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S. Wolin: Toqueville between two worlds Wolin, Sheldon S.: Toqueville Between Two Worlds. The Making of a Political & Theoreti- cal Life. Princeton: Princeton University Press 2001. ISBN: 0-691-07436-4; 650 S. Rezensiert von: Dr. Sven Olaf Berggoetz, Nordamerikaprogramm (NAP)/ Seminar für Polit. Wiss., Universität Bonn Alterswerke großer Gelehrter fallen in ei- ne besondere Kategorie. Nicht jeder Wissen- schaftler hat den Impetus, die Zeit nach der Entpflichtung vom oft erdrückenden univer- sitären Alltag noch einmal zu nutzen, um eine große Monographie vorzulegen. Man- chen fehlt schlicht die Kraft, andere widmen sich privaten Leidenschaften, die oft lange vernachlässigt wurden. Selbst denjenigen, die sich erneut ans Werk machen, mangelt es häu- fig an neuen Perspektiven, oft gar an kri- tischer Distanz zum Gegenstand. Im besten Fall entstehen Synthesen langjähriger Bemü- hungen, oft jedoch Zusammenstellungen be- kannten Inhalts, deren Nutzen eher fraglich bleibt. Gelegentlich allerdings ist ein großer Wurf zu vermelden: Lebenslanges Interesse, gepaart mit ungebrochener Skepsis, reibt sich an einem großem Thema – und es gelingt ei- ne Neuinterpretation, an der sich viele stö- ren, weil sie völlig neue Akzente setzt. Shel- don Wolin vereint in seiner späten, gewalti- gen Tocqueville-Deutung positive und nega- tive Seiten eines solchen Alterswerks auf be- merkenswerte Art und Weise: Sein Buch ist ein höchst individuelles Zeugnis fruchtbarer Auseinandersetzung, das uns trotz mancher scharfsinniger Analysen dennoch mehr über Wolin und sein politisches Denken als über die Ideen von Alexis de Tocqueville sagt. Sheldon Wolin, Jahrgang 1922, gehört seit Jahrzehnten zu den einflußreichsten ame- rikanischen Politikwissenschaftlern und gilt als Galionsfigur der kritischen Linken. Mit seinem 1960 erschienenen Klassiker „Poli- tics and Vision“ 1 hat er das politische Den- ken unzähliger amerikanischer Studenten ge- prägt. Mitte der sechziger Jahre avancier- te der überaus charismatische Wolin, einer der„extraordinary teachers“ seiner Generati- on 2 , zeitweise zur Leitfigur der rebellierenden Studenten in Berkeley. Als Professor an der University of California at Berkeley, danach bis Anfang der neunziger Jahre an der Prin- ceton University, kultivierte Wolin den Ruf als kritischer Außenseiter der Zunft und des poli- tischen Denkens; mehrfach wurde seine große Wirkung auf die Schar ihm ergebener Schü- ler mit derjenigen von Leo Strauss in Chica- go verglichen. 3 Wie Strauss greift Wolin zum Verständnis des Politischen auf die Tradition des politischen Denkens zurück; dessen Viel- falt bilde die Grundlage unseres Verständnis- ses der modernen Welt: „In the way we un- derstand the world we are partly debtors of Marx, but also of de Maistre, partly of Le- nin and also of managerialism.“ 4 Zugleich po- lemisierte der Skeptiker von Anfang an ge- gen den Wandel der Politikwissenschaft zur modernen Sozialwissenschaft, die Dominanz der Methoden und die Suche nach einfachen Lösungen. In seinem berühmtesten Aufsatz „Political Theory as a Vocation“ betont Wolin statt dessen die Bedeutung von „tacit know- ledge“: „These extra-scientific considerations may be identified more explicitly as the stock of ideas which an intellectually curious per- son accumulates and which come to govern his intuitions, feelings, and perceptions. They constitute the sources of his creativity, yet ra- rely find explicit expression in formal theo- ry.“ 5 Sein Skeptizismus und die Anerkennung metaphysischer Einflüsse wurden bereits in den frühen siebziger Jahren heftig attackiert. In ähnlicher Weise provozierte Wolin mit sei- nem radikalen partizipatorischen Demokra- tieverständnis und deutlicher Kritik am zu- nehmend undemokratischer werdenden poli- tischen System der USA: „If the politics of the megastate is to be even minimally democra- tized, however, it will require a citizen who fulfills his or her civic role by doing some- thing other than passively supporting those 1 Vgl. Sheldon S. Wolin, Politics and Vision. Continuity and Innovation in Western Political Thought. Boston: Little, Brown, 1960. 2 Vgl. Benjamin R. Barber, The Truth of Power. Intellectu- al Affairs in the Clinton White House. New York, Lon- don: W.W. Norton, 2001, S. 220. 3 Vgl. Alan Ryan, Visions of Politics. In: The New York Review of Books, 49 (2002), H. 11, 27. Juni 2002, S. 37. 4 Wolin, Politics and Vision, S. 358. 5 Sheldon S. Wolin, Political Theory as a Vocation. In: American Political Science Review 63 (1969), H. 4, S. 1073f. © H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved.

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S. Wolin: Toqueville between two worlds

Wolin, Sheldon S.: Toqueville Between TwoWorlds. The Making of a Political & Theoreti-cal Life. Princeton: Princeton University Press2001. ISBN: 0-691-07436-4; 650 S.

Rezensiert von: Dr. Sven Olaf Berggoetz,Nordamerikaprogramm (NAP)/ Seminar fürPolit. Wiss., Universität Bonn

Alterswerke großer Gelehrter fallen in ei-ne besondere Kategorie. Nicht jeder Wissen-schaftler hat den Impetus, die Zeit nach derEntpflichtung vom oft erdrückenden univer-sitären Alltag noch einmal zu nutzen, umeine große Monographie vorzulegen. Man-chen fehlt schlicht die Kraft, andere widmensich privaten Leidenschaften, die oft langevernachlässigt wurden. Selbst denjenigen, diesich erneut ans Werk machen, mangelt es häu-fig an neuen Perspektiven, oft gar an kri-tischer Distanz zum Gegenstand. Im bestenFall entstehen Synthesen langjähriger Bemü-hungen, oft jedoch Zusammenstellungen be-kannten Inhalts, deren Nutzen eher fraglichbleibt. Gelegentlich allerdings ist ein großerWurf zu vermelden: Lebenslanges Interesse,gepaart mit ungebrochener Skepsis, reibt sichan einem großem Thema – und es gelingt ei-ne Neuinterpretation, an der sich viele stö-ren, weil sie völlig neue Akzente setzt. Shel-don Wolin vereint in seiner späten, gewalti-gen Tocqueville-Deutung positive und nega-tive Seiten eines solchen Alterswerks auf be-merkenswerte Art und Weise: Sein Buch istein höchst individuelles Zeugnis fruchtbarerAuseinandersetzung, das uns trotz mancherscharfsinniger Analysen dennoch mehr überWolin und sein politisches Denken als überdie Ideen von Alexis de Tocqueville sagt.

Sheldon Wolin, Jahrgang 1922, gehört seitJahrzehnten zu den einflußreichsten ame-rikanischen Politikwissenschaftlern und giltals Galionsfigur der kritischen Linken. Mitseinem 1960 erschienenen Klassiker „Poli-tics and Vision“1 hat er das politische Den-ken unzähliger amerikanischer Studenten ge-prägt. Mitte der sechziger Jahre avancier-te der überaus charismatische Wolin, einerder„extraordinary teachers“ seiner Generati-on2, zeitweise zur Leitfigur der rebellierendenStudenten in Berkeley. Als Professor an derUniversity of California at Berkeley, danach

bis Anfang der neunziger Jahre an der Prin-ceton University, kultivierte Wolin den Ruf alskritischer Außenseiter der Zunft und des poli-tischen Denkens; mehrfach wurde seine großeWirkung auf die Schar ihm ergebener Schü-ler mit derjenigen von Leo Strauss in Chica-go verglichen.3 Wie Strauss greift Wolin zumVerständnis des Politischen auf die Traditiondes politischen Denkens zurück; dessen Viel-falt bilde die Grundlage unseres Verständnis-ses der modernen Welt: „In the way we un-derstand the world we are partly debtors ofMarx, but also of de Maistre, partly of Le-nin and also of managerialism.“4 Zugleich po-lemisierte der Skeptiker von Anfang an ge-gen den Wandel der Politikwissenschaft zurmodernen Sozialwissenschaft, die Dominanzder Methoden und die Suche nach einfachenLösungen. In seinem berühmtesten Aufsatz„Political Theory as a Vocation“ betont Wolinstatt dessen die Bedeutung von „tacit know-ledge“: „These extra-scientific considerationsmay be identified more explicitly as the stockof ideas which an intellectually curious per-son accumulates and which come to governhis intuitions, feelings, and perceptions. Theyconstitute the sources of his creativity, yet ra-rely find explicit expression in formal theo-ry.“5 Sein Skeptizismus und die Anerkennungmetaphysischer Einflüsse wurden bereits inden frühen siebziger Jahren heftig attackiert.In ähnlicher Weise provozierte Wolin mit sei-nem radikalen partizipatorischen Demokra-tieverständnis und deutlicher Kritik am zu-nehmend undemokratischer werdenden poli-tischen System der USA: „If the politics of themegastate is to be even minimally democra-tized, however, it will require a citizen whofulfills his or her civic role by doing some-thing other than passively supporting those

1 Vgl. Sheldon S. Wolin, Politics and Vision. Continuityand Innovation in Western Political Thought. Boston:Little, Brown, 1960.

2 Vgl. Benjamin R. Barber, The Truth of Power. Intellectu-al Affairs in the Clinton White House. New York, Lon-don: W.W. Norton, 2001, S. 220.

3 Vgl. Alan Ryan, Visions of Politics. In: The New YorkReview of Books, 49 (2002), H. 11, 27. Juni 2002, S. 37.

4 Wolin, Politics and Vision, S. 358.5 Sheldon S. Wolin, Political Theory as a Vocation. In:

American Political Science Review 63 (1969), H. 4,S. 1073f.

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in authority.“6 Demokratie bedeute wenigereine konkrete Regierungsform als vielmehrdie Vielfalt von Einstellungen und Aktivitä-ten unterschiedlichster Gruppen und einzel-ner Bürger. Im Zeitalter von Globalisierungund wachsender Staatsmacht sei Demokratieein flüchtiges Gut und „doomed to succeedonly temporarily“; dennoch bilde sie „a re-current possibility as long as the memory ofthe political survives.“7 Trotz mancher Kritik,auch seiner Schüler, hat Wolins Konzept der„fugitive democracy“ eine fruchtbare Debatteeröffnet, die nach wie vor andauert.8

Wolins intensive Auseinandersetzung mitdem Werk von Alexis de Tocqueville fand ih-ren Niederschlag schon Mitte der achtzigerJahre in der „Tocqueville Review“.9 Ausge-hend von dessen berühmtem Diktum „Einevöllig neue Welt bedarf einer neuen politi-schen Wissenschaft“10 konzentriert sich Wo-lin auf Tocquevilles Deutung des Spannungs-verhältnisses zwischen alter und neuer Weltund bemüht sich, dessen Erkenntnisse für dieAnalyse der modernen amerikanischen Ge-sellschaft nutzbar zu machen. Neben der Klä-rung von Tocquevilles Gebrauch der Begrif-fe „alt“ und „neu“ sucht Wolin Antwort aufzwei Fragen: „The first is, in ‘Democracy inAmerica’ what functions as the modern andwhat is the premodern? The second is, in con-temporary American political society what si-gnifies the premodern and the postmodern,and how do these stand in relation to theircounterparts in Tocqueville’s work on Ame-rica?“11 Sheldon Wolin geht es nicht um ei-ne Rekonstruktion des Denkens von Tocque-ville, sondern um die seiner Ansicht nachhöchst gefährdete amerikanische Demokratiebzw. die Perspektiven der demokratischen Zi-vilgesellschaft in der globalisierten Welt zuBeginn des 21. Jahrhunderts. Davon handeltnun auch sein großes Alterswerk.

„Tocqueville Between Two Worlds“ be-ginnt mit einer individuellen, überblicksarti-gen Skizze zur Entwicklung des modernenpolitischen Denkens, in deren Verlauf Wo-lin Tocquevilles Diagnose der Machtlosigkeitzeitgenössischer Politik sowie „the paradoxof power“ (S. 13) als Ausgangspunkt für sei-ne Interpretation nimmt. In den sechs Kapi-teln des zweiten Teils analysiert der Autor so-dann die Entwicklung von Tocquevilles kom-

plexem Demokratieverständnis anhand derEntstehung des ersten Teils von „De la Dé-mocratie en Amérique“ und betont dabei dieentscheidende Bedeutung von Gleichheit alsKern der Tocqueville’schen Theorie: „equali-ty is a given in the modern world – a neces-sity, not a choice.“ (S. 166). Als unabdingbarfür den Fortbestand einer Demokratie erachteTocqueville seit dem Aufenthalt in den USAferner die Existenz eines Elements politischerUtopie, dessen positive Auswirkungen er er-lebt habe: „It did teach him that any hopefor reviving the political in the modern worlddepended on promoting democratic partici-pation.“ (S. 167) Die konstante Mitwirkungder Bürger stelle aus Sicht des französischenAristokraten das Mittel dar, die einer mo-dernen, egalitären Demokratie inhärenten Ge-fahren auszugleichen. Im dritten Teil folgenweitere Kapitel zum ersten Teil des Haupt-werks von Tocqueville, in deren Verlauf sei-ne Deutung von Rousseau und Montesquieusowie die Rezeption der „Federalist Papers“zur Sprache kommen. Dabei untersucht Wolinzugleich ausgewählte Elemente von Tocque-villes Darstellung der USA; es geht ihm um„Tocqueville’s attempt to discover, not empi-rical America, but that ‘image of democracy’to which he had referred in his introduction.That image was a theoretical composite desi-

6 Sheldon S. Wolin, Democracy without the Citizen. In:Ders., The Presence of the Past. Essays on the Stateand the Constitution. Baltimore, London: Johns Hop-kins University Press, 1989, S. 191.

7 Sheldon S. Wolin, Fugitive Democracy. In: Seyla Benha-bib (Hrsg.), Democracy and Difference. Contesting theBoundaries of the Political. Princeton, Oxford: Prince-ton University Press, 1996, S. 43.

8 Vgl. die Beiträge in Aryeh Botwinick, William E. Con-nolly (Hrsg.), Democracy and Vision. Sheldon Wolinand the Vicissitudes of the Political. Princeton, Oxford:Princeton University Press, 2001.

9 Vgl. Sheldon S. Wolin, Tocqueville: Archaism and Mo-dernity. In: Tocqueville Review 7 (1985/86), S. 77-88.Wieder abgedruckt als: Archaism, Modernity, and ‘De-mocracy in America’. In: Ders., The Presence of thePast, S. 66-81.

10 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Ameri-ka. Beide Teile in einem Band. Aufgrund der franzö-sischen historisch-kritischen Ausgabe hrsg. von JacobP. Mayer in Verbindung mit Theodor Eschenburg undHans Zbinden. München: Deutscher Taschenbuch Ver-lag, 2. Auflage 1984, S. 9.

11 Wolin, Archaism, Modernity, and ‘Democracy in Ame-rica’, S. 70.

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gned to show what was worthy of emulati-on in the ‘democratic republic’ (positive para-digm) and what were the dangers and draw-backs to nationalized, majoritarian democra-cy (negative paradigm).“ (S. 281)

Der vierten Teil des Buchs ist dem zwei-ten Band von „De la Démocratie en Améri-que“ gewidmet. Herausgearbeitet werden zu-nächst der Einfluß von Tocquevilles politi-schem Wirken auf seine Theorie und sein zen-trales Anliegen in diesem Teil: „the significan-ce of democracy was to be worked out in andifferent context than the political or, alterna-tively, (...) the political was to be contextua-lized differently.“ (S. 307) Im Blickpunkt ste-he die „increasingly democratized civil socie-ty“ (ebd.). Wolin schildert Tocquevilles Unbe-hagen angesichts der immer homogener wer-denden Gesellschaft und der dadurch wach-senden Staatsmacht: „ (...) he alone demons-trated the relationship between the import-ance of culture as expressing a conception ofpolitics in which the dominant power wasanonymous and the arrival of a modernitythat diminished politics while professing toexpand it.“ (S. 315). Er arbeitet heraus, daßdie von Tocqueville genannten Gegenmaß-nahmen – „encouraging civil associations, afree press, reviving local government, streng-thening the judiciary (...), and defending pri-vate rights“ (S. 369f.) – letztlich nur verzö-gernden Charakter hätten: „Equality’s telos istoward centralization and hence the politicalhas to be reconceived, not primarily as thecitizenly practice of self-government but asan unrelenting struggle against conformity.“(S. 373) Nach einem knappen Kapitel zu demvon Tocqueville und Gustave de Beaumonterstellten Gutachten über das amerikanischeGefängniswesen wendet sich Sheldon Wolinim letzten Teil des Buchs der Analyse derbeiden Spätwerke „Souvenirs“ und „L’AncienRégime et la Révolution“ zu.

Wolin unterstreicht den Charakter der„Souvenirs“ und ihrer Auseinandersetzungmit dem Problem der Revolution als selbstkri-tische Bekenntnisschrift eines Zweiflers, demdas neue egalitäre Zeitalter zuwider ist, undder an seinem eigenen Liberalismus zweifelt.Mit Blick auf „L’Ancien Régime et la Révolu-tion“ verweist er zudem auf die Kontinuitätin Tocquevilles Denken: „‘The Old Regime’ is

a reaffirmation of his commitment to retrie-ving the political but, in contrast to its con-text in ‘Democracy’, the political is cautious-ly restated in a reactionary setting. (S. 543)Während „De la Démocratie en Amérique“zwar von den USA handle, aber mit Blick aufdie Zukunft Frankreichs geschrieben sei, ana-lysiere „L’Ancien Régime“ nur vordergrün-dig die französische Entwicklung und reflek-tiere tatsächlich die Zukunft der USA bzw.„the antipolitical consequences of moderniza-tion“ (S. 552). Aus Sicht Wolins ist Tocque-ville ein schwer zu fassender Denker: Sei-ne Auseinandersetzung mit der Moderne ste-cke voller unterschiedlicher Facetten und Wi-dersprüche. Wurzelnd im Archaischen warer sich der Widersprüche der Moderne den-noch bewußt, der aristokratische Repräsen-tant der alten Welt wird zugleich zum Vor-denker des Neuen, von Demokratie, Revo-lution und Postmoderne. Tocquevilles düste-re Vorahnung eines „democratic despotism“sei daher nicht auf die totalitären Regime des20. Jahrhunderts zu beziehen, sondern ganzim Gegenteil auf die zweifelhafte Zukunftpostmoderner, demokratischer Gesellschaften– und das paradigmatische Beispiel der USAzu Beginn des 21. Jahrhunderts: „democracywould come to be regarded by late-modernpower elites as object, an indispensable yetmalleable myth for promoting American po-litical and economic interests among premo-dern and post-totalitarian societies. At home,democracy is touted not as self-governmentby an involved citizenry but as an economicopportunity. Opportunity serves as the meansof implicating the populace in antidemocra-cy, in a politoeconomic system characterizedby the dominating power of hierarchical or-ganizations, widening class differentials, anda society where the hereditary element is con-fined to successive generations of the defense-less poor. Democracy is perpetuated as phil-anthropic gesture, contemptuously institutio-nalized as welfare, and denigrated as popu-lism.“ (S. 571f.)

Sheldon Wolins großes Alterswerk gibt nurbedingt Auskunft über Leben und Denkenvon Alexis de Tocqueville. Seine Interpretati-on liegt quer zur aktuellen Debatte über dengroßen Theoretiker des Liberalismus. Wolinanalysiert Tocqueville aus radikaldemokrati-

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scher Perspektive, provoziert und schießt mitseinem Versuch, die Ideen Tocquevilles fürdie postmoderne Zivilgesellschaft fruchtbarzu machen, mehr als einmal über das Ziel hin-aus. Für Tocqueville-Forscher dürfte das Bucheher ein Ärgernis sein. Und doch ist es eineindrucksvoller Beweis für die Vitalität ameri-kanischen politischen Denkens zu Beginn deszweiten amerikanischen Jahrhunderts.

Sven Olaf Berggötz über Wolin, Sheldon S.:Toqueville Between Two Worlds. The Making ofa Political & Theoretical Life. Princeton 2001, in:H-Soz-Kult 17.10.2002.

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