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Wie Kinder Zeit erleben Prof. Dr. Elfriede Billmann-Mahecha Institut für Pädagogische Psychologie

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Wie Kinder Zeit erleben

Prof. Dr. Elfriede Billmann-Mahecha – Institut für Pädagogische Psychologie

Seite 2

Was ist also die Zeit? Wenn mich

niemand darüber fragt, so weiß ich es;

wenn ich es aber jemandem auf seine

Frage erklären möchte, so weiß ich es

nicht.

Augustinus (354-430), Bekenntnisse

Seite 3

1. Raummetaphorik unseres Zeiterlebens

2. Piagets klassische Untersuchungen

3. Kinderaussagen

4. Mit Kindern über Zeit sprechen

Seite 4

1. Raummetaphorik unseres Zeiterlebens

Seite 5

1.1 Vorbemerkungen zur Metapherntheorie

der kognitiven Linguistik von Lakoff & Johnson

„Das Wesen der Metapher besteht darin, dass wir durch sie

eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen

Sache bzw. eines anderen Vorgangs verstehen und erfahren.“

(Lakoff & Johnson, 1998, S. 13)

Seite 6

1.1 Vorbemerkungen zur Metapherntheorie

der kognitiven Linguistik von Lakoff & Johnson

„Das Wesen der Metapher besteht darin, dass wir durch sie

eine Sache oder einen Vorgang in Begriffen einer anderen

Sache bzw. eines anderen Vorgangs verstehen und erfahren.“

(Lakoff & Johnson, 1998, S. 13)

Zentrale These: „Unser alltägliches Konzeptsystem, nach dem

wir sowohl denken als auch handeln, ist im Kern und

grundsätzlich metaphorisch.“ (ebd., S. 11)

Seite 7

"Da so viele der für uns wichtigen Konzepte entweder abstrakt

oder in unserer Erfahrung nicht klar umrissen sind (Emotionen,

Ideen, Zeit usw.), brauchen wir zu diesen Konzepten einen

Zugriff über andere Konzepte, die wir in eindeutigeren Begriffen

verstehen (Raumorientierungen, Objekte usw.)." (S. 135)

"Die Metaphern entstehen aus unseren klar umrissenen

konkreten Erfahrungen und erlauben uns, höchst abstrakte und

komplexe Konzepte zu konstruieren.“ (S. 124)

Metaphern, die nach traditioneller Auffassung konventionelle

oder tote Metaphern darstellen (z.B. Zeit verschwenden) "sind

im wahrsten Sinne 'lebendig', weil sie Metaphern sind, nach

denen wir leben." (S. 69)

Seite 8

Beispiel: Konventionelle Metaphern der Liebe

Liebe ist Physik: Zwischen uns beiden hat es gefunkt. Sie zog mich

an wie ein Magnet. Sie fühlen sich stark zueinander hingezogen.

Liebe ist ein Patient: Ihre Beziehung krankt an etwas. Sie führen eine

gesunde Ehe. Ihre Liebe ist ermattet.

Liebe ist Verrücktheit: Sie gefällt mir wahnsinnig. Er ist völlig verrückt

nach ihr. Es ist einfach eine irre Beziehung mit Harry.

Liebe ist Magie: Ich war wie gebannt. Er hat mich in Ekstase versetzt.

Sie ist bezaubernd.

Liebe ist Krieg: Er ist bekannt für seine unzähligen Eroberungen. Sie

kämpfte um ihn. Sie wird belagert von Verehrern.

Liebe/Beziehung ist eine Reise: Wir stehen am Scheideweg. Wir

gehen nun getrennte Wege. Wo stehen wir in unserer Beziehung?

Seite 9

1.2 Metaphern der Zeit

Zeit ist ein Behältnis

Im letzten Jahr; in der Zukunft; in diesem Augenblick; etc.

„Die Zeit ist unendlich lang und jeder Tag ist ein Gefäß, in das

sich sehr viel eingießen lässt.“ (Goethe)

Zeit ist Geld/Gut/Ressource

Verschwende Deine Zeit nicht! Damit habe ich viel Zeit gespart/

verloren. Diese Arbeit kostet mich zwei Tage. Die Zeit wird

knapp. Hierfür will ich etwas Zeit investieren.

„Wir haben genug Zeit, wenn wir sie nur richtig verwenden.“

(Goethe)

Seite 10

Zeit ist ein bewegliches Objekt

„So überschlägt sich die Zeit wie ein Stein vom Berge herunter,

und man weiß nicht, wo sie hinkommt und wo man ist.“

(Goethe)

Ich stehe hier und die Zeit

zieht an mir vorbei.

Eine schwierige Zeit kommt

auf mich zu. Wir sehen den

folgenden Wochen entgegen.

Die schwierige Zeit liegt nun

hinter mir.

Ich wandere durch die Zeit.

Wir nähern uns dem Ende

des Jahres. Wir hetzen durch

den Tag.

Seite 11

Zeit wird also als ein bewegliches Objekt konzipiert, wobei wir

uns einer Vorne-Hinten-Orientierung bedienen.

Aber wo ist in unserer Alltagssprache „vorne“, wo ist „hinten“?

Zukunft:

In den folgenden Wochen = In den vor uns liegenden Wochen

Vergangenheit:

In den vorangehenden Wochen = In den hinter uns liegenden

Wochen

Wie sollen Kinder das verstehen?

Seite 12

2. Piagets klassische Untersuchungen

Seite 13

„Wenn man die psychologische Zeit verstehen will, muss man

Jean Piagets (1896–1980) ‚Die Entwicklung des Zeitbegriffs

beim Kinde‘ lesen. Was die soziologische Zeit angeht,

empfehle ich die Lektüre von ‚Über die Zeit‘ von Norbert Elias

(1897–1990). Wenn man sich an diesen beiden Landmarken

orientiert, erleichtert das auch das Verständnis für Einstein.“

(Renn, 2015).

Für Piaget ist Zeit Bewegung im Raum.

Das Kind muss lernen, verschiedene Bewegungen und deren

Geschwindigkeiten miteinander zu vergleichen, um einen

Zeitbegriff zu erwerben (Beziehung zwischen Raum, Zeit und

Geschwindigkeit).

Seite 14

Beispiel für eine Versuchsanordnung

Seite 15

Bis ca. 3 Jahre: Zeitliche Ordnung von Handlungsabläufen,

zyklische Zeitvorstellung ( Bedeutung von Ritualen!), aber

keine Vorstellung von Zeitdauern

Ca. 3 bis 7 Jahre: Anschauliche Zeitvorstellung (z.B. wer

größer ist, ist älter; für einen weiteren Weg braucht man mehr

Zeit); selbst wenn Kinder die Uhr bereits lesen können, haben

sie noch keine gute Vorstellung von Zeitdauern

Ca. 7 bis 10 Jahre: Zeitmessung wird verstanden (Uhrzeit,

Kalender); Zeitdauern können einigermaßen abgeschätzt

werden; Verhältnis von Zeit und Geschwindigkeit wird

ansatzweise verstanden

Ab ca. 10/11 Jahren: Grundoperationen des

(physikalischen/metrischen) Zeitbegriffs werden verstanden

Seite 16

Um größere Zeiträume zu konzeptualisieren, beziehen sich

Kinder bis zum Alter von etwa 12 Jahren auf das „verbal list

system“ (Friedman, 1990). Detailliert erforscht wurde dies für

die Anordnung von Wochentagen und Monaten. Erst später

gelingt eine bildlich-räumliche Vorstellung längerer Zeiträume.

Eigene Untersuchungen bestätigen diesen Befund: Mit

„hundert“, „tausend“ oder „eine Million“ Jahre scheinen selbst

10-Jährige noch keine Zeitangaben in unserem Sinne zu

meinen. Es sind schlichte Wortmarken, also ein „verbal list

system“.

Seite 17

„Die Steinzeit“

Bildquelle: Institut Für Pädagogische Psychologie

Seite 18

3. Kinderaussagen aus Gruppengesprächen

Seite 19

a) Zum Wort Zukunft (Kita-Kinder, 5 – 6 Jahre alt)

Int. : Aber Du hast das schon mal gehört, oder?

He : Ja.

Alle : (nicken)

Int. : Ihr nickt alle.

He : Aber wir verstehen das nicht, was es bedeutet.

Int. : Ja, das ist auch nicht schlimm! Das versuchen wir jetzt mal

rauszukriegen. Was ist denn „morgen“, was ist „übermorgen“?

Ki : Übermorgen heißt, wenn jetzt ein heute ist, dann morgen und

dann noch mal morgen.

Int. : Klasse. Wisst Ihr vielleicht jetzt, was die Zukunft ist?

Ha : Nee, ich immer noch nicht!

He : Versteht niemand!

Seite 20

b) Zum Wort „Zukunft “ (1. Klasse, 7 Jahre alt)

Fl : Ich sage nie was von...von...von „in der Zukunft“.

Int. : Was ist denn in zwei Wochen? Wie nennt man das denn?

Fl : Später.

Int. : Später. Ist das nicht auch die Zukunft?

Lu : Nee. Später. Oder eigentlich schon, etwas... (nachdenklich)

Int. : Ah, erzähl mal weiter, was Du gerade denkst. Vielleicht ist das

ja richtig!

Lu : Eigentlich müsste das doch eigentlich sein. (nachdenklich)

Int. : Warum?

Lu : Ja, wenn Du denn...wann man denn...wenn man dann

nämlich so um die Zeit schon wieder rum ist, dann ist das

doch schon wieder die Zukunft.

(…)

Lu : Also, wieso hast Du eigentlich immer so ‘ne schwierige

Fragen?

Seite 21

c) Zum Wort „früher“ (1. Klasse, 7 Jahre alt)

Ca : Früher war also schon, so z.B. „Früher gab’s Dinosaurier.“

In : Vor 2000 Jahren, 1000 Jahren.

Ca : 100 Jahren.

Int. : Und „letzte Woche“. Ist das auch früher?

Alle : Nein. (zögerlich, unsicher)

Ca : Das war, ähm, vor einer Woche. (lacht)

In : Mhm, ja genau. Dann sagt man „vor einer Woche“. (lacht)

Int. : Dann sagt man „vor einer Woche“?

In : Man sagt: „Weißt Du noch letztes Mal?“ Das war letztes Mal,

genau, letztes Mal.

Ca : Weißt Du noch letztes Mal, dass wir Eis essen waren?

In : Weißt Du noch letztes Mal?

Ca : Also, das war nicht früher.

In : Das war als...

Ca : Früher ist wenn z.B. ein Jahr vergangen ist.

Seite 22

4. Mit Kindern über Zeit sprechen

Seite 23

Alltagssprachliche Reden

Morgen müssen wir früher aufstehen.

Heute komme ich später nach Hause.

Mama kommt gleich wieder.

Wie lang ist Dein Schulweg? (Strecke)

Wie lang brauchst Du, um in die Schule zu laufen? (Zeit)

In Zukunft musst du deine Hausaufgaben ordentlicher machen.

Nun warte doch einen Moment!

….

Je jünger die Kinder, desto weniger werden sie verstehen,

was wir meinen.

Seite 24

Vorschläge für jüngere Kinder

Zeitliche Angaben möglichst immer mit Handlungsabfolgen

veranschaulichen!

Beispiele:

„Die Mama kommt gleich wieder. Wir schauen uns das Buch an

und wenn wir fertig sind, ist die Mama wieder da.“

„Bald ist Dein Geburtstag. Du musst nur noch dreimal schlafen,

dann ist Geburtstag.“

„Oma und Opa besuchen uns in einem Monat. Du weißt doch,

dass es einmal in der Woche Sonntag gibt (Montag,

Dienstag,…). Dreimal haben wir noch Sonntag und am vierten

Sonntag kommen dann Oma und Opa.“

Sehr hilfreich: Den vergangenen Tagesablauf am Abend

erzählerisch rekonstruieren!

Seite 25

Vorschläge für Grundschulkinder

Nicht nur metrische Zeitbegriffe (Kalender, Uhr) einüben,

sondern auch

Gespräche über größere Zeiträume im Leben des Kindes

initiieren (erzählerische Rekonstruktion des letzten Jahres,

Zeitabfolge der letzten Urlaube, Etappen der Familienbiografie

etc.)

Dinos, Steinzeit, Ritter, … interessieren Kinder – vor allem als

Geschichten. Zeitliche Abfolgen kann man im Grundschulalter

mit selbst gestalteten Zeitleisten veranschaulichen (Kinder

dabei beteiligen).

Seite 26

Vielen Dank für Ihr Interesse!

Ich freue mich auf eine anregende Diskussion.