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ORIENTIERUNGEN 109 ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK Börsengang der Deutschen Bahn: Mit oder ohne Netz – oder gar nicht? Atypische Beschäftigung: Ein Mittel zum Abbau von Arbeitslosigkeit? Sinkende Geburtenrate: Ökonomisch und sozialpsychologisch betrachtet Gesundheitspolitik: Ordnungspolitische Mängel Privatisierung von Krankenhäusern: Modischer Trend oder Notwendigkeit? Einkommensteuer-Reform: Mehr Rechtsstaat im Steuersystem! Bundesrechnungshof: Misere der Steuerverwaltung LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN September 2006

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  • ORIENTIERUNGEN

    109ZUR WIRTSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSPOLITIK

    Börsengang der Deutschen Bahn:Mit oder ohne Netz – oder gar nicht?

    Atypische Beschäftigung:Ein Mittel zum Abbau von Arbeitslosigkeit?

    Sinkende Geburtenrate:Ökonomisch und sozialpsychologisch betrachtet

    Gesundheitspolitik:Ordnungspolitische Mängel

    Privatisierung von Krankenhäusern:Modischer Trend oder Notwendigkeit?

    Einkommensteuer-Reform:Mehr Rechtsstaat im Steuersystem!

    Bundesrechnungshof:Misere der Steuerverwaltung

    LUDWIG - ERHARD - STIFTUNG BONN

    S e p t e m b e r 2 0 0 6

    Umschl_Orientierungen_109 20.09.2006 11:59 Uhr Seite U4

  • Ordnungspolitische Positionen � Zum Börsengang der Deutschen Bahn AG

    Martin Hellwig Wie bringt man einen Verlustmacher an die Börse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

    Horst Albach Mit oder ohne Netz ? –Für die Wettbewerbsintensität ist das gleichgültig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

    Winfried Wolf Das Beste wäre: Verzicht auf die Bahnprivatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 12

    Zukunft der Arbeitsgesellschaft �

    Martin Dietz/ Die Zunahme atypischer Beschäftigung: Ulrich Walwei Ursachen und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

    Bernhard Boockmann Atypische Arbeitsverträge: Ein Mittel zum Abbau von Arbeitslosigkeit? . . 25

    Werner Stolz Zeitarbeit: Das wachsende Renommeeeiner lange desavouierten Branche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

    Karl Otto Hondrich Der demographische Wandelin ökonomischer und sozialpsychologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

    Reformen des Gesundheitswesens �

    Stefan Greß Ordnungspolitische Mängel in der Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . 39

    Boris Augurzky et al. Wie müssen Reformen im Gesundheitswesen aussehen? –Eine Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

    Günter Neubauer/ Privatisierung der Krankenhäuser – Andreas Beivers Modischer Trend oder ökonomische Notwendigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . 48

    Volker Amelung/KlausMeyer-Lutterloh/Stefan Tilgner Prinzipien einer nachhaltigen Gesundheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

    Gerechtigkeit im Steuersystem �

    Klaus Tipke Nötig ist eine im strengsten Sinnerechtsstaatliche Einkommensteuer-Reform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

    Präsident des Bundesrechnungshofes Die Misere der Steuerverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

    Buchbesprechung �

    Hans D. Barbier Wirtschaftsstandort Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

    � Inhalt

  • Editorial

    3Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    Unsoziale Sozialwirtschaftstatt Sozialer Marktwirtschaft

    Sozialpolitiker berufen sich auffallend gern auf die Soziale Marktwirtschaft. Sietun das vor allem dann, wenn sie neue Reglementierungen planen, die ge-rade auf das Gegenteil dessen zulaufen, was Ludwig Erhard meinte: auf Bevor-mundung statt auf Wahlfreiheit, auf das diskriminierende Sortieren von An-tragstellern statt auf die Gleichrangigkeit von Marktpartnern, auf dieVerwaltung des Mangels statt auf den Dienst am Kunden. Die von keinermarktwirtschaftlichen Idee geleiteten Basteleien am Gesundheitswesen bietendafür ein belegkräftiges Beispiel.

    Wer in Deutschland Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse ist, muss sichdarauf einstellen, in den Arztpraxen demnächst vor allem als Kostenfaktor be-trachtet zu werden. Die Politiker bestreiten das. Aber die Ärzte nennen über-zeugende Gründe dafür, dass es gegen ihren Willen so kommen wird, weil dasSystem der gesetzlichen Krankenversicherung mit unerbittlicher Logik dahinführt. Zum Ende eines Quartals, wenn „das Budget“ für die Abrechnung mitden Krankenkassen bereits erschöpft ist, muss der Arzt den Patienten ohneEntgelt behandeln, denn er kann sein „Punktekonto“ nicht mehr erhöhen.Ist es da verwunderlich, dass knappe Termine für Privatpatienten frei gehal-ten werden, wenn nicht gerade ein Notfall vorliegt? So entstehen Wartezei-ten, die dem Kassenpatienten nicht das Gefühl vermitteln werden, in der „gro-ßen Solidargemeinschaft“ gut aufgehoben zu sein. Sieht der Arzt aber nichtmit mindestens einem Auge auf den Versicherungsstatus seines Patienten,bleibt seine Praxis möglicherweise hinter der technischen Ausstattung zurück,die von Praxen geboten wird, in denen man sich nicht scheut, dem privat Ver-sicherten Vorrang zu geben. Auch diese Wirkung des Punktesystems solltenicht zu dem gehören, auf das eine „große Solidargemeinschaft“ stolz seinkann. Das Budget, unter dessen Diktat die Ärzte arbeiten sollen, führt indes-sen nicht nur zur Diskriminierung von Patientengruppen, sondern auch zurVerschwendung. Hausärzte werden der Versuchung ausgesetzt, keine teurenPräparate mehr zu verschreiben, weil sie fürchten, von den Kassen in Regressgenommen zu werden. Also verfallen sie auf einen Ausweg, der dem Patien-ten medizinisch hilft, aber der Versichertengemeinschaft wirtschaftlich scha-det: Sie überweisen an einen Facharzt, obwohl sie sich der Diagnose und derTherapie sicher sind.

    Gesundheitspolitiker, die auf solche Folgen ihrer marktfernen Systembaste-leien angesprochen werden, schieben die Verantwortung dafür vor allem denAnbietern von Gesundheitsleistungen zu: den Hausärzten, den Fachärzten,den Krankenhäusern, den Apothekern, der Pharmaindustrie. Sie offenbarendamit, wie wenig sie von der moralischen Dimension der Sozialen Marktwirt-schaft Ludwig Erhards verstanden haben: im Wettbewerb der Anbieter den Kun-den diskriminierungsfrei dienstbar zu sein. Das deutsche Gesundheitssystemkann das nicht leisten. Und das erkennbare Muster der Reform kann es schongar nicht. Hier waltet nicht die Soziale Marktwirtschaft, sondern die UnsozialeSozialwirtschaft.

    Hans D. Barbier

  • Ordnungspolitische Positionen

    4 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    Wie bringt man einenVerlustmacher an die Börse?Prof. Dr. Martin HellwigMax-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, Bonn

    � Die Diskussion um die Privatisierung der DB AG wirft vielfältige Fragen auf.Zwei sind von besonderer Bedeutung: Wie kann man ein Unternehmen an dieBörse bringen, das sich ohne staatliche Subventionen nicht trägt? Und: Wie istim Zuge der Privatisierung mit dem Umstand umzugehen, dass der Bund lautGrundgesetz für die Netzinfrastruktur der Bahn verantwortlich ist? Weitere As-pekte, etwa zu wettbewerbspolitischen, verkehrspolitischen oder haushaltspoli-tischen Implikationen der Bahnprivatisierung, werden hier ausgeklammert.1

    Abhängigkeit von Subventionen

    Ein Investor an der Börse möchte wissen, womit das Unternehmen sein Geldverdient und welchen Aufwand es dafür betreibt. Die DB AG bezieht ihreMittel im Wesentlichen aus drei Quellen: den Kundenentgelten für den Perso-nen- und Gütertransport, den Bestellerentgelten der Länder für den öffent-lichen Personennahverkehr und den Baukostenzuschüssen des Bundes. Wäh-rend Kundenentgelte und Bestellerentgelte der Länder die Transportleistun-gen der DB AG abgelten, werden die Baukostenzuschüsse als Subventionenvom Bund bezahlt, ohne dass die DB AG dafür unmittelbar eine Gegenleistungerbringen müsste.

    Abgesehen von Altlasten aus der Zeit vor der Bahnreform hat der Staat seit1994 jährlich knapp zehn Milliarden Euro für die Bahn aufgebracht, das ent-spricht etwa vier Prozent des Bundeshaushalts. Etwa zwei Drittel dieses Be-trags werden als „Regionalisierungsmittel“ den Ländern zur Verfügung ge-stellt und von diesen benutzt, um mit Bestellerentgelten zur Finanzierungdes Schienenpersonennahverkehrs beizutragen. Das restliche Drittel wird un-mittelbar vom Bund zur Finanzierung der Infrastruktur zur Verfügung ge-

    Zum Börsengang der Deutschen Bahn AG

    Die Bundesministerien für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und der Finanzen haben

    die Management- und Technologieberatung „Booz Allen Hamilton“ beauftragt, ein Gut-

    achten: „Privatisierungsvarianten der Deutschen Bahn AG‚ mit und ohne Netz“ zu erstel-

    len. Dieses sogenannte PRIMON-Gutachten ist im Januar 2006 erschienen. Ende Oktober

    2006 will der Bundestag über das „Ob“ und das „Wie“ der Bahnprivatisierung entscheiden.

    1 Der vorliegende Beitrag beruht auf einer Stellungnahme des Autors vor dem Ausschuss für Verkehr, Bauund Städtewesen des Deutschen Bundestages am 10. Mai 2006 (www.coll.mpg.de/pdf_dat/Deutsche-BahnStellungnahme.pdf).

  • Börsengang der Deutschen Bahn

    5Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    stellt. Der Bund kommt damit seiner grundgesetzlichen Verantwortung fürdie Infrastruktur nach.

    Ohne die Baukostenzuschüsse des Bundes könnte die Deutsche Bahn AG alsUnternehmen nicht überleben. Bilanziert man diese Zuschüsse und die mit ih-nen finanzierten Investitionen, so ist die Ertragsrate auf das von der DeutscheBahn AG insgesamt eingesetzte Kapital in jedem Jahr seit der Bahnreform ne-gativ und wird nach den Prognosen des zur Vorbereitung des Börsengangs er-stellten PRIMON-Gutachtens auch bis 2009 nicht über Null kommen, ge-schweige denn die von den Anlegern am Kapitalmarkt geforderten Ertragsra-ten erreichen.

    Allerdings kommen die zinslosen Darlehen und Baukostenzuschüsse des Bun-des in den Bilanzen der DB AG nicht vor. Da der Bund damit keine Erwartungauf eine Verzinsung verbindet, hat die DB AG sie in der Bilanz nicht passiviert,die damit finanzierten Investitionen nicht aktiviert und auch keine entspre-chenden Abschreibungen vorgenommen.

    Aber auch so ist die Prognose der Börsenfähigkeit per 2009 noch phantasievollgenug: Die laut PRIMON-Gutachten wichtigste Ertragsgröße Return on Capi-tal Employed (ROCE) lag zwischen 1994 und 2003 zumeist zwischen ein undzwei Prozent, während des Ertragseinbruchs 2001 und 2002 sogar noch niedri-ger. 2004 lag sie bei drei Prozent, 2005 bei fünf Prozent. Für 2009 wird sie aufüber acht Prozent prognostiziert. Die Prognose beruht auf der Planung derDB AG selbst bzw. auf einer unangebrachten Extrapolation eines aus den letz-ten zwei Beobachtungen erschlossenen Trends.

    Wiese ein anderes Unternehmen solche Geschäftszahlen auf, so würde sich dieFrage eines Börsengangs nicht stellen. Das Unternehmen müsste erst einmalunter Beweis stellen, dass sein Geschäftsmodell nachhaltig Erfolg hat, dasskurzfristig positive Ertragsentwicklungen nicht auf Sonderkonjunkturen zu-rückzuführen sind oder auf unechten Sparanstrengungen und Bilanzkosmetikberuhen, bei denen bestimmte Aufwendungen tatsächlich oder buchhalterischauf spätere Perioden verlagert werden.

    Jedoch ist die Fragwürdigkeit dieser Prognosen weniger wichtig als der Um-stand, dass das Netz der Bahn auch bei der unterstellten günstigen Entwick-lung dauerhaft auf die Baukostenzuschüsse des Bundes angewiesen ist. ImPRIMON-Gutachten wird daher betont, dass es nötig sei, den Kapitalmärktenunbedingte Sicherheit über die Verfügbarkeit der Baukostenzuschüsse zu ge-ben. Im Rahmen von Leistungs- und Finanzierungsvereinbarungen soll derBund garantieren, dass die Baukostenzuschüsse weiter fließen, in Höhe vonmindestens 2,5 Milliarden Euro jährlich für die Dauer von zehn Jahren.

    Kann man die Aussicht auf Subventionen an der Börse verkaufen?

    Standen bei der Privatisierung von Telekom und Post die wettbewerbspoliti-schen Fragen im Vordergrund, so ist bei der Bahn vorab zu klären, wie mit demUmstand umzugehen ist, dass dieses Unternehmen sich privatwirtschaftlichnicht trägt. Zumindest beim integrierten Börsengang verkauft man den Aktio-nären letztlich die Aussicht auf die Bundessubventionen.

    Mit der Abhängigkeit von Subventionen unterliegt das Geschäftsmodell derDB AG einem politischen Risiko. Die Leistungs- und Finanzierungsvereinba-rungen sollen dieses Risiko für die Aktionäre minimieren. Dazu wird im

  • Ordnungspolitische Positionen

    6 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    PRIMON-Gutachten ausgeführt, es sei wichtig, insbesondere bei Erst-Investi-tionen Fehlallokationen zu vermeiden und auf die betrieblichen Erfordernisseder DB AG abzustellen. Politischer Einfluss auf die Eisenbahninfrastruktur wer-de vom Kapitalmarkt grundsätzlich als negativ – als Veranlassung zu unwirt-schaftlichem Handeln – angesehen.

    Dass die Infrastrukturfinanzierung des Bundes als solche ein Politikum ist,wird bei diesem Vorschlag verdrängt. Mit den Baukostenzuschüssen trägt derBund der Bestimmung des Grundgesetzes Rechnung, dass über die Bahnin-frastruktur nicht nach rein privatwirtschaftlichen Kriterien entschieden wer-den soll. Nach diesen Kriterien nämlich müssten die Investitionen in das Netzdrastisch zurückgenommen oder sogar ganz unterlassen werden. Der Forde-rung, die DB AG müsse entschädigt werden, wenn politischer Einfluss sie zuunwirtschaftlichem Handeln zwinge, ist jedoch entgegenzuhalten, dass dieBaukostenzuschüsse selbst eine Leistung des Steuerzahlers sind, für die dieserein Eingehen des Unternehmens DB AG auf Belange der Allgemeinheit, etwaauf regionalpolitische Belange bei der Trassenführung für Hochgeschwindig-keitszüge, erwarten kann und muss.

    Den von der Infrastrukturplanung berührten allgemeinen Interessen steht dasUnternehmensinteresse der DB AG gegenüber. Der Konflikt ist unlösbar. AusSicht des Verfassungsgebers und des Steuerzahlers müssen bei der Verwen-dung der Bundesmittel neben den Unternehmensinteressen der DB AG auchdie Interessen der Allgemeinheit zur Geltung kommen. Dazu müssen die Ver-treter des Staates auch die Möglichkeit haben, bestimmte Mittelverwendungenzu verhindern. Dann ist aber die Verlässlichkeit der Mittel selbst infrage ge-stellt. Private Investoren würden es sich unter diesen Bedingungen zweimalüberlegen, ob sie die vom PRIMON-Gutachten für den Fall eines integriertenBörsengangs geschätzten acht Milliarden Euro bezahlen sollen.

    Konflikte zwischen privaten und öffentlichen Interessen

    Eine Privatisierung des Netzes bringt weitere Probleme mit sich. Nach Art. 87edes Grundgesetzes ist der Bund verpflichtet, zur Wahrnehmung seiner Verant-wortung für die Schieneninfrastruktur bei einer Privatisierung des Netzes we-nigstens eine Kontrollmehrheit von 51 Prozent der Aktien zu behalten. Damitstellt sich die Frage, wie und in welchem Interesse der Bund diese Kontroll-mehrheit einsetzt: Ist er Sachwalter der öffentlichen Interessen oder der priva-ten Investoren?

    Die privaten Aktionäre müssen befürchten, dass der Bund seine Aktienmehr-heit nutzt, um Entscheidungen durchzusetzen, die sie belasten. Das PRIMON-Gutachten schreibt dazu, dass der Bund dies bei der Telekom und der Postnicht getan habe, sondern im Wesentlichen Aktionärsinteressen verfolgt ha-be. Bei Telekom und Post war jedoch von Anfang an beabsichtigt, dem erstenBörsengang weitere Aktienverkäufe folgen zu lassen. Der Bund hatte daherein natürliches Interesse an hohen Aktienkursen. Bei der Bahn entfällt diesesInteresse spätestens dann, wenn der Aktienbesitz des Bundes in die Nähe der51-Prozent-Schranke kommt und weitere Verkäufe nicht mehr in Aussicht ste-hen. Sollte zu irgendeinem Zeitpunkt die Wahrung der von der Verfassunggebotenen Infrastrukturverantwortung des Bundes einen Rückkauf vonAktien erfordern, so könnte der Bund sogar Interesse an einem niedrigen Ak-tienkurs haben.

  • Börsengang der Deutschen Bahn

    7Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    Im Übrigen hat der Bund bei Telekom und Post keine weiteren finanziellenInteressen neben seiner Position als Aktionär. Bei der Bahn jedoch begründetdie Infrastrukturverantwortung des Bundes ein solches weiteres finanziellesInteresse. Dies könnte beispielsweise bewirken, dass der Bund Dividendenzah-lungen an die außenstehenden Aktionäre ablehnt, da Mittel, die einbehaltenund in die Bahninfrastruktur investiert werden, den Bedarf an Baukostenzu-schüssen mindern. Mehrheitsaktionär und Minderheitsaktionäre haben hierdiametral entgegengesetzte Interessen. Der Konflikt dürfte zu einem erheb-lichen Abschlag beim Emissionskurs führen.

    Für den Bund selbst stellt sich die Frage, inwieweit die vom Grundgesetz in-tendierte Verwendung der Stellung eines Mehrheitsaktionärs zur Wahrung derInfrastrukturverantwortung mit den aktienrechtlichen Pflichten eines Mehr-heitsaktionärs zu vereinbaren ist. Die Doppelfunktion als Wahrer des öffent-lichen Interesses und als Organ einer börsennotierten Aktiengesellschaft ver-wischt Zuständigkeiten und erschwert die Zurechnung von Verantwortung.Ordnungspolitisch geboten ist eine deutliche Trennung von privatwirtschaft-lichen und öffentlichen Interessen und Funktionen des Bundes. Ein Arrange-ment, bei dem die Infrastrukturverantwortung des Bundes durch eine Beteili-gung von 51 Prozent an einer ansonsten privatisierten Gesellschaft wahrge-nommen werden soll, läuft dem zuwider.

    In diesem Zusammenhang ist auch auf die Ambitionen der DB AG zu verwei-sen, als „nationaler Champion“ im Zuge der Liberalisierung der europäischenBahntransportmärkte eine international führende Marktstellung zu erreichen.Die Internationalisierungsstrategie der DB AG macht eine klare Trennung vonöffentlichen und privaten Belangen noch dringlicher. Wenn der Vorstand ei-nes privaten Unternehmens eine solche Strategie verfolgt, so ist das als Aus-übung autonomer Entscheidungskompetenzen zu respektieren. Jedoch solltendie Kosten und Risiken dieser Strategie nicht vom Steuerzahler getragen wer-den. Genau das geschieht aber, wenn der Staat mit 51 Prozent am Unterneh-men beteiligt ist. Eine Belastung des Steuerzahlers erfolgt auch, wenn die Auf-wendungen und Risiken internationaler Akquisitionen Rückwirkungen habenauf die Mittel, die der Bund zuschießen muss, um seiner Gewährleistungs-pflicht für die Infrastruktur zu genügen. Für den Bund als Mehrheitsaktionärbzw. für die Vertreter des Bundes im Aufsichtsrat des Unternehmens bestehthier ein untragbarer Interessenkonflikt.

    Diese Konflikte ließen sich vermeiden, wenn der Bund zu 100 Prozent dieUnternehmensteile an die Börse brächte, die zur Wahrnehmung der Infra-strukturverantwortung nicht benötigt werden, und zu 100 Prozent die Unter-nehmensteile behielte, die für die Wahrnehmung seiner Infrastrukturverant-wortung erforderlich sind. Die privatisierte Transportgesellschaft wäre dannfrei, ihre Internationalisierungsstrategie nach eigenem Gutdünken zu verfol-gen, ohne Rücksicht auf die Interessen des Fiskus oder der Allgemeinheit neh-men zu müssen.

    Großes Vermögen, geringe Ertragskraft

    Die laut PRIMON-Gutachten zu erwartenden Privatisierungserlöse von vier bis15 Milliarden Euro, je nach Privatisierungsvariante, fallen kaum ins Gewichtneben den Mitteln, die der Bund seit 1994 jährlich für das Eisenbahnwesenausgibt. Sie fallen auch kaum ins Gewicht neben dem Substanzwert der Bahn-infrastruktur. Allein die mit den Baukostenzuschüssen seit 1994 finanziertenund nicht bilanzierten Investitionen belaufen sich auf 38,4 Milliarden Euro.

  • Ordnungspolitische Positionen

    8 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    Berücksichtigt man ferner, dass die Bahn von alters her viele Immobilien in be-ster Zentrumslage der Großstädte besitzt, so ist zu vermuten, dass das Anlage-vermögen der Bahn eher bei 80 bis 100 Milliarden Euro liegt als bei den in derBilanz ausgewiesenen knapp 40 Milliarden.

    Im PRIMON-Gutachten spielt diese Zahl keine Rolle, denn das Gutachten be-wertet das Unternehmen als „Going Concern“, als Gegenwartswert der ausdem Unternehmensgeschäft für die Zukunft zu erwartenden Erträge abzüglichder Verbindlichkeiten. Der angegebene Wert von vier bis 15 Milliarden Eurospiegelt die geringe Ertragskraft des Unternehmens wider. Er steht in keinemVerhältnis zu den im Konzern eingesetzten Vermögenswerten.

    Diese Vermögenswerte sind aber vorhanden, wenn auch mit einer nach privat-wirtschaftlichen Kriterien unzureichenden Ertragskraft. Im Fall einer Liquida-tion gäbe es auch – anders als bei anderen Unternehmen – einen Käufer fürdiese Vermögenswerte: den Bund. Dieser ist verfassungsrechtlich verpflichtet,die Bahninfrastruktur aufrechtzuerhalten, auch wenn das privatrechtlich orga-nisierte Unternehmen DB AG liquidiert werden sollte. Da er zur Erfüllung sei-ner Gewährleistungspflichten auf die Infrastrukturanlagen des Unternehmensangewiesen ist, müsste er diese im Liquidationsfall von den Eigentümern er-werben, das heißt im Fall einer Insolvenz von den Gläubigern bzw. dem Insol-venzverwalter. Die Preise würden dann nicht davon abhängen, was diese Anla-gen als „Going Concern“ im Rahmen des privatwirtschaftlich nicht tragfähigenInfrastrukturunternehmens wert sind, sondern davon, was andere Käufer ge-gebenenfalls dafür zu zahlen bereit wären. Einschlägige Erfahrungen ausGroßbritannien und Neuseeland lassen erwarten, dass der dafür erforderlicheAufwand deutlich über dem „Going Concern“-Wert liegen und eine erheblicheBelastung für den Bundeshaushalt mit sich bringen würde. �

    Mit oder ohne Netz? – Für die Wett-bewerbsintensität ist das gleichgültigProfessor (em.) Dr. Dr. h.c. mult. Horst AlbachVorsitzender des Beirats der Deutschen Bahn AG

    � Gegenwärtig ist umstritten, ob eine Trennung von Infrastruktur und Betriebauf dem Schienennetz zu mehr Wettbewerb um Personen- und Güterverkehrs-leistungen auf der Schiene führt oder nicht. Viele Verkehrspolitiker fürchten,dass sie bei einer Börseneinführung des integrierten Bahnkonzerns, bei demSchienennetz und Bahnbetrieb in einem Unternehmen zusammenbleiben,Einfluss auf die Verkehrspolitik verlieren. Manche Gegner des Separationsmo-dells weisen darauf hin, dass bei Übernahme des Netzes in eine staatliche In-frastrukturbehörde Synergieverluste eintreten. Die folgenden Ausführungenberuhen auf Gutachten des BahnBeirats aus den Jahren 2005 und 2006, die inKürze der Öffentlichkeit vorgestellt werden.1

    1 Horst Albach (Hrsg.), Fortführung der Bahnreform. Materielle Privatisierung eines integrierten Kon-zerns. Empfehlungen des BahnBeirats, Heidelberg-Mainz 2006.

  • Börsengang der Deutschen Bahn

    9Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    Diskriminierungsfreier Zugang zum Netz

    In den aktuellen Erörterungen um die zukünftige Organisationsstruktur derDB AG besitzt der Zugang zum Schienennetz herausragende Bedeutung. Eswird diskutiert, ob sich die Netzintegration und der Wettbewerb verschiedenerAnbieter auf der Schiene ausschließen. Dabei wird im PRIMON-Gutachten –ohne hinreichende empirische Grundlage und an zunächst abstrakten wettbe-werbstheoretischen Erkenntnissen orientiert – von erheblichen Beschränkun-gen des Wettbewerbs aufgrund der Netzintegration ausgegangen.

    Zutreffend ist, dass es bei der Netzintegration zur Diskriminierung dritter Bah-nen kommen kann. Eine andere Frage ist jedoch, ob dieses Diskriminierungs-potenzial nennenswert genutzt werden kann. Das hängt davon ab, wie der Zu-gang zum Schienennetz reguliert wird.

    Der BahnBeirat hat sich in seinem Gutachten vom 15. Juni 2005 zu den wett-bewerbspolitischen Zielen der Bahnreform von 1991/1994 geäußert und sichnachdrücklich für Wettbewerb auf der Schiene ausgesprochen: „EffektiverWettbewerb auf der Schiene setzt einen diskriminierungsfreien Zugang zumEisenbahnnetz für Eisenbahnverkehrsunternehmen ohne eigenes Netz, alsodie Konkurrenten der Deutschen Bahn AG, voraus. (…) Die Entscheidung fürWettbewerb auf der Schiene ist – mit deutlicher Unterstützung Deutschlands –auch auf europäischer Ebene gefallen. Für einen solchen Wettbewerb auf derSchiene spricht insbesondere, dass dadurch der Wettbewerbsdruck maßgeblicherhöht wird und direkte Anreize zur Leistungssteigerung gesetzt werden. Obdiskriminierungsfreier Zugang zum Bahnnetz das Eigentum des Bundes amSchienennetz der Deutschen Bahn AG voraussetzt, ist strittig. Analogieschlüssezu anderen Netzsektoren (Straße, Telekommunikation, leitungsgebundeneEnergieversorgung) sind nur bedingt tauglich. Es sind jeweils die netzspezifi-schen Besonderheiten zu beachten.“ Bei funktionsfähiger Regulierung gibt eskeinen Unterschied zwischen dem Integrationsmodell und dem Separations-modell. Der BahnBeirat hat sich daher dafür ausgesprochen, dass der Regulie-rungsbehörde die Netzzugangsregulierung und dem Bundeskartellamt die all-gemeine Missbrauchsaufsicht obliegt.

    Stetig gewachsene Intensität des Wettbewerbs

    Nach erneuter Veränderung des Trassenpreissystems im Jahr 2001 ist hin-sichtlich seiner Anwendung kaum noch auf Diskriminierungstatbeständen be-gründete Kritik erfolgt. Kritische Diskussionen erfolgten hinsichtlich derBahnstrompreise, der Anlagenpreise, der Stationspreise, der Trassenanmel-defristen und des Netzzustands. Zum wesentlichen Teil sind diese Kritikpunk-te inzwischen bereinigt worden. Beim Vertrieb der DB Netz AG wird auch vonDritten das erfolgreiche Bemühen anerkannt, Diskriminierungen bei derTrassenvergabe zu vermeiden. Das gilt auch für die in der praktischen Durch-führung schwierige Aufgabe, die Trassenwünsche in den Netzfahrplänen zupositionieren.

    Der Wettbewerb auf dem deutschen Schienennetz hat sich seit der Bahnreformpositiv entwickelt. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Netzöffnung so-wohl für dritte Anbieter als auch für die DB AG erhebliche Vorbereitungen nö-tig machte. Zudem setzte die Regionalisierung des Schienen-Personennahver-kehrs (SPNV) erst 1996 ein. Unter Berücksichtigung der notwendigen Experi-mentier- und Erfahrungszeiträume, der Beschaffung von Fahrzeugen und des

  • Ordnungspolitische Positionen

    10 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    Aufbaus von operativen Geschäftseinheiten kann erst seit Ende der 90er-Jahreeine aussagefähige Marktbeobachtung erfolgen.

    Im SPNV – dem derzeit noch wichtigsten Teil des Schienenverkehrs der DB AG– intensiviert sich der Wettbewerb stetig. Der Anteil von Dritten stieg zwischen2000 und 2005 von 6,4 Prozent auf 13,2 Prozent. Es ist davon auszugehen, dasssich diese Entwicklung aufgrund veränderter Ausschreibungsverfahren fort-setzen und die Marktposition der DB AG weiter angegriffen wird. Nicht er-kennbar ist jedoch, weshalb bei einer Abtrennung des Netzes vom Bahnbetriebgrößere zusätzliche Marktanteile für dritte Bahnen anzunehmen sind. Vieleshängt von den Modalitäten für die Ausschreibung und die Vergabe von Auf-trägen ab.

    Bezogen auf die relativ kurze Beobachtungsphase zwischen 2000 und 2005 istder Erfolg des Wettbewerbs auf der Schiene erheblich. Das gilt vor allem, wennman berücksichtigt, dass die gefahrenen Zugkilometer im gesamten SPNV um7,1 Prozent gewachsen sind, während die Leistung der DB AG um 0,5 Prozentabnahm.

    Im Schienengüterverkehr (SGV) ist das Hinzugewinnen von Marktanteilen fürdritte Bahnen schwieriger als im SPNV bei den öffentlichen Aufgabenträgern.Jeder Auftrag muss im Wettbewerb erlangt werden; die Verträge laufen imUnterschied zum SPNV nur über begrenzte, oft kurze Zeiträume und ohne Be-rücksichtigung von Abschreibungszeiträumen für eingesetztes Material. Den-noch haben dritte Bahnen auch in diesem Geschäftsfeld erhebliche Marktan-teilsgewinne realisieren können, vor allem, weil sie sich auf den Ganzzugver-kehr konzentriert haben. Im Zeitraum von 1999 bis 2005 konnten Dritte ihreJahresleistung von einer Milliarde Tonnenkilometer auf 13,5 Milliarden stei-gern, während der Gesamtmarkt des SGV lediglich um 25 Prozent wuchs.

    Im Rahmen der Wettbewerbsdiskussion wird häufig der Schienenpersonen-fernverkehr (SPFV) als Beispiel für erschwerten Marktzutritt Dritter genannt.Tatsächlich ist der Marktanteil von dritten Bahnen in Deutschland auf zwei sin-guläre Anbieter mit niedrigen Zugfrequenzen beschränkt. Dies hat mehrereUrsachen, die aber nicht auf Diskriminierung zurückzuführen sind. Der er-schwerte Marktzugang liegt begründet in aufwendigem Fahrzeugmaterial,komplizierten Wartungsaufgaben bei großräumiger Verkehrsbedienung, einerschwierigen Preissituation durch marktstarke Kundenbindungsinstrumenteder DB AG (Bahncard, Prämiensystem, traditionelle Rabattstrukturen), derNichtrealisierbarkeit von Taktfahrplänen und vergleichbarer Vernetzung wiebeim Anbieter DB AG und schließlich in der Sicherung kostendeckender Zug-auslastungen.

    Der Vorwurf, dass nur umwegintensive Trassen für dritte Fernverkehrsbetrei-ber zur Verfügung gestellt werden, ist kein generell wettbewerbspolitisch rele-vanter Tatbestand. Hoch belastete Hauptverkehrsstrecken lassen nur begrenztzusätzliche und in der Regel außer Takt verkehrende Züge zu.

    Umstritten ist, ob der Wettbewerb im SPNV funktionsfähig ist. Es wird behaup-tet, dass im Vergabeverfahren der dominante Anbieter DB AG im Vorteil sei,weil er durch Drohungen die Bundesländer zwingen könnte, den Auftrag andie DB Regio zu vergeben. Bisher dominieren in der Tat die freihändigen Ver-gabeverfahren. So können die Länder einen bestimmten Anbieter mit derDurchführung der Verkehrsleistungen gegen Entgelt beauftragen. Vom heuti-gen Marktvolumen sind rund 21 Prozent im Ausschreibungsverfahren verge-ben worden. Der BahnBeirat ist zum Ergebnis gekommen, dass die Bahn kaum

  • Börsengang der Deutschen Bahn

    11Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    Chancen hat, die Länder zu „erpressen, sie zu locken und glaubwürdig zu dro-hen“. Vielmehr ist es umgekehrt: Die Länder selbst haben die Möglichkeit, derDB AG „glaubwürdig zu drohen“, weil es sich die DB AG nicht erlauben kann,ein Bundesland als Kunden zu verlieren. Als Unternehmen mit hohen fixenKosten ist sie auf jeden Deckungsbeitrag angewiesen.

    Säkulare Trends

    Unter allen Sachkennern besteht Konsens, dass sich die Wettbewerbsintensitätauf der Schiene in der näheren Zukunft nicht wesentlich verändern wird,gleichgültig, ob das Separationsmodell oder das Integrationsmodell verwirk-licht wird. Daher hat das PRIMON-Gutachten Annahmen über die Wettbe-werbswirkungen der untersuchten Organisationsmodelle bis 2020 getroffen.So wird zum Beispiel vorausgesagt, dass der Marktanteil der DB AG im SPNVvon heute 86 Prozent auf 56 Prozent im Jahre 2020 absinken wird, wenn das Ei-gentumsmodell realisiert wird, bei dem die Infrastruktur Eigentum einerBundesbehörde wird. Beim integrierten Modell verliert die DB AG nach denAusführungen im PRIMON-Gutachten weniger: Der Marktanteil sinkt nur auf60 Prozent. Der Unterschied von vier Prozentpunkten über einen Zeitraumvon 15 Jahren ist nicht signifikant. Zudem wird im Jahr 2020 der Wettbewerbauf der Schiene wahrscheinlich auch maßgeblich durch die Konkurrenz auf ei-nem einheitlichen europäischen Schienennetz gekennzeichnet sein. Einflüssedes potenziellen internationalen Wettbewerbs auf der Schiene klammert dasPRIMON-Gutachten jedoch völlig aus.

    Der Wettbewerb auf der Schiene ist gekennzeichnet durch einen marktmäch-tigen Anbieter und eine wachsende Anzahl mittelgroßer und großer Konkur-renten. Die Prognose, dass der Wettbewerb zunehmen wird, ist plausibel. DieWettbewerbsintensität wird aber nicht messbar unterschiedlich sein, gleichgül-tig, ob die Separation oder die Integration verwirklicht wird. Diese Voraussagegeht von einer funktionsfähigen Regulierung der Schienenverkehrsmärkteaus. Der BahnBeirat sieht aufgrund der bisherigen Erfahrungen mit demBundeskartellamt und der Europäischen Wettbewerbsdirektion keinen Grund,an der Effizienz der Missbrauchsaufsicht in Europa zu zweifeln. Die Regulie-rungsbehörde wäre sicher nicht geschaffen worden, wenn man an der Effizienzihrer Kontrolle eines diskriminierungsfreien Zugangs zu den Schienenver-kehrsmärkten Zweifel gehegt hätte. Alle anderen Kriterien sprechen für einenBörsengang des integrierten Bahnkonzerns. �

  • Ordnungspolitische Positionen

    12 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    Das Beste wäre:Verzicht auf die BahnprivatisierungDr. phil. Winfried WolfVerkehrswissenschaftler und Sprecher in der Kampagne „Bahn für alle“

    � Mit dem Verkauf des Bundeseigentums an der DB AG soll erreicht werden,dass die Kosten der Schiene für die Steuerzahler gesenkt, die Servicefreund-lichkeit der Bahn erhöht und sowohl Personen- als auch Güterverkehr auf dieSchiene verlagert wird. Erstaunlich ist, dass dieselben Ziele bereits 1994 ver-kündet wurden, als mit der Bahnreform Bundesbahn und Reichsbahn vereintwurden und die Deutsche Bahn AG in 100-prozentigem Eigentum des Bundesgegründet wurde. Die Bilanz des Zusammenschlusses sieht wie folgt aus:

    � Der Bund zahlt laut Bundesrechnungshof inzwischen mehr für die Schieneals vor 1994 (jährlich rund zwölf Milliarden Euro). Gleichzeitig ist die DB AG,die 1994 schuldenfrei startete, mit 21,5 Milliarden Euro so hoch verschuldetwie die Bundesbahn Ende 1993.

    � Bei Umfragen nimmt die DB AG unter allen großen Unternehmen beimKriterium „Kundenfreundlichkeit“ in der Regel den letzten Platz ein.

    � Die Eisenbahn hat im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln zwischen 1993und 2004 weiter Bedeutung verloren. Dies gilt insbesondere für den Fernver-kehr, der – im Gegensatz zum Nahverkehr – eigenwirtschaftlich betrieben wird.Hier gab es sogar einen absoluten Rückgang der Verkehrsleistungen.

    Sind privatisierte Bahnen erfolgreicher?

    Privatisierungsbefürworter weisen darauf hin, dass im Unterschied zur inBundeseigentum befindlichen DB AG private Bahnen eine positive Bilanz vor-zuweisen hätten. Das sei ein Erfolg der Bahnreform. Tatsächlich gibt es privateBahnbetreiber vor allem in zwei Bereichen: im Personennahverkehr sowie inTeilsegmenten des Güterverkehrs. Beim Güterverkehr sind die Privaten dorterfolgreich, wo die DB AG freiwillig das Feld räumt oder wo – zum Beispiel imChemie-Bereich – Spezialtransporte über größere Entfernungen gefahren wer-den, was auf „Rosinenpickerei“ hinausläuft.

    Im Personenverkehr engagieren sich die Privaten zu 98 Prozent im Nahver-kehr; rund zwei Drittel der Einnahmen bestehen in diesem Bereich allerdingsaus staatlichen Unterstützungszahlungen (Regionalisierungsmittel des Bun-des). Wettbewerb bedeutet hier vor allem Wettbewerb um Staatsgelder. Die Ge-winne von DB Regio – der Nahverkehrstocher der DB AG – und der Privatbah-nen bewegen sich auf gleichem Niveau.

    Es ist bezeichnend, dass kein Privater in größerem Umfang in den Personen-fernverkehr eingestiegen ist. Dabei hat die DB AG im Jahr 2001 mit der Aufga-be der Zuggattung „InterRegio“ ein wahrhaft weites Feld geöffnet. Das ist keinWunder. Der Verkehrsmarkt wird seit langer Zeit vom Auto und vom Flugzeugbestimmt. In Deutschland werden jährlich rund 1 000 Kilometer neue Straßengebaut und etwa 500 Kilometer des Schienennetzes abgebaut.

  • Börsengang der Deutschen Bahn

    13Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    Mit der Bahnreform 1994 wurden die gemeinwirtschaftlichen Vorstellungen,wonach der Bund Verantwortung für die Daseinsvorsorge auch im Bahnbe-reich trage, zwar relativiert, aber nicht völlig aufgegeben. Der 1993 eingefügteGrundgesetz-Artikel 87e, in dem gemeinhin nur eine „Infrastruktur-Gewähr-leistungspflicht“ des Bundes gesehen wird, lautet: „Der Bund gewährleistet,dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen,beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Eisenbahnen des Bundes so-wie deren Verkehrsangeboten auf diesem Schienennetz, soweit diese nicht denSchienenpersonennahverkehr betreffen, Rechnung getragen wird. Das Nähe-re wird durch Bundesgesetz geregelt.“

    Hiernach ist der Bund dafür verantwortlich, dass es auf dem Schienennetz Ver-kehrsangebote auch im Fernverkehr gibt, die „dem Wohle der Allgemeinheit,insbesondere den Verkehrsbedürfnissen (…) Rechnung“ tragen. Offensicht-lich stehen aber die Prinzipien eines privaten Eisenbahnbetriebs in Wider-spruch zu der Vorgabe, Verkehrsangebote zu machen, die „dem Wohle der All-gemeinheit Rechnung tragen“.

    Fünf Problembereiche

    Mit der materiellen Privatisierung der Bahn würde jedoch nicht nur ein mög-licherweise vage formulierter Verfassungsauftrag verletzt. Die realen Konse-quenzen sind weitreichend – fünf seien hier skizziert:

    1. Ausverkauf von gesellschaftlichem Eigentum

    Das gesamte Vermögen der Bahn – Infrastruktur und rollendes Material – wirdauf einen Wert von 100 bis 150 Milliarden Euro geschätzt (vgl. das Gutachtenvon Karl-Dieter Bodack, 1. Anhörung des Verkehrsausschusses des Bundestagszur Bahnprivatisierung vom 10. Mai 2006). In der Bilanz der DB AG wird einAnlagewert von 40 Milliarden Euro ausgewiesen. Die Differenz rührt aus zweiKunstgriffen: Erstens tauchten zwei Drittel des Anlagewerts, den Bundesbahnund Reichsbahn Ende 1993 auswiesen, in der Eröffnungsbilanz der DB AGnicht mehr auf. Damit wurden günstige Startbedingungen für die Bahnreformgeschaffen: Niedrigere Abschreibungen ermöglichten höhere Gewinne bzw.niedrigere Verluste. Zweitens wurden die Bauzuschüsse des Bundes für dasSchienennetz in Höhe von 40 Milliarden Euro, die im Zeitraum 1994 bis 2005gezahlt wurden, nicht bilanziert. Doch diese Zuschüsse sind spätestens dann re-ales Anlagevermögen der Bahn, wenn private Investoren einsteigen.

    Die Bundesregierung veranschlagt im Fall eines integrierten Börsengangs Ein-nahmen in Höhe von nur zehn bis 15 Milliarden Euro. Selbst wenn nur derBahnbetrieb verkauft wird und das Netz Eigentum des Bundes bleibt, ist dasrollende Material 20 bis 25 Milliarden Euro wert. Doch die Bundesregierungerwartet bei einem Verkauf des reinen Schienentransport-Sektors lediglichEinnahmen von vier bis sieben Milliarden Euro. In beiden Fällen entsprechendie erwarteten Einnahmen nur einem Bruchteil des tatsächlichen Werts.

    2. Hoch subventionierter privater Schienenverkehr

    Zugunsten der Bahnprivatisierung wird vorgebracht, sie würde den Bundes-haushalt entlasten. Tatsächlich sehen alle Privatisierungsmodelle vor, dass pa-rallel mit der Kapitalprivatisierung in einer für rund zehn Jahre festgeschrie-

  • Ordnungspolitische Positionen

    14 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    benen „Leistungs- und Finanzierungs-Vereinbarung“ die jährlichen Unterstüt-zungsleistungen für das Schienennetz gesetzlich verpflichtend festgehaltenwerden. Die Höhe der Regionalisierungsgelder für den Nahverkehr steht oh-nehin fest. Das aber heißt: Die möglicherweise erzielbaren kurzfristigen Ein-nahmen durch den Verkauf des Bundeseigentums an der DB AG werden be-reits im ersten Jahr bei Weitem übertroffen durch die Unterstützungsleistun-gen, die der Schiene – nunmehr in erheblichem Maß den privaten Anteilseig-nern – zufließen würden.

    Somit werden im Fall einer Bahnprivatisierung Steuermittel eingesetzt, um pri-vate Investoren zu alimentieren. Die Bahnprivatisierung verstößt damit gegendie Gebote von Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit: Ein zentrales Instru-ment zur sinnvollen Lenkung der Verkehrsentwicklung wird aus den öffent-lichen Händen gegeben und dem Diktat der Gewinnmaximierung unterwor-fen. Jährlich werden bis zu zwölf Milliarden Euro an Steuergeldern für eineFörderung der privaten Bahneigentümer ausgegeben, während der Staat prak-tisch keine Kontrolle über die Verwendung dieser Mittel hat.

    3. Niedrige Kreditwürdigkeit

    Hartmut Mehdorn, der Vorstandsvorsitzende der DB AG, geht davon aus, dass sichdie Bahn nach der Privatisierung „frisches Kapital aus dem Markt holen“ könne.Das Gegenteil ist der Fall. Eine privatisierte DB AG hätte zunächst eine deutlichniedrigere Kreditwürdigkeit als die DB AG in Bundesbesitz, und die Aufnahmevon Fremdkapital wäre teurer. Sodann würden private Investoren darauf drän-gen, die derzeitige offiziell angegebene Rendite von zwei Prozent zumindest zuvervierfachen, und somit dem Unternehmen Einnahmen entziehen.

    4. Einflussnahme von konträren Interessen

    Alle Modelle eines Bahn-Börsengangs sehen vor, dass private Investoren Ei-gentümer oder Miteigentümer werden, die dann Entscheidungsbefugnisse hät-ten. Wenn man bedenkt, dass das Auto und das Flugzeug den Verkehrsmarktdominieren, ist auch vorstellbar, dass sich Investoren engagieren, die demSchienenverkehr widersprechende Interessen vertreten. In Großbritannien en-gagierten sich vor allem Bus- und Fluggesellschaften als Betreiber von Bahn-unternehmen. Solche Investoren werden Eisenbahnverkehr nur dort mit En-gagement betreiben, wo er ihren sonstigen Interessen nicht widerspricht.

    5. Rückläufiger Personenverkehr

    Das PRIMON-Gutachten geht davon aus, dass das Schienennetz im Fall einerBahnprivatisierung verkleinert wird. Im Gespräch ist ein Abbau von weiteren5 000 km des Netzes. Damit würde die Gesamtlänge auf weniger als 30 000 kmreduziert und der Stand von 1875 erreicht. Schon dieser Umstand wird zu ei-nem deutlichen Rückgang des Schienenverkehrs führen.

    Das Bestreben privater Investoren, möglichst hohe Renditen zu erzielen, führtdazu, dass nur rentable Verbindungen betrieben werden. Im PRIMON-Gut-achten wird prognostiziert, dass unabhängig vom Privatisierungsmodell derSchienenpersonennahverkehr weitgehend auf dem erreichten Niveau ver-harrt. Dabei sind die beschlossenen Kürzungen der Regionalisierungsmittelnoch nicht berücksichtigt. Der Personenfernverkehr soll sogar absolut rück-

  • Börsengang der Deutschen Bahn

    15Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    läufig sein. Lediglich im Schienengüterverkehr soll es unter bestimmten Be-dingungen zu Anteilsgewinnen kommen.

    Das Eigentumsmodell wirft viele Fragen auf

    In den zwei Anhörungen im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages er-hielt die Privatisierung des integrierten Unternehmens so gut wie keine Unter-stützung. Seit Juni 2006 wird daher das sogenannte Eigentumsmodell disku-tiert: Das Netz wird von der DB AG abgetrennt und bleibt im Besitz des Bun-des. Doch die zu privatisierende DB AG wird allein zuständig bleiben für dieBewirtschaftung des Netzes. Dazu zählt auch die Kontrolle über die Investitio-nen in das Netz. Da es bei dieser Variante einen engen Zusammenhang zwi-schen der Transportgesellschaft DB AG und dem formell staatlichen Netz ge-ben wird, darf – so die im PRIMON-Guachten vertretene Auffassung – dieDB AG nur zu 49 Prozent in das Eigentum von privaten Investoren übergehen.

    Das Eigentumsmodell scheint die Schwierigkeiten, die es mit den anderen Mo-dellen gibt, zu lösen: Der Bahnbetrieb wird privatisiert, das Netz bleibt unterstaatlicher Kontrolle, und beide Teile bleiben eng miteinander verbunden.Doch einige wichtige Fragen bleiben unbeantwortet, zum Beispiel: Wo verblei-ben die in der AG Station & Service zusammengefassten rund 5 500 Bahnhöfe?Wenn sie weiterhin der teilprivatisierten DB AG gehören, dann verfügt dieseüber Hunderte Gebäude in Citylagen, in die in den letzten 150 Jahren immen-se Summen öffentlicher Gelder geflossen sind.

    Das PRIMON-Gutachten untersucht fünf Privatisierungsmodelle:

    � das „Integrierte Modell“, das im Wesentlichen der aktuellen gesellschafts-rechtlichen Struktur des DB-Konzerns mit einer Management-Holding ent-spricht;

    � das „Eigentumsmodell“, welches eine Ausgliederung des Eigentums an derSchieneninfrastruktur auf ein Wirtschaftsunternehmen vorsieht, dessen Ge-sellschaftsanteile vom Bund gehalten werden;

    � das „Eigentumsmodell in einer Ausgestaltungsvariante“ mit Auftragsver-hältnis, in dem nicht nur die Vermögensverwaltung des Eigentums, sondernauch Aufgaben wie Trassenvergabe sowie bestimmte übergeordnete (steu-ernde) Aufgaben des Infrastruktur-Managements (Planung) auf den Eigentü-mer der Infrastruktur übergehen;

    � das „Finanzholding-Modell“ mit einer unmittelbaren Bundesbeteiligung ander Infrastruktur, in dem die Holding nur mehr vermögensverwaltende Tätig-keiten wahrnimmt;

    � das „Getrennte Modell“, das eine vollständige Trennung zwischen Infra-struktur und Betrieb vorsieht. Privatisiert werden sollen materiell lediglich dieTransportunternehmen (in diesem Modell bis zu 100 Prozent möglich).

    Fünf Modelle zur Bahnprivatisierung

  • Ordnungspolitische Positionen

    16 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    Im Mai 2006 wurde nach Untersuchungen des Bundesrechnungshofs bekannt,dass die DB AG Bahnhöfe und Trassen nicht, wie seit 1999 gesetzlich erforder-lich, in den Bilanzen der Infrastrukturgesellschaften Netz AG und AG Station& Service verbuchte. Stattdessen wurden sie der Holding DB AG zugeschlagen.Selbst wenn die an der falschen Stelle bilanzierten Objekte noch rechtzeitig vorder materiellen Privatisierung der DB AG „umgebucht“ werden sollten, bleibtes dabei, dass der DB Holding zwischen 1999 und 2006 Einnahmen zugeflos-sen sind, die eigentlich der Netz AG oder Station & Service hätten zufließenmüssen. Beide Gesellschaften bzw. deren Nachfolger sind entsprechend unter-finanziert.

    Von den 21,5 Milliarden Euro Schulden, die auf der DB AG lasten, entfallen 15Milliarden auf die Netz AG. Wenn das Netz herausgetrennt wird und beimBund verbleibt, übernimmt der Bund 60 Prozent der Schulden, die die DB AGim Zeitraum 1994 bis 2006 anhäufte. Damit kommt es innerhalb von zwölf Jah-ren zu einer zweiten Entschuldung der Bahn. Allein die Übernahme dieserBahnschulden läge beim Doppelten des Betrags, den der Bund mit einem Ver-kauf von 49 Prozent der DB AG erzielen könnte.

    Die entscheidende Kritik am Eigentumsmodell lautet allerdings, dass es sich inder Praxis kaum von der Privatisierung des integrierten Unternehmens unter-scheiden wird. Die teilprivatisierte DB AG bleibt faktisch Herr über das Netz.Sie wird nicht nur Wartung und Unterhalt, sondern weitgehend auch die In-vestitionstätigkeit im Netz kontrollieren. Dem Bund ist es bisher nicht gelun-gen, die DB AG zu kontrollieren, obwohl sie sich zu 100 Prozent in seinem Ei-gentum befindet. Es steht zu befürchten, dass es ihm bei einer teilprivatisiertenDB AG erst recht nicht gelingen wird, den Konzern zu kontrollieren.

    Man muss sich fragen, warum die Deutsche Bahn AG überhaupt privatisiertwerden soll. Die vorgeschlagenen Modelle haben negative Konsequenzen fürdie Schiene als Verkehrsmittel und bringen für die öffentliche Hand eher Ver-teuerungen mit sich. Warum gibt es keine Untersuchung zu Modifizierungendes Status quo, also einer optimierten Bahn in öffentlichem Eigentum? DieSchweizerischen Bundesbahnen sind ein erfolgreiches Beispiel für eine de-zentralisierte Organisation im öffentlichen Eigentum. Sie fahren wirtschaft-licher als der deutsche Schienenverkehr, benötigen aber nur ein Drittel derstaatlichen Unterstützung. Laut PRIMON-Gutachten lagen zwischen 1995 und2003 die staatlichen Zuwendungen je Personen- und Tonnenkilometer in derSchweiz bei jährlich 2,4 Cent, in Deutschland bei sieben Cent.1 �

    1 Weitere Informationen unter www.bahn-fuer-alle.de

  • 17Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    In den letzten Dekaden haben die sogenanntenNormalarbeitsverhältnisse – das heißt: die abhän-gige, sozialversicherungspflichtige und unbefriste-te Vollzeitbeschäftigung – einen Bedeutungsver-lust erlitten. Beschäftigungen werden vermehrt inTeilzeit oder in selbständiger Tätigkeit ausgeübt.Oft sind sie nicht oder nicht voll sozialversiche-rungspflichtig, oder sie sind befristet oder als Leih-arbeitsverhältnis ausgestaltet.

    In gesamtwirtschaftlicher Perspektive sind damitzwei Fragen aufgeworfen. Die eine befasst sich mitden Niveaueffekten des Wandels der Erwerbsfor-men: Sie fragt, ob ohne diesen Wandel mehr Er-werbstätige beschäftigt wären. Die zweite Fragezielt auf die Durchlässigkeit des Arbeitsmarktes:Erleichtern atypische Beschäftigungsverhältnisseden Übergang aus der Arbeitslosigkeit in den Ar-beitsmarkt und erfüllen damit eine Brückenfunk-tion auf dem Arbeitsmarkt?

    Der empirische Befund

    Schon zu Beginn der 80er-Jahre wurde der Wandelder Erwerbsformen deutlich, und zwar mit der zu-nehmenden Bedeutung der Teilzeitbeschäfti-gung.1 Seit den 90er-Jahren sind die befristete Be-schäftigung, selbständige Tätigkeiten und vor al-lem die Leiharbeit stärker gewachsen als die Zahlder Erwerbstätigen insgesamt.2

    Gemessen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigenvon knapp 39 Millionen Personen stellte die Teil-zeitbeschäftigung 2005 mit gut elf Millionen dengrößten Teil der atypischen Erwerbsformen. DieZahl der Selbständigen lag bei rund 4,3 Millionen.Etwa 2,7 Millionen Menschen waren befristet be-schäftigt. Die Leiharbeit spielte im ersten Halbjahr2005 mit durchschnittlich gut 450 000 Beschäftig-ten eine relativ untergeordnete Rolle. Dieser Be-reich wächst stark, aber sein hohes Wachstum setztauf einem relativ geringen Niveau auf.

    Ursachen des Wandels

    Die Gründe für den Wandel der Erwerbsformensind vielfältig. Neben den Entscheidungen der Ar-beitsnachfrager auf Betriebsebene und den Präfe-renzen der Arbeitsanbieter sind exogene Faktorenwie die wirtschaftliche Lage von großer Bedeu-tung. Vor allem aber sind institutionelle Einflüssehervorzuheben. Dabei geht es sowohl um die for-mal-rechtliche Struktur des Arbeitsmarktes undder angrenzenden Märkte als auch um die politi-sche Ausgestaltung durch arbeitsmarktpolitischeMaßnahmen.

    1. Institutionelle Faktoren

    Die institutionellen Faktoren haben für die Ent-wicklung neuer Erwerbsformen große Bedeutung,weil sie die Handlungsspielräume am Arbeits-markt unmittelbar bestimmen. Besonders wichtigsind dabei die Sozialabgaben, das Arbeitsrecht so-wie die Rolle der passiven und der aktiven Arbeits-marktpolitik.

    Die Sozialversicherungsbeiträge sind in den letztenDekaden kontinuierlich gestiegen. Seit Mitte der90er-Jahre haben sie sich auf hohem Niveau stabili-siert. Im Jahr 2005 betrugen sie durchschnittlich

    Die Zunahme atypischer Beschäftigung:Ursachen und FolgenDr. Martin Dietz/Dr. Ulrich WalweiInstitut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB), Nürnberg

    Leiharbeit und befristete Beschäftigung eröffnen gering Qualifizierten und Arbeitslosen die Chance auf eine Vollzeitbe-

    schäftigung. Sie geben den Unternehmen größere Flexibilität bei der Personalplanung. Teilzeitarbeit hilft den Arbeitneh-

    mern, private und berufliche Wünsche in Einklang zu bringen.

    1 Vgl. Edeltraud Hoffmann/Ulrich Walwei, Normalarbeitsverhält-nis: ein Auslaufmodell? Überlegungen zu einem Erklärungsmodellfür den Wandel der Beschäftigungsformen, in: Mitteilungen ausder Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Jahrgang 31, Heft 3,1998, Seiten 409-425.2 Da die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung noch starkdurch Übergangsprozesse und damit durch Sonderfaktoren be-stimmt waren, wird im Folgenden der Zeitraum von 1994 bis 2005betrachtet. Vgl. Hans-Uwe Bach/Christian Gaggermeier/SabineKlinger, Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung: Woherkommt die Talfahrt?, IAB Kurzbericht Nr. 26, 2005.

  • Zukunft der Arbeitsgesellschaft

    18 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    41,7 Prozent des Bruttolohns. Hohe Sozialabgabenbewirken unter anderem, dass die davon ganz oderteilweise befreiten Erwerbsformen wie die gering-fügige Beschäftigung und selbständige Tätigkeitenin Form von Ein-Personen-Unternehmen relativ at-traktiver werden und folglich den Normalarbeits-verhältnissen vorgezogen werden.

    Auf diese Weise ist auch der Anstieg der geringfü-gigen Beschäftigung zu erklären. Mit dem zweitenGesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeits-markt (Hartz II) wurde die sozialversicherungs-freie Verdienstgrenze für diese Tätigkeiten von325 auf 400 Euro im Monat erhöht. Arbeitgeberzahlen seit Juli 2006 eine pauschale Abgabe von 30Prozent des Einkommens. Auch die Regelungenfür die Midi-Jobs sowie die wieder eingeführte So-zialversicherungsfreiheit bei der ersten Nebenbe-schäftigung machen das Normalarbeitsverhältnisweniger attraktiv.

    Mit Blick auf das Arbeitsrecht sind vor allem Kün-digungsschutzregelungen von Interesse. Diese um-fassen den Schutz vor Einzel- und Massenentlas-sungen sowie Regelungen für befristete Beschäfti-gung und Leiharbeit. Die Veränderungen in denvergangenen Dekaden haben bei befristeter Be-schäftigung und Leiharbeit größere Handlungs-spielräume geschaffen. Interessant ist dabei, dassdiese Reformen in eine Richtung gegangen sind,die den Lockerungen im Kündigungsschutz ent-gegengesetzt ist: Während die Reform des Kündi-gungsschutzes quasi zu einer Neudefinition desNormalarbeitsverhältnisses führt, verstärkt die De-regulierung bei den temporären Erwerbsformenderen Erosionstendenzen.

    Zu den wichtigen institutionellen Rahmenbedin-gungen für die Entwicklung der Erwerbsformengehört schließlich die Arbeitsmarktpolitik. Die Ma-xime des stärkeren Forderns zwingt auf der Ar-beitnehmerseite zu mehr Flexibilität und somitauch zu mehr Zugeständnissen hinsichtlich der Er-werbsformen.3 Auch die geringen Hinzuverdienst-möglichkeiten begünstigen die Teilzeitbeschäfti-gung, insbesondere die Mini-Jobs.4

    Schließlich sollen Arbeitsbeschaffungs- und Struk-turanpassungsmaßnahmen (ABM und SAM)ebenso wie die 2005 eingeführten Arbeitsgelegen-

    heiten Brücken zur regulären Beschäftigung bau-en. Diese Maßnahmen sind der befristeten Be-schäftigung zuzurechnen. Die Förderung der Exis-tenzgründung aus der Arbeitslosigkeit heraus be-einflusst die Zahl der Selbständigen. Personen inder vermittlungsorientierten Arbeitnehmerüber-lassung (Personal-Service-Agenturen) erhöhen dieZahl der Leiharbeitnehmer.5

    2. Betriebliche Personalpolitik

    Für Unternehmen wird es aufgrund des zuneh-menden internationalen Wettbewerbs immerwichtiger, beim Einsatz der ProduktionsfaktorenFlexibilität zu besitzen. In diesem Zusammenhangsind nicht nur die Brutto-Arbeitskosten von Be-deutung, sondern auch die Kosten, die bei Neu-einstellung und Entlassung von Mitarbeitern an-fallen. Zu diesen Fluktuationskosten zählen nebenden Kosten der Kündigung auch Abfindungszah-lungen.

    Bei der Suche, der Einstellung und der Einarbei-tung von neuen Mitarbeitern entstehen Kosten.Berücksichtigt werden müssen aber auch die Op-portunitätskosten, die durch das Abstellen der mitder Einarbeitung betrauten Beschäftigten anfal-len. Die wegen unvollständiger und asymmetrischverteilter Information anfallenden Unsicherhei-ten in Bezug auf die Qualität eines neuen Arbeit-nehmers lassen sich nur schwer quantifizieren.6

    Alles in allem kann man davon ausgehen, dass die-se Kosten bei Normalarbeitsverhältnissen amhöchsten sind. Kann ein Unternehmen nur unterhohen Kosten auf veränderte Rahmenbedingun-gen reagieren, so wird es attraktiv, bestimmte Leis-tungen nicht mehr selbst zu erbringen, sondernam Markt einzukaufen. Eine weitere Möglichkeit,Arbeits- und Fluktuationskosten gering zu halten,ohne die Produktion aufzugeben, besteht darin,auf kostengünstigere Formen der Beschäftigungauszuweichen. Atypische Beschäftigungsverhält-nisse bieten hierzu diverse Möglichkeiten, bei-spielsweise über die Verringerung der Lohnzusatz-kosten (Mini-Jobs und Ein-Personen-Selbständi-ge), die Minderung des Kündigungsschutzes (Be-

    3 Vgl. Werner Eichhorst/Susanne Koch/Ulrich Walwei, Wie vielFlexibilität braucht der deutsche Arbeitsmarkt?, in: Wirtschafts-dienst, Heft 9, 2004, Seiten 551-556.4 Vgl. Anne Cichorek/Susanne Koch/Ulrich Walwei, Arbeitslo-sengeld II. Höhere Arbeitsanreize geplant, IAB-Kurzbericht Nr. 7,2005.

    5 2005 lag der durchschnittliche Bestand bei rund 200 000 Ar-beitsgelegenheiten, gut 60 000 Personen in ABM und SAM,17 000 in PSA und gut 320 000 Förderungen der Selbständigkeit.6 Die hierdurch entstehenden Kosten variieren in Abhängigkeitvon formalen Institutionen. Bei einer geringen Probezeit oder ho-hem Kündigungsschutz ist die Fehleinschätzung eines Arbeitneh-mers mit hohen Kosten für die Unternehmen verbunden, so dassNeueinstellungen tendenziell vorsichtiger vorgenommen werden.

  • Atypische Beschäftigung

    19Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    fristungen und Leiharbeit) oder die Verlagerungder Qualitätsunsicherheit auf andere (Leiharbeit).

    3. Veränderungen beim Arbeitsangebot

    Auch auf Seiten der Arbeitsanbieter gibt es Flexi-bilisierungswünsche. Die Präferenzen der Men-schen sind heterogen und nicht ausschließlichdurch eine spezifische Beschäftigungsform zu be-friedigen. Die Anforderungen an die Erwerbstä-tigkeit sind hoch: Sie sollte je nach individuellerLebenslage mit Aktivitäten wie Ausbildung, Eh-renamt und vor allem mit dem familiären Umfeldvereinbar sein. Das zeigt sich vor allem im engenZusammenhang von Teilzeitbeschäftigung undsteigender Frauenerwerbstätigkeit.7

    Für die Wahl der Erwerbsform sind jedoch nichtallein die Präferenzen der Arbeitsanbieter maßge-bend. Der Mikrozensus weist für 2004 aus, dass 27Prozent der Teilzeitbeschäftigten nur deshalbnicht in Vollzeit arbeiteten, weil sie keine Vollzeit-stelle finden konnten. Andererseits finden aberauch nicht alle Arbeitsanbieter, die gern Teilzeitarbeiten würden, eine adäquate Teilzeitstelle.

    4. Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsmarkt

    Wirtschaftliche Stagnation, geringes Beschäfti-gungswachstum und anhaltend hohe Arbeitslosig-keit sind ebenfalls verantwortlich für den Anstiegatypischer Erwerbsformen. So sind Arbeitnehmerin wirtschaftlich schwierigen Zeiten eher bereit,Risiken auf sich zu nehmen und Zugeständnissegegenüber den ebenfalls unter wirtschaftlichemDruck stehenden Unternehmen zu machen. Stag-nation und Rezession begünstigen also tendenziellunfreiwillige Teilzeitarbeit, temporäre Beschäfti-gung oder auch Existenzgründungen aus (dro-hender) Arbeitslosigkeit.

    Der Vorteil solcher Konzessionen besteht für dieBetroffenen darin, dass sie den Kontakt zum Er-werbsleben behalten, weitere Berufserfahrungensammeln, einer Entwertung ihrer Fähigkeiten ent-gegenwirken und Chancen zur Weiterentwicklungund Aufwärtsmobilität erhalten. Nachteile erge-ben sich vor allem durch mögliche Stigmatisie-rungs- und „Drehtüreffekte“, vor allem wenn die

    Aufnahme atypischer Beschäftigungsverhältnisseals Signal für eine schlechte Arbeitsqualität inter-pretiert wird. In diesen Fällen verschlechtert einatypisches Beschäftigungsverhältnis möglicher-weise sogar die Chance auf einen regulären Ar-beitsplatz. Es führt dann nicht in ein Normalar-beitsverhältnis, sondern geradewegs (zurück) indie Arbeitslosigkeit.

    Ein Blick auf die Erwerbsformen in den neuenBundesländern zeigt, dass die Entwicklung derWirtschaft und des Arbeitsmarktes wichtige, abernur Einflussfaktoren unter vielen anderen sind.Trotz des stockenden wirtschaftlichen Aufholpro-zesses und der hohen Arbeitslosigkeit liegt in denneuen Bundesländern lediglich das Niveau der be-fristeten Beschäftigung über dem in Westdeutsch-land.8 Hierfür sind insbesondere der starke Ein-satz arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen (begün-stigt Befristungen), das insgesamt niedrigereLohnniveau (verringert Interesse an freiwilligerTeilzeit) sowie anhaltend unsichere Perspektivenund akuter Kapitalmangel (bremst Existenzgrün-dungen) verantwortlich.

    Konsequenzen des Wandels

    Für eine Beurteilung der gesamtwirtschaftlichenFolgen des Wandels der Erwerbsformen ist zu-nächst zu klären, ob sich das Beschäftigungsniveauohne diese Veränderungen günstiger oder weni-ger günstig entwickelt hätte.9 Beides ist denkbar:Die Zunahme atypischer Beschäftigungsverhält-nisse könnte auf Kosten der Normalarbeitsverhält-nisse gegangen sein. Es wäre aber auch möglich,dass die neuen Beschäftigungsverhältnisse zusätz-lich zu Normalarbeitsverhältnissen entstandensind. Berücksichtigt werden muss bei einer sol-chen Betrachtung auch, dass atypische Erwerbs-formen bei der Wiedereingliederung von Arbeits-losen eine wichtige Rolle übernehmen können, in-dem sie eine Brücke zwischen Arbeitslosigkeit undNormalarbeitsverhältnis schlagen.

    Atypische Beschäftigungsverhältnisse bieten dieChance, sich für die Übernahme in ein Normalar-beitsverhältnis zu empfehlen. Die Vermeidung län-

    7 Vgl. Susanne Wanger, Erwerbstätigkeit, Arbeitszeit und Ar-beitsvolumen nach Geschlecht und Altersgruppen. Ergebnisse derIAB-Arbeitszeitrechnung nach Geschlecht und Alter für die Jahre1991–2001, IAB Forschungsbericht, Nr. 2, 2006.

    8 Vgl. Helmut Rudolph, Beschäftigungsformen. Ein Maßstab fürFlexibilität und Sicherheit?, in: Martin Kronauer/Gudrun Linne(Hrsg.), Flexicurity. Die Suche nach Sicherheit in der Flexibilität,Edition sigma, Berlin 2005, Seiten 97-125.9 Bei der Analyse beschränken wir uns auf unselbständige Tätig-keiten. Zu den Besonderheiten der Selbständigkeit siehe SusanneNoll/Frank Wießner, Existenzgründungen aus der Arbeitslosig-keit: Ein Platz an der Sonne oder vom Regen in die Traufe?, in: WSIMitteilungen, Nr. 5, 2006, Seiten 270-277.

  • Zukunft der Arbeitsgesellschaft

    20 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    gerer Zeitspannen der Arbeitslosigkeit fördert denErhalt der allgemeinen und persönlichen Qualifi-kationen und trägt dazu bei, Verfestigungstenden-zen bei der Arbeitslosigkeit abzuschwächen. Positi-ve psychologische Effekte sind besonders dann zuerwarten, wenn der Erwerbsarbeit neben der rei-nen Einkommensgenerierung weitere Eigenschaf-ten zugesprochen werden, das heißt, wenn mit derArbeit auch ein sozialer Status, ein höherer Le-bensstandard oder individuelle Selbstverwirkli-chung verbunden sind. Darüber hinaus verhin-dern atypische Beschäftigungsverhältnisse, dasssich Menschen an Unterstützung durch Dritte ge-wöhnen. Sie stärken Eigeninitiative und Eigenver-antwortung und entlasten das soziale Netz.

    1. Teilzeitbeschäftigung

    Nach der Wiedervereinigung hat sich die Teilzeit-beschäftigung in Deutschland sehr dynamisch ent-wickelt. Sie stieg von 1994 bis 2005 um gut 4,7Millionen auf knapp 11,2 Millionen Arbeitneh-mer.10 Der Anteil der Teilzeitbeschäftigung an al-len abhängig beschäftigten Arbeitnehmern erhöh-te sich damit von 19,1 auf 32,4 Prozent.

    Mit 54 Prozent sind über die Hälfte der Teilzeitbe-schäftigten geringfügig beschäftigt. Sie arbeiten inMini- oder Midi-Jobs, die allein kein Existenz si-cherndes Einkommen gewährleisten. Das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) weist für die 90er-Jah-re eine steigende Zahl dieser Beschäftigungsver-hältnisse aus: Im Bundesgebiet nahmen sie vonknapp vier Millionen (1993) auf rund 5,4 Millio-nen (1998) zu. Die Mini-Jobs haben sich seit Ein-führung der Neuregelungen im April 2003 höchstdynamisch entwickelt. Die Zahl der ausschließlichgeringfügig Beschäftigten stieg bis September2005 um gut 600 000 auf knapp 4,8 Millionen. Hin-zukommen gut 1,8 Millionen Personen, die einegeringfügige Tätigkeit als Nebentätigkeit ausüben.

    Zusätzlich zu den rund 6,6 Millionen Mini-Job-bern hatten im Jahr 2003 670 000 Personen einenMidi-Job inne. Am Jahresende 2003 waren esknapp 416 000. Das entspricht etwa 1,5 Prozent al-ler sozialversicherungspflichtig Beschäftigten.

    Es wäre unrealistisch, zu unterstellen, dass es sichbei der Erhöhung der Teilzeitarbeit gesamtwirt-schaftlich um zusätzliche Beschäftigung handelt.Allerdings deuten Modellrechnungen darauf hin,dass negative Beschäftigungseffekte, die im Struk-turwandel auftreten, über eine Ausweitung derTeilzeitarbeit abgefedert werden konnten. Bei ei-nem unveränderten Vollzeit-Teilzeit-Anteil wäredie Zahl der Beschäftigten von 1994 bis 2004 deut-lich gesunken.11

    Die Neuregelungen zur geringfügigen Beschäfti-gung verstärken den Anreiz, Arbeitsverhältnissezulasten der Sozialversicherungen zu zerlegen.Allerdings setzt dies die betriebliche Bereitschaftvoraus, Arbeitsplätze auf verschiedene Personenaufzuteilen. Die Frage, ob und inwieweit sozialver-sicherungspflichtig Beschäftigte tatsächlich durchMini-Jobs verdrängt werden, kann vorläufig nurmit ersten Auswertungen aus der Beschäftigtensta-tistik beantwortet werden.12

    Die Bundesagentur für Arbeit hat zwischen März2003 und März 2004 lediglich in etwa acht Prozentder Betriebe gleichzeitig einen Abbau sozialversi-cherungspflichtiger Beschäftigung und einen Auf-bau von Minijobs (ohne Nebenjobs) feststellenkönnen. Mehr geringfügige Arbeitsverhältnisseentstanden in Betrieben, die simultan damit auchdie sozialversicherungspflichtige Beschäftigungausbauten.

    Branchenbezogene Analysen zeigen, dass die Ex-pansion der Mini-Jobs sowohl in schrumpfendenals auch in wachsenden Branchen stattfand. Imverarbeitenden Gewerbe und im Bausektor konn-te der starke Rückgang sozialversicherungspflich-tiger Beschäftigung schon rein rechnerisch nichtdurch Mini-Jobs kompensiert werden. In den wirt-schaftsnahen Dienstleistungen und im Gesund-heits- und Sozialwesen nahmen sowohl Mini-Jobsals auch die sozialversicherungspflichtige Beschäf-tigung zu.

    Dagegen konnten Mini-Jobs im Handel und imGaststättenbereich einen Teil des Arbeitsvolumensabdecken, das bei der regulären Beschäftigungweggefallen ist. In diesen Bereichen spielt die zeit-

    10 In diese Zeit fiel mit dem Teilzeit- und Befristungsgesetz von2001 eine wesentliche Rechtsänderung, durch die Vollzeitbe-schäftigte in Betrieben mit mehr als 15 Arbeitnehmern Anspruchauf Teilzeitarbeit erhalten; vgl. Hans-Uwe Bach / Lutz Bell-mann / Axel Deeke / Michael Feil / Markus Promberger / EugenSpitznagel / Susanne Wanger / Gerd Zika, Ausgewählte Aspekteder Arbeitszeitpolitik, in: Jutta Allmendinger / Werner Eich-horst / Ulrich Walwei (Hrsg.), IAB Handbuch Arbeitsmarkt. Ana-lysen, Daten, Fakten, Campus Verlag, Frankfurt/New York 2005.

    11 Vgl. Martin Dietz/Ulrich Walwei, Beschäftigungswirkungen desWandels der Erwerbsformen, in: WSI Mitteilungen, Nr. 5, 2006,Seiten 278-287.12 Vgl. Helmut Rudolph, Neue Beschäftigungsformen. Brückenaus der Arbeitslosigkeit?, in: Bernhard Badura/Henner Schell-schmidt/Christan Vetter (Hrsg.), Fehlzeiten-Report 2005, Sprin-ger, Berlin u.a. 2006, Seiten 35-56; Bundesagentur für Arbeit,Mini- und Midi-Jobs in Deutschland, Sonderbericht, Dezember2004.

  • Atypische Beschäftigung

    21Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    liche Flexibilität eine besondere Rolle. Zudem las-sen sich die Tätigkeiten relativ problemlos aufmehrere Personen verteilen. Ob es sich bei dieserBranchenbetrachtung aber um betriebliche Sub-stitution oder zwischenbetriebliche Verschiebun-gen der Beschäftigungsformen handelt, kannnicht abschließend beantwortet werden.13

    Es gibt bisher auch keine wissenschaftlichen Er-kenntnisse darüber, ob der Übergang aus der Ar-beitslosigkeit über die Teilzeit in ein Normalar-beitsverhältnis besonders Erfolg versprechendist.14 Man kann nur sagen, dass die Wahrschein-lichkeit des Wechsels von einer Teilzeitstelle in ei-ne Vollzeitbeschäftigung mit dem Bildungsniveauanwächst. Auch Berufserfahrungen wirken sichpositiv aus.15

    Auch wenn die Teilzeitbeschäftigung bei Männernin den vergangenen Jahren deutlich zugenommenhat, liegt ihre Bedeutung noch immer in der Stär-kung der Arbeitsmarktpartizipation von Frauen.Frauen stellen noch immer etwa drei Viertel derTeilzeitbeschäftigten. Fast die Hälfte aller weib-lichen Beschäftigten arbeitet damit Teilzeit. Wäh-rend Männer Teilzeitarbeit eher am Anfang undam Ende ihrer Lebensarbeitszeit nutzen, ist sie fürFrauen während ihrer gesamten Erwerbszeit wich-tig. Dabei geht es aber nicht immer um denWunsch nach geringer Arbeitszeit. Vielmehr spie-geln sich hier Probleme bei der Verbindung vonBeruf und Hausarbeit wider, die noch immer vorallem von den Frauen getragen werden.16

    Empirische Ergebnisse zu Übergängen zwischenMini-Jobs und sozialversicherungspflichtiger Be-schäftigung liegen bisher kaum vor. Angaben zuden Jahren 2003/2004 zeigen, dass die Brücke inbeide Richtungen begangen wird. Mit 437 000Menschen wechselten sogar rund 50 000 Beschäf-tigte mehr aus sozialversicherungspflichtiger Be-schäftigung in einen Mini-Job als umgekehrt.17

    Mini-Jobs sind in rund 40 Prozent der Fälle vonvornherein als Nebenbeschäftigung und damit als

    Zuverdienst angelegt,18 so dass für viele Mini-Job-ber der Übergang in ein Normalarbeitsverhältnisnicht in Betracht kommt. Im April 2004 strebtenur rund ein Viertel der Mini-Jobber den Wechselin nicht-geringfügige Beschäftigung an. Gründehierfür lassen sich auch in der Struktur der Mini-Jobber finden, in der Schüler, Studenten undRentner stark vertreten sind.

    Mini-Jobs sind also kein Mittel, um den Übergangin ein Normalarbeitsverhältnis zu erleichtern.Aber sie bieten Möglichkeiten zur verstärkten Par-tizipation sowie zur verbesserten Vereinbarkeitunterschiedlicher Lebensinhalte, und zwar ohnedass es in einem größeren Ausmaß zu einer Substi-tution von Normalarbeitsverhältnissen käme.

    2. Befristete Beschäftigung

    Die Zahl befristeter Beschäftigungsverhältnissevon Arbeitnehmern und Angestellten (ohne Aus-zubildende) ist von 1994 bis 2005 um rund 750 000auf gut 2,7 Millionen gestiegen. Dies entspricht ei-ner Quote von 9,7 Prozent. Bei dieser Entwicklungspielen arbeitsmarktpolitische Einflüsse eine be-sondere Rolle. So waren 1994 mit etwa 340 000Personen knapp sechsmal so viele Menschen inABM und SAM beschäftigt wie 2005. Dagegen er-höhte sich im Jahr 2005 die Zahl der Befristungenauch wegen der stark genutzten Arbeitsgelegen-heiten um 600 000.

    Die Bedeutung befristeter Arbeitsverhältnissenimmt also zu. Dabei deutet einiges auf einen„Einstellungswechsel“ bei neuen Arbeitsverhältnis-sen hin: Die Relation von befristeten zu unbefris-teten Neueinstellungen stieg von etwa 1 zu 4 imJahr 1991 auf rund 4 zu 5 im Jahr 2003.19 DieseEntwicklung betrifft vor allem junge Arbeitneh-mer, deren Einstieg ins Berufsleben immer häufi-ger über befristete Arbeitsverträge erfolgt.

    Was das Verhältnis von Befristungen zum Normal-arbeitsverhältnis angeht, weist manches auf einezumindest teilweise Substitution hin.20 So werdenbefristete Arbeitsverhältnisse häufig als verlänger-te Probezeit genutzt, die nachfolgend zu einerÜbernahme in Normalarbeitsverhältnisse führen.

    13 Vgl. Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG)und Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung(RWI) Essen, Evaluation der Umsetzung der Vorschläge der Hartz-Kommission – Arbeitspaket 1, Modul 1f, Bericht 30. Juni 2005.14 Vgl. Andrea Schäfer/Claudia Vogel, Teilzeitbeschäftigung alsArbeitsmarktchance, in: DIW Wochenbericht, 7, 2005, Seiten 131-138. 15 Vgl. Jacqueline O’Reilly/Silke Bothfeld, What happens afterworking part time? Integration, maintenance or exclusionary tran-sitions in Britain and western Germany, in: Cambridge Journal ofEconomics, Volume 26, 2002, Seiten 409-439.16 Vgl. Susanne Wanger, a.a.O.17 Vgl. Bundesagentur für Arbeit, a.a.O., Tabelle 2.

    18 Vgl. Michael Fertig/Jochen Kluve/Markus Scheuer, Was hatdie Reform der Minijobs bewirkt? Erfahrungen nach einem Jahr,RWI Schriften 77, Essen 2005.19 Vgl. Helmut Rudolph, 2006, a.a.O.20 Vgl. Bernhard Boockmann/Tobias Hagen, Die Bedeutung be-fristeter Arbeitsverhältnisse, in: Martin Kronauer/Gudrun Linne(Hrsg.), Flexicurity. Die Suche nach Sicherheit in der Flexibilität,Edition sigma, Berlin 2005, Seiten 149-168.

  • Zukunft der Arbeitsgesellschaft

    22 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    Die mit dem Einsatz von Befristungen verbundeneAbsenkung der Einstellungs(grenz)kosten, das da-durch mögliche Vorziehen von Neueinstellungenund die Chance zum Abbau vermeidbarer Über-stunden geben jedoch auch gewisse Hinweise aufzusätzliche Beschäftigung durch Befristungen. DerGesamteffekt lässt sich daher nicht klar beziffern.

    Wissenschaftliche Untersuchungen weisen daraufhin, dass Befristungen durchaus eine Scharnier-funktion auf dem Arbeitsmarkt einnehmen.21 Et-wa 40 Prozent der befristeten Arbeitsverträge wer-den in unbefristete Verträge umgewandelt – davonsind 70 Prozent auf Wechsel innerhalb des Betrie-bes zurückzuführen. Befristungen führen an-schließend zu Erwerbsverhältnissen, die langfristigebenso stabil sind wie unbefristet abgeschlosseneVerträge.

    Die mit Befristungen verbundene Lockerung desKündigungsschutzes bietet gerade für Personenmit strukturellen Nachteilen eine Integrations-chance. Hierfür sind zunächst die mit Befristun-gen zusammenhängenden Kostensenkungspoten-ziale verantwortlich, die den Einsatz von wenigerproduktiven Arbeitnehmern attraktiver machen.Hiervon profitieren nicht nur gering Qualifizierte,Ausländer und Menschen mit Behinderungen,22sondern auch jüngere Arbeitnehmer. Die Neuein-steiger auf dem Arbeitsmarkt verfügen naturge-mäß noch nicht über große Berufserfahrung, sodass hier der Probezeitenaspekt von Befristungenim Vordergrund steht.

    Neben der höheren Wahrscheinlichkeit einer Ein-stellung vergrößern befristete Beschäftigungsver-hältnisse aber auch das Risiko, nach Ablauf derVertragszeit arbeitslos zu werden. Die Wahrschein-lichkeit eines erfolgreichen Übergangs in ein gesi-chertes Erwerbsverhältnis wiegt jedoch schwererals die Gefahr der anschließenden Arbeitslosig-keit.23 Vielfach ist damit zu rechnen, dass einembefristeten Arbeitsverhältnis weitere folgen.24 Ver-ständlicherweise werden solche Befristungsketteneinem längerfristigen Verbleib in Arbeitslosigkeitvorgezogen.

    Die Beschäftigungsrisiken und -chancen von Be-fristungen fallen in Abhängigkeit von persön-lichen Charakteristika unterschiedlich aus.25 Zwarsind gering und hoch Qualifizierte die Personen-gruppen mit den meisten Befristungen. Für geringQualifizierte ist das Risiko, bei Auslaufen der Be-fristung arbeitslos zu werden, jedoch deutlich grö-ßer als bei höher Qualifizierten. Das überraschtnicht, wenn man sich die allgemeine Arbeits-marktlage beider Gruppen vor Augen führt. Beiqualifizierten Arbeitnehmern dürfte die Probezei-tenfunktion eine größere Rolle spielen, währendbei den geringer Qualifizierten eher die erhöhteAnpassungsfähigkeit an veränderte betrieblicheAuslastungslagen im Vordergrund steht.

    Grundsätzlich deuten die vorliegenden Befundedarauf hin, dass Befristungen die Durchlässigkeitam Arbeitsmarkt und damit auch die Arbeits-marktdynamik erhöhen. Diese zusätzliche Dyna-mik ist gerade beim relativ stark regulierten deut-schen Arbeitsmarkt positiv zu bewerten. Sie gehtzudem kaum auf Kosten der unbefristet beschäf-tigten Arbeitnehmer. Es ist sogar zu vermuten,dass die befristet Beschäftigten eine Art Absiche-rung der Festangestellten in schlechten Zeiten bie-ten, da über Befristungen relativ leicht Beschäfti-gung abgebaut werden kann.

    3. Leiharbeit

    Nach der Wiedervereinigung war ein starker, kon-tinuierlicher Anstieg bei der Leiharbeit zu beob-achten. Diese Entwicklung wurde durch eine Rei-he von arbeitsrechtlichen Deregulierungen be-günstigt.26 Die Leiharbeitnehmerquote stieg zwi-schen 1994 und 2005 um etwas mehr als einenProzentpunkt auf gut 1,7 Prozent. Die Zahl derLeiharbeitnehmer nahm in diesem Zeitraum umrund 300 000 Personen zu. Damit ist die Leihar-beit in der jüngeren Vergangenheit die Beschäfti-gungsform mit dem höchsten Wachstum, auchwenn ihr Beschäftigungsanteil in Deutschlanddeutlich hinter internationalen Werten zurück-bleibt.27

    Im Vergleich zu Befristungen erlangt das Unter-nehmen mit der Leiharbeit eine noch größere Fle-

    21 Vgl. Frances McGinnity/Antje Mertens, Fixed-term contractsin East and West Germany: Low wages, poor prospects, SFB 373,Working Paper Heft 72, 2002; Bernard Boockmann/Tobias Ha-gen, a.a.O.22 Vgl. Bernhard Boockmann/Tobias Hagen, a.a.O.23 Vgl. ebenda.24 Vgl. Johannes Giesecke/Martin Groß, Befristete Beschäfti-gung: Chance oder Risiko?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologieund Sozialpsychologie, Jahrgang 54, Heft 1, 2002, Seiten 85-108.

    25 Vgl. Frances McGinnity/Antje Mertens, a.a.O.26 Vgl. Elke J. Jahn, Leiharbeit – für Arbeitslose (k)eine Perspek-tive?, in: Anne van Aaken/Gerd Grözinger (Hrsg.), Ungleichheitund Umverteilung, Metropolis-Verlag, Marburg 2004, Seiten 215-236; ISG/RWI, a.a.O.27 Vgl. Markus Promberger, Leiharbeit – Flexibilität und Preka-rität in der betrieblichen Praxis, in: WSI Mitteilungen, Nr. 5, 2006,Seiten 263-269.

  • Atypische Beschäftigung

    23Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    xibilität bei der Beendigung des Beschäftigungs-verhältnisses. Wegen der Vorselektion durch dieLeiharbeitsfirma fallen zudem geringere Einstel-lungskosten an. Schließlich sind Effizienzsteige-rungen durch verbesserte Auslastung des FaktorsArbeit möglich. Für Spitzenbelastungen bzw. kurz-fristige Arbeitsausfälle muss weniger Personal vor-gehalten werden.

    Vor allem Betriebe des verarbeitenden Gewerbesnutzen die Leiharbeit und können auf dieseWeise ihre Personaldecke knapper kalkulieren. Esdarf allerdings nicht vergessen werden, dass Leih-arbeitsfirmen für die Dienstleistung, die sie er-bringen, zusätzlich zu den anfallenden Arbeits-kosten bezahlt werden müssen. Welche Form desBeschäftigungsverhältnisses gewählt wird, ist alsodas Ergebnis einer Kosten-Nutzen-Abwägung desentleihenden Unternehmens. Alles in allemspricht jedoch einiges für eine Substitutionsbezie-hung zwischen Leiharbeit und Normalarbeitsver-hältnissen.

    Die gesamtwirtschaftliche Wirkung der zuneh-menden Leiharbeit ist bereits wegen der gegen-läufigen Effekte in Entleih- und Verleihbetriebenuneindeutig. So stehen den Beschäftigungsgewin-nen in den Zeitarbeitsagenturen möglicherweiseArbeitsplatzverluste bei den Entleihern gegen-über. Anhand von Untersuchungen des IAB-Be-triebspanels lässt sich zeigen, dass zwar von einergewissen Substitution von Normalarbeitsverhält-nissen durch Leiharbeit auszugehen ist, dass diesejedoch gesamtwirtschaftlich kaum ins Gewichtfällt.28 So war im Zeitraum von 1998 bis 2003 le-diglich in rund 15 000 Betrieben ein gleichzeitigerAbbau von regulärer Beschäftigung und ein Aus-bau der Leiharbeit zu konstatieren. Andererseitssind zusätzliche Beschäftigungseffekte durch dieAusweitung der Leiharbeit nicht auszuschließen.Bei den Entleihern sind bei einer Senkung derProduktionskosten und einer anschließenden Pro-duktionsausweitung mittel- und längerfristig Be-schäftigungsgewinne möglich.

    Verleihfirmen rekrutieren in hohem Maße ausder Arbeitslosigkeit bzw. aus der Nicht-Erwerbstä-tigkeit. Etwa 60 Prozent der Leiharbeitnehmerwaren zuvor nicht beschäftigt, weitere zehn Pro-zent wechselten von anderen Verleihern. Aller-dings ist bei Leiharbeitnehmern eine hohe Fluk-tuation zu verzeichnen, die sich in einer kurzen

    durchschnittlichen Beschäftigungsdauer nieder-schlägt.29 Nur 40 Prozent der Arbeitsverhältnissedauern länger als drei Monate.

    In einer neueren Untersuchung auf Grundlagedes IAB-Betriebspanels wird für 2003 ein direkter„Klebeeffekt“ von zwölf Prozent ausgewiesen. Hiersind lediglich die Übergänge gezählt, die inner-halb ein und desselben Betriebes gelingen.30 DieÜbergangsquote inklusive der Wechsel in sozial-versicherungspflichtige Beschäftigung in anderenUnternehmen liegt bei etwa 30 Prozent.31

    Ein wichtiger Vorteil der Zeitarbeit besteht darin,dass sich die Arbeitnehmer aus einem bestehen-den Beschäftigungsverhältnis heraus für einen re-gulären Arbeitsplatz bewerben und damit Arbeits-willen und -fähigkeit signalisieren können. Die Ar-beitnehmerüberlassung kann daher vor allem beijüngeren Arbeitnehmern und Berufsanfängern ei-ne Brückenfunktion übernehmen.

    Schließlich leistet die Zeitarbeit einen Beitrag, umdie negativen Konsequenzen des Strukturwandelsfür wettbewerbsschwächere Arbeitnehmer abzu-mildern. So expandiert die Leiharbeit vor allembei geringer qualifizierten Beschäftigten.32 Dieseüben jedoch in der Regel Tätigkeiten aus, für diein den vergangenen Jahren immer weniger Nor-malarbeitsverhältnisse zur Verfügung standen. Da-mit trägt die Leiharbeit dazu bei, dass das Segmentder einfachen Tätigkeiten nicht weiter an Bedeu-tung verliert und für gering Qualifizierte eine Ein-kommensquelle jenseits von Transferleistungenbestehen bleibt.

    Perspektiven des Wandels

    Hinter der gestiegenen Bedeutung atypischer Er-werbsformen stehen ein sich wandelnder Arbeits-kräftebedarf, ein sich veränderndes Arbeitskräfte-angebot sowie spezifische institutionelle Rahmen-

    28 Vgl. Markus Promberger, Leiharbeit. Flexibilitäts- und Unsi-cherheitspotenziale in der betrieblichen Praxis, in: Martin Kro-nauer/Gudrun Linne (Hrsg.), 2005, a.a.O., Seiten 183-204.

    29 Vgl. Elke J. Jahn/Katja Wolf, Flexibilität des Arbeitsmarktes:Entwicklung der Leiharbeit und regionale Disparitäten, IAB Kurz-bericht, Nr. 14, 2005.30 Vgl. Markus Promberger, 2006, a.a.O.31 Vgl. Helmut Rudolph, 2005, a.a.O.; Michael C. Burda /MichaelKvasnicka, Zeitarbeit in Deutschland: Trends und Perspektiven,SFB 649 Discussion Paper 2005 – 048. Von den Beschäftigtender 2003 neu geschaffenen Personal-Service-Agenturen (PSA)konnten zwischen April 2003 und Januar 2004 etwa 42 Prozent ineine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wechseln. DerArbeitnehmerbestand in den PSA lag im Jahr 2004 bei 28 000Personen; vgl. Elke J. Jahn, Personal-Service-Agenturen. Start un-ter ungünstigen Voraussetzungen, in: IABForum, Nr. 1, 2005, Sei-ten 14-17.32 Vgl. Helmut Rudolph, 2005, a.a.O.

  • Zukunft der Arbeitsgesellschaft

    24 Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    bedingungen. Die Politik hat sich bei der Gestal-tung des Arbeitsmarktes lange Zeit auf die Bewah-rung des Standardarbeitsverhältnisses konzen-triert. Zugleich ist das Normalarbeitsverhältnis je-doch weiter mit hohen Abgaben belastet und star-ken Regulierungen unterworfen. Atypische Er-werbsformen wurden dadurch zunehmend attrak-tiver, zumal sie an sich schon für viele Unterneh-men die gewünschte Flexibilität schaffen.

    Gesamtwirtschaftlich halten sich die Effekte desWandels der Erwerbsformen in Grenzen. Die mitihnen verbundene Zusatzbeschäftigung ist gering.Nur die Teilzeitarbeit führte zu einem nennens-werten Anstieg der Erwerbstätigen. Die Auswir-kungen auf die Durchlässigkeit des Arbeitsmarktesfallen stärker ins Gewicht. Für Arbeitslose spielender Zugang zum ersten Arbeitsmarkt und die Brü-ckenfunktion atypischer Beschäftigungsverhält-nisse eine wichtige Rolle.

    Die vorliegenden Erkenntnisse lassen vermuten,dass der Arbeitsmarkt durch Erwerbsformen, dievom Normalarbeitsverhältnis abweichen, geöffnetwurde. Hierin kann ein Weg gesehen werden, derVerfestigung der Arbeitslosigkeit entgegenzuwir-ken und einen weiteren Anstieg der Langzeitar-beitslosigkeit zu verhindern. Atypische Erwerbs-formen können außerdem einen Beitrag zur Ent-stehung neuer Normalarbeitsverhältnisse leisten,beispielsweise wenn eine Umwandlung in ein re-guläres Arbeitsverhältnis vorgenommen wird. Diesist bei befristeter Beschäftigung oder Leiharbeitnicht selten der Fall.

    Den positiven Effekten des Erwerbsformenwan-dels stehen allerdings ernst zu nehmende Proble-me gegenüber. So führen insbesondere geringfü-gige Formen der Teilzeitarbeit nicht zu einemExistenz sichernden Einkommen. Sie sind dahernur als Zuverdienst interessant. Darüber hinaussind nicht intendierte Nebenwirkungen in Formvon „Drehtüreffekten“, „Verschiebebahnhöfen“oder Stigmatisierungen nicht auszuschließen.

    Eine Alternative zu den atypischen Erwerbsfor-men wäre eine stärkere Flexibilisierung des Stan-

    dardarbeitsverhältnisses. Hierzu müssen jedochauch auf der Arbeitsangebotsseite Voraussetzun-gen geschaffen werden, beispielsweise durch einegute Erstausbildung und die Etablierung von Sys-temen lebenslangen Lernens. Auf diese Weisekönnte die Beschäftigungsfähigkeit so verbessertwerden, dass die mit mehr Flexibilität einherge-henden Veränderungen auch als Chance betrach-tet werden können.

    Diese Überlegungen werfen die grundsätzlicheFrage auf, ob das Normalarbeitsverhältnis in derbestehenden Ausgestaltung noch die adäquateForm der Beschäftigung in einer international ar-beitsteiligen Wirtschaftswelt ist. Diese Frage istaußerordentlich brisant, insbesondere wegen derbestehenden Kopplung der Sozialversicherungenan das Normalarbeitsverhältnis.

    Die Belastung des Produktionsfaktors Arbeit mitden Beiträgen zur Sozialversicherung und derdaraus resultierende hohe Abgabenkeil ist eineder Hauptursachen für die schlechte Arbeits-marktlage.33 Auf der Unternehmensseite führt sieüber hohe Arbeitskosten zu einer geringen Ar-beitsnachfrage und der Tendenz, Arbeit durchKapital zu ersetzen. Auf der Arbeitsangebotsseitefallen die Anreize zur Aufnahme einer Beschäfti-gung gerade im Niedriglohnbereich gering aus,wenn der Abstand zwischen Nettoeinkommenund Transferleistungen nicht hoch genug ist. Ei-ne Entlastung des Arbeitseinsatzes von diesenKosten sollte daher oberste Priorität haben. Diesgilt vor allem für den noch immer hohen Anteilversicherungsfremder Leistungen, die aus Steu-ermitteln finanziert werden sollten. Allein hier-durch könnte eine Senkung der Sozialversiche-rungsbeiträge um sieben Prozentpunkte erzieltwerden.34

    Um gezielt die Arbeitsmarktchancen von geringQualifizierten zu verbessern, ist eine Senkungder Sozialabgaben im Bereich niedriger Einkom-men zu empfehlen. Hierin wäre jedoch nur einerster Schritt auf dem Weg zu einer umfassendenReform der Steuer- und Abgabensysteme zu se-hen. �

    33 Vgl. OECD, Employment Outlook, Paris 2006.34 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung, Die Chance nutzen – Reformen mutigvoranbringen, 2005.

  • 25Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 109 (3/2006)

    Der Begriff der atypischen Arbeit erklärt die dau-erhaft geschlossenen Vollzeit-Arbeitsverhältnissezu „typischen“ Arbeitsverhältnissen. Das ist kaumgerechtfertigt: In Deutschland wird jede dritte Ein-stellung mit einem befristeten Arbeitsvertrag vor-genommen.

    Atypische Arbeitsverhältnisse könnten die Be-schäftigung insbesondere deshalb erhöhen, weilsie Arbeitslosen eine Chance zum Wiedereinstiegin den Arbeitsmarkt geben. Im vorliegenden Arti-kel wird diese Ansicht geprüft. Der Beitrag kon-zentriert sich dabei auf die befristete Beschäfti-gung und die Zeitarbeit. Dabei zeigt sich, dass dieFragestellung differenziert werden muss. Deutlichwird auch, dass empirische Studien auf der Basisvon Individualdaten unser Verständnis von derNutzung solcher Arbeitsverhältnisse erheblich er-weitert haben.

    Verbreitung von befristeter Beschäftigungund Zeitarbeit

    Was die Zulässigkeit befristeter Beschäftigung inder Bundesrepublik Deutschland betrifft, bildetdas Jahr 1985 den Wendepunkt. In diesem Jahrtrat das Beschäftigungsförderungsgesetz in Kraft,das befristete Beschäftigung nicht mehr zwangs-läufig an einen „sachlichen Grund“ knüpfte. Zu-vor musste der Arbeitgeber stets geltend machen,dass die objektiven Umstände der Beschäftigungkein anderes als ein befristetes Beschäftigungsver-hältnis zuließen. Nach 1985 konnten Arbeitneh-mer auch ohne Angabe eines sachlichen Grundesfür einen beschränkten Zeitraum befristet einge-stellt werden. Diese Regelung gilt mit einigen Mo-difikationen noch heute. Die Neuregelung von1985 führte nicht zu einer dramatischen Zunahmebefristeter Beschäftigung.1 Auch in der jüngerenZeit ist der Befristetenanteil vergleichsweise stabilgeblieben: Im Bestand der Beschäftigten waren im

    Jahr 2003 nach Angaben aus dem Mikrozensus 7,4Prozent der Arbeitnehmer befristet beschäftigt,was einen Anstieg um ungefähr zwei Prozentpunk-te gegenüber den frühen 90er-Jahren bedeutet.

    Einen weit höheren Anteil als im Bestand habenbefristete Arbeitsverhältnisse allerdings in den Ver-änderungen der Beschäftigung. Auswertungendes IAB-Betriebspanels, der größten Wiederho-lungsbefragung unter deutschen Betrieben, zei-gen, dass der Anteil der befristeten Einstellungenim Zeitraum von 1997 bis 2003 bei 33,3 Prozent inWestdeutschland und bei 45,2 Prozent in Ost-deutschland lag.2 Damit sind Einstellungen mit be-fristetem Vertrag der Standardzugang in die Be-schäftigung,