univerza v mariboru filozofska fakulteta … · - franz kafka zahvala zahvaljujem se mentorju, izr....

34
UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA Oddelek za germanistiko Diplomsko delo VPLIV ZDRUŽENIH DRŽAV AMERIKA NA IDENTITETO GLAVNEGA LIKA V DELU DER KURZE BRIEF ZUM LANGEN ABSCHIED PETRA HANDKEJA Diplomarbeit USA ALS PROJEKTIONSFLÄCHE IN PETER HANDKE’S DER KURZE BRIEF ZUM LANGEN ABSCHIED Mentor: Kandidatka: Izr. prof. dr. Matjaž Birk Tanja Lorenčič MARIBOR, 2012

Upload: ngothu

Post on 17-Sep-2018

216 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

UNIVERZA V MARIBORU

FILOZOFSKA FAKULTETA

Oddelek za germanistiko

Diplomsko delo

VPLIV ZDRUŽENIH DRŽAV AMERIKA NA IDENTITETO

GLAVNEGA LIKA V DELU DER KURZE BRIEF ZUM

LANGEN ABSCHIED PETRA HANDKEJA

Diplomarbeit

USA ALS PROJEKTIONSFLÄCHE IN PETER HANDKE’S

DER KURZE BRIEF ZUM LANGEN ABSCHIED

Mentor: Kandidatka:

Izr. prof. dr. Matjaž Birk Tanja Lorenčič

MARIBOR, 2012

Page 2: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

2

„Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“

- Franz Kafka

ZAHVALA

Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri

izdelavi diplomske naloge. Rada bi se zahvalila tudi red. dr. prof. Vesni Kondrič-Horvat za

izbor tematike in svetovanje.

Diplomsko nalogo posvečam staršem, bratu in mojemu fantu, ki so me med študijem

podpirali in mi ves čas stali ob strani.

Page 3: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

3

Zusammenfassung

Peter Handke ist einer der Autoren, bei denen die Biographie hilfreich bei der Analyse

seiner literarischen Werke ist. Schon zu Anfang des Werkes baute Handke Elemente mit

realem Bezug zu seiner Kindheit ein, die von Kriegseindrücken beeinflusst wurde. Auch in

sonstigen Werken sind diese Kriegseinflüsse deutlich zu spüren, da er immer wieder

Motive des Schmerzes und der Angst aufarbeitet. Ein weiteres Erlebnis im Werk Der kurze

Brief zum langen Abschied (1972) mit realem Bezug zu Handkes Leben ist die Reise durch

die USA. Genau wie der Protagonist dieses Bildungs- bzw. Entwicklungsromans

unternahm Handke selbst einige Reisen durch Amerika. Der erste Kontakt, den er mit den

USA hatte, war im Rahmen der Tagung der „Gruppe 47“ in Princeton, wo er unter den

Anwesenden einen starken Eindruck hinterließ. In den nachfolgenden Jahren unternahm er

noch weitere Reisen durch Amerika. Außerdem bleibt der Ich-Erzähler durch das ganze

Werk namenlos, was den Leser dazu verleiten könnte, sich unter dem Ich-Erzähler Peter

Handke selbst vorzustellen. Besonders deutlich werden die autobiographischen Züge am

Protagonisten selbst. Der Leser erfährt, dass es sich beim Protagonisten um einen

österreichischen Schriftsteller handelt, der im Laufe der Geschichte den 30. Geburtstag

feiert. Interessant ist, dass Peter Handke zum Zeitpunkt der Entstehung des Werkes wie der

Protagonist, 30 Jahre alt war. Auch im Hinblick auf die Familienverhältnisse lassen sich

zwischen Handke und dem Protagonisten Parallelen ziehen. Genauso wie der Vater des

Protagonisten, hatte auch der Stiefvater von Handke Alkoholprobleme.

Der Ich-Erzähler, ein dreißigjähriger Österreicher und Schriftsteller, entschließt sich für

eine Reise durch den Norden Amerikas, von der Ost- zu Westküste. Von dieser Reise

verspricht er sich Veränderungen in seinem Leben bzw. Veränderungen in seinem

Selbstbewusstsein. Handke lieh sich zwei Zitate des Werkes Anton Reiser von Karl Philipp

Moritz aus, in dem die Hauptfigur, genauso wie der Ich-Erzähler, Veränderungen erfährt.

Das erste Zitat am Anfang des ersten Kapitels unterstreicht die Entschlossenheit des Ich-

Erzählers zum Aufbruch zur Reise. Das zweite Zitat am Anfang des zweiten Kapitels hebt

die Überzeugung des Protagonisten hervor, durch den Ortswechsel Veränderungen

herbeizurufen. Handke schickt seinen Protagonisten deswegen nach Amerika, da für ihn

als Fremde nur Amerika infrage kommt und nur in einem absolut fremden Land derartige

Veränderungen möglich sind. Hierbei soll beachtet werden, dass dieses Amerikabild dem

Page 4: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

4

realen Bild Amerikas nicht entspricht, da Handke seinen Ich-Erzähler alle politischen und

gesellschaftlichen Faktoren ausblenden lässt. Handke zufolge handelt es sich beim Schluss

des Werkes um eine Sehnsucht von ihm, um einen märchenhaften Schluss, dass trotz eine

schmerzlichen Beziehung eine friedliche Trennung möglich sei.1 Handke will daher neben

der Möglichkeit einer Identitätsveränderung auch die Möglichkeit einer friedlichen

Trennung trotz schmerzhafter Erinnerungen mithilfe einer fiktionalen Wirklichkeit

darstellen.

Der Handlungsort wird durch verschiedene Elemente – an erster Stelle aus der

amerikanischen Kultur - konstruiert. Handke baute dazu geschickt Elemente aus dem

Bereich der Literatur, des Films und der Musik ein. Besondere Bedeutung wird außerdem

den Werken Der Grüne Heinrich von Gottfried Keller und Der große Gatsby von Scott

Fitzgerald zugeschrieben, da sie das Selbstbewusstsein des Protagonisten direkt

beeinflussen. Beim Lesen Des großen Gatsby verspürt der Protagonist einen noch größeren

Wunsch nach Veränderungen, während er sich mit dem Protagonisten des Werkes Der

grüne Heinrich vergleicht. Einen großen Einfluss hatte auch das Kind von Claire, das

Symptome der sog. OCD-Krankheit, d. h. der Zwangsstörung aufweist. Das Kind ruft in

ihm Kindheitserinnerungen hervor, er bemerkt seinen Egoismus und seine fehlende

Aufmerksamkeit für die Umgebung.

Handke macht am Beispiel der Hauptfigur alle möglichen Variationen von Realitäts- und

Selbsterfahrung vor: die retrospektive Aufarbeitung einer Zweierbeziehung (der Ich-

Erzähler und Judith), die Sensibilisierung für die (fremde) Umgebung und ihre Attribute,

die verändernde Kraft des poetischen Denkens (Wegbegleiter des Reisenden die beiden

Werke Der große Gatsby und Der grüne Heinrich), den Aufbau einer entzerrten

Kommunikationsfähigkeit (durch die Wiederbegegnung mit Claire, seiner früheren

Geliebten) als Vorschein einer neuen, d.h. sozialen Lebensform, deren Möglichkeiten im

zweiten Kapitel des Werkes zum Vorschein kommen.2

1 vgl. Zeit Online: Dos Gespräch mit dem Autor: Peter Handke. Ohne zu verallgemeinern

http://www.zeit.de/1972/13/ohne-zu-verallgemeinern/seite-4 (letzes Zugriffsdatum: 18.6.2012) 2 vgl. König, Hartmut (1978): Peter Handke. Sprachkritik und Sprachverwendung. Anmerkungen zu

ausgesuchten Texten. Hollfeld: Joachim Beyer Verlag. S.100

Page 5: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

5

Aus dem Werk geht hervor, dass sich die Identität des Protagonisten durch seine

Amerikareise positiv verändert hat, da er an Selbstbewusstsein und Toleranz gewinnt. Mit

der Zeit bemerkt er auch seine Anpassungsfähigkeit und die Fähigkeit zur Überwindung

von Zwängen, die in ihm unangenehme Gefühle auslösten. Durch die Analyse dieses

Werkes hat sich herausgestellt, dass der Protagonist die sog. Projektionsfläche darstellt, da

Amerika auf ihn projiziert und nicht umgekehrt. Amerika stellt für den Protagonisten und

Handke die absolute Fremde dar, eine Utopie, eine Traumwelt, „in der man sich selber

ganz neu entdecken muß […], in der man selbst ganz neu anfangen muß […].3 Somit

werden neue Eigenschaften durch die Erlebnisse, die der Protagonist auf seiner Reise

erlebt, auf seine Identität projiziert.

Schlüsselwörter:

Handke, Peter, USA, Amerika, Identität, Einfluss, Reise, Fremde, Utopie, Abschied,

Brief,...

3 Ebd.

Page 6: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

6

Povzetek

Peter Handke je eden izmed avtorjev, pri katerih je biografija pomembna za razumevanje

in analiziranje njegovih del. Tudi v delu Der kurze Brief zum langen Abschied je Handke

uporabil nekatere elemente iz svojega življenja. V njegovih delih so tako vidni na primer

vplivi vojne, ki so vzrok za pesimistične tematike kot so strah in bolečina. Dogodek, ki

stoji v ospredju v delu Der kurze Brief zum langen Abschied je potovanje protagonista

skozi ZDA in se prav tako navezuje na Handkejevo življenje. Prvič se je Peter Handke z

ZDA seznanil, ko je bil povabljen na srečanje nemškogovorečih avtorjev »Gruppe 47«, na

katerem je pustil pri sodelujočih močan vtis zaradi kontroverznih stališč. V kasnejših letih

se je odpravil še na nadaljna potovanja skozi Ameriko. Posebaj opazna je povezava med

protagonistovim življenjem ter Handkejevim na protagonistu samem, kajti tako kot

Handke tudi glavni lik izvira iz Avstrije in je doživljal vojno. Prav tako protagonistova

starost sklada s Handkejevo ob nastanku dela Der kurze Brief zum langen Abschied.

Protagonist dopolni v delu 30 let, Handke pa je bil ob nastanku dela prav tako star 30 let.

Ob branju Handkejeve biografije izve bralec o alkoholizmu očima, tudi protagonistov oče

je bil alkoholik. Opazno je, da je kar dosti vzporednic med protagonistom in Handkejem.

Poleg skupnih značilnosti med Handkejem in protagonistom je prav tako zanimivo, da

protagonist skozi celotno delo ostane neimenovan. Bralca lahko to privede k razmišljanju,

da v protagonistu vidi Peter Handkeja samega.

Protagonist, star trideset let, Avstrijec in pisatelj se odloči za potovanje skozi severrno

Ameriko, da bi pustil za sabo prihodnost, dosegel spremembe v svojem življenju ter v svoji

podzavesti. Peter Handke si je sposodil dva citata znanega nemškega avtorja 17. stoletja

Karla Phillipa Moritza. Prvi njegov citat je postavil pred začetek prvega poglavja, da bi

podkrepil odločnost odhoda protagonista. Drugi citat pa se nahaja pred drugim poglavjem

in tematizira prepričanost protagonista o dosegu zaželjenih sprememb preko menjave

okolja. Handke pošlje svoj glavni lik v ZDA zato, ker je po njegovem mnenju Amerika

popolna prispodoba tujine, kjer so možne takšne spremebne, kot si jih protagonist želi.

Potrebno je opozoriti, da Handkejeva podoba Amerika ne ustreza njeni realni podobi, kajti

politične in socialne razmere ni vkjučil v obravnavano delo.

Page 7: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

7

Po Handkeju sodeč je konec v tem delu prispodoba njegovega hrepenenja po pravljičnem

koncu; kljub bolečinam v zvezi bi naj bila možna miroljubna ločitev. Handke želi tako

prikazati ne samo možnost spremembe identitete človeka, temveč tudi možnost mirne

ločitve od nekoč ljubljene osebe, kljub bolečim spominom.

Kraj dogajanja pisatelj konstruira s pomočjo različnih elementov, kot so elementi iz

ameriške kulture, elementi iz podorčja literature, filma ter glasbe. Poseben pomen se

pripisuje literaturi, katero protagonist na potovanju nosi s seboj. To sta Der grüne Heinrich

od Gottfried Kellerja in Der große Gatsby od Scott Fitzgeralda. S protagonistom

Heinrichom Leejem iz dela Der grüne Heinrich se protagonist pogosto primerja, glavni lik

dela Der große Gatsby pa vidi kot vzornika, ki ga vzpodbuja v njegovi želji po

spremembah, kajti lik v njem vzbuja čustva sreče in veselja. Velik vpliv na protagonista je

imela tudi hči njegove ljubimke, Benedictine, ki najverjetneje trpi za boleznijo OCD. Skozi

njo je spoznal svoj egoizem in pomanjkanje pozornosti do okolice.

Peter Handke preko protagonista prikazuje vrsto možnih variacij dojemanja resničnosti ter

samospoznavanja: retrospektivno obravnavanje odnosa med dvema partnerjema

(protagonist in Judith); senzibilizacijo za tuje okolje in značilnosti le te; potencial za

spremembe, ki se skriva v literaturi in umetnosti nasploh (literarna dela Der grüne

Heinrich ter Der große Gatsby); idr.

Na splošno lahko trdimo, da se je protagonist spremenil na bolšje, kajti postal je bolj

toleranten in samozavesten. Bralec prav tako opazi sposobnost asimilacije protagonista z

novim okoljem, upor proti prisilami in njegovo dobro počutje v novem okolju. Analiza

dela je pokazala, da protagonistova identiteta predstavlja nekakšno površino, na katero se

projecirajo nove lastnosti, ki so jih ustvarili dogodki na potovanju skozi Ameriko. Handke

in protagonist vidita Ameriko kot popolnoma tujo, sanjsko deželo, v kateri je možen

povsem nov začetek.

Ključne besede:

Handke, Peter, ZDA, Amerika, identiteta, vpliv, potovanje, tujina, utopija, slovo, pismo,...

Page 8: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

8

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung .......................................................................................................................... 9

2. Peter Handke ................................................................................................................... 11

2.1 Biographie .................................................................................................................. 11

2.2 Sein Schaffen ............................................................................................................. 13

2.3 Peter Handke und die USA ........................................................................................ 14

3. Das Werk "Der kurze Brief zum langen Abschied" ........................................................ 16

3.1 Entstehung ................................................................................................................. 16

3.2 Plot ............................................................................................................................. 17

3.3. Amerika als Handlungsort ........................................................................................ 18

3.3.1 Konstruktion des Handlungsortes ....................................................................... 18

3.3.2 Bedeutung für den Ich-Erzähler .......................................................................... 23

3.4 Der Erzähler ............................................................................................................... 24

3.4.1 Beschreibung des Ich-Erzählers .......................................................................... 24

3.4.2 Die Erlebnisse in den USA und deren Einfluss auf die Identität ........................ 26

4. Literaturverzeichnis ......................................................................................................... 33

Page 9: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

9

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Thema die USA als Projektionsfläche in Peter

Handkes Roman Ein kurzer Brief zum langen Abschied.

Das Anliegen dieser Arbeit ist herauszufinden, welche Rolle verschiedene Faktoren im

Werk Ein kurze Brief zum langen Abschied spielen, wie sie die Identität des Ich-Erzählers

beeinflussen, wie sich diese dadurch verändert, welche Ereignisse die Identität des Ich-

Erzählers verändern, die Bedeutung Amerikas als Handlungsort und wie der Ort der

Handlung konstruiert wird. Die Faktoren, die bei der Konstruktion des Handlungsortes zu

beachten sind sind folgende: die USA als Ort der Handlung; der USA-Aufenthalt des Ich-

Erzählers; die Literatur des Ich-Erzählers, die er bei sich trägt; die Filme, die er sich

ansieht; die Musik und u. a.

Außerdem ist es zu untersuchen, wie Peter Handke persönlich mit den USA in Berührung

kam und ob auch andere autobiographische Züge im Werk Der kurzer Brief zum langen

Abschied zum Ausdruck kommem. Bei der Analyse der Werke von Peter Handke muss

beachtet werden, dass Handke aus einem kleinbürgerlich-proletarischen Milieu stammt.

Seine Kindheit wurde von Kriegserlebnissen begleitet, die auch sein späteres Schaffen

beeinflussten. Das Aufwachsen in solchen Umständen trug wahrscheinlich dazu bei, dass

häufig auftretende Motive in den Werken Peter Handkes Schmerz und Angst sind.

Außerdem ist bekannt, dass Peter Handke selbst durch die USA reiste und dort

Erfahrungen sammelte. Ein wichtiger Teil der vorliegenden Arbeit ist die Veränderung der

Identität des Ich-Erzählers durch seinen USA-Aufenthalt, sowie die Frage auf welche

Weise der Schriftsteller dies versprachlicht.

Zuerst wird ein Überblick über Handke’s Leben, seine Werke und seinen persönlichen

Kontakt mit den USA gegeben. Danach folgt die Analyse des Werkes Der kurze Brief zum

langen Abschied. Zuerst werden grundlegende Informationen über das Werk angeführt, der

Plot des Werkes dargestellt und danach Amerika als Handlungsort näher untersucht. Es

wird auch die Bedeutung Amerikas als Handlungsort näher untersucht und die

Konstruktion des Handlungsortes, die durch verschiedene Elemente – unter anderem auch

aus der amerikanischen Kultur – gestaltet wird. Darauf folgt die Beschreibung des Ich-

Erzählers und von denjenigen Erlebnissen, die bei ihm eine Veränderung im Denken

hervorrufen. Die Arbeit hilft sich mit direkten Zitaten aus dem Werk, um die Erlebnisse

Page 10: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

10

genauer zu beschreiben und die Veränderungen im Selbstbewusstsein des Ich-Erzählers

genauer darzustellen.

Die vorliegende Diplomarbeit beruht auf der Erzähltextanalyse, d.h. sie verfolgt die

Prinzipien der analytisch-deskriptiven wissenschaftlichen Arbeitsmethode.

Page 11: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

11

2. Peter Handke

2.1 Biographie

Peter Handke wurde am 6.12.1942 in der Ortschaft Altenmarkt (Marktgemeinde Griffen)

in Unterkärnten geboren. Sowohl sein Großvater, als auch seine Mutter waren

slowenischer Abstammung. »Die Mutter, Maria Handke, arbeitete vor ihrer Ehe als

Abwaschhilfe, Stubenmädchen und Köchin«4. Der leibliche Vater Handkes war bereits

verheiratet. Vor seiner Geburt heiratete Maria Handke Adolf Bruno Handke aus

Brandenburg, einen deutschen Soldaten, der der Stiefvater von Peter Handke wurde.

Maria, Bruno und Peter Handke lebten gemeinsam nach dem Kriegsende in Berlin-Pankow

in bescheidenen Nachkriegsverhältnissen. Dort herrschten erschreckende Umstände, da die

Stadt vom Krieg zerstört wurde. Am 7. August 1947 erblickte Peter Handkes

Halbschwester Monika das Licht der Welt. Im Jahre 1948 beschloss die Familie den Ort zu

wechseln. Die Familie zog wahrscheinlich wegen der immer schlimmer werdenden

Umstände in das Geburtshaus der Mutter nach Griffen. Peter Handke war zu dieser Zeit 6

Jahre alt. In seinen späteren Werken ist deutlich zu sehen, wie diese Erlebnisse und Ängste

sein ganzes Leben, seine Identität und sein Schaffen beeinflussten und wie er diese in

seinen Werken aufarbeitet. Im Jahre 1957 erfolgte der Umzug ins neue Haus durch eigene

Anstrengungen und Mühen. In Griffen besuchte der Schriftsteller das Knabeninternat des

katholisch-humanistischen Gymnasiums Tanzenberg, wo er mit diversen Lektüren in

Berührung kam wie zum Beispiel »Fallada, Hamsun, Dostojewski, Gorki, Thomas Wolfe,

Faulkner«5 u.a. Als begabtes Kind, kam er in eine Klasse mit anderen begabten Schülern

aus eher bescheidenen sozialen Verhältnissen. Noch heute hat er Kontakt zu einigen

'Tanzenbergern'. Handke nahm im Jahre 1959 an einem Literaturwettbewerb teil, wo er

auch ausgezeichnet wurde. Infolge dessen wurden die Werke Der Namenlose und In der

Zwischenzeit in der Kärntner Volkszeitung veröffentlich.

1961 schloss er sein Abitur in Klagenfurt ab und zog nach Graz in eine Studentenbude, um

dort bis 1965 Jura zu studieren.

4 Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur S. 1.

5 Ebd., S.1.

Page 12: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

12

Peter Handke besuchte ab 1963 die Veranstaltungen des Forum-Stadtpark, »ein

Produktions- und Präsentationsort für zeitgenössische Kunst“6. »Dort lernte er Künstler

und Kulturveranstalter kennen; Anregungen und weitere Begegnungen ergaben sich; sie

vergrößerten seinen Freundes- und Bekanntenkreis«7

. Ab 1963 widmete er sich

zunehmend der literarischen Tätigkeit, so dass er 1966 auf die letzte Staatsprüfung

verzichtete, da er mittlerweile durch die Medien einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangte

und er sich vor Schikanen fürchtete.

Nach Adolf Haslinger wurden Anfang des Jahres 1964 von Radio Graz die folgenden

Texte Handkes gesendet: Die Hornissen (25. Jänner 1964), Der Hausierer (7. April 1964)

und Das Standrecht (16. Mai 1964). In der gleichen Zeit veröffentlichte die

Literaturzeitschrift manuskripte ihre ersten Handke-Texte, und zwar Die

Überschwemmung (Heft 10, Februar/Mai 1964) und Das Standrecht (Heft 11,

Juni/Semptember 1964).

Auf die Frage, warum er trotz seiner Liebe zur Literatur ein Jura-Studium anstatt eines

Germanistik-Studiums begann, antwortete Handke, er hätte noch nicht genau gewusst, was

er wolle und er habe von einem Deutschlehrer gehört, dass man neben dem Jura-Studium

in Österreich viel Zeit für sich hätte.

Im Jahre 1965, kurz bevor er sein Studium abschloss, wurde sein Romanmanuskript Die

Hornissen vom Suhrkamp Verlag angenommen und im Jahre 1966 sein Stück

Publikumsbeschimpfungen uraufgeführt. Sein Erfolg und seine feste Entschlossenheit

Schriftsteller zu werden, waren wahrscheinlich die Gründe für den vorschnellen Abbruch

des Studiums. Daraufhin unternahm er zahlreiche Reisen durch Rumänien, die USA und

Jugoslawien. Im Jahre 1967 heiratete er die Schauspielerin Libgart Schwarz, die ihm 1969

seine erste Tochter namens Amina gebar. Seit 1991 lebt er in Chaville bei Paris. Dort

lernte er die französische Schauspielerin Sophie Semin kennen, die er 1995 heiratete. Am

24. August 1991 gebar sie ihm seine Tochter Leocadie. Interessant zu erwähnen ist

Handkes Beziehung zu Slowenien, die nicht nur in seinem Leben, sondern auch in seinen

Werken eine wichtige Rolle spielt. Im Roman Die Wiederholung (1986) schickt er seinen

Protagonisten nach Slowenien, um dort seinen verschollenen Bruder zu suchen.

6 Forum Stadtpark: http://www.forumstadtpark.at/index.php?idcat=59 (letztes Zugriffsdatum 20.3.2012).

7 Haslinger, Adolf (1992): Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers. S. 85.

Page 13: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

13

Für seine Werke wurde er mehrfach ausgezeichnet. Preise, die Peter Handke erhielt, sind

unter anderen: »Gerhart-Hauptmann-Preis (1967); Peter-Rosegger-Literaturpreis (1972);

Schillerpreis der Stadt Mannheim (1972); Georg-Büchner-Preis (1973); Prix Georges

Sadoul (1978); Franz-Kafka-Literaturpreis (1979); von Handke weitergegeben an die

Autoren Gerhard Meier und Franz Weinzettl; Anton-Wildgans-Preis (1985), abgelehnt;

Literaturpreis der Stadt Salzburg (1986); Großer Österreichischer Staatspreis für Literatur

(1987); Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen (1988); Grillparzer-Preis (1991);

Ehrenpreis des Schiller-Gedächtnispreises des Landes Baden-Württemberg (1995);

Goldener Schlüssel von Smerderevo (1998) (serbischer Poesiepreis); Dramenpreis des

Goethe-Instituts (1993); Blauer-Salon-Preis (2001); Ehrendoktorwürde der Universität

Klagenfurt (2002); Ehrendoktorwürde der Universität Salzburg (2003); Siegfried-Unseld-

Preis für Literatur und Wissenschaft (2004); Berliner Heinrich-Heine-Preis (2007);

Thomas-Mann-Literaturpreis (2008).«8

2.2 Sein Schaffen

Um die Werke von Peter Handke besser zu verstehen, ist laut Peter Pütz wichtig zu wissen,

dass er aus einem Arbeiter-Milieu stammt. Sowohl der Krieg als auch die Zustände in der

Familie beeinflussten ihn. Seinen leiblichen Vater lernte er erst kurz vor seiner Matura

kennen. Bis dahin kannte er nur seinen Stiefvater, der Trinker war. Aus einem

Briefwechsel zwischen Peter Handke und seiner Mutter, der am 20. Oktober 1961

(während Handkes Studiums) einsetzte, erfahren wir vom besonderen Verhältnis zwischen

ihm und seiner Mutter. Immerzu berichtete er ihr von seinem literarischen Schaffen und

bat sie um Kritik. Dadurch gab er ihr die Gelegenheit, aus dem primitiven Familienleben

zeitweise auszubrechen.

Ich habe, seit du von zu Hause fort bist, keine Zeile gelesen, (eine Schande, was?),

ich sehe mich, ohne deine rettende Hand, blitzschnell zurücksinken in die tierische

Primitivität meiner Familie.9

8Pütz P. (2002): „Peter Handke“, Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (hrsg. von H.

L. Arnold). Band 3. Nlg.. München: edition text+kritik, S. 2. 9 Haslinger, Adolf (1992): Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers. S.99.

Page 14: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

14

Es ist anzunehmen, dass diese Lebensverhältnisse, geprägt von den

Nachkriegsverhältnissen und die dadurch beeinflussten Erfahrungen dazu beitrugen, dass

in seinen Werken Motive wie Schmerz und Angst häufig vorkommen. Eine dieser

schmerzlichen Erinnerungen ist schon am Anfang des Werkes Der kurze Brief zum langen

Abschied zu lesen.

Soweit ich mich zurückerinnern kann, bin ich wie geboren für Entsetzen und

Erschrecken gewesen. Holzscheite lagen weit verstreut, still von der Sonne

beschienen, draußen im Hof, nachdem ich vor den amerikanischen Bombern ins

Haus getragen worden war. Blutstropfen leuchteten an den seitlichen

Haustorstufen, wo an den Wochenenden die Hasen geschlachtet wurden10

.

Andere Themen, die bei Peter Handke von zentraler Bedeutung sind, sind »die gestörte

Wahrnehmungsfähigkeit des Individuums und seine Entfremdung durch Sprache und

Gestik«11

.

2.3 Peter Handke und die USA

Die erste Begegnung mit den USA hatte Peter Handke im Jahre 1966, als er zu einer

Tagung der Gruppe 47 an die Eliteuniversität in Princeton eingeladen wurde. Dort ergriff

er das Wort und äußerte seine Meinung zur gegenwärtigen deutschen Prosa, in welcher

seiner Ansicht nach Beschreibungsimpotenz herrsche. Er vertrat den Standpunkt, dass in

der deutschen Literatur nur beschrieben werde und es an Reflexionen fehle.

Man sucht sein Heil in einer bloßen Beschreibung, was von Natur aus schon das

billigste ist, womit man überhaupt nur Literatur machen kann. Wenn man nichts

mehr weiß, dann kann man immer noch Einzelheiten beschreiben. Es ist eine ganz,

ganz unschöpferische Periode in der deutschen Literatur doch hier angebrochen,

und dieses komische Schlagwort vom »Neuen Realismus« wird von allerlei Leuten

ausgenutzt, um doch da irgendwie ins Gespräch zu kommen, obwohl sie keinerlei

Fähigkeiten und keinerlei schöpferische Potenz zu irgendeiner Literatur haben.

10

Handke, Peter (1974): Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag. S. 9. 11

Walter, Jens (Hrsg.): Kindlers neues Literaturlexikon, S. 253.

Page 15: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

15

(Gemurmel) Es wird überhaupt keinerlei Reflexion gemacht. Es wird eine

Philosophie vorgegeben, eine Weltanschauung vorgegeben, in der man so tut, als

gäbe es nur die Beschreibung von Einzelheiten und Vorgängen.12

Trotz Handkes radikaler Ausdrucksweise, nahmen die Anwesenden die Kritik positiv auf.

Im Jahre 1971, nach dem Selbstmord seiner Mutter, unternahm Handke eine weitere Reise

durch Amerika mit seiner damaligen Frau Libgart und dem Schriftsteller Alfred

Kolleritsch.

Auch im Jahre 1978 begab sich Handke auf eine Reise nach Amerika. Von Alaska über

New York reiste er dann wieder zurück in seine Heimat. Ende des Jahres 1978 war diese

Heimkehr der Grund für seine bisher größte existentielle Krise in seiner Karriere als

Schriftsteller.

12 Im Wortlaut: Peter Handkes „Auftritt“ in Princeton und Hans Mayers Entgegnung. In: Arnold, H. L. (Hrsg.)

(1989): Text+Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 24. 5. Auflage: Neufassung. S.17.

Page 16: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

16

3. Das Werk "Der kurze Brief zum langen Abschied"

3.1 Entstehung

Das Werk Der kurze Brief zum langen Abschied entstand im Jahre 1972. Peter Handke

ordnet dieses Werk in keine genaue Gattung ein, er bezeichnet es lieber als abenteuerliche

Geschichte. Von Kritikern wird es jedoch als Erzählung bzw. Entwicklungsroman

bezeichnet. Es wird als Neuansatz in Handkes Schaffen gesehen trotz der Verwendung der

Themen aus den vorherigen Texten. Die Handlung spielt in den USA und beginnt auch

sofort dort. Das Werk kann als Entwicklungsroman bezeichnet werden, da der Erzähler

»eine veränderte Disposition von Leben als einen schrittweisen Bewußtwerdungsprozess

[sic!] reflektiert und erfährt«13

. Er tritt die Reise mit dem Wunsch nach einer Veränderung

seines Bewusstseins an. Durch verschiedene Erlebnisse und die dadurch hervorgerufenen

Erinnerungen, die durch die fremde Umgebung erzeugt werden, tritt eine Wandlung im

Selbstbewusstsein des Erzählers ein.

Das Werk besteht aus zwei Kapiteln; aus den Kapiteln Der kurze Brief und Der lange

Abschied. Beide Kapitel beginnen mit einem Zitat aus dem Werk Anton Reiser von Karl

Phillip Moritz.

Handke zufolge sollte der Titel Der lange Abschied eine Metapher für die Trennung oder

auch für das isolierte Leben sein, zu dem sich die beiden Hauptpersonen seiner Geschichte

entschließen.14

Der Titel Der kurze Brief bezieht sich dabei auf den Brief, den der Ich-

Erzähler gleich am Anfang des Werkes entgegennimmt. Es ist ein Brief von seiner Frau

Judith, der wie folgend lautet: »Ich bin in New York. Bitte suche mich nicht, es wäre nicht

schön, mich zu finden.«15

Von hier an beginnt eine Jagd, bei der der Jäger nicht nur Jäger

bleibt, sondern auch zum Opfer wird.

13

König, Hartmut (1987): Peter Handke. Sprachkritik und Sprachverwendung. Anmerkungen zu ausgesuchten Texten. Hollfeld: Joachim Beyer Verlag. S.97. 14

vgl. Zeit Online: Dos Gespräch mit dem Autor: Peter Handke. Ohne zu verallgemeineren (http://www.zeit.de/1972/13/ohne-zu-verallgemeinern/seite-2 letztes Zugriffsdatum: 12.6.2012). 15

Handke, Peter (1974): Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag. S. 9.

Page 17: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

17

3.2 Plot

Der Ich-Erzähler beschließt durch Amerika zu reisen, nachdem er sich von seiner Frau

Judith getrennt hat. Der Erzähler kommt im Hotel Wayland Manor in Providence an, wo er

einen Brief seiner Frau entgegennimmt, in dem sie ihm mitteilt, er solle nicht nach ihr

suchen. Daraufhin beginnt er diverse Hotels zu wechseln und begibt sich schließlich auf

einen längeren Ausflug mit seiner ehemaligen Geliebten, Clair Madison und ihrer Tochter.

Die kleine Reisetruppe kommt in Indianapolis bei einem Liebespaar, den Freunden von

Claire, an. Sie bleiben eine Weile dort und verbringen Zeit mit dem Liebespaar. Der

Erzähler erhält nun einen Drohbrief von seiner Frau Judith; es wird klar, dass sie ihn töten

will. Daraufhin gehen sie gemeinsam ins Kino, wo sich der Protagonist den Film Mr.

Young Lincoln von John Ford ansieht. Nach dem Film beschließt er, John Ford zu

besuchen und ihm mitzuteilen, dass ihm dieser Film Amerika beibrachte und ihn in gute

Laune versetzte. Am nächsten Tag wollen sie sich die Vorstellung Don Carlos von Schiller

ansehen. Bevor sie abfahren, bekommt er die zweite Nachricht von Judith; ein leeres Paket,

das ihm kleinere Stromschläge versetzt. Im Theater trifft er einen alten Freund, den

Dramaturgen, und unterhält sich mit ihm und Claire über die Schauspieler. Von ihm erfährt

er, dass er mit Judith in Kontakt getreten ist, sich mit ihr verabredet hat, doch sie ist nicht

gekommen. Am nächsten Tag macht er sich auf den Weg nach Tucson, er nimmt Abschied

von Claire und ihrem Kind. Bei der Ankunft am Flughafen sieht er die Tasche von Judith,

von Judith jedoch keine Spur. Daraufhin begibt er sich in ein Motel, wo er mit sich allein

einige Zeit lang verbringt. Am nächsten Tag fährt er nach San Xavier und spaziertherum,

um sich die Gegend anzusehen. Auf dem Weg zurück zum Motel wird er von

Halbwüchsigen beraubt, am Steuer des Wagens soll Judith gesessen haben. Er geht zurück

ins Motel und ruft seine Mutter in Österreich an, um sich nach der Adresse seines Bruders

Gregor zu erkundigen, der in Estacada lebt und arbeitet. Einen Tag darauf kommt er in

Estacada an und erkundigt sich noch am gleichen Tag nach seinem Bruder, hält dabei in

einer Spielhalle an und kehrt in sein Motel zurück. Dort merkt er, dass jemand am

Wasserhahn im Badezimmer geschraubt und Säure hineingekippt hatte. Am nächsten Tag

findet er seinen Bruder, überlegt es sich jedoch anders und kehrt in sein Motel zurück. Nun

bekommt er die dritte Nachricht von Judith; diesmal eine Ansichtskarte, die den Treffpunkt

der beiden – ein Ausichtsplatz - kennzeichnet. Daraufhin begibt er sich zum Aussichtsplatz

Page 18: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

18

und wartet auf Judith. Judith kommt mit einem Revolver auf ihn zu, er nimmt ihn ihr

jedoch gleich aus der Hand und steigt mit ihr in einen Bus, der sie am nächsten Morgen in

Kalifornien aussteigen lässt. Zum Schluss besuchen sie gemeinsam John Ford, wo sie sich

dann friedlich trennen.

3.3. Amerika als Handlungsort

Im Folgenden soll Amerika als Handlungsort näher beschrieben werden. Zuerst wird die

Bedeutung Amerikas als Handlungsort erläutert, d. h., warum sich Handke gerade für

Amerika als Handlungsort entschieden hat und nicht für einen anderen Ort. Danach wird

beschrieben, wie der Handlungsort konstruiert wird. Dabei sollen einige Elemente beachtet

werden, mit denen der Erzähler in Kontakt kommt und die gemeinsam Amerika als

Handlungsort bilden.

3.3.1 Konstruktion des Handlungsortes

Handke baute in das Werk einige Elemente der amerikanischen Kultur ein, um den

Handlungsort zu konstruieren. Derartige Elemente holt er aus den Bereichen der Literatur,

des Kinos, der Musik und der Geographie. Er trifft auch auf eine Person, von der er sich

erhofft, sie würde ihm Amerika näher bringen, seine ehemalige Geliebte, Claire Madison.

Im Werk kommen viele reale Ortsnamen vor, die den Protagonisten auf Schritt und Tritt

begleiten. Sogar im ersten Satz des Werkes treten vier geographische Namen auf, unter

anderem der Name der Straße und des Ortes, in welcher sich das Hotel des Protagonisten

befindet. »Die Jefferson Street ist eine stille Straße in Providence. Sie führt um die

Geschäftsviertel herum und mündet erst im Süden der Stadt, wo sie inzwischen Norwich

Street heißt, in die Ausfahrtsstraße nach New York.«16

16

Handke, Peter (1974): Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag. S. 9.

Page 19: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

19

Auch mit amerikanischen Zeitungen tritt der Protagonist häufig in Kontakt. Am Anfang

des Werkes verwendet er sie sogar zur 'Sicherheitsmaßnahme', um nicht von dem Liftboy

beraubt zu werden.

Plötzlich [...] war ich ganz sicher, daß [sic!] der Neger mir gegenüber im nächsten

Augenblick wahnsinnig werden und sich auf mich stürzen würde. Ich zog die

Zeitung aus dem Mantel, die ich noch am Morgen vor der Abfahrt in Boston

gekauft hatte, und versuchte, indem ich auf die Schlagzeile deutete, dem Liftführer

zu erklären, daß [sic!] durch die gerade erfolgte Aufwertung einiger europäischer

Währungen gegenüber dem Dollar mir nichts übrigbliebe, als all mein

umgetauschtes Geld für die Reise zu verbrauchen, weil ich bei einem Rücktausch in

Europa viel weniger dafür bekommen würde. Der Liftführer zeigte als Antwort auf

den Zeitungsstapel unter der Liftbank [...] und nickte mir zu. Die Exemplare der

»Providence Tribune« unter der Bank trugen die gleichen Schlagzeilen wie mein

Exemplar des »Boston Globe«.17

Außerdem tritt der Protagonist in Kontakt mit Literatur. Auf seiner Reise begleiten ihn

zwei bekannte literarische Werke; Der grüne Heinrich von Gottfried Keller und Der

große Gatsby von Scott Fitzgerald.

Beim Lesen des Werkes Der grüne Heinrich erinnert er sich an seine Kindheit und fängt

an zu reflektieren. Der Leser erfährt, er habe die Natur nie wirklich gemocht, da er zu sehr

»in sie hineingeraten war«18

. Der Protagonist war auf dem Land aufgewachsen, er war an

die Natur gewöhnt, und konnte deshalb nicht verstehen, wie sie jemanden befreien konnte.

Dem Protagonisten zufolge waren ihm Stoppelfelder, Obstbäume und Weideflächen

unangenehm und hatten etwas Abschreckendes,19

er verletzte sich oft daran.

Des Weiteren vergleicht sich der Erzähler mit Heinrich Lee, dem Protagonisten des

Werkes Der grüne Heinrich. Er erlebt - so wie die Figur - „Vergnügen an den

Vorstellungen an eine andere Zeit“20

. Dabei bemerkt er, dass es ihm schon seit ein paar

17

Ebd., S.10f. 18

Ebd., S. 50 19

vgl. ebd., S. 50. 20

Ebd., S.142.

Page 20: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

20

Tagen so vorkommt, als ob ihm die Welt offenstehe und dass er jeden Tag mit jedem Blick

etwas Neues erlebe“.21

Es wird deutlich, dass der Erzähler anfängt sich wohler zu fühlen.

Das zweite literarische Werk, Der große Gatsby von Scott Fitzgerald, intensiviert in ihm

das Bedürfnis der Bewusstseinsveränderung, da ihn durch den Protagonisten dieses

Werkes Gefühle wie Heiterkeit und Glück überkommen. Er will durch diese Gefühle seine

negativen Gefühle, Angst zum Beispiel beseitigen, hat jedoch Schwierigkeiten damit. Er

hat keine Umgebung, um die 'neuen' Gefühle zum Ausdruck zu bringen, da er die alte

Umgebung verlassen hatte. Zu einer vollständigen Anpassung an die neue Umgebung war

er jedoch noch nicht bereit, da er sich dazu hätte verstellen müssen.

Es waren Gefühle voll Herzlichkeit, Aufmerksamkeit, von Heiterkeit und Glück,

und ich spürte, daß [sic!] sie mir meine Anlage zu Schrecken und Panik für immer

austreiben mußten [sic!]. Sie waren anwendbar, nie mehr würde ich austrocknen

vor Angstgefühl! Wo aber war die Umgebung, in der ich endlich zeigen würde, daß

[sic!] ich anders sein konnte? Die alte Umgebung hatte ich vorerst zurückgelassen;

in dieser fremden hier schon mehr zu sein als jemand, der die öffentlichen

Einrichtungen benutzte, auf Straßen [sic!] ging, in Bussen fuhr, in Hotels wohnte,

auf Barhokkern [sic!] saß, dazu war ich noch nicht fähig. Ich wollte auch noch nicht

mehr sein, weil ich mich dazu hätte aufspielen müssen.22

Außerdem sieht er im Protagonisten des Werkes Der große Gatsby nahezu ein Vorbild und

bemüht sich um eine Annäherung an seine Persönlichkeit. „So höflich und so rücksichtslos

wie er möchte ich werden, wenn es nicht schon zu spät dafür ist.«23

Im Werk werden darüber hinaus viele Elemente aus der amerikanischen Geschichte

literarisch inszeniert. So sieht der Protagonist zum Beispiel einen Vorhang in einem

Hotelzimmer, der mit Szenen aus der Besiedlung Amerikas bedruckt ist.

Die Socken hingen von der Zentralheizung, und der Vorhang stand mit einem

unregelmäßigen Spalt offen. Er war bedruckt mit Szenen aus der Besiedlung

Amerikas: Sir Walter Raleigh schaukelte zigarrerauchend in seiner Kolonie

21

vgl. Handke, Peter (1974): Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag. S. 142. 22

Ebd., S. 18. 23

Ebd., S. 16.

Page 21: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

21

Virginia; die Pilgerväter, dichtgedrängt auf der »Mayflower«, landeten in

Massachussetts; George Washington ließ sich von Benjamin Franklin die

Verfassung der Vereinigten Staaten vorlesen; die Kapitäne Lewis und Clark

erschossen Schwarzfußindianer auf ihrem Weg vom Missouri in den Westen bis zur

Mündung des Columbia River im pazifischen Ozean (einer der Indianer, in der

Zeichnung weit entfernt auf einem Hügel, hob noch halb den Arm gegen den

Gewehrlauf); und neben dem Schlachtfeld von Appomatox streckte, mit

zurückgelehntem Körper, Abraham Lincoln einem Neger die Hand hin.24

Er begegnet auch einer Parade auf den Straßen und sieht sie sich an. Alle Beteiligten

»trugen Leibchen mit zum Tag passenden Aufschriften: AMERICA, LOVE IT OR

LEAVE IT, OPTIMIST INTERNATIONAL.25

Oft trifft der Protagonist auf ikonographische Elemente der amerikanischen Kultur wie

zum Beispiel Amerika-Schilder, Produkte von amerikanischen Firmen wie Coca Cola,

amerikanisches Geld, typisch amerikanisches Essen wie Hamburger u.a. An einer Stelle

wird sogar ein Kontrast zwischen der deutschen und amerikanischen Kultur deutlich. »Da

ich auch nicht erwartet hatte, etwas zu finden, legte ich sie gleich woanders dazu, kaufte

noch ein paar deutsche Zeitungen und las sie an der Bar eines Drugstore, während ich dazu

ein amerikanisches Bier trank.«26

Weitere Elemente entstammen den Bereichen der Musik, des Theaters und des Films. So

erwähnt der Protagonist beispielsweise die beiden Musiker Janis Joplin und Jimmi

Hendrix, er hört sich in einer Bar Musik aus einer Musikbox an, die ihn wiederum an die

Hauptfigur des Werkes Der große Gatsby erinnert. Bei dieser Erinnerung, hervorgerufen

durch das Lied, wird er plötzlich außerordentlich selbstbewusst und verspricht sich

Veränderungen.

An der Wand neben jedem Tisch befand sich ein Kästchen, an dem man die Platten

der Musicbox drücken konnte, ohne dafür aufzustehen. Ich warf ein

Vierteldollarstück ein und wählte »Sitting On The Dock Of The Bay« von Otis

Redding. Dabei dachte ich an den großen Gatsby und wurde selbstsicher wie noch

24

Ebd., S. 26. 25

Ebd., S. 162. 26

Ebd., S. 34.

Page 22: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

22

nie: bis ich mich garnicht mehr spürte. Es würde mir gelingen, vieles anders zu

machen. Ich würde nicht wiederzuerkennen sein!27

Auf dem Weg aus einer Bar trifft der Erzähler auf einen Studenten, der auf der Rückseite

seines Hemds eine Abbildung von Al Wilson hatte, Sänger der Band Canned Heat. Wir

erfahren vom Erzähler, dass Al Wilson vor einigen Monaten gestorben ist, dass ihn sein

Tod sehr berührt hat und dass er noch immer an seinen Tod denken muss. Beim

Protagonisten werden dadurch schmerzliche Erinnerungen an seine Vergangenheit und

eine Art von Mitgefühl hervorgerufen.

Wilson war ein kleiner und dicklicher Junge. Er hatte Pickel, die man auch im

Fernsehen deutlich sah, und trug eine Brille. Vor einigen Monaten war er vor

seinerm Haus im Laurel Canyon bei Los Angeles in seinem Schlafsack tot

aufgefunden worden. [...] Anders als bei Jimi Hendrix und Janis Joplin, die mir, wie

auch sonst die Rockmusik, immer gleichgültiger wurden, verletzte mich sein Tod

noch immer, und sein kurzes Leben, das ich dann zu verstehen glaubte, schmerzte

mich oft in ruckhaften Halbschlafgendanken.28

Sehr oft wird der amerikanische Filmregisseur John Ford erwähnt, der ein Jahr nach der

Erscheinung des Werkes Der kurze Brief zum langen Abschied starb. Der Protagonist sieht

sich John Fords Film Mr. Young Lincoln an, von dem er behauptet, er hätte ihm Amerika

nähergebracht. Er erwähnt auch amerikanische Schauspieler, wie Henry Fonda oder

Lauren Bacall. Er sieht sich eines Tages ein Theaterstück mit Lauren Bacall an, die bei ihm

Erinnerungen an Judith hervorruft, da sich die beiden seiner Meinung auf die gleiche Art

und Weise bewegen. »Judith fiel mir ein: ihre alltäglichen Bewegungen setzten sich aus

den vielen kleinen Posen zusammen, die hier Lauren Bacalls Körper wie eine Maschine

ausführte.«29

Auch beim Tarzanfilm mit Johnny Weissmüller werden Erinnerungen wach. Der

Protagonist erinnert sich an einen vergessenen Traum eines Flugzeugabsturzes. Obwohl

ihn der Film langweilt, bleibt er im Kino sitzen und sieht sich den Film zu Ende an.

27

Ebd., S. 19. 28

Ebd., S. 22f. 29

Ebd., S. 43.

Page 23: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

23

3.3.2 Bedeutung für den Ich-Erzähler

Der Ich-Erzähler erhofft sich von seiner Amerika-Reise Veränderungen, zu denen seiner

Meinug nach nur Ortswechsel verhelfen können. Man kann behaupten, dass er gierig nach

diesen Veränderungen ist und sie kaum erwarten kann. »Jetzt bin ich den zweiten Tag in

Amerika«, sagte ich und ging vom Gehsteig auf die Straße hinunter und auf den Gehsteig

zurück: »Ob ich mich schon verändert habe?«30

Für Handke ist Amerika das einzige Land, in welchem derartige Veränderungen möglich

sind, da es für ihn die absolute Fremde darstellt. Darum sieht der Protagonist Amerika als

perfektes Ziel, wo er diesen Wunsch realisieren und sich von der Vergangenheit loslösen

kann. Amerika wird im Werk Der kurze Brief zum langen Abschied als eine Utopie

dargestellt und vom Erzähler als paradiesisch empfunden und als solches inszeniert. „Es

war ein Anblick, der mich befreite und unbeschwert machte. Erleichtert schaute ich, in

einem paradiesischen Zustand in dem man nur sehen wollte und in dem einem das Sehen

schon ein Erkennen war.«31

Aus der realen Perspektive entspricht das idyllische Amerika des Ich-Erzählers jedoch

nicht dem wahren, gegenwärtigen Bild Amerikas. Man könnte behaupten, dass Amerika

für den Ich-Erzähler einen fiktiven Raum darstellt, in dem alles möglich sei und ihm auch

die Möglichkeit zur gewünschten Veränderung gewähre. Amerika als fiktiver Raum wird

an einer Stelle im Text besonders deutlich. Der Unterschied zwischen dem fiktiven

Amerika des Ich-Erzählers und dem realen Amerika wird bei einer Unterhaltung zwischen

dem Protagonisten und seiner Geliebten hervorgehoben.

»Ich habe kein Amerika, wo ich hinfahren kann wie du«, sagt Claire. »Du bist hier

her gekommen wie mit einer Zeitmaschine, nicht um den Ort zu wechseln, sondern

um in die Zukunft zu fahren«. Wir hier haben keinen Sinn mehr dafür, was mit uns

werden soll.32

30

Handke, Peter (1974): Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag. S. 17. 31

Ebd., S. 36. 32

Ebd., S. 80.

Page 24: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

24

Handke zufolge sei Amerika für die Geschichte nur ein Vorwand, der Versuch, eine

fremde Welt zu finden, in der er persönlich werden kann. Er könne das gleiche Abenteuer

in Europa nicht schreiben, da er sich keinen Ort denken könne, bei dem die Gegenstände,

bei dem die Außenwelt eine ähnliche Herausforderung darstellen würden.33

3.4 Der Erzähler

3.4.1 Beschreibung des Ich-Erzählers

Beim Protagonisten handelt es sich um einen österreichischen Schriftsteller, der in der

Mitte der Handlung seinen 30. Geburtstag erlebt. Es scheint, dass er sich vor Kurzem von

seiner Frau Judith getrennt hat und nun in Amerika nach Veränderungen sucht und seine

Vergangenheit überwinden will. Außerdem erfährt der Leser, dass der Protagonist schon

seit einiger Zeit eine Abneigung gegenüber der Religion empfindet, kein Auto mehr fährt

und unter Angstzuständen und Angstträumen leidet, die der Leser im Laufe der Geschichte

mehrere Male miterlebt.

[...] die Nase begann auf einmal zu brennen, als hätte sie mit aller Gewalt in etwas

hineingehackt, und da erst merkte ich, es war wieder die Todesangst, nicht die

Angst vor dem eigenen Tod, sondern eine fast wahnsinnige Angst vor dem

plötzlichen Tod andrer, die nun, da ich nach der langen Fahrt abgesetzt worden war,

körperlich wurde.34

Wie bereits erwähnt, tritt der Protagonist die Reise an, um seine Vergangenheit zu

vergessen und sich zu ändern. Er ist der Meinung, dass ihm dabei die Ortswechsel helfen

würden. Der Ich-Erzähler verspricht sich durch den Ortswechsel Veränderungen. »Ist es

also wohl zu verwundern, wenn die Veränderung des Orts oft so vieles beiträgt, uns

dasjenige, was wir uns nicht gern als wirklich denken, wie einen Traum vergessen zu

machen?«35

33

Zeit Online: Dos Gespräch mit dem Autor: Peter Handke. Ohne zu verallgemeineren (http://www.zeit.de/1972/13/ohne-zu-verallgemeinern/seite-2 letztes Zugriffsdatum: 11.6.2012) 34

Ebd., S. 30. 35

Ebd., [S. 107]

Page 25: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

25

Außerdem führt der Protagonist oft Selbstgespräche. »In diesem Bus müssen mir die Haare

ausgegangen sein«. Verwundert setzte ich mich auf den Rand der Badewanne, denn zum

ersten Mal, seit ich ein Kind gewesen war, hatte ich wieder angefangen, mit mir selber zu

reden.«36

Der Leser bemerkt auch, dass der Protagonist sehr vorsichtig ist und alles voraus plant. Er

hat Zuhause in Österreich viel über die Kriminalität Amerikas gehört und hat sich deshalb

darauf vorbereitet. »Im Sitzen streifte ich den Mantel ab und blätterte die Reisechecks

durch, die ich noch in Österreich, weil man viel von Raubüberfällen sprach, gegen Bargeld

eingetauscht hatte.«37

Des Weiteren hat der Ich-Erzähler einen hysterischen Sinn für Zeit, der auch an mehreren

Stellen in der Geschichte deutlich wird. Er verspürt den Drang, so schnell wie möglich

Veränderungen an Objekten festzustellen.

Vor Jahren hatte ich einmal eine dicke Frau im Meer baden sehen und alle zehn

Minuten zu ihr hingeschaut, weil ich allen Ernstes glaubte, sie müsste doch

inzwischen schlanker geworden sein.38

Mit der angestrebtern Assimilation in die neue Umgebung hat er am Anfang noch

Schwierigkeiten. So verspürt er beispielsweise ein Ekelgefühl vor allem Fremdem.

Und trotzdem: so sehr es mich trieb, der Gegend gegenüber aufmerksam und offen

zu sein, so schnell wich ich jetzt doch jedem aus, der mir auf dem Gehsteig

entgegenkam, unwillig über ein andres Gesicht, mit dem alten Ekel vor allem, was

nicht ich selber war.39

Deutlich wird jedoch bald, dass ihm die Assimilation gelingt und er mit der Umgebung

Eins wird und fängt an sie zu akzeptieren. In einer Bar spielt er sogar mit den

Einheimischen ein Würfespiel und beginnt sie zu akzeptieren. »Ich merkte, wie ich

allmählich erst anfing, die Umgebung ohne Anstrengung aufzunehmen.«40

36

Ebd., S. 12. 37

Ebd., S. 14f. 38

Ebd., S.20. 39

Ebd., 18f. 40

Ebd., S. 24.

Page 26: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

26

3.4.2 Die Erlebnisse in den USA und deren Einfluss auf die Identität

Verschiedene Erlebnisse, die dem Erzähler wiederfahren, rufen unter anderem auch

Kindheitserinnerungen hervor. Diese verändern sein gegenwärtiges Denken und somit sein

Selbstbewusstsein.

Am Anfang des Werkes tritt deutlich in Erscheinung, dass der Protagonist

Integrationsschwierigkeiten hat. Er ist an einen fremden Ort angelangt und fühlt sich

außerdem noch unangenehm. Dem Leser wird jedoch bald klar, dass der Protagonist

beginnt die Umgebung wahrzunehmen und sie in sich aufzunehmen. Er fängt an New York

als Naturschauspiel zu empfinden und fühlt sich dabei wohl.

Erst jetzt fing ich an, die Stadt, die ich vorher fast übersehen hatte, in mir

wahrzunehmen. Eine Umgebung holte mich ein, an der ich tagsüber nur

vorbeigegangen war.[...]

Und trotzdem war mir dieser Vorgang angenehm: das Muster von New York

breitete sich friedlich in mir aus, ohne mich zu bedrängen. Ich saß entspannt und

doch neugierig da, aß ein Lammsteak, zu dem ich mich eingeladen hatte, trank dazu

Rotwein aus Kalifornien, der mich mit jedem Schluck noch durstiger machte, und

erlebte die zusammengedrängte, immer noch nachdröhnende Stadt als sanftes

Naturschauspiel.41

Das Wohlempfinden und Integrieren steigert sich durch die gesamte Geschichte. Ein

anderes Beispiel für seine Integration wäre schon am Anfang der Geschichte. Er hat

Schwierigkeiten mit dem Trinkgeld, dass er dem Portier im Hotel Wayland Manor geben

will. Anstatt eines Eindollarscheins gibt er ihm versehentlich einen Fünfdollarschein. Im

nächsten Hotel gelingt ihm dies dann sofort. »Diesmal gelang es mir, dem Japanes, der mir

den Koffer heraufgetragen hatte, sofort den Eindollarschein zuzustecken.«42

Der Protagonist beginnt die fremde Umgebung um sich herum zu akzeptieren und sie

intensiver wahrzunehmen.

41

Ebd., S.47. 42

Ebd., S.29.

Page 27: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

27

Auf einmal kam mir die Landschaft, durch die wir bis jetzt nur durchgefahren

waren, wie ein Ort vor, an dem man auch angkommen könnte. Ich fing zu reden an

und war erleichtert, daß [sic!] ich dabei nicht mehr, wie früher, die eigene Stimme

hörte.43

Beim Zeitvertreib mit Claire und ihrem Kind erlebt der Protagonist auch Momente der

Fröhlichkeit, die ansonsten nicht charakteristisch für seine Persönlichkeit sind.

Ich bemerkte, daß [sic!] noch ein paar Kinderkleider an der Wäscheleine hingen,

und legte sie, ohne Claire etwas zu sagen, in die Tasche, in die sie die anderen

kleinen Sachen gepackt hatte. Ich war angesteckt von der Heiterkeit ringsherum.

Das Kind hinten im Auto, fuhren wir aus Phönixville hinaus.44

An manchen Stellen wird der Leser über den Ich-Erzähler zum Zeuge der Veränderung des

Protagonisten. So erlebt er zum Beispiel seine erste schmerzlose Erinnerung.

»Erst jetzt entdecke ich bei mir so etwas wie eine tätige Erinnerung«, sagte ich,

»während ich vorher nur eine leidende Erinnerung kannte.45

In seiner Vergangenheit sind beim Protagonisten existenzielle Schwieriegkeiten zu

erkennen, die er – zumindest scheint es so – endlich überwindet. Anstatt des Wunsches zu

verschwinden, will er mit großem Enthusiasmus einer veränderten Zukunft begegnen.

Natürlich war es lächerlich, wenn einem die Decke weggezogen wurde und man

immer noch dasaß, aber wichtiger für die Erinnerung war doch der ganz kurze

Augenblick, man sei auch wirklich nicht mehr da. Und dieses Gefühl lege ich jetzt

nicht mehr als Sehnsucht aus, vom Erdboden zu verschwinden, sondern als Freude

auf eine Zukunft, in der ich nicht mehr der sein würde, der ich im Augenblick

war.46

Als die Beziehung zwischen dem Protagonisten und Judith beinahe vollständig zerstört

gewesen ist, hat sich der Protagonist eine Beziehung mit einer Frau nicht mehr vorstellen

können. Nun verspürt er die Einsamkeit und wird sich bewusst, dass er dieses Gefühl nicht

43

Ebd., S.77. 44

Ebd., S.72. 45

Ebd., S.77. 46

Ebd., S.78

Page 28: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

28

mehr verkraften kann und sich von ihm loszulösen wünscht. »Eine Eidechse huschte jetzt

am Rand meines Blickfelds; es war aber nur das Hotelschild am Türschlüssel, das immer

noch an der Tür herumschaukelte. »Ich will nicht mehr alleine sein«, sagte ich.«47

So beginnt er wieder von Beziehungen zu anderen Personen zu träumen. »Daß [sic!] ich

jetzt wenigstens wieder davon träumte, mit einer Frau zusammenzusein, belebte die lange

Nacht und ließ mich ungeduldig aufwachen.«48

Sein Bedürfnis nach einer Beziehung wird ihm des Weiteren beim Betreten einer Kirche

bewusst.

Als ich zum Altar hinschaute, sah ich der Erinnerung davor eine Schwalbe fliegen.

Wieder versank ich in jeden Augenblick. Die Religion war mir seit langem

zuwider, und trotzdem verspürte ich auf einmal eine Sehnsucht, mich auf etwas

beziehen zu können. Es war unerträglich, einzeln und mit sich allein zu sein.49

Außerdem ruft Amerika beim Protagonisten Kindheitserinnerungen hervor. Dabei bemerkt

er, dass er bei verschiedenen Erlebnissen nur Zuschauer gewesen ist und nicht wirklich an

ihnen teilgenommen hat. Durch die Angstzustände und Angstträume wird deutlich, dass

ihn die alten negativen Gefühle noch immer verfolgen. »Ich bemerke, wie sich bei mir in

Amerika jetzt die Kindheitserlebnisse wiederholen«, sagte ich. »Alle Ängste, Sehnsüchte

stellen sich wieder ein, die ich schon längst hinter mir glaubte.«50

Erinnerungen und Veränderungen werden auch oft durch Benedictin, Claires Tochter,

hervorgerufen. So wird sich der Erzähler beim Umgang mit dem Kind über seine Eitelkeit

klar und über seine fehlende Aufmerksamkeit im Bezug auf die Umgebung. Er wird vom

Kind über verschiedene Angelegenheiten befragt und bemerkt, dass ihm die

gewöhnlichsten Wörter fehlen. So hat er beispielsweise Schwierigkeiten mit den

Benennungen mancher Bewegungen oder Geräuschen. Handke selbst litt an einer

Sprachkrise, die an dieser Stelle in der Geschichte deutlich wird.

47

Ebd., S.58. 48

Ebd., S.83. 49

Ebd., S.165. 50

Ebd., S.96.

Page 29: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

29

Als ich mit dem Kind zusammen war und immer wieder nach den Namen von

Sachen gefragt wurde, merkte ich auch, wie sehr ich mich bis jetzt fast nur um mich

selbst gekümmert hatte, denn von nicht wenigem in der Umgebung wußte [sic!] ich

nicht, was er war.51

Durch das Kind erinnert sich der Protagonist auch an ein Kindheitserlebnis, aus im von der

Außenwelt fast vollkommen isolierten Internat. So hat er schon in seiner Kindheit von

Erlebnissen nur erzählen und sie nicht wirklich erleben können. Trotz der Umstände hat er

sich seiner Meinung nach mehr Erlebnismöglichkeiten beigebracht, als er sie in der

Außenwelt hätte erleben können. Auf diese Weise hat er sich ein System von Erlebnissen

konstruiert.

In dem Internatsystem, in dem ich aufgewachsen war, war man von der Außenwelt

fast abgeschnitten, und doch brachte es mir, gerade durch die Vielzahl der Verbote

und Verneinungen, weit mehr Erlebnismöglichkeiten bei, als ich in der Außenwelt,

in einer üblichen Umgebung, hätte lernen können.52

Dem Leser wird anvertraut, dass es dem Protagonisten in seiner Kindheit schlecht beim

Anblick eines Bildes zumute gewesen ist, das in Wirklichkeit kein reales Motiv dargestellt hat.

Unwohl hat er sich auch beim Lesen einer fiktiven Geschichte oder beim Lesen einer Geschichte

ohne personalen Erzähler gefühlt. Nun trifft er auf Benedictin, die Tochter von Clair, die im

absoluten Gegensatz zu ihm steht. Die Natur wird von ihr fast nicht mehr wahrgenommen, da sie

die künstlichen Zeichen und Gegenstände der Zivilisation schon als Natur erfährt. »Daß [sic!] das

Kind hier sofort schon die Nachahmungen und Zeichen als etwas für sich anschaute, machte mich

dann wieder fast eifersüchtig.«53

Beim Gespräch mit dem Liebespaar bemerkt er, dass er die Gemeinsamkeit hinter jedem Objekt

eine Bedeutung zu erkennen mit dem Paar teilt. Der Ehemann ist nicht fähig, ein Ereignis ohne

historischen Hintergrund zu zeichnen. Auch hat für die Frau kein Objekt Bedeutung, wenn es nicht

historisch gekennzeichnet ist. »Eine Mammuteiche allein war kein Bild: sie wurde erst dann eins,

51

Ebd., S.116. 52

Ebd., S.124. 53

Ebd., S.118.

Page 30: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

30

wenn sie für etwas andres dastand: zum Beispiel dafür, daß [sic!] die Mormonen auf ihrem Zug

zum Great Salt Lake darunter gelagert hatten.«54

Der Protagonist unterhält sich mit einem Soldaten, den er durch Zufall kennenlernt. Er

bemerkt dabei, dass er seit langem wieder ohne Anstrengung mit einer Person aus der

Nähe reden kann. Während der Unterhaltung bekommt er jedoch das Gefühl, er ließe bei

anderen einen unschuldigen Eindruck und sei deshalb der perfekte Zuhörer für unwichtige

bzw. törichte Geschichten. Dies verstärkt in ihm den Wunsch nach einer radikalen

Persönlichkeitsveränderung.

Dem Protagonisten wird auch plötzlich klar, dass er wegen seiner monotonen Lebensweise

anstatt Erinnerungen, nur Angstzustände erlebt hat.

»Ich hatte nie etwas, womit ich das, was ich täglich sah, vergleichen konnte. Alle

Eindrücke waren Wiederholungen schon bekannter Eindrücke. Damit meine ich

nicht nur, daß [sic!] ich wenig herumkam, sondern daß [sic!] ich auch wenig Leute

sah, die unter anderen Bedingungen lebten als ich. Da wir arm waren, erlebte ich

fast nur Leute, die auch arm waren. Da wir so wenig Dinge sahen, gab es nicht viel

zu reden, und so redeten wir fast jeden Tag das Gleiche.« 55

Nur durch Angstzustände konnte er die Umwelt wahrnehmen. »Angstzustände waren

deswegen für mich immer Erkenntnisvorgänge, und nur wenn ich Angst hatte, achtete ich

auf die Umgebung, ob sie mir etwas ein Zeichen zum Besseren oder noch Schlechteren

gäbe, und erinnerte mich später daran.«56

Er beschließt außerdem eine neue, für ihn angemessenere Lebensart zu beginnen.

Ich wusste, dass ich mich von all diesen Beschränktheiten nie mehr loswünschen

würde, und daß es von jetzt an nur darauf ankam, für sie alle eine Anordnung und

eine Lebensart zu finden, die mir gerecht wäre, und in der auch andre Leute mir

gerecht werden könnten.57

54

Ebd., S.119f. 55

Ebd., S.75. 56

Ebd., S.75. 57

Ebd., S.101.

Page 31: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

31

Der Ich-Erzähler wirkt auch bald toleranter im Hinblick auf andere Menschen. Früher hat

er sich vor Anderen beim Bemerken ihrer Andersartigkeit geekelt. Nun fühlt er anstatt des

Ekels nur noch Mitleid mit anderen Personen, da sie seine Erlebnisse nicht miterleben

können.

Hatte mich früher oft ein Schwindel und dann ein Ekel gepackt bei der Vorstellung,

daß [sic!] jemand etwas anderes war als ich selber, so ließ ich in diesen

Augenblicken sich die Vorstellung zum ersten Mal ruhig zuende bilden und fühlte

statt des selbstbezogenen Ekels ein tiefes Mitleid mit Claire, daß [sic!] sie nicht an

meiner Stelle sein konnte, daß [sic!] sie nicht das erleben konnte, was ich gerade

erlebte – wie langweilig mußte [sic!] ihr sein, als Claire! -, und wurde dann wieder

neidisch, dass es mir umgekehrt genauso erging.58

Der Protagonist erfährt mit seiner Amerikareise einen bisher völlig neuen Traum von

Amerika erfährt. Am selben Tag überfällt ihn auch eine neuartige Lebenslust, die er so

noch nie gespürt hat. Er behauptet, er hätte sich früher von anderen und deren

Lebensformen beeinflussen lassen, nun schaut er ihnen nur gelassen zu. Er befindet sich

ausschließlich in der Rolle des Beobachters, was ihn auch beeinflusst.

Ich saß da, wir aßen und tranken und ich war mit mir einverstanden. Ich wurde nun

aber nicht lebhaft, sondern eher faul, bewegte mich kaum, achtete nicht mehr auf

mich selber, konzentrierte mich auch nicht wie früher auf die andern, alle

Beobachtungen geschahen nur, ohne Anspannung, als Folge eines allgemeinen

Lebensgefühls. Wenn die anderen tanzten, schaute ich nur zu, ganz bei ihnen, ohne

daß [sic!] ich mich aufgefordert fühlte, mitzutanzen. Ich konnte nicht mehr

verstehen, wie ich mich einmal von anderen Lebensformen hatte erpressen lassen.59

Das hier zuletzt erwähnte Erlebnis verdeutlicht die Selbstbewusstwerdung des

Protagonisten. Beim Leser wird der Anschein geweckt, dass der Protagonist sein Leben

nach eigenem Wunsch lebt, niemanden nachahmen und sich von niemandem beeinflussen

lassen will. Er geht ins Kino, wo er sich einen Film von John Ford ansieht, der ihn an seine

Kindheit erinnert. Als Kind hat er immer danach gestrebt, die Bewegungen der Gestalten

58

Ebd., S.102. 59

Ebd., S.122.

Page 32: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

32

aus den Filmen nachzuahmen. Nun bemüht er sich jedoch, nicht so zu werden wie sie,

sondern so zu werden „wie es ihm möglich war“.60

60

Ebd., S.135.

Page 33: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

33

4. Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Handke, Peter (1974): Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main:

Suhrkamp Taschenbuch

Sekundärliteratur

Printliteratur:

Arndal S., Nielsen H., Ballehaard Petersen A. u.a. (2010): Geschichte der

deutschen Literatur 2. Vom 10. Jahrhundert bis zur gegenwart. Band 2. München:

Verlag C. H. Beck.

Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.) (1989): Peter Handke. Text+Kritik. Zeitschrift für

Literatur. Heft 24. 5. Auflage: Neufassung. Göttingen: edition text+kritik GmbH.

Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.) (2002): Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen

Gegenwartsliteratur. München: edition text+kritik GmbH.

Fuchs G., Melzer G. (Hrsg.): Peter Handke. Die Langsamkeit der Welt. Graz:

Literaturverlag: Droschl.

Haslinger, Adolf (1992): Peter Handke. Jugend eines Schriftstellers. Salzburg und

Wien: Residenz Verlag.

Walter, Jens (Hrsg.) (1990): Kindlers neues Literaturlexikon. Band 7. München:

Kindler Verlag GmbH.

Kabič, Slavija (1991): Das Thema des Schmerzes bei Peter Handke/The Theme of

Pain in Peter Handke’s Works. In: Znanstvena revija humanistika 1, S. 215-221.

Page 34: UNIVERZA V MARIBORU FILOZOFSKA FAKULTETA … · - Franz Kafka ZAHVALA Zahvaljujem se mentorju, izr. prof. dr. Matjažu Birku za strokovno pomoč in napotke pri ... Peter Handke je

34

Kahrmann C., Reiß G., Schluchter M. (1991): Erzähltextanalyse. EIne EInführung.

Mit Studien- und Übungstexten. 2. Auflage der überarbeiteten Neuausgabe des

bisher zweibändigen Taschenbuchs. Frankfurt am Main: Hein (Athenäums

Studienbuch:Literaturwissenschaft).

König, Hartmut (1978): Peter Handke. Sprachkritik und Sprachverwendung.

Anmerkungen zu ausgesuchten Texten. Hollfeld: Joachim Beyer Verlag.

Thuswaldner, Werner (1976): Sprach- und Gattungsexperiment bei Peter Handke.

Praxis und Theorie. Salzburg: Verlag Alfred Winter.

Internetquellen:

Zeit Online: Dos Gespräch mit dem Autor: Peter Handke. Ohne zu verallgemeinern

(http://www.zeit.de/1972/13/ohne-zu-verallgemeinern, letztes Zugriffsdatum:

11.6.2012).