden. AndereAuktionen ohne festes Ende vermeiden strategi-sche Verzögerungen, können aber unter bestimm-ten Bedingungen implizite Absprachen unter denBietern erleichtern. Neuere „Economic Enginee-ring“-Arbeiten zu eBay gehen der Frage nach, wieVertrauen in großen, anonymen Internetmärktengeschaffen oder gestärkt werden kann.17

Die wissenschaftliche Theorie zu Auktionen ist ei-ne wesentliche Grundlage des Marktdesigns. Auchfür Arbeiten zu diesem Thema wurden Nobelprei-se vergeben: 1996 an William Vickrey für seine Ar-

beiten zur Auktionstheorie, 2007 an Leonid Hur-wicz, Eric S. Maskin und Roger B. Myerson für ihre Ar-beiten zum Mechanismen-Design. Die Umsetzungdieser theoretischen Erkenntnisse in die Praxisprägt ein Teilgebiet des Marktdesigns. Auktionenwerden bei Frequenzvergaben weltweit ein -gesetzt,18 neuerdings werden verstärkt kombinato-rische Auktionen verwendet.19 Im privaten Ein-kauf, insbesondere in Bidding Markets,20 helfendie Methoden des Marktdesigns zur Optimierungder Wertschöpfungskette, und auch in der öffent-lichen Beschaffung haben die Erkenntnisse desMarktdesigns Einzug gehalten.21

Ein aktuelles Anwendungsfeld des Marktdesignssind Energiemärkte. An der Strombörse in Leip-zig,22 im Regelenergiemarkt,23 im Markt für Redis-patch, also dem Hoch- und Herunterfahren vonKraftwerken bei Engpässen im Stromnetz,24 imEmissionshandelsmarkt25 sowie in den aktuell dis-kutierten Kapazitätsmärkten26 müssen die Regelndes Marktes zentral festgelegt werden, oder muss,wie bei Kapazitätsmärkten, die Institution erst ge-schaffen werden. Sollen im Energiemarkt auch ne-

15 Vgl. zur Rolle der experimentellen Wirtschaftsforschung imMarktdesign auch Axel Ockenfels, Marktdesign und ExperimentelleWirtschaftsforschung, Perspektiven der Wirtschaftspolitik, 10, 2009,Seiten 31–54.16 Axel Ockenfels/Alvin E. Roth, Late and multiple bidding in se-cond price internet auctions: Theory and evidence concerning dif-ferent rules for ending an auction, Games and Economic Behavior 55(2), 2006, Seiten 297–320; Alvin E. Roth/Axel Ockenfels, Last-Mi-nute Bidding and the Rules for Ending Second-Price Auctions: Evi-dence from eBay and Amazon Auctions on the Internet, AmericanEconomic Review, 92 (4), 2002, Seiten 1093–1103; für eine Über-sicht siehe Axel Ockenfels/Alvin E. Roth, Ending Rules in InternetAuctions: Design and Behavior, in: Zvika Neeman/Al Roth/Nir Vul-kan (Hrsg.), The Handbook of Market Design, Oxford UniversityPress, im Erscheinen.17 Vgl. Gary E. Bolton/Elena Katok/Axel Ockenfels, How EffectiveAre Electronic Reputation Mechanisms? An Experimental Investiga-tion, Management Science, 50(11), 2004, Seiten 1587–1602; GaryE. Bolton/Ben Greiner/Axel Ockenfels, Engineering Trust – Recipro-city in the Production of Reputation Information, ManagementScience, im Erscheinen.

18 Vgl. Peter Cramton, Spectrum Auctions, in: Martin Cave/SumitMajumdar/Ingo Vogelsang (Hrsg.), Handbook of Telecommunica-tions Economics, Amsterdam 2002, Seiten 605–639; Georg Geb-hardt/Achim Wambach, Auctions to implement the efficient marketstructure, International Journal of Industrial Organization 26, 2008,Seiten 846–859.19 Vgl. Peter Cramton, Spectrum Auction Design, working paper,2012; Stephan Knapek/Achim Wambach, Strategic complexities inthe combinatorial clock auction, CESifo working paper 3983, 2012.20 Paul Klemperer, Bidding Markets, Occasional Paper No. 1, UKCompetition Commission, 2005; Alexander Rasch/Achim Wambach,On auctions and competition policy, in International Handbook ofCompetition, Volume 2, Manfred Neumann/Jürgen Weigand (Hrsg.),Cheltenham, England, im Erscheinen.21 Vgl. Nicola Dimitri/Gustavo Piga/Giancarlo Spagnolo (Hrsg.),Handbook of Procurement, Cambridge University Press, 2006; Wis-senschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft undTechnologie, Öffentliches Beschaffungswesen, Gutachten 2007.22 Vgl. Veronika Grimm/Axel Ockenfels/Gregor Zöttl, Strommarkt-design: Zur Ausgestaltung der Auktionsregeln an der EEX, Zeitschriftfür Energiewirtschaft, 3, 2008, Seiten 147–161.23 Vgl. Felix Müsgens/Axel Ockenfels, Design von Informations-feedback in Regelenergiemärkten, Zeitschrift für Energiewirtschaft,35, 2011, Seiten 249–256; Felix Müsgen/Axel Ockenfels/MarkusPeek, Balancing Power Markets in Germany: Timing Matters, Zeit-schrift für Energiewirtschaft, 36, 2012, Seiten 1–7.24 Vgl. Roman Inderst/Achim Wambach, Engpassmanagement imdeutschen Stromübertragungsnetz, Zeitschrift für Energiewirtschaft,31, 2007, Seiten 333–342.25 Vgl. Axel Ockenfels, Empfehlungen für das Auktionsdesign fürEmissionsberechtigungen, Zeitschrift für Energiewirtschaft, 2, 2009,Seiten 105–114.26 Vgl. Peter Cramton/Steven Stoft, Forward Reliability Markets:Less Risk, Less Market Power, More Efficiency, Utilities Policy 16,2008, Seiten 194–201; Peter Cramton/Axel Ockenfels, Economicsand Design of Capacity Markets for the Power Sector, Zeitschrift fürEnergiewirtschaft. 36 (2), 2012, Seiten 113–134; Energiewirtschaft-liches Institut an der Universität zu Kölm (EWI) mit Achim Wambach,Untersuchungen zu einem zukunftsfähigen Strommarktdesign, Gut-achten im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Tech-nologie, 2012.

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Ökonomische Theorie und Praxis

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gative Preise möglich sein? Wie sind die Märkteuntereinander verknüpft? Gibt es einen einheit-lichen Preis, oder erhalten Anbieter ihren gebote-nen Preis, wenn sie den Zuschlag bekommen?

Marktdesign und Wirtschaftspolitik

Märkte sind ein mächtiges Instrument. Doch vieleMärkte benötigen ein aktives und sorgfältiges De-sign. Schon kleine Fehler können zu Marktversa-gen führen. Ökonomische Ingenieure werden ge-braucht, da die „unsichtbare Hand“ allein es oftnicht richten kann. Marktdesign als Wissenschaftund Anwendung ist komplementär zur Ord-nungsökonomik. Beide Ansätze liefern Lösungenfür den Umgang mit einer hoch komplexen Wirt-schaftswelt. Doch während die Ordnungsökono-mik vornehmlich die Einhaltung genereller Prin-zipien betont und daraus oft ihre konkreten Emp-fehlungen ableitet, beschäftigt sich Marktdesignmit der theoriegeleiteten und empirisch fundier-ten Umsetzung von Anreizsystemen angesichtsder spezifischen institutionellen Komplexitätenund Verhaltensphänomene eines gegebenenMarktes.

Dafür ist es wichtig, eine wissenschaftliche Litera-tur der ökonomischen Ingenieurskunst aufzubau-en. Immer noch ist zu wenig bekannt, wie realeMärkte im Detail funktionieren und wie Men-schen mit ihren Fehlern und Beschränkungen da-zu beitragen. Weder im Elfenbeinturm der Wirt-schaftstheorie noch im Experimentallabor kann

erforscht werden, wie reale Märkte aussehen undwie sie das Handeln der Menschen beeinflussen.Das Zusammenspiel von Praxis und Wissenschaftist notwendige Voraussetzung, um das Fach voran-zubringen.

Ein nächster Schritt ist dann, die Erkenntnisse desMarktdesigns in die Wirtschaftspolitik einzubrin-gen. Die Finanzkrise hat Schwächen in der Finanz-marktregulierung offen gelegt, die die spezifi-schen Eigenschaften der Finanzmärkte nicht inausreichender Form berücksichtigt hat. Die Ener-giewende verlangt nach einem konsistenten Rah-men für die Energiemärkte, bei dem die Be-sonderheiten dieser Märkte zu integrieren sind,und die zu neuen, innovativen Marktdesigns füh-ren müssen. In der Wettbewerbspolitik werdenneue Instrumente für einzelne Märkte erdacht,wie die geplante Markttransparenzstelle im Ener-giemarkt und im Tankstellenmarkt. In diesen Fäl-len geht es darum, Spezifika der einzelnen Märktezu berücksichtigen, und diese dann adäquat the -oretisch und empirisch fundiert in der Regulie-rung bzw. Wettbewerbspolitik einzubringen.

Die Pionierarbeiten von Roth und Shapley zeigen,wie traditionelle Grundlagenforschung und Markt-design sich gegenseitig im Dienste der Menschenund Märkte befruchten. Im Gegensatz zu vielen an-deren Forschungsrichtungen, die mit dem Nobel-preis geehrt wurden, wurde 2012 ein Bereich aus-gezeichnet, in dem viele Fragen offen sind. Von derwirtschaftswissenschaftlichen Ingenieurskunst istnoch einiges zu erwarten. �

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Auf dem Weg in die PostwachstumsökonomieProf. Dr. Niko PaechLehrstuhl für Produktion und Umwelt (PUM) an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Das Wachstumsdogma bildet den letzten Konsens einer ansonsten hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaft. Ganz gleich,

wie unterschiedlich die politischen Auffassungen, Lebensstile oder kulturellen Prägungen auch sein mögen, in einem

Punkt herrscht Einigkeit: im Drang zur Steigerung, zum Vorwärts, zum Mehr. Zugleich verschlechtern sich die ökologi-

schen Bedingungen mit rapider Geschwindigkeit.

Im Energiebereich nimmt der Spagat zwischen deneuphorisch angekündigten Technikoptionen desKlimaschutzes und der desaströsen Zunahme vonTreibhausgas-Emissionen fast kuriose Züge an. Diedonnernde Durchhalteparole lautet: TechnischeInnovationen verhelfen früher oder später dazu,ein weiter expandierendes Bruttoinlandsprodukt(BIP) von ökologischen Beeinträchtigungen zuentkoppeln. Dabei reicht die Phantasie von „Null-Emissions“-Systemen, etwa mittels erneuerbarerEnergien, bis zu Steigerungen der Ressourceneffi-zienz um den Faktor vier, fünf oder gar zehn.

Kein grünes Wachstum in Sicht

Wer „grünes“, also umweltverträgliches Wachstum(Green Growth) propagiert, muss an mindestenszwei Wunder glauben: an die technische Entkopp-lung des Wirtschaftswachstums von Umweltschä-den und von zunehmend knappen Ressourcen.Diese ökologische Modernisierung, an der seit 40Jahren herumgedoktert wird, erweist sich als at-traktiv, verspricht sie doch, dass niemand seine An-sprüche reduzieren muss. Vielmehr soll die tech-nologische Entwicklung – unterstützt von Wissen-schaft und Politik – dafür sorgen, dass zeitgenössi-sche Konsum- und Mobilitätsmuster reinen Gewis-sens fortgeführt werden können.

Insoweit die Last der materiellen Reduktion an ei-ne technologische Entwicklung delegiert wird,droht ein moralisches Dilemma: Das Schicksal desPlaneten wird einem technologischen Fortschrittanheimgestellt, der noch gar nicht eingetreten istund von dem sich nicht beweisen lässt, dass er je-mals eintreten wird. Ungewiss ist insbesondere,welche späteren Nebenfolgen dieser Fortschrittzeitigt und ob er sich im Nachhinein nicht als rei-ne Problemverlagerung entpuppt. Dass Letzteresbeinahe zwangsläufig eintreten muss, liegt auf derHand. Unter dem Vorbehalt, niemandem Reduk-

tionsleistungen zumuten zu wollen, können Nach-haltigkeitsinnovationen gar nichts anderes sein alsadditive Reparaturmaßnahmen, die ihrerseits niezum ökologischen Nulltarif zu haben sind.

Eine Steigerung des BIP setzt zusätzliche Leis-tungsübertragungen voraus, die einen Geldflusszwischen mindestens einem Anbieter und einemEmpfänger induzieren. Deshalb weist der Wert-schöpfungszuwachs eine Entstehungs- und eineVerwendungsseite auf. Beide Seiten wären ökolo-gisch zu neutralisieren, um wenigstens weitereUmweltschäden zu vermeiden. Selbst wenn es jegelänge, eine geldwerte und damit BIP-relevanteLeistungsübertragung vollständig zu entmateriali-sieren (Entstehungsseite), wäre das Entkopplungs-problem keineswegs gelöst, weil sich mit dem zu-sätzlichen Einkommen beliebige Güter finanzie-ren lassen, deren materielle Wirkung zu berück-sichtigen ist (Verwendungsseite).

Entstehungsseite des Wachstums:Materielle „Rebound-Effekte“

Wie müssten Güter beschaffen sein, die als geld-werte Leistungen von mindestens einem Anbieterzu einem Nachfrager übertragen werden, ohnedass deren physischer Transfer, Herstellung, Nut-zung und Entsorgung Flächen-, Materie- und Ener-gieverbräuche verursacht? Sämtliche bisher prä-sentierten Green-Growth-Lösungen erfüllen dieseVoraussetzung jedenfalls nicht, ganz gleich ob essich dabei beispielsweise um Passivhäuser, Elektro-mobile, Ökotextilien, Photovoltaik-Anlagen, Bio-Textilien, Offshore-Windkraftanlagen, Blockheiz-kraftwerke, solarthermische Heizungen oder Car -sharing handelt. Nichts von alledem kommt ohnephysischen Aufwand aus. Zeitweilig galt die Digita-lisierung als Fluchtweg aus der Materialität arbeits-teiliger Leistungsausformung und -übertragung.Aber nie da gewesene Elektroschrottlawinen, hor-

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Ökonomische Theorie und Praxis

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rende Ressourcenverbräuche für die Endgeräte-herstellung, ganz zu schweigen von den Energie-verbräuchen des Betriebs und der nötigen Infra-strukturen haben auch diesen grünen Hoffnungs-träger zerschellen lassen. Hinzu kommen sekundä-re und tertiäre Effekte, denn digitale Kommunika-tion senkt Transaktionskosten. Dies beschleunigtund vergrößert den Leistungsaustausch sämtlicherMärkte und lässt neue entstehen.

Nun ließe sich einwenden, dass die grünen Effi-zienz- oder Konsistenzlösungen den weniger nach-haltigen Output-Strom allmählich ersetzen könn-ten, statt einfach „grüneren“ Output zu addieren.Aber eine Ökologisierung von Flussgrößen führtnicht per se zu einer ökologischen Entlastung,wenn sie mit einer Ausdehnung materieller Be-standsgrößen erkauft wird. Neue Technologienund Produkte fallen weder vom Himmel, nochentstehen sie durch bloße Umrüstungen vorhan-dener Produktionsstätten. Erforderlich sind neueAnlagen, Produktionsstandorte und Infrastruktu-ren. Um zu erwirken, dass sowohl bezogen aufFluss- als auch auf Bestandsgrößen eine Substitu-tion statt purer Addition stattfindet, müssten diealten Kapazitäten beseitigt werden. Aber wie kanndie Materie ganzer Industrien und Infrastrukturenökologisch neutral verschwinden?

Selbst wenn Letzteres gelänge, ergäbe sich einzweites Dilemma: Wie kann das BIP dauerhaftwachsen, wenn jedem grünen Wertschöpfungsge-winn ein Verlust infolge des Rückbaus alter Pro-duktionssysteme entgegenstünde? Wer glaubt, er-neuerbare Energieträger könnten langfristig dieBIP-Beiträge der atomaren und fossilen Industrienersetzen, übersieht Folgendes: Die derzeit be-staunten Wertschöpfungsbeiträge grüner Techno-logien entsprechen einem Strohfeuereffekt, derallein dem vorübergehenden (und im Übrigen ad-ditiven) Kapazitätsaufbau geschuldet ist. Danachreduziert sich die ökonomische Wirkung auf ei-nen Energiefluss, der vergleichsweise wenig Auf-wand an wertschöpfungsträchtigen Inputs verur-sacht und nicht beliebig gesteigert werden kann –es sei denn, die Anlagenproduktion und -projek-tierung wird ohne Begrenzung fortgesetzt. Aberdann droht wieder der alte Wachstumskonflikt.Die bereits jetzt kaum mehr zu akzeptierendenLandschaftszerstörungen nähmen entsprechendzu, weil die materiellen Bestandsgrößen expandie-ren müssten, um Wachstum zu ermöglichen.

Daran zeigt sich außerdem, dass die Erneuerbaren– das Flaggschiff aller grünen Wachstumsträume –ohnehin kein ökologisches Problem lösen, son-

dern nur in eine andere physische, räumliche,zeitliche oder systemische Dimension transformie-ren. Derartige Problemverlagerungen sind dasWesens prinzip aller Konzepte des Green Growth.Deshalb sind bisherige Versuche, vermeintlicheEntkopplungserfolge empirisch nachzuweisen,nur insoweit brauchbar, wie es gelingt, alle räum-lichen und sonstigen Verlagerungseffekte zu be-rücksichtigen. Aber wie sollen CO2-Einsparungenund Landschaftszerstörungen saldiert werden?Wie kann der bei isolierter Betrachtung nicht zuleugnende Effizienzvorteil von Energiesparlam-pen gegen den verheerenden Konsistenznachteil(Entsorgung, Gesundheitsgefährdung) abgewo-gen werden? Ebenso müsste der blaue Himmelüber der Ruhr mit dem Smog an chinesischen Pro-duktionsstätten verrechnet werden, die denschmutzigen Teil der Herstellung europäischerWohlstandsobjekte übernommen haben.

Verwendungsseite des Wachstums:Finanzielle „Rebound-Effekte“

Angenommen, ein von der Entstehungsseite herökologisch unschädliches BIP-Wachstum – so un-realistisch diese Prämisse ist – wäre umsetzbar: Wiekönnte dann sichergestellt werden, dass auch diedamit unvermeidlich korrespondierenden Ein-kommenszuwächse ökologisch neutral sind? Un-denkbar ist, dass der Warenkorb jener Konsumen-ten, die das zusätzliche in den grünen Branchenerwirtschaftete Einkommen beziehen, frei von Gü-tern ist, in deren globalisierte Produktion fossileEnergie und andere Rohstoffe einfließen. Würdendie Nutznießer des grün erwirtschafteten Einkom-mens etwa nicht in Eigenheimen leben, mit demFlugzeug reisen und Auto fahren? Folglich könnteder Einkommenseffekt jener Investitionen, diezwecks vermeintlich grünen Wachstums unab-dingbar sind, sogar indirekt die Nachfrage nachfossiler Energie und anderen Ressourcen steigern.

Zu berücksichtigen ist ein zweiter finanzieller Re-bound-Effekt. Er resultiert daraus, dass die für dasgrüne Wachstum nötigen Investitionen die Kapa-zitäten ausdehnen. Wenn etwa – um beim Beispielder Energiewende zu bleiben – der Elektrizitäts-output insgesamt steigt, weil nicht im Umfang desAusbaus der Erneuerbaren die Kapazität an fossi-ler Produktion verringert wird, sinkt insgesamt derStrompreis, was wiederum die Nachfrage erhöht,sowohl direkt nach Energie als auch nach Energieverbrauchenden Geräten. Verschärfend kommtabermals hinzu, dass von der Nachfragesteigerungsogar fossile Sektoren profitieren können. Über-

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Postwachstumsökonomie

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dies ist nicht auszuschließen, dass sich eine Ange-botsaufblähung im Bereich der Elektrizität selbstdann, wenn es zu keiner Preissenkung führt, eineentsprechende Nachfrage verschafft. ArbeitsteiligeGesellschaften passen sich strukturell an ein höhe-res Energieangebot an, vor allem durch techni-sche Aufrüstung aller Lebensbereiche. Daraus er-geben sich kulturell irreversible Strukturen, die ei-ne spätere Rückkehr zu einem geringeren Ver-brauchsniveau kaum zulassen. Dasselbe gilt fürden Wohnbereich. Wenn durch Passivhäuser dieWohnfläche insgesamt steigt, mindert dies ten-denziell deren Preis. Also kann mehr Wohnraumfinanziert werden. Auch hier kann sich der ohne-hin konterkarierende Effekt verschlimmern, wennein Teil der insgesamt gestiegenen Nachfrage aufkonventionelle Gebäude entfällt.

Ein dritter finanzieller Rebound-Effekt kann ein-treten, wenn Effizienzerhöhungen die Betriebs-kosten bestimmter Objekte (zum Beispiel Häuser,Autos, Beleuchtung) reduzieren. Die monetärenEinsparungen sind dann für zusätzliche Mobilitätund Konsumausgaben verfügbar. Theoretisch lie-ßen sich finanzielle Rebound-Effekte vermeiden,wenn jeder durch grüne Investitionen induzierteEinkommenszuwachs abgeschöpft würde. Aber ab-gesehen davon, dass dies unter marktwirtschaft-lichen Bedingungen undurchführbar sein dürfte,ergäbe sich ein unlösbarer Widerspruch. Waskönnte absurder sein, als Wachstum zu erzeugen,um es im selben Moment zu neutralisieren?Schließlich hat Wirtschaftswachstum keinen ande-ren Sinn als die Schaffung zusätzlichen Einkom-mens, ganz gleich auf welche Weise und für wen.

Die Behauptung, durch Investitionen in grüneTechnologien könne Wirtschaftswachstum mit ei-ner absoluten Senkung von Umweltbelastungeneinhergehen, ist also nicht nur falsch, sondernkehrt sich ins genaue Gegenteil: Allein unter derVoraussetzung eines nicht wachsenden BIP bestehtüberhaupt nur eine Chance, durch grüne Techno-logien die Ökosphäre zu entlasten. Und dies istnicht einmal eine hinreichende Bedingung, weildie materiellen Rebound-Effekte – insbesonderedie unzähligen Verlagerungsmöglichkeiten – aufder Entstehungsseite ebenfalls einzukalkulierensind.

Ökonomische, psychologische und soziale Wachstumsgrenzen

� Peak Everything: Traditionelle Ökonomen füh-ren gesellschaftlichen Reichtum auf die Effizienz-

eigenschaften marktwirtschaftlicher Systeme(Adam Smith), menschliche Arbeitskraft (KarlMarx) oder die Innovationskraft eines kreativenUnternehmertums (Joseph A. Schumpeter) zurück.Aber damit wird nur das Getriebe der Wohlstands-maschine, nicht dagegen deren Treibstoff be-schrieben. Konsumgesellschaften basierten nie aufetwas anderem als einer kostengünstigen und un-begrenzt erscheinenden Verfügbarkeit fossilerEnergieträger.

Die Ausgabenseite dieser Daseinsform explodiertnun infolge des Kaufkraftzuwachses einer globa-len Mittelschicht, inzwischen erweitert um mehrals 1,2 Milliarden sogenannte „neue Konsumen-ten“ (Norman Myers/Jennifer Kent) in aufsteigendenSchwellenländern wie China und Indien. Selbstdie diesbezüglich konservative International Ener-gy Agency (IEA) geht neuerdings von einem An-stieg des Preises für einen Barrel Rohöl von der-zeit rund 100 Dollar auf 200 Dollar bis 2030 aus.Auch die Einnahmenseite des nördlichen Wohl-standsmodells bröckelt. Sie stützte sich bislang aufInnovationsvorsprünge im internationalen Wett-bewerb. Durch Investitionen in das Bildungssys-tem, den Aufbau moderner Infrastrukturen undnicht zuletzt die globale Mobilität ihrer neuenMittelschichten gelangen die Schwellenländer zu-sehends in die Lage, jene Märkte zu erobern, aufdenen etablierte Industrieländer über entspre-chende Exporterlöse ihren Konsum finanzieren.

� Peak Happiness: Der wichtigste Befund derGlücksforschung besagt, dass eine Steigerung desüber Geld vermittelten materiellen Reichtums abeinem bestimmten Niveau das subjektive Wohlbe-finden nicht weiter erhöht. Viele Konsumaktivitä-ten sind symbolischer Art, zielen auf soziales Pres-tige oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmtenGruppe oder „Szene“. Innovationen schaffen neueAngebote der materiellen Selbstinszenierung, dievon Pionieren aufgegriffen werden. Wer nicht mit-zieht, verliert den Anschluss. Folglich ist ein im-mer höherer Konsumaufwand nötig, um die sozia-le Integration zu verteidigen. Insoweit die Auswahlan Konsumoptionen geradezu explodiert, der Tagaber nach wie vor nur 24 Stunden hat, wird die mi-nimal erforderliche Zeit zum Ausschöpfen kon-sumtiver Optionen zum Engpassfaktor. Das Viel-Haben tritt in Widerspruch zum Gut-Leben.1

� Peak Justice: Armutsbekämpfung mittels öko-nomischen Wachstums ist eng mit den behaupte-ten Vorteilen der internationalen Arbeitsteilung

1 Vgl. Wolfgang Sachs, Nach uns die Zukunft, Frankfurt 2012.

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Ökonomische Theorie und Praxis

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verwoben. Allerdings schließt einer der wichtigs -ten Befunde der realen Außenwirtschaftstheorie,wonach Freihandel der Autarkielösung überlegensei, gemäß dem Stolper/Samuelson-Theorem ex-plizit ein, dass der damit notwendigerweise ein-hergehende Strukturwandel Verluste für bestimm-te Branchen impliziert. Solange diese durch Zu-wächse der prosperierenden Branchen übertrof-fen werden, können die Gewinner die Verliererkompensieren und dennoch einen Einkommens-zuwachs erzielen. Aber wer stellt sicher, dass dieserTransfer stattfindet und die Handelsgewinne nichtvollständig der Besserstellung einer Elite vorbehal-ten bleiben, womit sich die Situation der ärmstenBevölkerungsteile im Vergleich zur Autarkielö-sung sogar verschlechtern kann? AusgerechnetPaul A. Samuelson holte zu einem Doppelschlag ge-gen die von ihm mit begründete „reine“ Lehreaus, indem er erstens darlegte, dass unter den Be-dingungen der Globalisierung schon die Erzie-lung von Nettogewinnen durch Freihandel schei-tern kann, und er zweitens bezweifelt, dass dort,wo dies immerhin noch eintritt, eine Kompensa-tion der unvermeidlichen Verlierer des Freihan-dels stattfindet.

Hinzu kommt ein struktureller Effekt: Die verlo-ckende Chance auf Zuwächse an materiellemReichtum, den ein konsumtiver und zugleich aufspezialisierter Erwerbsarbeit beruhender Lebens-stil verheißt, wird mit einer beträchtlichen sozialenFallhöhe erkauft. Amartya Sen hat anhand des Ver-laufs vergangener Hungersnöte beschrieben, dassIndividuen, die ihre Fähigkeit zur Selbstversor-gung zugunsten einer monetär entgoltenen Er-werbsarbeit aufgeben, selbst dann in bedrohlicheNot geraten können, wenn in der betreffendenRegion genug Güter vorhanden sind, um alle Be-wohner zu versorgen. Geldbasierte Fremdversor-gung bedingt, dass der Anspruch auf Güter alleinvon der Kaufkraft des monetären Einkommens ab-hängt. Sowohl Preiserhöhungen als auch Einkom-menssenkungen können die Kaufkraft unter eineGrenze senken, die Sen als „starvation set“ bezeich-net: Das Maximum an Gütern, welches sich einKonsument auf Basis seines Geldeinkommens unddes aktuellen Preisniveaus leisten kann, reichtnicht zur Existenzsicherung. Derartige Szenarienerweisen sich eingedenk der Verwendungskon-kurrenz zwischen Bio-Energie und Nahrungsmit-teln – und den möglicherweise damit einherge-henden Preissteigerungen – als äußerst wahr-scheinlich. Demgegenüber gewährleisten partiellauf Eigenarbeit und lokalen Austauschbeziehun-gen beruhende Versorgungsmuster einen beschei-deneren Güterwohlstand. Dafür sind sie aber von

globalisierten Wertschöpfungsketten unabhängig;sie tragen somit zur ökonomischen und sozialenSouveränität bei.

Wachstumszwänge

Strukturelle Wachstumsabhängigkeit resultiert auseiner perfekten Verzahnung von industrieller Ar-beitsteilung auf der Angebotsseite und vollständi-ger Fremdversorgung aufseiten der Haushalte. In-dem Letztere jede Autonomie und Fähigkeit zurSelbstversorgung zugunsten eines spezialisiertenArbeitsplatzes aufgeben, der ein monetäres Ein-kommen mit höherer Kaufkraft verspricht, bege-ben sie sich in multiple Abhängigkeiten. Wenn Be-dürfnisse, die vormals durch handwerkliche Tätig-keiten, Eigenarbeit, lokale Versorgung und sozialeNetzwerke befriedigt wurden oder denen schlichtmit Entsagung begegnet wurde, Zug um Zugdurch Produkte, Dienstleistungen und Komfortgenerierende Automatisierung/Mechanisierungabgedeckt werden, ist die Existenzsicherung einergeldspeienden Wachstumsmaschine ausgeliefert.Das vollständig fremd versorgte Individuum benö-tigt den Zugriff auf nie versiegende Geldquellen,die durch Erwerbsarbeit im Industrie- und Dienst-leistungssektor, Unternehmensgewinne oder staat-liche Transferleistungen gespeist werden.

Der solchermaßen geprägte „Homo consumens“müsste aussterben, wenn alle Supermärkte derWelt vier Wochen lang geschlossen wären, weil ihmjegliche Fähigkeit, auf Basis eigener Leistungenoder lokaler Ressourcen zum Erhalt menschlicherDaseinsgrundfunktionen beizutragen, abhandengekommen ist. Die Geldabhängigkeit wächst mitkulturell induzierten Ansprüchen an materielleSelbstverwirklichung und damit einer stetigen An-hebung des monetären Versorgungsminimums, al-so dessen, was als Armuts- oder Zumutbarkeits-grenze deklariert wird. Wenn jedes Strukturierenvon Zeit den Abruf irgendwelcher Fremdversor-gungsleistungen voraussetzt, geht das Soziale kom-plett im Ökonomischen auf. Folglich kann sichauch sozialer Fortschritt nur als ökonomische Ex-pansion artikulieren, ganz gleich, ob die extern zubeziehenden Leistungen vom Markt oder vomStaat abgerufen werden. Landläufiger Kapitalis-muskritik entzieht sich dieses Phänomen, denn dasmoderne, vollends materialisierte Freiheits- undWohlstandsideal findet sich nicht minder in mar-xistisch grundierten Zukunftsentwürfen wieder.

Fremdversorgungssysteme beruhen darauf, dieDistanz zwischen Verbrauch und Produktion zu

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Postwachstumsökonomie

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vergrößern. Dies ist nötig, um die quantitativen so-wie qualitativen Steigerungspotenziale einer ar-beitsteiligen Wertschöpfung zu entfesseln und inZuwächse der Güterversorgung zu transformie-ren. Wenn Produktion, die vormals an einenStandort gebunden war, in viele isolierte Ferti-gungsstufen zerlegt wird, können diese flexibelund ortsungebunden je nach Kosten- oder Quali-tätsvorteilen verschoben werden. Diese Zerlegungerlaubt das Abschöpfen von Spezialisierungsge-winnen, die zu sinkenden Stückkosten führen.Aber jede Spezialisierungsstufe muss vor der Pro-duktionsphase die benötigten Inputfaktoren fi-nanzieren, also investieren. Das dazu benötigteFremdkapital kostet Zinsen; investiertes Eigenka-pital verlangt nach einer hinreichenden Rendite.Folglich muss in jeder Periode ein entsprechenderÜberschuss erwirtschaftet werden. Das zur Stabili-sierung des Gesamtprozesses erforderliche Wachs-tum steigt also mit zunehmender Spezialisierung,das heißt mit der Anzahl eigenständiger Betriebeund dem jeweils notwendigen Überschuss, um dasRisiko des Investors mindestens zu kompensieren.Dieses Risiko steigt obendrein mit zunehmenderKomplexität, also Anzahl, Distanz und Anonymitätder Produktionsstätten.

Um strukturelle Wachstumszwänge zu dämpfen,könnte auf weniger kapitalbedürftige Versor-gungssysteme zurückgegriffen werden. Ein gerin-gerer Spezialisierungsgrad reduziert den Kapital-bedarf insoweit, als die Leistungserstellung ten-denziell arbeitsintensiver würde. Je weniger Kapi-tal benötigt wird, desto geringer ist ceteris paribusder zu erzielende Überschuss an Zinsen und Ge-winnen. Allerdings würde damit eine geringere Ar-beitsproduktivität einhergehen, was wiederum dieAusbeute an Spezialisierungsvorteilen – wohlge-merkt ohne Berücksichtigung externer Effekte –senkt. Andererseits können verkürzte Wertschöp-fungsketten, wie etwa bei Lokal- oder Regional-ökonomien, eine weitere wachstumsdämpfendeWirkung entfalten. Kürzere Distanzen zwischenProduktion und Verbrauch schaffen Nähe und da-mit jenes Vertrauen, welches eine weniger zins-und renditeträchtige Kapitalbeschaffung ermög-licht. Transparenz durch eine unmittelbare Bezie-hung zwischen Kapitalgeber und Kapitalnehmersenkt das andernfalls durch hohe Zinsen oderRenditen abzudeckende Anlagerisiko. Kleinräumi-ge Ökonomien ermöglichen es Anlegern zudem,stärkeren Einfluss auf die Verwendung ihres Kapi-tals zu nehmen. Wer sein Geld einem selbst ge-wählten Zweck – beispielsweise mit ökologischeroder sozialer Orientierung – zuführen kann, wirdtendenziell eine geringere Verwertung fordern.

Dies entspräche keinem Verzicht, sondern demGegenwert für eine höhere ethische Qualität derAnlage.

Regionale Komplementärwährungen wie etwa der„Chiemgauer“ können eine solche Entflechtungunterstützen, weil sie lediglich innerhalb eines be-grenzten Radius gültig sind. Zusätzlich mindernsie den Wachstumszwang, wenn sie mit einer zins-losen Umlaufsicherung versehen sind. Die kürzes-te Wertschöpfungskette entspräche der Subsistenz,also Selbstversorgung. Wer gemeinsam mit ande-ren einen Gemeinschaftsgarten betreibt, trägt zueinem Versorgungsmuster bei, das kein Geld, kei-ne Investition, keinen Gewinn, keinen Zins undfolglich keinen Wachstumszwang kennt.

Elemente einer Postwachstumsökonomie

Eine Postwachstumsökonomie2 beruht auf ver-schiedenen sich ergänzenden Strategien, die da -rauf abzielen, industriell-arbeitsteilige Versor-gungssysteme schrittweise zurückzubauen.

Die erste Strategie lautet Suffizienz: Viele Kon-sumaktivitäten können, statt in Objekte derSelbst- oder Regionalversorgung transformiert zuwerden, ersatzlos wegfallen. Das Suffizienzprinzipverinnerlicht die Antithese zur Steigerungslogikkonsumtiver Selbstverwirklichungsansprüche:Von welchen Energiesklaven und Komfortkrü-cken ließen sich überbordende Lebensstile undschließlich die Gesellschaft als Ganzes befreien?Die Logik der Suffizienz beruht nicht auf Ver-zicht, sondern darauf, Wohlstandsartefakte auszu-mustern, die zur individuellen Überforderung inForm von „Konsumverstopfung“ führen, weil sieZeit, Geld, Raum sowie ökologische Ressourcenbeanspruchen.

Eine neue zeitökonomische Theorie der Suffi-zienz3 liefert dafür längst Beweggründe jenseitsmoralischer Imperative: In einer Welt der Reiz-und Optionenüberflutung, die nicht mehr zu be-wältigen ist, werden Reduktion, Überschaubarkeitund Entschleunigung zum Selbstschutz. Das zu-nehmend „erschöpfte Selbst“ (Alain Ehrenberg) ver-körpert die Schattenseite einer Jagd nach Glückund Selbstinszenierung, die in Stress umschlägt.Was hier wächst, ist der Markt für Antidepressiva.

2 Vgl. Niko Paech, Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in diePostwachstumsökonomie, München 2012.3 Vgl. Niko Paech, Nach dem Wachstumsrausch: Eine zeitökonomi-sche Theorie der Suffizienz, in: Zeitschrift für Sozialökonomie47/166–167, 2010, Seiten 33–40.

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Ökonomische Theorie und Praxis

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Auch wenn Suffizienz eher das Resultat eines kul-turellen Wandels darstellen dürfte, sind unterstüt-zende Rahmenbedingungen denkbar, die vonMaßnahmen der Nachhaltigkeitskommunikationund -bildung bis zur Regulierung von kommer-zieller Werbung reichen können.

Die zweite Strategie ist Subsistenz: Vollständig vonmonetär basierter Fremdversorgung abhängig zusein, untergräbt die ökonomische Souveränität (Re-silienz). Sozial stabil sind vor allem Versorgungs-strukturen mit geringerer Distanz zwischen Ver-brauch und Produktion. Dazu zählt die Reaktivie-rung von Kompetenzen, Bedürfnisse jenseits kom-merzieller Märkte kraft eigener Fertigkeiten, alsoselbsttätig, insbesondere durch handwerkliche Tä-tigkeiten zu befriedigen. Durch eine Kombinationvon Selbst- und Fremdversorgung ließe sich dieGeld- und Wachstumsabhängigkeit senken. Zwi-schen den Extremen reiner Subsistenz und globalerVerflechtung existiert ein reichhaltiges Kontinuumunterschiedlicher Fremdversorgungsgrade. Dies er-öffnet Potenziale, von außen bezogene Leistungendurch eigene Produktion punktuell oder graduellzu ersetzen. Moderne Subsistenz entfaltet ihre Wir-kung im unmittelbaren sozialen Umfeld, also aufkommunaler oder regionaler Ebene. Die für derar-tige Aktivitäten benötigte Zeit könnte sich aus ei-nem teilweisen Rückbau des industriellen Systemsspeisen. Eine Halbierung der Erwerbsarbeit würdeZeitressourcen freisetzen, sodass ein bescheidene-res monetäres Einkommen durch drei Typen vonSubsistenzleistungen ergänzt werden könnte:

� Nutzungsintensivierung durch Gemeinschafts-nutzung: Wer die Nutzung von Gebrauchsgegen-ständen mit anderen Personen teilt, trägt dazu bei,industrielle Herstellung durch soziale Beziehun-gen zu ersetzen. Doppelte Nutzung bedeutet hal -bierter Bedarf.

� Verlängerung der Nutzungsdauer: Wer durchhandwerkliche Fähigkeiten oder Improvisations-geschick die Nutzungsdauer von Konsumobjektenerhöht – zuweilen reicht schon die achtsame Be-handlung, um frühen Verschleiß zu vermeiden –,ersetzt materielle Produktion durch eigene pro-duktive Leistungen, ohne auf Konsumfunktionenzu verzichten. Wo es gelingt, die Nutzungsdauerbeispielsweise durch Instandhaltung, Reparaturoder Umbau durchschnittlich zu verdoppeln,könnte die Produktion neuer Objekte entspre-chend halbiert werden.

� Eigenproduktion: Im Nahrungsmittelbereicherweisen sich Hausgärten, Dachgärten, Gemein-

schaftsgärten und andere Formen der urbanenLandwirtschaft als dynamischer Trend, der zurDeindustrialisierung dieses Bereichs beitragenkann. Künstlerische und handwerkliche Betäti-gungen reichen von der kreativen Wiederverwer-tung ausrangierter Gegenstände über selbst gefer-tigte Holz- oder Metallobjekte bis hin zur semi-pro-fessionellen Marke „Eigenbau“.

Derartige Subsistenzleistungen bewirken, dass ei-ne Halbierung der Industrieproduktion nichtden materiellen Wohlstand halbiert: Wenn Kon-sumobjekte länger oder gemeinschaftlich genutztwerden, reicht ein Bruchteil der momentanen in-dustriellen Produktion, um dieselbe Versorgungmit Konsumfunktionen zu gewährleisten. Moder-ne Subsistenz hat eine Inputdimension; diesespeist sich aus drei marktfreien Ressourcen,durch die ein markant reduzierter Industrieout-put aufgewertet wird: erstens handwerkliche,künstlerische und substanzielle Kompetenzen so-wie Improvisationsgeschick; zweitens eigene Zeit -ressourcen; drittens soziales Kapital, um vielfälti-ge Subsistenzleistungen tauschen zu können. Sol-chermaßen entmonetarisierte Versorgungssyste-me steigern die Resilienz und mindern denWachstumsdruck einer kapitalintensiven indus-triellen Spezialisierung.

Die dritte Strategie ist Regionalökonomie: VieleBedürfnisse ließen sich durch regionale Märktebis hin zu einer „Community Supported Agricul-ture“ (CSA) befriedigen. In diesem Fall lassen sichStadtbewohner von einem nahegelegenen Land-wirtschaftsbetrieb versorgen. Indem sie dessenProduktion vorfinanzieren, erwerben sie ein ent-sprechendes Anrecht auf einen Ernteanteil. Damitstellen sie sich auf regionale und saisonale Ernäh-rung um und übernehmen einen Teil des betrieb-lichen Risikos. Regionalwährungen könnten Kauf-kraft an die Region binden und auf diese Weisevon globalen Abhängigkeiten befreien. So würdendie Effizienzvorteile einer geldbasierten Arbeits-teilung weiterhin genutzt, jedoch innerhalb einesökologieverträglicheren und krisenresistenterenRahmens.

Das vierte Element, auf dem die Postwachstums-ökonomie beruht, sind „stoffliche Nullsummen-spiele“: Infolge der obigen Strategien bräuchte derauf Geldwirtschaft und industrieller Arbeitsteilungbasierende Komplex in etwa nur noch halb so großsein – zumindest wenn die durchschnittliche Er-werbsarbeit auf etwa 20 Stunden reduziert würde.Der verbleibende Rest an industrieller Struktur wä-re außerdem so umzugestalten, dass die Neupro-

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Postwachstumsökonomie

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duktion von Gütern, die viel langlebiger und repa-raturfreundlicher sein müssten, eher eine unterge-ordnete Rolle spielt. Der Fokus läge auf dem Er-halt, der Um- und Aufwertung vorhandener Pro-duktbestände, etwa durch Renovation, Optimie-rung, Verlängerung der Nutzungsdauer oder Nut-zungsintensivierung. Klassische „Produzenten“würden durch Anbieter abgelöst, die nicht an einerweiteren Expansion der materiellen Sphäre, son-dern an deren Aufarbeitung und Optimierungorientiert wären. Durch Maßnahmen des Erhalts,der Wartung und vorbeugenden Verschleißminde-rung würden sie die Lebensdauer und Funktions-fähigkeit des Hardware-Bestands verlängern.Durch Reparaturdienstleistungen würden defekteGüter seltener ausrangiert; durch Renovationsstra-tegien des Typs „Umbau statt Neubau“ würde ausvorhandenen Gütern weiterer Nutzen extrahiert,indem diese funktional und ästhetisch an gegen-wärtige Bedürfnisse angepasst würden und somitmöglichst lange im Kreislauf einer effizienten Ver-wendung verblieben. Märkte für gebrauchte, auf-gearbeitete und überholte Güter würden ebenfallszur Reduktion der Neuproduktion beitragen.

Postwachstumspolitik

Durch verschiedene Rahmenbedingungen – hierwerden nur die wichtigsten genannt – ließe sichdie Transformation zur Postwachstumsökonomieunterstützen. Boden-, Geld- und Finanzmarktre-formen könnten systemimmanente Wachstums-zwänge mildern. Dazu zählen unter anderem Re-gionalwährungen, die mit einer das Zinsniveau ge-gen Null senkenden Geldumlaufsicherung verse-hen sind. Veränderte Unternehmensformen wieGenossenschaften, Stiftungen oder Non-Profit-An-sätze des solidarischen Wirtschaftens könnten Ge-winnerwartungen dämpfen. Der Subventions -dschungel könnte durchforstet werden, um glei -cher maßen ökologische Schäden und öffentlicheVerschuldung zu reduzieren. Ein Bodenversiege-lungsmoratorium und Rückbauprogramme fürInfra strukturen wären sinnvoll. Insbesondere In-dustrieanlagen, Autobahnen, Parkplätze und Flug-häfen wären zu entsiegeln und zu renaturieren.Ansonsten könnten dort Anlagen zur Nutzung er-neuerbarer Energien installiert werden, um die ka-tastrophalen Flächen- und Landschaftsverbräuchedieser Technologie zu reduzieren. Rahmenbedin-gungen, unter denen Arbeitszeitreduktionenleichter zu implementieren sind, sowie Verände-rungen des Bildungssystems, um jungen Men-schen handwerkliche Kompetenzen und sesshafteLebensstile zu vermitteln, wären zweckdienlich.

Überdies ergibt sich daraus, dass die technologi-sche Entkopplung wirtschaftlichen Wachstums sys-tematisch scheitert, eine entscheidende Konse-quenz: Per se nachhaltige Technologien und Ob-jekte sind schlicht undenkbar. Somit gibt allein dieSumme aller Aktivitäten eines Individuums Auf-schluss über Nachhaltigkeitswirkungen. Individuel-le Öko- oder zumindest CO2-Bilanzen sind danndie einzig konsistente Zielvariable für eine Post-wachstumsökonomie. Gemäß dem Budgetansatzdes Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregie-rung Globale Umweltveränderungen würde die Er-reichung des Zwei-Grad-Klimaschutzziels bedeu-ten, dass jedem Erdbewohner bis 2050 jährlichnoch 2,7 Tonnen CO2 zur Verfügung stünden, zu-mindest unter Wahrung von Klimagerechtigkeit.Die durchschnittliche CO2-Bilanz eines Bundesbür-gers wird derzeit auf elf Tonnen pro Jahr geschätzt.Folglich könnten Unternehmen verpflichtet wer-den, die entlang des Produktlebenszyklus aufsum-mierte CO2-Menge ihrer Güter bekannt zu geben,damit Nachfrager die Chance haben, auf Basis ei-ner 20-Stunden-Erwerbstätigkeit und unter Aus-schöpfung von Suffizienz- und Subsistenzpotenzia-len diesen ökologischen Rahmen anzupeilen.

Das Leben in einer bescheideneren und zugleichentspannten Ökonomie könnte attraktiver sein alsDaseinsformen am Rande des Konsum-Burn-Outs.Das wusste schon Ludwig Erhard: „Ich glaube nicht,dass es sich bei der wirtschaftspolitischen Zielset-zung der Gegenwart gleichsam um ewige Gesetzehandelt. Wir werden sogar mit Sicherheit dahin ge-langen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob esnoch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter,mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen oder obes nicht sinnvoller ist, unter Verzichtleistung aufdiesen ‚Fortschritt‘ mehr Freizeit, mehr Besin-nung, mehr Muße und mehr Erholung zu gewin-nen. … Solange man auf der politischen Ebenenach dem Motto verfährt: ‚Lasst uns weniger arbei-ten, auf dass wir mehr konsumieren können!‘, sindwir auf dem falschen Wege. Wenn der angestoßeneEntfaltungsprozess aber in dem Sinne verläuft, dassunser Volk neben dem unverzichtbaren Wert aufSicherung materieller Lebensführung in steigen-dem Maße eine geistige oder seelische Bereiche-rung als nützlich und wertvoll erachtet, dann wer-den wir in ferneren Tagen auch zu einer Korrekturder Wirtschaftspolitik kommen müssen. Niemanddürfte dann so dogmatisch sein, allein in der fort-dauernden Expansion, das heißt im Materiellen,noch länger das Heil erblicken zu wollen.“4 �

4 Ludwig Erhard, Wohlstand für alle (1957), Düsseldorf 1990, Sei-ten 232–233.

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Redaktion Dipl.-Volksw. Berthold BarthDipl.-Volksw. Natalie FurjanDipl.-Volksw. Lars Vogel

Autoren dieser Ausgabe Prof. Dr. Andreas FreytagProf. Dr. Thomas Hartmann-WendelsDr. Hans-Joachim HaßDr. Michael KemmerProf. Dr. Axel OckenfelsDr. Uwe OptenhögelProf. Dr. Niko PaechDr. Philip PlickertProf. Dr. Richard ReichelDr. Bert Van RoosebekeProf. Achim Wambach, Ph. D.Dr. Peter Westerheide

Graphische Konzeption Werner Steffens, Düsseldorf

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ISSN 0724-5246Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 134 – Dezember 2012.Die Orientierungen erscheinen vierteljährlich. Alle Beiträge in den Orien tier ungen sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Vervielfältigung bedürfen derGeneh migung der Redaktion. Namensartikel geben nicht unbedingt die Meinungder Redaktion bzw. des Herausgebers wieder.

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