was ist eigentlich neu an integrativer onkologie? · systematische anatomie jean fernel (frankreich...
TRANSCRIPT
Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie?
P Markus Deckert
Integrative Onkologie –ein DefinitionsversuchIntegration komplementärer therapeutischer Ansätze in die Behandlung onkologischer PatientInnen als fachspezifische Realisierung integrativer Medizin
- Woher kommt komplementäre Medizin und woher das Bedürfnis nach ihr?
- Was heißt komplementär, was: alternativ?
- Was integriert die frühe Integration der Palliativversorgung?
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 2
Gustav Klimt: Hygieia (Ausschnitt aus dem Entwurf des Fakultätsbildes „Medizin“ für die Universität Wien)
Integrative Medizin – „buzzword“ oder Zukunft der Medizin?
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Pubmed gesamt x 10-3
„integrative medicine“
integrative + oncology
Was ist „Schulmedizin“ -Kunst oder Wissenschaft?„Heilkunst“ als ältester spezifischer Begriff Medizintheorie? Wer heilt hat recht!
„MEDIZIN MUSS WISSENSCHAFT SEIN, ODER SIE WIRD NICHT SEIN. DOCH
HABEN WIR ES SCHWERER ALS DIE ANDEREN, WEIL WIR SCHLIEßLICH DOCH MIT
UNSEREN BETRACHTUNGEN AUF DEN MENSCHEN ANGEWIESEN SIND. – UND
DA SETZEN UNS HUMANITÄT UND PIETÄT ENGE GRENZEN.“ B. Naunyn
Erfahrungswissenschaft, orientiert an einem gesellschaftlichen Handlungsauftrag und Rollenbild
Erfordernis anderer Wissenschaften zur Entwicklung ihrer eigenen Modelle: intrinsisch Anatomie, Physiologie, extrinsisch Physik, (Bio-) Chemie, Mathematik, Psychologie, Soziologie, Philosophie
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Geschichtlicher Exkurs: Medizin in der AntikeTempelkulte, magisch-theurgische und animistische Riten in traditioneller Volksmedizinen vieler Kulturen (Griechenland, Agypten, Amerika, China…)Ab 5. bis 3. Jh. v. Chr. empirische Systematisierungen
Hippokrates von Kos (370 v. Chr.): rationale Naturbeobachtung – Elementenlehre, Humoralpathologie. Diagnose, Therapie, Prognose Lebensweise, Ernährung, Bewegung. Ausleitende Verfahren, chirurgische Eingriffe“Kenntnis des Ganzen“ als philosophische Forderung
Galen (3. Jh. vor Chr.): Säftelehre → Temperamenten-lehre, Typenlehre
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 6
Ernest Board (1877-1934): Anrufung von I-em-hetep, der ägyptischen Gottheit der Medizin – Ausschnitt© Wellcome Library London 2014
Mittelalter
Islamische Medizin: Tradierung und Systematisierung der antiken QuellenPulslehre: palmos, sphygmos, tromos, spasmos, Systole – Diastole Harnschau bis 19. Jh., Humoral- / Konstitutionslehre
Klostermedizin: Benedictinerregel: Caritas –Handwerk – angewandte Theologie Einflüsse aus Antike, Aberglaube, LaienmedizinSystematische Entwicklung der Phytomedizin
Universitäten ab 11. Jh. (Salerno, Bologna), ärztliche Approbation – Ärzte „zu Besuch“ (Visite).
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 7
Jan Steen: Der Quacksalber (ca. 1660) © Sotheby's / akg-images
Renaissance
Wiederentdecken der rationalen Methode der Antike, kritische Auseinandersetzung mit deren Lehren, Entstehung der modernen Naturwissenschaften
Ambroise Paré (Frankreich, 1510 - 90) Geburtshilfe, Arterienligatur, Prothesen
Andreas Vesalius (Flandern 1514 - 64) Sektionen, systematische Anatomie
Jean Fernel (Frankreich 1497 – 1558) Physiologie, Pathologie: Erstbeschreibung des Rückenmarks
Paracelsus (Th. Bombast von Hohenheim, 1493 -1541) Arzt „beyder Arzneien“, Alchimist, Astrologe, Mystiker…, Kritik der Säftelehre
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 8
Frontispiz aus De humani corporis fabrica, Basel 1543 (Ausschnitt)
Moderne
Massiver Wissenszuwachs der Naturwissenschaften und Etablierung einer naturwissenschaftlich fundierten Medizin
Rudolf Virchow
Robert Koch, Louis Pasteur: Bakteriologie
Ignaz Semmelweis (Hygiene)
Crawford W. Long (Anästhesie)
Paul Ehrlich:
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Luc Montagnier: Humanes Immundefizienz-Virus
James P. Ellison, Tasuku Honjo: Immun-Checkpoints
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 9
Oben: Städtisches Klinikum Brandenburg 1901Unten: Royal Naval Reserve OR 2006 © Nicola Harper
Machbarkeitsglaube und Entmündigung
Technisierte Medizin, Reparatur defekter (technoider) Funktionen
Isolierung von Krankheit als organischer Fehlfunktion
Loslösung von psychischen, sozialen, spirituellen Beziehungen
„Dialektik der Aufklärung“ – Instrumentell verstandenes Wissen führt zu Verlust an Autonomie
Weiter paternalisierende Medizin, Entmündigung, Apparatemedizin das Intensivtherapie, Chemotherapie, Strahlentherapie
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 10
Oben: Deutsche FotothekUnten: Blogotron / Stefan Bellini 2016
Kritik an einer „seelenlosen“ und der Wunsch nach „sanfter Medizin“Den Zäsuren der Weltkriege folgt jeweils eine Phase der Kritik und gesellschaftlichen Neuorientierung:
Entwicklung von Psychoanalyse, Reformbewegung, Anthroposophische Medizin Anfang des 20. Jh.
Kritische Medizin im Gefolge der 68er-Bewegung, Hinwendung zu alternativen Lebensstilen und Gesundheitspraktiken, fremde Kulturen als Inspirationsquelle
Vision einer „sanften“ Medizin als Alternative zur „Apparatemedizin“
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 11
Krishnavedala: Die drei Säfte und fünf großen Elemente im Aryurveda
Grundängste der Moderne? Autonomieverlust – Beziehungsverlust Die ärztliche Grundfigur von Not und Hilfe ist als erstes ein Beziehungsversprechen – du bist nicht allein, ich lasse dich nicht allein
Das Angewiesensein auf Hilfe bedeutet stets einen Verlust an Autonomie
Individualismus und Technisierung der Spätmoderne verstärken beide Ängste
„Alternative“ Systeme können hier einen vermeintlichen, subjektiv sogar realen Halt geben, indem sie einen Fehlen an „Bezogenheit“ ersetzen
Sollte „Schulmedizin“ dies nicht genauso können?
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 12
Blindtext für Bildunterschrift
Alternative Medizin vs. Schulmedizin?
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 13
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 14
Alternative Medizin –attraktiver Markt
Seite 14 | PD Dr. P. M. Deckert| BRB, 13.11.2013 | Palliative Chemotherapie
Motive zur Nutzung
Seite 15 | PD Dr. P. M. Deckert| BRB, 13.11.2013 | Palliative ChemotherapieDeckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 15
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Requested by physician
To directly fight the disease / decrease tumor
Desire to do everything possible to fight the disease
‘Might help, can't hurt’
To counteract ill effects from tumor or treatments
To improve emotional well-being, hope and…
To improve physical well-being
To increase the body's ability to fight the cancer
Grund (%)
subjektiver Benefit (%)
Molassiotis, A., et al. Ann. Oncol. 16.4 (2005): 655-63
Kessel K.A. et al. PLoS One 2016; 11(11): e0165801
„Alternative“ Verfahren als Wege der Selbstwirksamkeit und Kohärenz? Salutogenese (Aaron Antonovsky, 1923 – 1994)
Alternative Krankheitsmodelle können subjektiv
- Verstehbarkeit (geringere Komplexität, Monokausalität, Auflösung von Kausalitäten)
- Handhabbarkeit (ich tue selbst etwas, ich unternehme etwas eigenes gegen die Krankheit)
- und als Einbettung in esoterische Systeme sogar Sinnhaftigkeit herstellen
und damit ein Gefühl von Autonomie und Beziehung wiederherstellen.
Dies sind zugleich originäre Ziele ärztlichen Handelns, sofern sie tragfähig sind und nicht schaden!
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 16
Nutzung komplementärer und alternativer Medizin in Europa (2005)
Seite 17 | PD Dr. P. M. Deckert| BRB, 13.11.2013 | Palliative Chemotherapie
Molassiotis, A., et al. Use of complementary and alternative medicine in cancer patients: a European survey. Ann.Oncol. 16.4 (2005): 655-63
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 17
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Kopf und Hals
Lunge
Melanom
Hämoblastosen
Prostata
Kolon / Rektum
Urogenitalorgane
Gynäkologie
Magen
Mamma
Hirn
Knochen / Rückenmark
Leber
Pankreas
Nach Diagnose…
Gesamt: 36 %
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Seite 18 | PD Dr. P. M. Deckert| BRB, 13.11.2013 | Palliative Chemotherapie
Molassiotis, A., et al. Use of complementary and alternative medicine in cancer patients: a European survey. Ann.Oncol. 16.4 (2005): 655-63
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 18
…und nach Land
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Italien
Tschechien
Schweiz
Belgien
Türkei
Dänemark
Israel
Serbien
Schweden
Island
Spanien
England
Schottland
Griechenland%
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Nutzung komplementärer und alternativer Medizin in Europa (2005)
Gesamt: 36 %
Nutzung komplementärer und alternativer Medizin in München 2016
Seite 19 | PD Dr. P. M. Deckert| BRB, 13.11.2013 | Palliative Chemotherapie
Kessel K.A. et al. Use of Complementary and Alternative Medicine (CAM) as Part of the Oncological Treatment…, PLoS One 2016; 11(11): e0165801
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 19
Nach Fachrichtung
Genutzte komplementärer und alternativer Methoden
Seite 20 | PD Dr. P. M. Deckert| BRB, 13.11.2013 | Palliative ChemotherapieDeckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 20
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Biologisch / alternativ: Heilkräuter
Alternativ: Homöopathie
Mind-Body (sonstige)
Mind-Body: eistige Therapien / Geistheilung
Biologisch: Medizinaltees
Biologisch: Vitamine, Mineralien
Mind-Body: Entspannungstherapie
Manuell-körperbasiert: Massage
Manuell-körperbasiert (sonstige)
Biologisch: andere Nahrungsergänzungsmittel
Alternativ: Akupunktur
Mind-Body: Visualisation
Energietherapien
Biologisch (sonstige)
Alternativ: Naturheilkunde
Alternativ: Ayurvedasince diagnosisbefore diagnosis
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Kessel K.A. et al. PLoS One 2016; 11(11): e0165801
Molassiotis, A., et al. Ann.Oncol. 16.4 (2005): 655-63
Integration von was? Komplementär oder alternativ?„Komplementär“ – ergänzend zu etablierten Methodenwissenschaftliche Evidenz- Symptomlinderung Akupunktur, Mind-Body-Therapien- Lebensqualität Mistel, Anthroposophische Medizin - Regenerationsfähigkeit Ginkgo
„Alternativ“ – von anderer HerkunftKonkurrierendes Krankheitskonzept ohne wissenschaftliche Evidenz- Heilungsversprechen Diäten, individuelle Außenseitermethoden
Inhaltlich entscheidende Abgrenzung ohne scharfe Trennlinie: Verfahren auf Grundlage eines alternativen Konzepts können durchaus komplementär angewandt werden, solange sie nicht schaden
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 21
Bedeutet integrative Onkologie nicht eigentlich Re-Integration?… und wann braucht es dafür Spezialisten?Palliativmedizin deckt einen großen Teil dessen ab, was an Bedürfnissen hinter dem Wunsch nach Alternativmedizin steckt
Ein großer Teil davon in der early integration durch (psychoonkologische) Gespräche erbracht
Ist das eine Rollenbeschränkung, die wir als „somatische“ Ärzte wollen?
Ausführliche Auseinandersetzung im Dialog mit dem Patienten- patientenzentriertes, zuwendungsorientiertes Herangehen- Brückenschlag zwischen Ätiologieverständnis von Arzt und Patient- bessere Compliance, besserer Therapieerfolg?
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 22
Was ist also neu an integrierter Onkologie?• Der Begriff bleibt doppeldeutig, indem er Integration komplementärer
Ansätze ebenso wie „early integration of palliative care“ meint
• Er erscheint in beiden Bedeutungen berechtigt, weil es in beiden um Ansätze geht, die umfassender auf Patientenbedürfnisse eingehen
• Inhaltlich ist Vieles alter Wein in neuen Schläuchen, obwohl in einer Gegenbewegung zur Apparatemedizin entstanden, ist der ganzheit-liche Blick auf den Menschen geschichtlich nicht neu
• Unsere Mittel sind jedoch ungleich besser als in früheren Generationen
• Neu ist das Bestreben, diese Aspekte systematisch in die Versorgung zu integrieren. Dieser Weg ist langsam und mühsam, aber er wird gegangen
Deckert: Was ist eigentlich neu an integrativer Onkologie? Seite 23