xavier rosset, abenteurer «das handeln zeigt, wer … · der schulbank träumte ich davon, ... ich...

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32 WORT FÜR WORT Xavier Rosset Xavier Rosset WORT FÜR WORT 33 300 Tage alleine auf einer Insel. Davon träumen viele Menschen. Xavier Rosset hat den Traum umgesetzt. Der Aufenthalt auf Tofua im Südpazifik war für den 32-jährigen Walliser die intensivste Erfahrung seines Lebens. Er sagt: «Ich habe gelernt, wie sehr sich Grenzen verschieben lassen und wie wichtig es ist, im Augenblick zu leben.» Xavier Rosset, Abenteurer «DAS HANDELN ZEIGT, WER MAN IST» Herr Rosset, haben sie noch Träume? Ja, ich habe wie alle Menschen viele Träume. Allerdings keine materiellen. Ich wünsche mir nicht das neuste Auto oder das grösste Haus. Ein wirklicher Traum ist für mich etwas Persönliches, kommt vom Herzen und er- laubt einem, zu wachsen. Welcher Art sind denn diese Träume? Einige habe ich schon verwirklicht. Ich habe das Free- ride-Event «Xtreme Verbier» bestritten, konnte bei der Besteigung des Sechstausenders Huayna Potosí in Boli- vien Grenzerfahrungen in extremer Höhe machen. Ich war auch schon in Wüsten unterwegs. Und ich habe zu- letzt 300 Tage alleine auf einer Insel verbracht. War dies ein Bubentraum? Nicht unbedingt. Das Symbol für Freiheit war es für mich, in den USA einmal schwere Trucks zu fahren. Auf der Schulbank träumte ich davon, frei zu sein und nicht mehr in die Schule gehen zu müssen. Und der Tag kam … FOTOS Xavier Rosset

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Page 1: Xavier Rosset, Abenteurer «Das HanDeln zeigT, WeR … · der Schulbank träumte ich davon, ... Ich musste mir eine Hütte bauen, Holz sam ... dass er selber auch verrückt ist

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WORT FÜR WORT Xavier Rosset Xavier Rosset WORT FÜR WORT

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300 Tage alleine auf einer Insel. Davon träumen viele Menschen. Xavier Rosset hat

den Traum umgesetzt. Der Aufenthalt auf Tofua im Südpazifik war für den

32-jährigen Walliser die intensivste Erfahrung seines Lebens. Er sagt: «Ich habe

gelernt, wie sehr sich Grenzen verschieben lassen und wie wichtig es ist,

im Augenblick zu leben.»

Xavier Rosset, Abenteurer

« Das HanDeln zeigT, WeR man isT»

Herr Rosset, haben sie noch Träume?Ja, ich habe wie alle Menschen viele Träume. Allerdings keine materiellen. Ich wünsche mir nicht das neuste Auto oder das grösste Haus. Ein wirklicher Traum ist für mich etwas Persönliches, kommt vom Herzen und er­laubt einem, zu wachsen.

Welcher Art sind denn diese Träume?Einige habe ich schon verwirklicht. Ich habe das Free­ride­Event «Xtreme Verbier» bestritten, konnte bei der

Besteigung des Sechstausenders Huayna Potosí in Boli­vien Grenzerfahrungen in extremer Höhe machen. Ich war auch schon in Wüsten unterwegs. Und ich habe zu­letzt 300 Tage alleine auf einer Insel verbracht.

War dies ein Bubentraum?Nicht unbedingt. Das Symbol für Freiheit war es für mich, in den USA einmal schwere Trucks zu fahren. Auf der Schulbank träumte ich davon, frei zu sein und nicht mehr in die Schule gehen zu müssen. Und der Tag kam …

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Sie sind seit eineinhalb Jahren zurück von der Süd-seeinsel Tofua im Tonga-Archipel. Hatten Sie Mühe, sich wieder zu integrieren?Nein. Jedes Abenteuer hat einen Anfang und ein Ende. Wenn es beginnt, musst du dich ganz darauf einlassen. Und wenn du heimkehrst, musst du dich wieder ganz ins Milieu integrieren, in dem du vorher warst. Das gilt auch für andere Reisen. Nach meiner Erfahrung auf der Insel war ich mental bereit für die Heimkehr. Es ist dann wich­tig, die Dinge wieder richtig einzuschätzen – und dabei ist man ganz allein. Aber man trifft viele Menschen, die einem gefehlt haben.

Der Rhythmuswechsel muss aber ziemlich krass ge-wesen sein.Ja, in der Tat. Nach meiner Rückkehr gab es sehr viele Medienanfragen – aber das gehört zu den Spielregeln. Die beiden Welten sind so unterschiedlich, dass es mir gelang, den Schritt zu vollziehen und mit dem Insel­leben komplett abzuschliessen. Ich könnte sicher nicht in Lausanne oder Zürich leben, aber Verbier ist anders. Das Umfeld ist viel familiärer, und ein Leben in der Na­tur ist gesünder als in einer grossen Stadt. In den Bergen habe ich meine Wurzeln, ich brauche sie. Ich kehrte ins gleiche Chalet zurück, aus dem ich gestartet war. Das ist mein Zuhause. Das Einzige, was anders war, war die Zeit: Es war fast ein Jahr vergangen.

Und der Mensch Xavier Rosset war kein anderer?Doch, wir verändern uns laufend. Wenn du heute Abend ins Bett gehst, bist du nicht mehr derselbe, der am Mor­gen aufgestanden ist. Ich hatte mich in der Tat verän­dert, nachdem ich 300 Tage in der Natur gelebt hatte. Ich weiss jetzt, dass man vieles erreichen kann, wenn man wirklich will. Ich bin ruhiger, gesetzter und selbstsiche­rer. Und ich nehme nichts mehr persönlich. Wenn mich jemand beschimpft, berührt mich das nicht mehr: Es sagt mehr über den Anderen aus als über mich. Wenn ich morgens schlecht gelaunt aufstehe, liegt das an mir, nicht an den Anderen. Wenn man in seinem Innersten Ruhe und Gewissheit gefunden hat, überträgt sich das auch auf die Anderen.

Aussteigen und den inneren Frieden finden – warum träumen so viele Menschen davon? Ich kann nur für mich sprechen. Ich wollte aus der Kon­sumwelt aussteigen, in der einem via TV und Werbung gesagt wird, dass man immer wieder das neuste Handy kaufen soll, wollte diese «Pollution humaine» hinter mir lassen und zur Natur zurückkehren. Ich wollte zurück zum Essentiellen, in ein mir unbekanntes Umfeld. Ich habe mich deshalb bewusst nicht auf den Überlebenstrip vorbereitet. In unserer materialistischen Welt ist der Mensch der Boss, weil er alles so konstruiert hat. Auf meiner Insel musste ich mich dagegen dem anpassen und unterwerfen, was um mich herum war. Das führt zu einem grossen Gefühl von Demut. Der Urinstinkt wird plötzlich wieder zum Leben erweckt.

Das klingt jetzt nicht mehr so romantisch. Ja, wenn du alleine bist, denkst du nicht an Romantik. Aber es war eine unglaubliche Lebenserfahrung, die grösste Reise in mein Inneres überhaupt. Viele haben das Gefühl, dass die physische Herausforderung das Schlimmste war: Nahrung finden, sich vor Wind und Wetter schützen. Aber die psychische Komponente war intensiver.

Mussten Sie nicht ums Überleben kämpfen? Immerhin starben Sie nach eigenen Aussagen anfangs fast vor Hunger.Während man sich in unserer Welt abmüht, um jeden Monat 2000 oder 2500 Franken zu verdienen, kämpfte ich beim Jagen und Fischen für die tägliche Nahrung. Der Antrieb ist in beiden Welten derselbe: essen, trinken und sich fortpflanzen. In den ersten zwei Monaten auf Tofua war das sehr hart. Ich ass zu Beginn fast nur Kokos­nüsse und bekam davon Durchfall. Danach wusste ich, wie ich mich ernähren konnte, fand Früchte, Wurzeln und Gemüse und fing auch Fische und andere Meeres­tiere. Wenn du Hunger hast, ist dein Empfinden in Be­zug auf die Nahrung komplett anders. Dann isst du auch Meeresschnecken, die nicht wirklich gut schmecken. In der Konsumwelt dagegen regt man sich auf, wenn eine Mahlzeit mal nur lauwarm statt heiss ist.

« WiR sOllTen beginnen zu sein, sTaTT zu scHeinen.»Xavier Rosset, Abenteurer

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Wegen einer Infektion standen Sie einmal kurz vor dem Abbruch des Abenteuers.Wir leben ja in einer sehr sauberen Welt, in der alles des­infiziert ist. Mit diesem Sauberkeitswahn schiessen wir uns ein Eigentor, denn die Natur ist nicht schmutzig. Auf der Insel erlebte ich eine andere Definition von Sauber­keit und Hygiene. Mein Körper hatte sich auch nach acht Monaten noch immer nicht ganz daran gewöhnt. Hier rennen wir bei der kleinsten Verletzung zum Arzt. Auf Tofua war das nicht möglich. Ich hatte immer wie­der mit Infektionen zu kämpfen. An der Hand, am Arm, am Bein und am Knöchel. Eine davon war gravierend. Auf Geheiss des Arztes, mit dem ich telefonierte, muss­te ich die Wunde am kleinen Finger der linken Hand

mit einer Rasierklinge öffnen und Antibiotika nehmen. Ohne Notfall­ Apotheke hätte ich es auf der Insel nicht geschafft!

Sie sagten einmal, Sie hätten es als Luxus empfunden, sich nicht mehr waschen zu müssen.Ja, auch das empfand ich als grosse Freiheit. Irgendwann reinigen sich Haut und Haar von selber. Hier dreht man einfach am Wasserhahn, wenn man die Zähne putzen will. Man macht Pipi und betätigt die Spülung – 15 Liter weg. Für mich reichten 15 Liter Wasser für vier oder fünf Tage. Natürlich wusch ich mich aber auch im Ozean.

Wie gelang Ihnen die Umstellung von Ihrem Leben als Profi-Snowboarder und Adrenalin-Junkie zum gleich-förmigen Insel-Alltag?Das Adrenalin fehlte mir anfangs schon. Dafür bin ich auf der Insel in eine tiefe Kontemplation versunken. Die gibt es in den Bergen auch, wenn man nicht gerade runter fährt. Ich habe gelernt, zu verlangsamen und viel ruhiger zu werden – eine Art Osmose mit der Umgebung einzugehen. In unserer Gesellschaft befriedigst du deine

Bedürfnisse immer sofort. Auf der Insel war das anders. Anfangs war ich manchmal drei oder vier Tage jeweils acht Stunden lang mit Fischen beschäftigt, bis ich etwas fing. Ich lernte, geduldig zu sein.

Schafften Sie das ohne Krise?Nein. Ich startete sehr enthusiastisch. Frei nach dem Motto: Jetzt bin ich hier, jetzt kann ich loslegen und mich beweisen. Ich musste mir eine Hütte bauen, Holz sam­meln, etwas zu essen und zu trinken finden. Nach zehn Tagen Aktionismus war es dann, als ob man mir den Stecker rausgezogen hätte. Ich fiel in ein tiefes Loch und fragte mich, was ich auf der Insel, 22 000 Kilometer von meiner Familie, meinen Freunden und meinem Kühl­schrank entfernt, tue – und warum. Irgendwann merkte ich dann, dass es nicht nur Schwarz und Weiss gibt. Man lernt, die Dinge richtig einzuschätzen. Man muss akzep­tieren, was man nicht ändern kann und ändern, was sich ändern lässt.

Als Sie dann Freunde hatten – einen Hund und ein selbst gefangenes junges Wildschwein – fühlten Sie sich nicht mehr so allein?Ja, das half. Den Hund «Sugar» schenkte mir nach vier Monaten ein Fischer, der den «Weissen» auf der Insel suchte, weil sich ein Einwohner seines Dorfes auf einer anderen Insel einen Teil eines Fingers abgeschnitten hatte. Ich begleitete ihn und desinfizierte die Wunde, worauf er später einmal den Hund vorbeibrachte. Das Wildschwein fing ich später in einer Fallgrube und woll­te es mästen. Es schlief auf meinem Kopf und wurde zu meiner Freundin, ich konnte es nicht töten. Wir drei wa­ren ein Superteam und verstanden uns gut. Irgendwann setzte sich das Wildschwein dann wieder in den Urwald ab. Und als ich abreiste, gab ich «Sugar» dem Fischer zu­rück.

Wie kamen Sie auf der Insel zu Trinkwasser?Anfangs trank ich vor allem die Flüssigkeit aus Kokos­nüssen, was wegen der abführenden Wirkung nicht lan­ge ging. Daneben nahm ich vor allem aus Früchten und Lianen Flüssigkeit auf und sammelte Regenwasser. Lia­nen hatte ich auf meinen Erkundungstouren auf der In­sel immer als Flüssigkeitsspender dabei. Die schmecken gut, recht süss. Im Inselinnern gab es zudem einen See mit schwefelhaltigem Wasser. Davon trank ich einmal einen Liter – und wurde nicht krank. Es machte aber kei­nen Sinn, drei Stunden zu wandern, um ein paar Liter

Wasser zu trinken. Nach den ersten Monaten wusste ich, wo ich Mangos, Orangen und andere Früchte finde. Es fiel mir alles leichter – auch das Fischen. Und ich hatte schnell gemerkt, dass man nicht 6000 Kalorien täglich braucht, um zu überleben.

Wie viele Kilogramm Gewicht verloren Sie auf Ihrem Inseltrip?Insgesamt 18. Ich hatte vor der Abreise 14 Kilogramm zugelegt – als Fettreserve für die ersten Monate. Nach meiner Rückkehr war ich 18 Kilo leichter.

Wie wichtig war das Filmprojekt mit Produzent Olivier Vittel für Ihren Durchhaltewillen?Wichtiger für mich war die Zahl 300. Ich wollte 300 Tage auf der Insel bleiben. Nach den ersten drei Strichen, die ich auf eine Kokospalme geritzt hatte, blieben mir noch 297. Ohne diese Vorgabe hätte ich es nie so lange ausge­halten. Das Filmprojekt war zu Beginn gar nicht so kon­kret. Olivier sagte mir: «Geh mal, mach Aufnahmen und nachher schauen wir, was machbar ist.» Das Filmen hat mich aber dazu bewegt, mehr Expeditionen auf der Insel zu unternehmen. Und es hat mir geholfen, wenn es mir nicht gut ging. Dann habe ich die Kamera aufgestellt und reingesprochen. Oder in mein Tagebuch geschrieben. So gelang es mir, meine Gefühle zu artikulieren. Alleine auf einer Insel hat man viele Fragen, die einem niemand be­antwortet. Mit der Zeit kommen die Antworten dann von selbst. Aber das braucht Zeit und hat auch viel mit der Offenheit des Geistes zu tun.

Sie haben auch sonst Selbstgespräche geführt – warum haben Sie damit wieder aufgehört?Man denkt zu Beginn tausend Mal zu schnell – viel zu schnell dafür, dass man keine Antworten hat. Deshalb habe ich mir gesagt: Sprich doch einfach laut zu dir sel­ber, dann wirst du automatisch langsamer. Das funktio­nierte. Ich wollte mir das aber nicht angewöhnen, denn nach meiner Rückkehr in die Schweiz hätte man mich sonst für verrückt erklärt. Ich habe also wieder leise ge­dacht, aber genau gleich langsam wie bei meinen Selbst­gesprächen. Mit dem Denken ist es so wie mit dem Han­deln: Wer in einer Welt von Verrückten lebt, merkt nicht, dass er selber auch verrückt ist. In unserer Welt rennt je­der und das Tempo ist enorm hoch. Richtig bewusst wird einem das erst, wenn man von einer Insel zurückkehrt, auf der man Zeit für alles hatte. Wie wichtig Zeit ist, habe ich erst durch dieses Abenteuer erfahren.

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WORT FÜR WORT Xavier Rosset Xavier Rosset WORT FÜR WORT

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TexTThorsten Kaletsch

FOTOSManu Friederich

Während Ihres Aufenthalts wurde die Insel auch von einem Zyklon heimgesucht. Wie haben Sie diese Mo-mente in Erinnerung?Mir war nicht bewusst, dass es sich um einen Zyklon handelte. Es war für mich einfach ein extremes Unwet­ter. Ich hatte nie zuvor so hohe Wellen gesehen und so starke Winde erlebt. Ich hatte mein Solarpanel vom Ufer entfernt und meine Hütte so gut wie möglich vorberei­tet. Die Winde bliesen mir die Wellen direkt in die Hütte, die vorne offen war – und das mitten in der Nacht. Ich konnte nirgends sonst hingehen und fühlte mich extrem klein. Mit blieb nur das Hoffen. Gegen Mittag des folgen­den Tages beruhigte sich das Unwetter dann.

Hatten Sie Todesängste?Nein. Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Irgendwann sterben wir alle. Wichtig ist nicht, wie man stirbt, son­dern wie man lebt. Ich hatte alles getan, um nicht zu ster­ben. Mehr lag nicht in meiner Macht. Ich dachte nie an den Tod – ich bin ein sehr optimistischer Mensch. Wenn man den Tod an jeder Ecke lauern sieht, unternimmt man nichts mehr.

War das der schlimmste Moment während Ihres Insel-aufenthalts?Nein. Ich kann nicht von den besten oder schlechtesten Momenten reden. Es war alles so neu. Klar ist es toll, wenn das erste Mal ein Fisch anbeisst. Aber am nächsten Tag fand ich Orangen. Und zu den schlimmen Momen­

ten: Am meisten zu kämpfen hatte ich ganz klar mit der Einsamkeit. Ich bin ein sehr aktiver und sozialer Mensch – in meinem Chalet besuchen mich jede Woche 15 bis 25 Freunde. Auf der Insel hatte ich niemanden, mit dem ich etwas teilen konnte – da sinkt die Motivation auto­matisch. Ich merkte, dass ich meine Energie zu grossen Teilen auch von meinen Freunden beziehe.

Ihre Lieben in der Heimat wurden anlässlich eines Erdbebens hart geprüft, weil sie nicht wussten, ob Sie auf Tofua überlebt hatten.Ja, eine Zeitung hatte geschrieben, das Epizentrum des Bebens liege genau über meiner Insel. Meine Freundin rief besorgt aufs Satelliten­Telefon an, das ich aber abge­stellt hatte. Erst Tage später sah ich die Mitteilung und rief zurück, da wusste sie aber schon von der Botschaft des Königreichs Tonga, dass es nicht so schlimm war.

Welches Fazit ziehen Sie für sich aus dem Insel- Abenteuer?Vielleicht, dass wir alle zu wenig auf unsere innere Stim­me hören, auf das Unterbewusstsein. Und dass es gut ist, Träume zu haben, aber noch besser, sie zu realisieren. Viele tun das nicht, weil sie Angst haben, zu scheitern. Oder davor, dass die Umsetzung weniger schön sein könnte, als sie sich vorgestellt haben. Deshalb sollte man sich solche Dinge im Vorfeld nicht zu genau ausmalen. Aber das Wichtigste ist, dass du an deinem Sterbebett nicht das Gefühl haben musst, dass du etwas in deinem

Mit xavier Rosset auf die Insel Tofua Xavier Rosset aus Verbier war Profi-Snowboarder und be-legte 2006 am «Verbier Xtreme» den zweiten Platz. Von August 2008 bis Mai 2009 verbrachte er 300 Tage auf einer einsamen Insel des Königreichs Tonga im Südpazifik. Tofua ist eine 55 Quadratkilometer grosse Vulkaninsel. Als Ausrüstung hatte der Walliser ein Satelliten-Telefon, eine Filmkamera, eine Solarladestation, eine Machete, ein Taschenmesser, eine Notfall-Apotheke, Kleider und vier Paar Schuhe. Als ihn der Fischer auf der Insel absetz-te, überliess ihm dieser noch 50 Meter Angelleine, Haken dazu und ein Feuerzeug. «Ohne diese Dinge wirst du nicht überleben.» Rosset nahm die Geschenke mit, war aber überzeugt, dass er sie nie brauchen würde. «48 Stunden später hatte ich alle schon verwendet.»Letztes Jahr weilte Xavier Rosset noch einmal 20 Tage auf der Insel. Inzwischen hat er auf Tofua eine Gemüseplan-tage und ein Wasserreservoir angelegt und will jährlich bis zu vier Gäste für einen Selbsterfahrungsmonat auf die Insel führen. Nach einer Einführungswoche plant der Walliser die Gäste dann ihrem Schicksal zu überlassen. Im Winter ist Rosset in Verbier immer noch als Ski- und Snowboardlehrer tätig.

www.xavierrosset.ch

«300 Days», Dokumentarfilm von Olivier Vittel.

Leben verpasst hast, was du immer machen wolltest. Die Umsetzung ist keine Frage des Geldes oder der Möglich­keiten, sondern immer eine Frage des Willens. Meines Erachtens kommt alles vom Herzen – wir sind zwar eine verstandesorientierte Gesellschaft, aber der Antrieb kommt immer vom Herzen.

Haben Sie auf Ihrer Insel die Freiheit erlebt, von der Sie als Schüler träumten?Ja, sicher. Ich habe eine enorme Freiheit erlebt. Denn meine Freiheit beginnt dort, wo die Freiheit der Anderen aufhört. Während 300 Tagen hat mir niemand gesagt, was ich tun soll. Ich habe nur getan, was ich wollte – und was ich tun musste, um zu überleben. Freiheit ist zudem eine Frage der Vorstellungskraft: Sie endet dort, wo die Vorstellungskraft aufhört. Man kann auch sagen, dass ich 300 Tage Gefangener meiner Insel war. Alles ist eine Frage der Perspektive.

Was haben Sie auf der Insel über sich gelernt?Ich habe mich viel besser kennengelernt. Und ich habe gelernt, im Augenblick zu leben. Ich habe erlebt, dass es nicht der Mensch war, der die Welt erfunden hat. Wir sind nicht dazu da, uns über alles Andere zu erheben. Nur wer diese Demut erlebt, weiss, wer er wirklich ist. Wir sollten beginnen zu sein, statt zu scheinen.

War es schwierig, für das Insel-Projekt Sponsoren zu finden?Anfangs schon. Aber es gibt glücklicherweise Leute, die sehr viel Geld haben und keine Ideen. Oder keine Zeit, um die Ideen zu verwirklichen. Ich dagegen habe viele Ideen und sehr wenig Geld. Ich komme mit 25 000 Fran­ken pro Jahr aus. Deshalb bin ich auf Partner angewie­sen, das war schon beim Snowboarden so. Das Budget des Inselprojekts betrug 80 000 Franken, die Hälfte da­von brauchte es allein für den Dokumentarfilm. Daneben Reisekosten, Satellitentelefon, Versicherung, Chaletmie­te. Als Hauptsponsor suchte ich eine Uhrenfirma. Meine Idee war es, auf der Insel sozusagen die Zeit anzuhalten, meine Uhr zu vergraben und nach zehn Monaten wieder auszubuddeln. Das fanden die meisten Uhrenhersteller keine gute Idee. Ausser IMT, Instruments et Mesures du Temps. Auch die anderen Partner unterstützten mich primär aus Überzeugung und Sympathie, wofür ich sehr dankbar bin. Es war ja nicht klar, wie gross die Publizität sein würde. Dass sich ihr Engagement jetzt für sie aus­zahlt, freut mich ganz besonders.

Wie sehen Ihre nächsten Projekte aus?Eigentlich spreche ich mit niemandem darüber, denn al­lein mit Reden kommt man nicht weiter. Es ist das Han­deln, das zeigt, wer man ist. Ich rede nur, wenn man mir eine ganz präzise Frage zum Thema stellt. Ich habe noch viele Projekte. 2012 möchte ich eine Expedition unter­nehmen, die mich aufs Wasser führt. ✸

« WicHTig isT nicHT, Wie man sTiRbT, sOnDeRn Wie man lebT.»Xavier Rosset, Abenteurer