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Leseprobe zu Tipke/Lang Steuerrecht, 19. Auflage 19. völlig überarbeitete Auflage, 2008, 1272 S., gbd, ISBN 978-3-504-20141-8 69.80 € www.otto-schmidt.de _________________________________________________________________________ Weitere Informationen zum Titel unter www.otto-schmidt.de

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Leseprobe zu

Tipke/Lang

Steuerrecht, 19. Auflage

19. völlig überarbeitete Auflage, 2008, 1272 S., gbd,

ISBN 978-3-504-20141-8

69.80 €

www.otto-schmidt.de

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Weitere Informationen zum Titel unter www.otto-schmidt.de

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§ 4 Rechtsstaatliche Ordnung des Steuerrechts

A. System des Steuerrechts

Literatur : C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz entwickelt am Bei-spiel des deutschen Privatrechts, Berlin 1969; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft[6],Berlin u.a. 1991, Kap. 6 (Begriffs- und Systembildung in der Jurisprudenz), 437 ff.; K. Tipke, Steuer-recht – Chaos, Konglomerat oder System?, StuW 1971, 2; K. Tipke, StRO I[2], 61 ff.; P. Kirchhof, DieSteuerrechtsordnung als Wertordnung, StuW 1996, 3; P. Kirchhof, Die Widerspruchsfreiheit imSteuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, 316; M. Strahl, Die Bedeutung der Grundprinzipiendes Steuerrechts f�r die (Abwehr-)Beratung, K�SDI 2003, 13833.

1. Problemstellung: Rechtsstaatliche Systemhaftigkeit oder Chaos der Besteuerung?

Das Stakkato der Steuer�nderungsgesetzgebung verleiht der das Forscherleben von K. Tipkebeherrschenden Frage „Steuerrecht – Chaos, Konglomerat oder System?“1 brennende Aktua-lit�t. Das Steuerrecht wird nicht als Materie des Rechts gehandhabt, sondern zum Vehikelvon parteipolitischen Positionen2 und Gruppeninteressen gemacht, die in der pluralistischenDemokratie das Gemeinwohl verdr�ngen3. Die un�bersehbare Vielzahl der verschiedenstenparteilich geltend gemachten gesellschaftlichen Interessen determinieren das sog. Steuer-chaos, eine Unordnung der Besteuerung, in der unbestimmt und unbestimmbar wie dasWetter ist, welche Interessen welcher gesellschaftlichen Gruppe wann und mit welcher In-tensit�t auf die �nderung welchen Steuergesetzes einwirken4. Die Folgen sind nicht nurSteuerunrecht, sondern auch erhebliche Steuerunsicherheit. Die institutionelle Unsicherheitder Besteuerung erzeugt Planungsunsicherheit und vermittelt dem Steuerzahler das Gef�hl,Besteuerung lasse sich beliebig manipulieren. Der B�rger empfindet den Steuerstaat nicht alsRechtsstaat, sondern als uners�ttlichen Leviathan. Folglich sieht er sich legitimiert, skrupellosnach mehr oder weniger legalen Steuertips und Steuertricks zu fahnden. Unseri�se Steuer-Ratgeber erzielen Millionenauflagen. Der Betrug des Staates, die Steuerhinterziehung, gilt alsKavaliersdelikt.

Es m�sste eigentlich im allseitigen Interesse liegen, dass Besteuerung als Recht mit den Eigen-schaften von gerechter Ordnung und Sicherheit verstanden und gestaltet wird. Das liegt nichtnur im rechtlichen, sondern auch im �konomisch-ordnungspolitischen Interesse an der Effi-zienz einer Wirtschaftsordnung. F�r die Agenten und Vertreter des Staates (Steuerpolitiker,

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1 So der programmatische Titel der Abhandlung (StuW 1971, 2) zu Beginn der StuW-Herausgebert�tig-keit.

2 Dazu S. F. Franke, Steuerpolitik in der Demokratie, Das Beispiel der Bundesrepublik Deutschland,Berlin 1993; M. Findling, Die Politische �konomie der Steuerreform, Eine Untersuchung der politi-schen Grenzen von Steuerreform unter besonderer Ber�cksichtigung der Steuerreform 1990, Aachen1995.

3 Dazu grundl. H. H. v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, Die Durchsetzungsschw�che all-gemeiner Interessen in der pluralistischen Demokratie, Ein Beitrag zu verfassungsrechtlichen Grund-fragen der Wirtschaftsordnung, Frankfurt 1977. H. Weber-Grellet, Strukturwandel des Steuerstaats,DB 2007, 1717, f�hrt die Reformunf�higkeit des Steuerrechts auf strukturelle M�ngel der repr�senta-tiven Demokratie zur�ck.

4 Dazu n�her J. Lang, FR 1993, 661, 664 f. (Steuerchaos als Produkt des Interessenpluralismus); J. Lang,Stbg. 1994, 10; A. Raupach, Wege aus dem Chaos, in: FS f�r F. Klein, K�ln 1994, 309; W. Sch�uble,Steuerpolitik als gesetzgeberische Aufgabe, in: FS f�r F. Klein, K�ln 1994, 241; H. Helsper, DieChaotisierung der Steuerrechtsordnung als Folge eines verfehlten Zusammenspiels von politischerF�hrung und juristischer Expertenkompetenz, BB 1995, 17; aus beratender Sicht: C. T. Jebens, BB1995, 1057 (zur Planungsunsicherheit); L. Fischer, Steuerchaos und betriebliche Standortwahl – unterBer�cksichtigung der steuerlichen F�rdermaßnahmen f�r die neuen Bundesl�nder, in: FS f�r A. Heigl,Berlin 1995, 171; H. Helsper, Die Chaotisierung der Steuerrechtsordnung und die Verantwortung derF�hrungskr�fte, BB 1996, 2326; M. Jachmann, Wider das Steuerchaos, Stuttgart 1998.

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Finanzbeamte, Finanzrichter) erhebt sich die Forderung, dass der Rechtsstaat dort sein Handelnrechtfertigt, wo er dem B�rger allt�glich begegnet und ihm dabei etwas wegnimmt. F�r dasSteuerrechtsbewusstsein der B�rger ist unabdingbar, dass ihnen der Rechtsstaat die �berzeu-gung vermittelt, sie m�ssten die Steuern der anderen nicht mitbezahlen.

Die Systemlehre von K. Tipke5, auf der dieses Buch basiert, stellt an das Steuerrecht die An-forderungen von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit, die ganz allgemein das Wesen des „richti-gen“ Rechts ausmachen. Der Weg von einer Unordnung des Steuerrechts zu einer rechtsstaat-lichen Ordnung des Steuerrechts, zur rechtsstaatlichen Systemhaftigkeit der Besteuerung, istkein Sonder- oder gar K�nigsweg des Steuerrechts. Das Steuerrecht hat die Ordnung zu leisten,die ebenso den anderen Rechtsgebieten abverlangt wird. Deshalb kann auch im Steuerrecht aufdie allgemeinen Systemlehren namentlich von C.-W. Canaris und K. Larenz zur�ckgegriffenwerden6.

Das viel zitierte Steuerchaos kennzeichnet einen historischen Entwicklungsstand des Steuerrechts,das trotz biblischen Alters des Steuerwesens ein junges, durch Rechtstradition noch wenig gefestigtesRechtsgebiet ist. Da es im Zentrum der Sozialgestaltung durch den Gesetzgeber steht, findet es kaumdie Ruhe, sich zu stabilisieren. Daher ist in der bisherigen Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-land eine Rechtsreform nicht gegl�ckt7. Die Steuergesetzgebung agiert zunehmend mehr gegen dieIdee einer von Prinzipien wohlgeordneten Ordnung des Steuerrechts8. Das gilt besonders f�r dieSteuergesetzgebung der 16. Legislaturperiode (s. § 8 Rz. 90 ff.). Indessen belegt die Vielzahl der Re-formvorschl�ge zur Besteuerung von Einkommen (s. § 8 Rz. 75 ff.), dass die Zeit reif ist f�r die �ber-windung des Steuerchaos. Hierzu stellt sich allerdings die Frage, wann eine Reformpers�nlichkeit wiezuletzt Matthias Erzberger (s. § 9 Rz. 7, dort Fn. 15) auf den Plan tritt, um die Rechtsreform desSteuerrechts durchzusetzen und die Ordnung des Steuerrechts herzustellen, auf die der rechtsstaatlichverfasste Staat angewiesen ist.

2. Das �ußere System9

Das �ußere System betrifft die Art der formalen Stoffanordnung, die technische Gliederung undOrdnung des Stoffes, die m�glichst �bersichtlich sein soll. Elemente des �ußeren Systems sinddie Ordnungsbegriffe des Gesetzes10, der Gesetzesaufbau und die Stellung des einzelnenRechtssatzes in der Gliederung des Gesetzes. Mit diesen Elementen operiert die sog. systemati-sche Methode der Gesetzesauslegung (s. § 5 Rz. 72 f.). Die Rechtserkenntnis aus dem �ußerenSystem h�ngt von dem juristischen Reifegrad des anzuwendenden Gesetzes ab. Je pr�ziserBegriffe und Gliederung eines Gesetzeswerks auf der Grundlage ausgefeilter juristischer Dog-matik die vom Gesetzgeber gewollten Rechtsfolgen verdeutlichen und die rationale Fortent-wicklung des Rechts und der Rechtsdogmatik gestatten, desto eher werden Juristen geneigt undin der Lage sein, mit dem �ußeren System zu argumentieren11.

§ 4 Rz. 2–5 § 4 Rechtsstaatliche Ordnung des Steuerrechts

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5 Umfassend ausgebreitet in dem dreib�ndigen Werk „Die Steuerrechtsordnung“ (StRO, s. § 1 Fn. 1).6 C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz entwickelt am Beispiel desdeutschen Privatrechts, Berlin 1969; K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft[6], Berlin u.a.1991, 437 ff.

7 Dazu J. Thiel, StuW 2005, 335; K. Tipke, Ein Ende dem Einkommensteuerwirrwarr!?, Rechtsreformstatt Stimmenfangpolitik, K�ln 2006, S. 22 ff.; H. Weber-Grellet (Fn. 3). Zu den j�ngsten Tendenzens. R. Seer, Das Steuerrecht als Experimentierklausel?, JbFSt. 2007/2008.

8 Umfassend erl�utert und entwickelt von K. Tipke, StRO I–III (s. § 1 Rz. 4, dort Fn. 1). S. zuletztK. Tipke, Steuergerechtigkeit unter besonderer Ber�cksichtigung des Folgerichtigkeitsgebots, StuW2007, 201.

9 Dazu P. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, T�bingen 1932, 52 ff., 142 ff.; C.-W. Ca-naris (Fn. 6), 19; K. Larenz (Fn. 6), 437 ff.; K. Tipke, StRO I[2], 61 ff.

10 I.S.v. P. Heck (Fn. 9), 52 ff. Vgl. auch K. Larenz (Fn. 6): Das �ußere oder „abstrakt-begriffliche“System.

11 Die Vorliebe f�r Argumente aus dem �ußeren System ist besonders bei Juristen zu bemerken, die aufGebieten des klassischen, im BGB geregelten Zivilrechts t�tig sind. K. Larenz (Fn. 6), 439: „Auchheute noch verm�gen sich nur wenige Juristen, auch wenn sie Anh�nger einer ,Wertungsjurispru-denz‘ sind, der Faszination durch das abstrakt-begriffliche System zu entziehen ...“.

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Die juristische Qualit�t der Steuergesetze leidet besonders unter der Chaotisierung des Steuer-rechts durch eine an tagespolitischen Zielen orientierte Steuer�nderungsgesetzgebung. Mitunterbekommen die Steuergesetze die Qualit�t von Wegwerfgesetzen. Dadurch erweisen sich Argu-mente aus dem �ußeren System der Steuergesetze h�ufig als untauglich, so dass f�r die Ge-winnung akzeptabler Rechtsfolgen zwangsl�ufig andere Methoden eingesetzt werden m�ssen.

Entsprechend dem verschiedenen Entwicklungsstand des Steuerrechts verwirklichen die Steuer-gesetze das �ußere System in unterschiedlicher Qualit�t. Das �ußere System der Abgaben-ordnung ist trotz der oben (§ 2 Rz. 12) aufgezeigten M�ngel im großen und ganzen ausgereift.Stellenweise schlimm ist die Qualit�t der Steuergesetze, die die einzelnen Steuerarten regeln.Z.B. l�sst der Aufbau des EStG den Funktionszusammenhang von Vorschriften nicht erkennen.So sind z.B. die privaten Abz�ge i.S.d. § 2 IV, V EStG (s. § 9 Rz. 700 ff.) an verschiedenenStellen geregelt. Grundlegende Merkmale einkommensteuerbarer Eink�nfte wie die Marktein-kommensqualit�t (s. § 9 Rz. 52) sind im EStG nur partiell, in § 15 II EStG positiviert.

Das �ußere System des Steuerrechts f�nde seinen idealen Ausdruck in einem Steuergesetzbuch12. Es istgeeignet, das innere, inhaltliche System optimal in eine formale und sprachliche Ordnungsstrukturumzusetzen. Es gew�hrleistet eine in sich stimmige Terminologie und macht die Besteuerung juris-tisch transparent. Es verschafft n�mlich dem Steuerzahler einen �berblick �ber die Gesamtheit seinerBelastung. Schließlich tr�gt es dazu bei, das Steuerrecht materiell zu stabilisieren. Die Zeit ist reif f�reine Kodifikation des Steuerrechts. Auf der einen Seite hat der desolate Zustand der Steuergesetze inden letzten Jahrzehnten dazu herausgefordert, bedeutende Fortschritte in der Rechtserkenntnis derBesteuerung zu erzielen, die f�r die Formulierung des Steuergesetzbuchs nutzbar gemacht werdenk�nnen. Auf der anderen Seite erweckt der Zustand der Unordnung ein entsprechendes Ordnungsbe-d�rfnis. Das Steuerchaos bildet einen typischen Entstehungsgrund f�r die Kodifikation: Alle großenKodifikationen des Rechts hatten einen Zustand gesteigerter Unordnung des geltenden Rechts zu�berwinden, dienten der Rechtsbereinigung, -vereinheitlichung und -vereinfachung, der Corpus juriscivilis Justinians I., der Code civil Napoleons und das BGB, das die Verschiedenheit der deutschenLand- und Provinzrechte abl�ste.

3. Das inhaltliche oder innere System13

Nach dem Verst�ndnis der herrschenden Wertungsjurisprudenz14 beruhen die Regeln einerRechtsordnung auf bestimmten Wertungen, nach denen die Rechtsgemeinschaft ihre Verh�lt-nisse ordnet. Diese Wertungen bilden das inhaltliche oder innere System einer Rechtsordnung.Ein inneres System kommt grunds�tzlich nur dann zu Stande, wenn die verschiedenen Wer-tungen aufeinander abgestimmt sind und in den Regeln der Rechtsordnung folgerichtig voll-zogen werden15. Die normative Folgerichtigkeit des inneren Systems begr�ndet auch die Wider-spruchsfreiheit der Rechtsordnung16.

Sodann entwickelt sich ein gerechtes, von der Rechtsgemeinschaft allgemein akzeptiertesRechtssystem nur auf der Grundlage sachgerechter Wertungen, das sind Wertungen, die zumeinen den rechtsethischen Konsens der Rechtsgemeinschaft zum Ausdruck bringen und zumanderen der Sachlogik des Regelungsgegenstandes gerecht werden, daher sachbezogen oder sach-

Inneres System Rz. 6–10 § 4

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12 S. J. Lang, Entwurf eines Steuergesetzbuchs, BMF-Schriftenreihe, Heft 49, Bonn 1993; K. Tipke,Gedanken zu einem Steuergesetzbuch, Zugleich zum Steuergesetzbuch-Entwurf von Joachim Lang,StuW 2000, 309, sowie das Projekt „Steuergesetzbuch“ der Stiftung Marktwirtschaft, Berlin(www.stiftung-marktwirtschaft.de).

13 Grundl. f�r das Steuerrecht K. Tipke, dessen Lebenswerk auf die Erforschung des inneren steuerrecht-lichen Systems angelegt ist (s. J. Lang, StuW 2001, 78, 80 ff.). S. zuletzt K. Tipke, StRO I[2], 67 ff. (Dasinhaltliche, materiale oder innere System als Prinzipienhierarchie). Die Systemlehre von K. Tipkebasiert auf der Wertungsjurisprudenz von K. Larenz (Fn. 6), 474 ff., und der Systemlehre von C.-W.Canaris (Fn. 6), 40 ff. (dazu J. Lang, StuW 2001, 80 f.).

14 Umfassend dazu K. Larenz (Fn. 6). S. auch § 5 Rz. 41.15 Grundl. C.-W. Canaris (Fn. 6), 40 ff.16 Dazu P. Kirchhof, Die Widerspruchsfreiheit im Steuerrecht als Verfassungspflicht, StuW 2000, 316;

H. Sodan, Das Prinzip der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, JZ 1999, 864.

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angemessen sind17. Bei dem �konomischen Regelungsgegenstand der Besteuerung ist die �kono-mische Rationalit�t ein bedeutender Faktor der Sachgerechtigkeit. Das Steuerchaos zeigt, dass�konomisch unvern�nftige Besteuerungsformen meist auch ungerechte sind (s. Rz. 99 ff.). Dem-nach sollten sich juristische Wertungen den z.T. „wertfrei“ (s. § 1 Rz. 45, 46) gewonnenen Er-kenntnissen der �konomischen Wissenschaften nicht verschließen, vielmehr �konomische Wir-kungsmechanismen und nat�rliche Verhaltensweisen des homo oeconomicus einkalkulieren.Darum hat die interdisziplin�re Kooperation der Steuerwissenschaften (s. § 1 Rz. 42) f�r dieErkenntnis �konomischer Rationalit�t des Steuerrechts so eminente Bedeutung.

3.1 Prinzipien als Tr�ger des inhaltlichen oder inneren Systems

a) Das inhaltliche oder innere System der Rechtsordnung wird getragen von den Prinzipien alsordnungsstiftende Grundwertungen; sie sind richtunggebende Maßst�be, die durch denrechtsethischen Konsens rechtliche Entscheidungen zu rechtfertigen verm�gen18. DerartigeRechtsprinzipien oder Rechtsgrunds�tze, auch bezeichnet als (allgemeine) Rechtsgedankenoder Auspr�gungen der Rechtsidee bed�rfen durchweg der Konkretisierung; sie bestimmenkeine Rechtsfolgen; dadurch unterscheiden sie sich von den Einzelwertungen und Rechtss�tzen(Normen, Regeln)19. Die Einzelwertung liegt dem Rechtssatz zugrunde, der die Rechtsfolgeanordnet.

W�hrend Regeln oder Normen die ihnen zu Grunde liegenden Einzelwertungen entwedererf�llen oder nicht erf�llen, anwendbar oder nicht anwendbar sind, gebieten Rechtsprinzipienals Richtwerte die optimale Verwirklichung des ihnen immanenten rechtsethischen Konsenses;demnach sind sie Optimierungsgebote. Jedoch sind Rechtsprinzipien auch dadurch charak-terisiert, dass sie in unterschiedlichen Graden erf�llt werden k�nnen20, weil die Ordnung desRechts nicht prinzipienmonistisch, sondern -pluralistisch zusammengef�gt ist. Deshalb k�nnendie verschiedenen Rechtsprinzipien in einer Regel zusammenwirken, sich erg�nzen oder ein-ander widersprechen21. Rechtsprinzipien haben entweder einen konstruktiven Inhalt (z.B. Be-steuerung nach der Leistungsf�higkeit) oder einen prohibitiven Inhalt (z.B. verfassungsrechtli-che Schranken der Besteuerung); dabei wirken h�ufig konstruktive und prohibitive Prinzipienzusammen (z.B. Verbot einer �berm�ßigen Besteuerung nach der Leistungsf�higkeit).

Rechtsprinzipien haben unterschiedlichen Rang und unterschiedliche Wirkkraft. Das inhaltlicheoder innere System der Steuerrechtsordnung wird durch folgende Hierarchie von Prinzipienbestimmt:

aa) Systemtragende Prinzipien des Steuerrechts sind Rechtsprinzipien, die das steuerrechtli-che System im Ganzen tragen. Es handelt sich um Prinzipien, die der Rechtsstaat verb�rgt, umdie Prinzipien formaler und materialer Rechtsstaatlichkeit22. Diese Prinzipien sind zun�chst

§ 4 Rz. 10–13 § 4 Rechtsstaatliche Ordnung des Steuerrechts

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17 Grundl. f�r das Steuerrecht K. Tipke, Steuergerechtigkeit in Theorie und Praxis. Vom politischenSchlagwort zum Rechtsbegriff und zur praktischen Anwendung, K�ln 1981, sowie vertiefend K. Tip-ke, StRO I[2], 273 ff.

18 K. Larenz, Richtiges Recht, Grundz�ge einer Rechtsethik, M�nchen 1979, 23 ff.; K. Larenz (Fn. 6),474.

19 Dazu ausf. R. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt 1986, 71 ff. (Regeln und Prinzipien); J. Es-ser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts[3], T�bingen 1974, 39 ff.,141 ff. K. Larenz (Fn. 6), 474 ff.; F. Reimer, Verfassungsprinzipien, Ein Normtyp im Grundgesetz,Berlin 2001; M. Progl, Der Prinzipienbegriff, Berlin 2002; H. Bergmann �vila, Theorie der Rechts-prinzipien, Berlin 2006.

20 So die Unterscheidung von R. Alexy (Fn. 19), 75 f., der allg. zugestimmt wird (s. K. Larenz [Fn. 6],475, m.w.N.).

21 Dazu grundl. C.-W. Canaris (Fn. 6), 112 ff.22 Grundl. K. Tipke, StRO I[2], 103 ff. (grundrechtlich-rechtsstaatliche Prinzipien des Steuerrechts),

256 ff. (Gerechtigkeit durch systemtragende Prinzipien). S. auch J. Lang, �ber das Ethische derSteuertheorie von Klaus Tipke, in: FS f�r K. Tipke, K�ln 1995, 12 ff.; S. Schloßmacher, Die system-tragenden Prinzipien des franz�sischen und belgischen Steuerrechts im Vergleich mit den systemtra-genden Prinzipien des deutschen Steuerrechts, Diss., K�ln 1991.

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die verfassungsrechtlichen Prinzipien, das sind im Grundgesetz normierte Prinzipien wie derGleichheitsgrundsatz, das Legalit�tsprinzip, das prohibitive �bermaßverbot oder das konstruk-tive sozialstaatliche Prinzip der sozial gerechten Besteuerung. Die verfassungsrechtlichen Prin-zipien werden sodann steuerspezifisch konkretisiert durch das Prinzip der Besteuerung nachder Leistungsf�higkeit. Das Leistungsf�higkeitsprinzip wird in erster Linie als Vergleichsmaß-stab des Gleichheitssatzes entfaltet und wird deshalb im Zusammenhang mit dem Gleichheits-satz abgehandelt (Rz. 81 ff.). Es wirkt aber auch mit anderen verfassungsrechtlichen Prinzipienzusammen, etwa mit dem �bermaßverbot (s. Rz. 209 ff.), dem Verbot der Benachteiligung vonEhe und Familie (s. Rz. 240 ff.) und dem Sozialstaatsprinzip (s. Rz. 184 ff.). Wenngleich dasLeistungsf�higkeitsprinzip nicht ausdr�cklich in der Verfassung normiert ist (s. § 3 Rz. 8), soerh�lt es verfassungsrechtliche Verbindlichkeit und Wirkkraft durch die Anwendung desGleichheitssatzes und anderer steuerrelevanter Verfassungsnormen. Im Ergebnis ist also festzu-stellen, dass systemtragende Prinzipien des Steuerrechts verfassungskr�ftige Prinzipien sind.Sie sind demnach aus der Wertordnung des Grundgesetzes abgeleitet; diese Wertordnungpr�gt die Ordnung des Steuerrechts als �ffentliches Recht.

bb) Verfassungskr�ftige Subprinzipien: Die systemtragenden Prinzipien des Steuerrechts wer-den durch steuerrechtliche Subprinzipien konkretisiert, die nur f�r einzelne Normgruppen desSteuerrechts gelten. Auch sie haben (mit eingeschr�nkter Intensit�t) verfassungsrechtliche Wirk-kraft, weil sie Wertungen der Verfassung konkretisieren (Beispiele zur Einkommensteuer: Uni-versalit�tsprinzip, Totalit�tsprinzip, Prinzip der Individualbesteuerung, objektives/subjektivesNettoprinzip).

cc) Einfachgesetzliche Prinzipien schließlich detaillieren das inhaltliche oder innere Systemdes Steuerrechts, ohne dass dies so verfassungsrechtlich geboten w�re. Keine verfassungsrecht-liche Verbindlichkeit genießen z.B. das Markteinkommensprinzip (verfassungsrechtlich zul�ssigw�re auch eine Einkommensteuer auf den gesamten Reinverm�genszugang einschließlichSchenkungen und Erbschaften), das Nominalwertprinzip (dem Leistungsf�higkeitsprinzip ent-spr�che besser ein Realwertprinzip) oder Bilanzierungsprinzipien. Einfachgesetzliche Prinzipienhaben vor allem Bedeutung f�r die rechtsdogmatisch folgerichtige Weiterentwicklung von Teil-gebieten des Steuerrechts.

Die Konkretisierungsbed�rftigkeit der Rechtsprinzipien h�ngt von ihrer Stellung in der Prin-zipienhierarchie ab. Hochrangige Prinzipien wie das Leistungsf�higkeitsprinzip sind ihremRang entsprechend abstrakt und daher vieldeutig. F�r die rechtsethische �berzeugungskraft,f�r die Transparenz und Planbarkeit des Steuerrechts kommt es darauf an, auf welche Weise derKonkretisierungsspielraum ausgef�llt wird, ob die Schritte der Konkretisierung auf den ver-schiedenen Stufen der Prinzipienhierarchie folgerichtig, systemkonsequent vollzogen, System-br�che in Gestalt unbegr�ndeter Prinzipverletzungen vermieden werden.

b) Nach der Art der Prinzipienqualit�t lassen sich unterscheiden:

aa) Normierte und normkonzipierende (normsinnkonzipierende, normsinnkonstituierende,normdirigierende, norminspirierende) Prinzipien.

– Normierte Prinzipien sind unmittelbar in einem Rechtssatz niedergelegt. Sie finden sich vorallem im Grundgesetz (z.B. Sozialstaatsprinzip, Gleichheitssatz [besser: Gleichheitsgrund-satz], Rechtssicherheitsprinzip), in allgemeinen Gesetzen, im Allgemeinen Teil eines Geset-zes.

– Bloß normkonzipierende Prinzipien liegen den gesetzlichen Regelungen als sinnstiftendeWertung, Regel, Motivation, Leitidee oder Zweckgedanke zugrunde (ohne normiert, positi-viert zu sein). Das Gesetz selbst nennt die normkonzipierenden Prinzipien nicht ausdr�ck-lich, es ist aber Inkarnation oder Ausfluss solcher Prinzipien. Die normkonzipierenden Prin-zipien sind nicht selbst Normen, sie wirken durch die Normen, werden durch diese – dasPrinzip konkretisierend – in das Normative umgesetzt (Beispiele: Rechtsstaatsprinzip, Prin-zip der Rechtssicherheit, Leistungsf�higkeitsprinzip, Markteinkommensprinzip, Nettoprin-zip, Grundsatz von Treu und Glauben, Bilanzierungsprinzipien).

Inneres System Rz. 13–17 § 4

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bb) Wertende und technische Prinzipien, oder mit anderen Worten: Prinzipien der Gerech-tigkeit (z.B. Leistungsf�higkeitsprinzip) und Prinzipien der Zweckm�ßigkeit. Die Vereinfa-chungsvorschriften etwa sind durch Zweckm�ßigkeit motiviert; sie entsprechen dem Prinzipder Verwaltungsrationalit�t und -praktikabilit�t (s. Rz. 23, 130 ff.). Vereinfachungsvorschriftenk�nnen allerdings auch die Gleichm�ßigkeit der Besteuerung positiv beeinflussen; Vorschriften,die wegen ihrer Kompliziertheit praktisch nicht richtig angewendet werden, beeintr�chtigen dieGleichm�ßigkeit der Besteuerung. Prinzipien bloßer Zweckm�ßigkeit sind auch das Stichtags-prinzip und das Jahresabschnitts- oder Annuit�tsprinzip.

Technische Prinzipien haben nicht die gleiche Wertigkeit wie das (ethische) Leistungsf�higkeitsprin-zip (s. Rz. 130). Der Gesetzgeber muss insoweit gleichm�ßig zur�ckstecken, wie die totale Durch-f�hrung des Leistungsf�higkeitsprinzips verwaltungstechnisch unm�glich oder mit unverh�ltnism�ßi-gem Verwaltungsaufwand verbunden w�re.

3.2 Die steuergesetzlichen Normgruppen im System

Literatur : K. Vogel, Die Abschichtung von Rechtsfolgen im Steuerrecht, StuW 1977, 97; D. Birk,Das Leistungsf�higkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, K�ln 1983, 67 ff., 153 ff., 194 ff.,232 ff.; Mc Daniel/Surrey, International Aspects of Tax Expenditures: A Comparative Study, Deven-ter/Frankfurt u.a. 1985; H. G. Ruppe, HHR, Einf. ESt Anm. 52–57, 65–69 (Febr. 1990); K. Tipke,StRO I[2], 73 ff.

3.2.1 Drei Normgruppen

Bei der Aufdeckung der den Steuergesetzen zugrunde liegenden (normkonzipierenden) Prinzi-pien ist zun�chst zu ber�cksichtigen, dass die in den Steuergesetzen enthaltenen Normenverschieden grundmotiviert, Ausfluss verschiedener Prinzipien sind. Das System ist also nichtmonistisch, sondern pluralistisch oder multifunktional.

Zu unterscheiden sind Fiskalzwecknormen, Sozialzwecknormen und Vereinfachungszwecknor-men. Mit einem Steuergesetz oder einer Norm kann allerdings auch ein Doppel- oder Mehr-fachzweck verfolgt werden.

a) Fiskalzwecknormen

Die meisten Normen der Steuergesetze sind Fiskalzwecknormen (Finanz- oder Ertragszweck-normen, fiskalische oder fiskalisch motivierte Normen). Sie dienen dazu, den notwendigenFinanzbedarf der �ffentlichen Haushalte zu decken (Prim�rfunktion). Sie treffen konkreteSteuerw�rdigkeitsentscheidungen nach Kriterien austeilender (besser: zuteilender) Gerechtig-keit, wobei selbstredend die Grundrechte zu ber�cksichtigen sind. Die Fiskalzwecknormenorientieren sich �berwiegend am Leistungsf�higkeitsprinzip (s. Rz. 81 ff.), jedoch auch am�quivalenzprinzip (s. Rz. 87; Gewerbesteuer: § 12 Rz. 1; Grundsteuer: § 13 Rz. 202). Fiskal-zwecknormen k�nnen Steuerverg�nstigungen sein, die den Steuertatbestand auf die Steuerw�r-digkeitsentscheidung zuschneiden23. So gibt es Fiskalzweckbefreiungen zur Abgrenzung desSteuerobjekts (s. § 9 Rz. 138; § 14 Rz. 91, Rz. 95 f.) und zur Vermeidung steuerlicher Mehrfach-belastungen, international (s. § 2 Rz. 42; § 9 Rz. 138) und national, z.B. im Verh�ltnis der Um-satzsteuer zu besonderen Verkehrsteuern (s. § 4 Nr. 9a/9b UStG; § 14 Rz. 92) und Steuer-erm�ßigungen (s. § 9 Rz. 812 f.) zur Kompensation steuerlicher Zusatzbelastungen, zur Vermei-dung einer �bermaßbesteuerung oder zur Sicherung des Steueraufkommens im internationalenSteuerwettbewerb (s. § 8 Rz. 83, Rz. 93; § 9 Rz. 820). Fiskalzwecknormen haben wohl sozialeAuswirkungen; diese sind jedoch Folge, nicht Zweck der Normen. So haben z.B. die Fiskal-zwecknormen des Einkommen- und Umsatzsteuerrechts nicht den Zweck, die wirtschaftlicheT�tigkeit, die Investition, das Sparen, das Konsumieren zu behindern.

§ 4 Rz. 18–20 § 4 Rechtsstaatliche Ordnung des Steuerrechts

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23 Zu diesen aptiven Steuerverg�nstigungen J. Lang, Systematisierung der Steuerverg�nstigungen, EinBeitrag zur Lehre vom Steuertatbestand, Berlin 1974, 118 ff.

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Drittes Kapitel: Die einzelnen Steuerarten

§ 9 Einkommensteuer

Rechtsgrundlagen: EStG, EStDV, LStDV u.a. einkommensteuerlich relevante Gesetze u. Verord-nungen sind zusammen mit Verwaltungsvorschriften (insb. EStR, LStR) in den periodisch erscheinen-den amtlichen Handb�chern zur Einkommensteuer und zur Lohnsteuer abgedruckt. Das amtlicheEinkommensteuer-Handbuch (EStH) und das amtliche Lohnsteuer–Handbuch (LStH) enthalten je-weils einen Hinweisteil mit der von der Finanzverwaltung anzuwendenden h�chstrichterlichen Rspr.und speziellen Verwaltungsvorschriften (insb. BMF–Schreiben).

Kommentare : Loseblatt–Kommentare von Bordewin/Brandt (EStG), Bl�mich (EStG, KStG,GewStG), Herrmann/Heuer/Raupach (EStG, KStG, Nebengesetze), Kirchhof/S�hn/Mellinghoff(EStG), Korn (EStG), Lademann (EStG) u. Littmann/Bitz/Pust (Einkommensteuerrecht). GebundeneKommentare: P. Kirchhof (Hrsg.), EStG[7], Heidelberg 2007; L. Schmidt (Hrsg.), EStG[26], M�nchen2007.

Monographien/Sammelwerke: E. Becker, Die Grundlagen der Einkommensteuer, M�nchen/Berlin 1940 (Nachdruck: Herne/Berlin 1982); J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommen-steuer, Rechtssystematische Grundlagen steuerlicher Leistungsf�higkeit im deutschen Einkommen-steuerrrecht, K�ln 1981/88; M. Lehner, Einkommensteuerrecht und Sozialhilferecht, T�bingen 1993;K. Tipke, StRO II[2] (2003), 601 ff.; Tipke/Bozza (Hrsg.), Besteuerung von Einkommen, Rechtsver-gleich Italien, Deutschland und Spanien als Beitrag zur Harmonisierung des Steuerrechts in Europa,Berlin 2000; I. Ebling (Hrsg.), Besteuerung von Einkommen, DStJG 24 (2001); M. Wehrheim, Ein-kommensteuer und Steuerwirkungslehre[2], Wiesbaden 2004; H. Schellhorn, Effizienzeffekte der Ein-kommensteuer bei Steuervermeidung, Wiesbaden 2005.

Lehr-/Lernb�cher : Zimmermann/Reyher, Einkommensteuer[15], Stuttgart 2002; Drysch/Weber,Einkommensteuerrecht, Heidelberg 2003; W. Jakob, Einkommensteuer[3], M�nchen 2003; Lippross/Kreft, Einkommensteuerrecht[10], K�ln 2003; Niemeier/Schlierenk�mper/Schnitter/Wendt, Einkom-mensteuer[21], Achim 2005; Rick/Gierschmann/Gunsheimer/Martin/Schneider, Lehrbuch Einkommen-steuer[13], Herne/Berlin 2007; K. v. Sicherer, Einkommensteuer[2], M�nchen 2002; Zenth�fer/Schulzezur Wiesche, Einkommensteuer[9], Stuttgart 2007.

Abhandlungen: J. Popitz, Art. „Einkommensteuer“, in: Handw�rterbuch der Staatswissenschaf-ten[4], Bd. III, Jena 1926, 400 ff.; J. Schumpeter, �konomie und Soziologie der Einkommensteuer, Derdeutsche Volkswirt IV, 1929, 380; N. Andel, Einkommensteuer, in: Handbuch der Finanzwissen-schaft, Bd. II[3], T�bingen 1980, 331; K.-G. Loritz, Die systemgerechte Einkommensteuer – ein un-erreichbares Ziel?, NJW 1986, 9; Arndt/Schumacher, Einkommensbesteuerung und Grundrechte, ZumEinfluß grundrechtlicher Entscheidungen des BVerfG auf die Entwicklung der Einkommensbesteue-rung in der BRD, A�R 118 (1993), 513; K. Klett, Progressive Einkommensteuer und Leistungsf�hig-keitsgrundsatz in der Schweiz – 100 Jahre nach Georg Schanz, in: FS f�r K. Tipke, K�ln 1995, 599;H. W. Kruse, Die Einkommensteuer und die Leistungsf�higkeit des Stpfl., in: FS f�r K. H. Friauf,Heidelberg 1996, 793; H. W. Kruse, Zur Einkommensteuer, StuW 2006, 297; D. Birk, Einf�hrung indas Einkommensteuerrecht, Jura 2007, 432.

Lohnsteuerrecht : Loseblattwerke von H. Br�ck (Handbuch); Hartz/Meeßen/Wolf (ABC-F�hrerLohnsteuer); Heuermann/Wagner (Handbuch); Horowski/Altehoefer (Kommentar); Klein/Flocker-mann/Gersch (Handbuch). Gebundene Werke: J. N. Stolterfoht (Hrsg.), Grundfragen des Lohnsteuer-rechts, DStJG 9 (1986); Kirschbaum/Volk, Lohnsteuer[14], Achim 2004; Grobsh�user/Sauter, Lohn-steuer[12], Stuttgart 2005.

Reformliteratur : s. § 8 Rz. 70 ff.

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A. Allgemeine Charakterisierung

a) Idealiter hat die Einkommensteuer von allen Steuern die h�chste Gerechtigkeitsqualit�t1.Sie ist am besten geeignet, nicht nur die objektive, sondern auch die subjektive Leistungsf�hig-keit des Stpfl. zu ber�cksichtigen. Der hohe Gerechtigkeitswert in Gestalt einer gleichm�ßigenBesteuerung nach der Leistungsf�higkeit wird allerdings nur erreicht, wenn ausnahmslos allenat�rlichen Personen (Universalit�tsprinzip) ihr gesamtes disponibles Einkommen versteuernm�ssen (Totalit�tsprinzip)2 und der Staat auch (z.B. im Bereich der Besteuerung von Zinsen)f�r die Verwirklichung des Universalit�ts- und des Totalit�tsprinzips sorgt.

Theoretisch ist die deutsche Einkommensteuer am Universalit�ts- und am Totalit�tsprinzipausgerichtet. Es gibt keine pers�nlichen Steuerbefreiungen von der Einkommensteuer, wie sieF�rsten, Monarchen und Diktatoren (z.B. Hitler) gew�hrt worden sind. Im internationalenVergleich3 geh�rt die deutsche Einkommensteuer zur Gruppe der „global income taxes“. DieseSteuern sind dadurch gekennzeichnet, dass sie synthetisch die Gesamtheit der Eink�nfte einemeinheitlichen Einkommensteuertarif unterwerfen (synthetische Gesamteinkommensteuer). ImGegensatz dazu steht die analytische Schedulensteuer. Sie besteuert Eink�nfte nach Art ihrerEinkunftsquellen (gewerbliche Eink�nfte, Grundbesitz-, Arbeitseink�nfte etc.). Die Einkunfts-arten werden auf gesonderten Listen (schedules) erfasst und dann jeweils einem gesondertenSchedulentarif unterworfen.

Der oben (s. § 8 Rz. 72 ff.) dargelegte Wettbewerb der Steuersysteme bewirkt international eineAbkehr vom synthetischen System der Besteuerung von Einkommen4. Folge dieses Wettbe-werbs ist insb. die duale Einkommensteuer (s. § 8 Rz. 75); diese Steuer schont Eink�nfte ausfl�chtigem Geld- und Sachkapital, indem sie die sog. Kapitaleinkommen proportional niedrigbesteuert, w�hrend die sog. Arbeitseinkommen, die ganz �berwiegend von sozial ortsgebunde-nen Personen erwirtschaftet werden, weiterhin progressiv besteuert werden. Mit der Abgel-tungsteuer auf Kapitaleink�nfte (s. Rz. 492 ff.) folgt der deutsche Gesetzgeber rudiment�r demKonzept der dualen Einkommensteuer. Auch sonst ist der Grundsatz der synthetischen Ein-kommensteuer im deutschen Einkommensteuerrecht vielfach durchbrochen5, indem einzelneEinkunftsarten mit Sondervorschriften verkn�pft werden (s. Rz. 402 f.).

b) Politisches Kernst�ck der Einkommensteuer ist der progressive Steuertarif. Die Bemes-sungsgrundlage „Einkommen“ ist rechtsdogmatisch bestimmbar, der Tarif hingegen haupts�ch-lich Ausdruck einer bestimmten Gesellschaftspolitik. Die Progression der Einkommensteuerverwirklicht sozialstaatliche Umverteilungsgerechtigkeit (s. § 4 Rz. 197).

c) Die Einkommensteuer ist die ergiebigste Steuer (s. § 8 Rz. 19) mit hoher automatischerAnpassungsf�higkeit (built-in-flexibility) an die jeweilige wirtschaftliche Lage (s. § 8 Rz. 10).

§ 9 Rz. 1–3 § 9 Einkommensteuer

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1 J. Schumpeter, �konomie und Soziologie der Einkommensteuer, Der deutsche Volkswirt IV, 1929,380, bezeichnete sie als die reinste, technisch und juristisch sch�nste Gestalt des Steuergedankens, alsden „H�hepunkt der Steuerkunst des liberalen B�rgertums“.

2 Zur gleichm�ßigen Erfassung des Erwerbseinkommens nach dem Universalit�tsprinzip u. dem Totali-t�tsprinzip J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, K�ln 1981/88, 167 ff.; J. Lang,Prinzipien und Systeme der Besteuerung von Einkommen, DStJG 24 (2001), 49, 61 ff.

3 Dazu N. Andel, Einkommensteuer, in: Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. II[3], T�bingen 1980,331, 333/334; A. Mennel, Steuerrecht und Steuersysteme im internationalen Vergleich, StuW 1973, 1,5 f.; Oldman/Bird, The Transition to a Global Income Tax: A Comparative Analysis, IFA-Bulletin1977, 439; S. R. F. Plasschaert, First Principles about Schedular and Global Frames of Income Taxa-tion, IFA-Bulletin 1976, 99; W. E. Weisflog, in: FS f�r K. Tipke, K�ln 1995, 537, 542 ff. (Schedulen-besteuerung in Großbritannien).

4 A. Bavila, Moving Away from Global Taxation: Dual Income Tax and other Forms of Taxation, ET2001, 211; J. Lang (Fn. 2), 50 f., 73 f.

5 Zur Durchbrechung des Grundsatzes der synthetischen ESt BVerfG v. 21.6.2006, BVerfGE 116, 164,181 (Ungleichbehandlung durch Schedulenbesteuerung muss besonderen Rechtfertigungsanforderun-gen gen�gen); BFH v. 6.9.2006, BStBl. 2007, 167, 169 f., 175 (Mindestbesteuerung); H.-J. Kanzler, FR1999, 363; J. Thiel, in: FS 50 Jahre Fachanw�lte, 75.

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Ihre konjunkturstabilisierende Wirkung k�nnte durch antizyklische Zu- und Abschl�ge von derEinkommensteuerschuld verst�rkt werden. Erg�nzungsabgaben zur Einkommensteuer wie derSolidarit�tszuschlag (s. § 8 Rz. 36) haben konjunkturd�mpfende Wirkung. Deshalb ist es ver-fehlt, sie w�hrend einer Rezession zu erheben.

Die Achillesferse der Einkommensteuer ist ihre formelle Rationalit�t (s. § 8 Rz. 18): Als diemerklichste Steuer provoziert die Einkommensteuer erheblichen Steuerwiderstand. Dadurchwird sie nicht nur zur verwaltungsaufwendigsten Steuer. Der Steuerwiderstand durch Lobbyis-mus und steuerminimierende Gestaltungen verschlechtert dramatisch die Gerechtigkeitsqualit�tder Einkommensteuer. Der desolate Zustand des Einkommensteuerrechts (s. § 4 Rz. 109) ver-anlasst zur Reflexion �ber Besteuerungsformen, die zum einen weniger Steuerwiderstand aus-l�sen und zum anderen die Gleichm�ßigkeit und Totalit�t der Besteuerung von Einkommenerh�hen (s. § 4 Rz. 116 ff.). Die einstige „K�nigin“ der Steuern (s. § 8 Rz. 17) ist zu einerDummensteuer degeneriert, die jene am st�rksten trifft, die am schlechtesten informiert oderberaten sind oder die der Besteuerung wie z.B. die Lohnsteuerzahler am wenigsten ausweichenk�nnen.

d) Zur Geschichte der Einkommensteuer: Ihre Herkunft verdankt die Einkommensteuer nicht derGerechtigkeit, sondern der Ergiebigkeit. An der Wiege der Einkommensteuer stand der Krieg Groß-britanniens gegen Napoleon. Die erste, von William Pitt geforderte und 1799 in Kraft getreteneSteuer auf das Gesamteinkommen war eine Kriegssteuer (bis 1982 hieß die Einkommensteuer derSchweiz „Wehrsteuer“). Sie wurde die Steuer, die Napoleon schlug6. Auch die Anf�nge der Ein-kommensbesteuerung auf deutschem Boden waren von der Finanznot durch Krieg gepr�gt. KarlFreiherr vom Stein propagierte 1806 als Kriegsteuer eine progressive Steuer auf das Gesamteinkom-men mit Selbstdeklaration; er erkannte sie als die „gleichf�rmigste und eintr�glichste Abgabe“(s. B. Großfeld, Fn. 6, 31). Unter seinem Einfluss wurde sie 1808 in Preußen, Litauen und K�nigs-berg eingef�hrt7. Steuern auf Einkommen (zun�chst nur auf bestimmte Eink�nfte) wurden auch inden K�nigreichen Sachsen (ab 1834) und W�rttemberg (ab 1820) sowie in Nassau (1848), Bayern(1848), Hessen (1869) und Baden (1884) eingef�hrt8. Allerdings wurde nach dem Sieg �ber Napoleon1814 die erste, unter dem Einfluss der franz�sischen Erkl�rung der Menschen- und B�rgerrechte von1789 (s. § 4 Rz. 82) rechtsethisch fundierte preußische Einkommensteuer wegen des großen Steuer-widerstandes und der verbreiteten Unehrlichkeit bei der Selbstdeklaration wieder abgeschafft. 1820wurde in Preußen die Klassensteuer eingef�hrt, welche die Stpfl. in f�nf Klassen nach �ußerenWohlstandsmerkmalen einteilte9, was die verhasste Selbstdeklaration er�brigte. Ab 1851 wurde derSteuermaßstab auf das �ffentlich eingesch�tzte Einkommen umgestellt (klassifizierte Einkommen-steuer).

Allgemeine Charakterisierung Rz. 3–5 § 9

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6 Vgl. B. Großfeld, Die Einkommensteuer, Geschichtliche Grundlage und rechtsvergleichender Ansatz,T�bingen 1981, 8.

7 Vgl. B. Großfeld (Fn. 6), 29 ff.; C.-H. Heuer, Karl Freiherr vom Stein als Wegbereiter des deutschenEinkommensteuerrechts, Heidelberg 1988; A. Pausch, Von der Einkommensteuer zur Deklarations-beratung, FR 1979, 441.

8 Zur Geschichte der deutschen Einkommensteuer B. Fuisting, W. Mathiak und A. Thier (zit. in § 1Fn. 65), im weiteren C. Dieterici, Zur Geschichte der Steuer-Reform in Preußen von 1810 bis 1820,Archiv-Studien, Berlin 1875; J. Popitz, Einkommensteuer, in: Handw�rterbuch der Staatswissenschaf-ten[4], Bd. III, Jena 1926, 400; G. Strutz, Kommentar zum EStG 1925, Einleitung, III.: Abriß derGeschichte der Einkommensteuer, 55 ff.; H. Teschemacher, Die Einkommensteuer und die Revolutionin Preußen, T�bingen 1912; B. Großfeld (Fn. 6), 26 ff.; E. Schremmer, Steuern und Staatsfinanzenw�hrend der Industrialisierung Europas, Berlin u.a. 1994, 110 ff. (Preußen), 176 ff. (Deutsches Reich);W. Mathiak, StuW 1995, 352 (Ostpreußen); D. Dziadkowski, FR 1995, 46 (Sachsen); R. Hansen, Diepraktischen Konsequenzen des Methodenstreits, Eine Aufarbeitung der Einkommensbesteuerung, Ber-lin 1996, 47 ff., 179 ff. (Preußen/Sachsen); E. Schremmer, Warum die w�rttembergischen Ertragsteuernvon 1821 u. die s�chsische ESt von 1874/78 so interessant sind, Stuttgart/Leipzig 2002; W. Mathiak,FR 2007, 544 (Preußen).

9 Gesetz v. 30. 5. 1820, Gesetz-Sammlung f�r die K�niglichen Preußischen Staaten, 1820, 140, V.: Lohn-arbeiter, gemeines Gesinde und Tagel�hner; IV.: geringere B�rger und Bauernstand; III.: wohlhabendeB�rger; II.: vorz�glich wohlhabende Einwohner; I.: reiche Einwohner. Der Steuersatz bewegte sichzwischen 0,5 (V) u. 48 (I) Talern. Dazu W. Mathiak, Die preußische Klassensteuer von 1820, Karls-ruhe 1999.

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Den Durchbruch zur modernen Einkommensteuer leisteten das s�chsische EStG v. 2. 7. 187810 unddas preußische EStG v. 24. 6. 189111. Das EStG von 1891 war Teil der epochalen Steuerreform unterdem Finanzminister Johannes von Miquel12, der sein Reformprogramm einer progressiven Einkom-mensteuer vornehmlich mit der Steuergerechtigkeit begr�ndete13. Mit der Miquel'schen Steuerreformwar das Konzept der progressiven Gesamteinkommensteuer (die Grundsubstanz der geltenden Ein-kommensteuer) und das Prinzip der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsf�higkeit14 inder Steuerrechtsordnung fest installiert, allerdings mit einer noch sehr bescheidenen Progression von0,67–4 v.H.; durch unterschiedliche Kommunalzuschl�ge reichte die Spitzenbelastung bis zu 12 v.H.

Eine v�llig neue Qualit�t erhielt die Einkommensteuer mit dem EStG v. 29.3.192015. Die Lasten desverlorenen Ersten Weltkrieges zwangen dazu, das Steueraufkommen um das F�nffache zu steigern.Der im preußischen EStG von 1891 an der Quellentheorie (s. Rz. 50) ausgerichtete Eink�nftekatalogwurde nach der Reinverm�genszugangstheorie (s. Rz. 50) erweitert16 und der Einkommensteuertarifdrastisch auf 10–60 v.H. angehoben. Mit dem EStG v. 10.8.1925 (RGBl. I 1925, 189) wurde im Prin-zip der heute geltende, sowohl auf der Quellen- als auch auf der Reinverm�genszugangstheorie beru-hende Eink�nftekatalog eingef�hrt. Schließlich begr�ndete das EStG v. 16.10.1934 (RGBl. I 1934,1005) die Gesetzesstruktur des geltenden EStG. Seitdem gab es keine große Rechtsreform der Ein-kommensteuer mehr; die Tarifreform 1990 war eine politische Reform, keine Rechtsreform i.S. einerGerechtigkeits- und Vereinfachungsreform (s. 13. Aufl., 181 ff.). Daher hat sich der rechtliche Zustanddes EStG seit 1934 durch die Steuer�nderungsgesetzgebung kontinuierlich verschlechtert.

Zur Entstehungsgeschichte empfiehlt es sich, auf folgende historische Kommentare und Materialienzur�ckzugreifen:

Zum Preuß. Gesetz von 1891: Komm. von B. Fuisting, Berlin 1892; Fuisting/Strutz[8], Berlin 1915.

Zum Gesetz von 1920: Amtl. Begr. in: Verfassungsgebende Deutsche Nationalversammlung 1920,Drucks. 1624; Komm. von G. Strutz[2], Berlin 1920/22.

Zum Gesetz von 1925: Amtl. Begr. in Reichstag-Drucks. III Nr. 795 (1924/25); Komm. von E. Beker,Stuttgart 1933; Bl�mich/Schachian, Berlin 1925; Pißel/Koppe, Berlin/Wien 1932; G. Strutz, Berlin1927.

Zum Gesetz von 1934: Amtl. Begr. in RStBl. 1935, 33 ff.; Komm. von W. Bl�mich[2], Berlin 1937;F. Vangerow, Stuttgart 1936.

Einstweilen frei.

§ 9 Rz. 6–19 § 9 Einkommensteuer

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10 Gesetz- und Verordnungsblatt f�r Sachsen, 1878, 129; vgl. B. Großfeld (Fn. 6), 43 f.; E. Schremmer,Einfach u. gerecht?, Die erste deutsche Einkommensteuer von 1874/78 in Sachsen als L�sung einesReformstaus in dem fr�hindustriellen Land, in: M. Rose (Hrsg.), Integriertes Steuer- und Sozialsys-tem, Heidelberg 2003, 191.

11 Gesetz-Sammlung f�r die K�niglichen Preußischen Staaten, 1891, 175.12 Dazu A. Wagner, Die Reform der direkten Staatsbesteuerung in Preußen im Jahre 1891, FinArch. 2

(1891), 71; A. Pausch, Johannes von Miquel, Stuttgart 1964; T. Kassner, Der Steuerreformer Johannesvon Miquel, Ein Beitrag zur Entwicklung des Steuerrechts, Osnabr�ck 2001.

13 Im April 1889 st�tzte J. v. Miquel im Preußischen Herrenhaus sein Reformprogramm auf die An-nahme, dass die gleichm�ßigere Verteilung der Steuerlasten vom ganzen Volke begr�ßt werde: „Dieseg�nstige Stimmung liegt vor allem in unserem deutschen Gerechtigkeitsgef�hl. Man beschwert sichnicht so sehr �ber hohe Steuern, wenn man sie nur gerecht findet, wohl aber, wenn sie ungleichsind ...“ (zit. nach A. Pausch, Fn. 12, 33).

14 Dazu Pohmer/Jurke, Zur Geschichte und Bedeutung des Leistungsf�higkeitsprinzips, FinArch. 42(1984), 445.

15 RGBl. 1920, 359. Das EStG 1920 war Teil der Reform von 1919/1920 unter dem Reichsfinanzmi-nister Matthias Erzberger. Diese letzte große Steuerreform f�hrte innerhalb von neun Monaten zurVerk�ndung von 16 Einzelsteuergesetzen, darunter die Becker'sche Reichsabgabenordnung (s. § 2Rz. 11). Zu M. Erzberger u. seiner Reform A. Pausch, SteuerStud 1989, 341; A. Pausch (Fn. 12), 32 ff.;H. W. Kruse, Lehrbuch des Steuerrechts, Bd. I (Allgemeiner Teil), M�nchen 1991, 9 ff.

16 Zum Einfluss der Einkommenstheorien auf die Rechtsentwicklung ausf. J. Lang (Fn. 2), 36 ff.

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B. Steuerpflicht

1. Nat�rliche Personen als Steuersubjekte

Steuersubjekt und Schuldnerin der Einkommensteuer ist nach § 1 EStG die nat�rliche Person.Das System gerechter Lastenausteilung bezieht sich letztlich auf den Menschen, auf den finan-ziell leistungsf�higen Staatsb�rger. Schon von daher lebt die Gerechtigkeit des Steuerstaateswesentlich von der Gerechtigkeit der Einkommensteuer, wird die Gerechtigkeit des Steuer-staates am empfindlichsten durch Einkommensteuer-Ungerechtigkeiten gest�rt. Das Einkom-mensteuerschuldverh�ltnis beginnt mit der Vollendung der Geburt und endet mit dem Tode1.Gesch�ftsf�higkeit, Staatsangeh�rigkeit und Wohnsitz/gew�hnlicher Aufenthalt sind f�r dasBestehen des Einkommensteuerschuldverh�ltnisses irrelevant. Wohnsitz/gew�hnlicher Aufent-halt und Staatsangeh�rigkeit (§ 1 II EStG) sind lediglich Kriterien f�r die Art der Einkommen-steuerpflicht (unbeschr�nkte/beschr�nkte Einkommensteuerpflicht).

Auch zusammenzuveranlagende Ehegatten sind jeder f�r sich Steuersubjekt2. § 26b EStG ist inso-fern irref�hrend formuliert3.

Kapitalgesellschaften, Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften und sonstige K�rperschaften sindSubjekte der K�rperschaftsteuer (s. § 1 KStG). Das gilt auch f�r die Einmann-GmbH. Kapitalgesell-schaften sind allerdings insofern auch Einkommensteuersubjekte, als sie Lohnsteuer (eine Art derEinkommensteuer) einzubehalten und abzuf�hren haben (s. § 38 EStG).

Personengesellschaften (z.B. OHG, KG, BGB-Gesellschaft) oder Gemeinschaften sind weder Ein-kommensteuer- noch K�rperschaftsteuerschuldner. Die von ihnen erzielten Gewinne werden denGesellschaftern (Gemeinschaftern) zugerechnet und bei diesen einkommensteuerlich oder k�rper-schaftsteuerlich erfasst (§ 15 I 1 Nr. 2 EStG; dazu § 18 Rz. 9). Technisch geschieht das im Verfahrender gesonderten und einheitlichen Gewinnfeststellung (§§ 179; 180 AO; dazu § 21 Rz. 121 ff.). DasEinkommensteuerrecht negiert die Personengesellschaft oder Gemeinschaft aber nicht. Die B�ndelungvon Leistungsbeziehungen in der Rechtszust�ndigkeit der Gesellschaft oder Gemeinschaft l�sst zwardie Steuersubjekteigenschaft unber�hrt, hat jedoch Konsequenzen bei der Qualifikation, Zurechnungund Ermittlung von Eink�nften (s. § 18 Rz. 9 ff.).

Nach dem Grundsatz der Individualbesteuerung4 sind Bemessungsgrundlage und progressiverTarif der Einkommensteuer auf die einzelne nat�rliche Person zu beziehen. Der Einkommen-steuertarif ist f�r die einzelne nat�rliche Person festgelegt, so dass die Zusammenrechnung derEinkommen von Ehegatten als Bemessungsgrundlage eines Einzelpersonentarifs eine �berh�hteprogressive Steuerbelastung bewirkt, die Eheleute verfassungswidrig diskriminiert (zu diesersog. Haushaltsbesteuerung § 4 Rz. 241). Im weiteren folgt aus dem Grundsatz der Individual-besteuerung, dass jede Person die von ihr erwirtschafteten Eink�nfte zu versteuern hat. Daherist eine �bertragung von Eink�nften oder Einkunftsquellen grds. nicht m�glich; vielmehr stelltsich in der Person eines jeden Einkommensteuersubjekts die Frage, welche Eink�nfte diePerson erwirtschaftet hat. Dies ist eine Frage der pers�nlichen Zurechnung von Eink�nften. DieVerlagerung von Eink�nften zwischen Angeh�rigen ist nach Zurechnungsregeln zu beurteilen,denen der Grundsatz der Individualbesteuerung zugrundeliegt (s. Rz. 162 ff.).

Steuerpflicht Rz. 20–22 § 9

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1 § 1 EStG kn�pft insoweit an die zivilrechtliche Rechtsf�higkeit an. Nach § 1 BGB beginnt die Rechts-f�higkeit des Menschen mit der Vollendung der Geburt. Im BGB ist nicht ausdr�cklich geregelt, dassdie zivilrechtliche Rechtsf�higkeit mit dem Tode endet. Im Falle der Verschollenheit regelt § 49 AOden Todestag.

2 Dazu ausf. J. Lang, Die Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer, K�ln 1981/88, 620 ff., 624 f.(m.w.N.).

3 Vgl. J. Lang (Fn. 2), 624 f.; Schmidt/Seeger, EStG[26], § 26b Rz. 2: Der den Bereich der Eink�nfteerzie-lung und -ermittlung betreffende Grundsatz der Individualbesteuerung werde durch § 26b EStG nichtber�hrt.

4 Dazu J. Becker, Der „Grundsatz der Individualbesteuerung“ im deutschen Einkommensteuerrecht,Diss. M�nster 1970; R. W. K�nemann, Der Grundsatz der Individualbesteuerung im Einkommen-steuerrecht, Frankfurt 2001; Lehner/Waldhoff, KS, EStG, § 1 Rn. A 89 ff., Rn. 141 f.; J. Hey, DasIndividualsteuerprinzip in Einkommen-, K�rperschaft- und Gewerbesteuer, in: GS f�r C. Trzaskalik,K�ln 2005, 219.

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Der Grundsatz, dass die Eink�nfte von dem zu versteuern sind, der sie erwirtschaftet hat, kannindessen nicht ausnahmslos durchgehalten werden. Vielmehr begr�ndet die sachgerechte Verwirk-lichung des Leistungsf�higkeitsprinzips folgende Ausnahmen: So verlangt das Totalit�tsprinzip, dassEink�nfte nach dem Tode der Person, die die Eink�nfte erwirtschaftet hat, von dem Rechtsnachfolger(Erben, Witwe) zu versteuern sind (vgl. § 24 Nr. 2 EStG); dementsprechend ist auch ein Verlustabzug(§ 10d EStG) durch den Erben zu rechtfertigen, wenn der Erbe den �bernommenen Verlust tats�ch-lich tr�gt (s. Rz. 63). Die oben (§ 4 Rz. 104) dargelegten Schwierigkeiten bei der Bewertung ruhendenVerm�gens zwingen auch zu einer intersubjektiven �bertragung stiller Reserven und zum Aufschubder Besteuerung von stillen Reserven (s. § 17 Rz. 211 ff., 220 ff.).

Mit dem Grundsatz der Individualbesteuerung ist eine intersubjektive Korrespondenz steuer-abzugsf�higer Ausgaben und zu versteuernder Einnahmen grds. nicht zu vereinbaren, weil dieSteuerpflicht von Einnahmen und die Abzugsf�higkeit von Ausgaben allein bei der Person zubeurteilen sind, die den Einkommensteuertatbestand verwirklicht: Wer eine Privatwohnungmietet, ein Privatdarlehen aufnimmt oder eine Haushaltshilfe besch�ftigt, kann die Miete, dieZinsen oder den Arbeitslohn (vgl. § 35a EStG) nicht abziehen, obgleich der Vermieter, derDarlehensgeber und die Haushaltshilfe Einnahmen zu versteuern haben. In diesem Sinne gibtes keine Korrespondenz zwischen verschiedenen Steuersubjekten5. Es gibt aber vom Gesetzausdr�cklich angeordnete Ausnahmen, so die in den §§ 9 I 3 Nr. 1; 10 I Nrn. 1, 1a, 1b; 22Nrn. 1, 1a EStG niedergelegten Korrespondenzen. Ein Realsplitting, das wie die §§ 10 I Nr. 1;22 Nrn. 1a–1c EStG den Transfer steuerlicher Leistungsf�higkeit durch Unterhaltsleistungenber�cksichtigt, verletzt weder das Leistungsf�higkeitsprinzip noch den Grundsatz der Indivi-dualbesteuerung, weil die Minderung der Leistungsf�higkeit beim Verpflichteten mit der Er-h�hung der Leistungsf�higkeit beim Berechtigten korrespondiert (s. Rz. 98, 103).

2. Internationale Abgrenzung der Steuerpflicht durch die unbeschr�nkte und be-schr�nkte Steuerpflicht

a) Die Einkommensteuerpflicht wird nach dem international �blichen Wohnsitzprinzip(s.H. Schaumburg, Fn. 6, Rz. 5.11 ff.) abgegrenzt: Hat die nat�rliche Person ihren Wohnsitz(§ 8 AO) oder gew�hnlichen Aufenthalt (§ 9 AO) im Inland, so ist sie unbeschr�nkt einkom-mensteuerpflichtig. Hat sie im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gew�hnlichen Aufent-halt, so ist sie beschr�nkt einkommensteuerpflichtig6.

Im Falle unbeschr�nkter Einkommensteuerpflicht wird das sog. Welteinkommen (s. § 2 Rz. 37)besteuert, d.i. die Summe der Eink�nfte (s. Rz. 40), gleichg�ltig, wo die Eink�nfte erwirtschaftetworden sind. Die pers�nlichen Verh�ltnisse werden durch private Abz�ge i.S.d. § 2 IV, V EStG(s. Rz. 68 ff.) und Steuerfreistellung des Existenzminimums (§ 32a I 2 Nr. 1 EStG) ber�cksichtigt.Es gilt der Normaltarif (§ 32a I EStG) u. Eheleuten wird das Splitting (§§ 26; 26b; 32a V EStG)einger�umt. Demgegen�ber hat die beschr�nkte Einkommensteuerpflicht Objektsteuercharakter(s.H. Schaumburg, Fn 6, Rz. 5.122 ff.): Es werden nach dem international �blichen Territorialit�ts-prinzip (s. H. Schaumburg, Fn. 6, Rz. 5.119 ff.) nur die inl�ndischen Eink�nfte (§§ 1 IV; 49 EStG)ohne private Abz�ge (§ 50 I EStG) und ohne Ehegattensplitting besteuert. Der Normaltarif (§§ 32a I;50 III 1 EStG) wird durch eine Mindestbesteuerung von 25 v.H. (§ 50 III 2 EStG) versch�rft. DerObjektsteuercharakter wird besonders durch den Steuerabzug mit Abgeltungswirkung (§ 50 V EStG)beim Arbeitslohn (§§ 38 ff. EStG), bei Kapitalertr�gen (§§ 43 ff. EStG) u. bei Eink�nften i.S.d. § 50aEStG (u.a. Aufsichtsratverg�tungen u. Eink�nfte von Sportlern u. K�nstlern) konkretisiert. Ausl�ndi-sche Steuern k�nnen nur sehr eingeschr�nkt angerechnet werden (§ 34c I, VI EStG). Die Normen derbeschr�nkten Steuerpflicht bed�rfen permanent der Anpassung an das Europarecht: Der Gesetzgeber

§ 9 Rz. 23–26 § 9 Einkommensteuer

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5 Vgl. K. Tipke, StuW 1980, 8; H. S�hn, StuW 1985, 405 f.; Schmidt/Drenseck, EStG[26], § 8 Rz. 11;Kirchhof/Kirchhof, EStG[7], Heidelberg 2007, § 8 Rn. 15; O. Zugmaier, HHR, EStG, § 2, Anm. 63, u.z.B. BFH/NV 2004, 789 (keine Korrespondenz zwischen Arbeitslohn und Werbungskosten).

6 Dazu H. Schaumburg, Internationales Steuerrecht[2], K�ln 1998, Rz. 5.114 ff.; Gassner/Lang/Lechner/Schuch/Staringer (Hrsg.), Die beschr�nkte Steuerpflicht im Einkommen- und K�rperschaftsteuerrecht,Wien 2004; J. Hey, Das Territorialit�tsprinzip als theoretische Grundlage der beschr�nkten Steuer-pflicht, IWB Fach 3 Gr. 1 S. 2003 (2004); P. Liebing, Beschr�nkte Einkommensteuerpflicht in derEurop�ischen Union, Berlin 2004.

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§ 11 K�rperschaftsteuer

Rechtsgrundlagen: K�rperschaftsteuergesetz; K�rperschaftsteuer-Durchf�hrungsverordnung.

Literatur : Kommentare: W. Bl�mich, EStG, KStG, GewStG, Bd. 4, M�nchen (Loseblatt); D�tsch/Eversberg/Jost/Pung/Witt, Die K�rperschaftsteuer, Stuttgart (Loseblatt); Ernst & Young, KStG,Bonn/Berlin (Loseblatt); Frotscher/Maas, Kommentar zum KStG, Freiburg i.Br. (Loseblatt); Herr-mann/Heuer/Raupach, EStG/KStG mit Nebengesetzen, Bde. 16–18, K�ln (Loseblatt); M�ssner/See-ger, KStG, Herne/Berlin (Loseblatt); M. Streck, KStG mit Nebengesetzen[6], M�nchen 2003; D. Gosch,K�rperschaftsteuergesetz, M�nchen 2005; Erle/Sauter, Heidelberger Kommentar zum KStG[2], Hei-delberg 2006.

Lehr- und Handb�cher : B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht[9], K�ln 1993,558; K. Tipke, StRO II[2], 1163; S. Widmann (Hrsg.), Besteuerung der GmbH und ihrer Gesellschafter,DStJG 20 (1997); G. Rose, Ertragsteuern[18], Berlin 2004, 173; S. F. Seeger (Hrsg.), Perspektiven derUnternehmensbesteuerung, DStJG 25 (2002); J�ger/Lang, K�rperschaftsteuer[17], Achim 2005; D�tsch/Franzen/S�dtler/Sell/Zenth�fer, K�rperschaftsteuer[14], Stuttgart 2004; G. Frotscher, K�rperschaft-steuer, M�nchen 2004; Grobsh�user/Maier/Kies, Besteuerung der Gesellschaften, Stuttgart 2005,Kap. II; Thiel/L�dtke-Handjery, Bilanzrecht[5], Heidelberg 2005, § 11; R. Seer, Die Entwicklung derGmbH-Besteuerung, K�ln 2005; Niehus/Wilke, Besteuerung der Kapitalgesellschaften, Stuttgart 2007;D. Birk, Steuerrecht[10], Heidelberg 2007, § 7 B.

Zum K�rperschaftsteuergesetz 1920/1922: R. Evers, Kommentar zum K�rperschaftsteuergesetz in derFassung vom 30. M�rz 1920/8. April 1922, Berlin 1923; zum K�rperschaftsteuergesetz 1925: R. Evers,Kommentar zum K�rperschaftsteuergesetz vom 10. August 1925[2], Berlin 1927; zum K�rperschaft-steuergesetz 1934: Mirre/Dreutter, Das K�rperschaftsteuergesetz vom 16. Oktober 1934, M�nchen/Berlin 1939. Zur Entwicklung der K�rperschaftsteuer: C. Rasenack, Die Theorie der K�rperschaft-steuer, Berlin 1974; J. Hey, HHR, KStG, Dok. 1 KSt.

Zur Unternehmensteuerreform 2000: s. 18. Aufl., § 11 vor Rz. 10.

A. Allgemeine Charakterisierung

I. Dualismus der Unternehmensbesteuerung durch Nebeneinander von Tren-nungs- und Transparenzprinzip

K�rperschaften unterliegen als eigenst�ndige Steuersubjekte der proportionalen K�rperschaft-steuer. Im Verh�ltnis zwischen K�rperschaft und Anteilseigner gilt das Trennungsprinzip. DasTrennungsprinzip besagt, dass sich K�rperschaft und Anteilseigner grds. wie zwei fremde Drittegegen�berstehen. Sie verf�gen steuerlich �ber getrennte Verm�genssph�ren. Leistungsbeziehungenwerden unter der Voraussetzung ihrer Angemessenheit (s. Rz. 74) anerkannt. An Anteilseignergezahlte Verg�tungen sowie f�r zuk�nftige Verpflichtungen gebildete R�ckstellungen (insb. Pen-sionsr�ckstellungen) mindern das Einkommen der K�rperschaft. Auf der Ebene des Anteilseig-ners werden Leistungsverg�tungen entspr. der verwirklichten Einkunftsart als Eink�nfte ausnichtselbst�ndiger Arbeit (§ 19 EStG), aus Vermietung und Verpachtung (§ 21 EStG) usw. erfasst.Bei Aussch�ttung von Gewinnen an nat�rliche Personen greift zus�tzlich zur K�rperschaftsteuerdie Einkommensteuer ein. Der in einer K�rperschaft erwirtschaftete Gewinn wird folglich aufzwei Ebenen besteuert. Die Gesamtbelastung setzt sich zusammen aus der proportionalen Belas-tung auf der Thesaurierungsebene und der Belastung der Aussch�ttung. Die H�he der Gesamt-belastung h�ngt wesentlich davon ab, ob der Gesetzgeber ein K�rperschaftsteuersystem(s. Rz. 6 ff.) zur Anwendung bringt, das die Vorbelastung auf K�rperschaftsebene ber�cksichtigt.

Dagegen werden Personengesellschaften nach dem Transparenzprinzip besteuert, so dass derGewinn unmittelbar und ausschließlich beim Gesellschafter der progressiven Einkommen-steuer unterliegt (hierzu i.E. § 18 Rz. 9 ff.). Leistungsbeziehungen zwischen Gesellschaft undGesellschaftern wirken sich weder in der Einkommensteuer noch in der Gewerbesteuer aus(s. § 12 Rz. 21); sie werden dem Gesamtgewinn der Personengesellschaft hinzugerechnet. Zwar

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ist die Personengesellschaft – was auch ihrer zivilrechtlichen Rechtsstellung entspricht – partiellals Eink�nfteerzielungs- und Eink�nfteermittlungssubjekt verselbst�ndigt (dazu § 18 Rz. 11).Sie ist aber nicht Steuersubjekt der Einkommensteuer. Auf diese Weise hat der Gesetzgeber dieBesteuerung der Personengesellschaft konzeptionell am Einzelunternehmer ausgerichtet. Dennder Einzelunternehmer verf�gt von vornherein nur �ber eine Besteuerungsebene. Sein Gewinnunterliegt unmittelbar der Einkommensteuer. Bereits zivilrechtlich ist es ihm wegen § 181 BGBnicht m�glich, seine Verm�genssph�ren zu trennen und Leistungsverg�tungen mit seinem Un-ternehmen zu vereinbaren.

Dieses Nebeneinander von K�rperschaftsteuer und Einkommensteuer f�hrt zu einem rechts-formabh�ngigen „Dualismus der Unternehmensbesteuerung“ der Einzelunternehmen undPersonengesellschaften einerseits, der Kapitalgesellschaften und sonstigen K�rperschaften ande-rerseits (dazu ausf�hrlich § 18 Rz. 530 ff.).

II. Bedeutung der K�rperschaftsteuer nach den Unternehmensteuerreformen2008

Die K�rperschaftsteuer hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine beispiellose Entwicklung mit-gemacht. Seit Anfang der 1990er Jahre befindet sich der K�rperschaftsteuersatz in freiem Fall.Wurden thesaurierte Gewinne von K�rperschaften vor 1990 noch entspr. dem damaligen Ein-kommensteuerspitzensatz mit 56 v.H. belastet, wird der Steuersatz ab 2008 infolge der Unter-nehmensteuerreform 2008 (UntStRefG 2008 v. 14.8.2007, BGBl. I 2007, 1912) nur noch 15 v.H.betragen (zur Entwicklung i.E. s. Rz. 110). Mit der abermaligen drastischen Absenkung desK�rperschaftsteuersatzes verschiebt sich das Verh�ltnis zwischen K�rperschaftsteuer undGewerbesteuer. Ab 2008 gewinnt die Gewerbesteuer sowohl absolut als auch relativ zur K�r-perschaftsteuer nochmals an Gewicht1. Bei einem durchschnittlichen Hebesatz von 400 v.H.geht die Gewerbesteuer mit 14 Punkten in die Gesamtbelastung ein (vgl. § 12 Rz. 1 ff.). Sie wirddamit f�r Kapitalgesellschaften und sonstige K�rperschaften mit gewerblichen Eink�nften zurgleichberechtigten Unternehmensteuer neben der K�rperschaftsteuer, bei h�heren Hebes�tzen�bersteigt sie die K�rperschaftsteuer sogar. Um die Belastung von Kapitalgesellschaften richtigeinsch�tzen zu k�nnen, m�ssen K�rperschaft- und Gewerbesteuer – trotz fortbestehender Un-terschiede hinsichtlich Steuerobjekt und Bemessungsgrundlage (vgl. § 12 Rz. 3 ff.) – folglichzwingend zusammen betrachtet werden.

Bemerkenswert ist, dass der Anteil des K�rperschaftsteueraufkommens am Gesamtsteuerauf-kommen bisher nicht in dem Maße gesunken ist, wie der Tarif gesenkt wurde2. Dies magallerdings auch an der wachsenden Anzahl und Gr�ße k�rperschaftlich organisierter Unter-nehmen liegen (H. Hansen, GmbHR 2004, 39).

III. K�rperschaftsteuersystem

1. Vermeidung wirtschaftlicher Doppelbelastung

Wird zun�chst der Gewinn bei der K�rperschaft mit K�rperschaftsteuer belastet, der ausgesch�t-tete Gewinn dann bei dem Anteilseigner (Aktion�r, Gesellschafter einer GmbH u.s.w.) nochmalsder Einkommensteuer unterworfen, so ergibt sich eine wirtschaftliche Doppelbelastung3. Dievolle Doppelbelastung mit K�rperschaftsteuer und Einkommensteuer (sog. klassisches System)versucht man (formal-)juristisch damit zu rechtfertigen, dass K�rperschaft und Anteilseigner je f�r

§ 11 Rz. 2–6 § 11 K�rperschaftsteuer

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1 N. Herzig, DB 2007, 1451; T. R�dder, DStR 2007 Beihefter zu Heft 40, 3.2 S. Inst. FuSt Nr. 444, 46 f.; ferner S. Homburg, FR 2007, 717, mit Hinweis auf Parallelentwicklung imAusland in Fn. 2 u. 3.

3 Wirtschaftliche Doppelbelastung im Unterschied zur juristischen Doppelbesteuerung wegen der Steuer-subjektverschiedenheit von K�rperschaft und Anteilseigner.

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sich Rechtssubjekte seien4. Entgegen BVerfGE 116, 164, 198, reicht dies als Rechtfertigung jedochnicht aus5. Zwar bedarf es der K�rperschaftsteuer schon aus Gr�nden der Wettbewerbsgleichheit,da Gewinne, solange sie thesauriert werden, nicht beim Anteilseigner erfasst werden k�nnen. InH�he des thesaurierten Gewinns verf�gt die K�rperschaft �ber eine eigene, allerdings nur vor-�bergehende Leistungsf�higkeit. Insoweit erg�nzt die K�rperschaftsteuer die Einkommensteuer6.Dies erkl�rt aber noch nicht, warum ausgesch�ttete Gewinne beim Anteilseigner einer K�rper-schaft nochmals belastet werden, zumal wenn sich dadurch insgesamt eine ungleiche Belastung imVerh�ltnis zum Einzelunternehmer oder Gesellschafter einer Personengesellschaft ergibt7.

International haben sich im Laufe der Zeit unterschiedliche (und jeweils wechselnde) Methodenzur teilweisen oder vollst�ndigen Vermeidung der Doppelbelastung herausgebildet. In Betrachtkommen z.B. eine (vollst�ndige oder teilweise) Steuerbefreiung des ausgesch�tteten Gewinns beider K�rperschaft oder beim Anteilseigner, eine (vollst�ndige oder teilweise) Anrechnung derK�rperschaftsteuer auf die Einkommensteuer des Anteilseigners oder eine Milderung der Dop-pelbelastung durch Anwendung eines erm�ßigten Einkommensteuersatzes auf Aussch�ttungenbeim Empf�nger. Durch den Wettbewerb der Steuersysteme (insb. in Europa, s. § 8 Rz. 72 ff.)und den dadurch ausgel�sten Zwang zu niedrigeren K�rperschaftsteuers�tzen ist ein Trend zurWiedereinf�hrung einer mindestens teilweisen Doppelbelastung entstanden8. Stand urspr�nglichdas Bed�rfnis nach Entlastung von der k�rperschaftsteuerrechtlichen Vorbelastung im Vorder-grund, bedarf es nunmehr – außer bei Gesellschaftern mit sehr niedrigem individuellem Ein-kommensteuersatz – einer Nachbelastung auf Anteilseignerebene, um eine Hochschleusung aufdie h�here Einkommensteuerbelastung anderer Einkunftsarten zu erreichen.

F�r 2006 stellen sich die wichtigsten ausl�ndischen K�rperschaftsteuersysteme wie folgt dar9:– Klassische Systeme: Irland, Schweiz;– Teilentlastungssysteme (erm�ßigte Sondersteuers�tze oder Teilfreistellung bei der Einkommen-steuer): Belgien, D�nemark, Finnland, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande, �sterreich,Portugal, Schweden, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, USA;

– Teilanrechnungssysteme: Großbritannien, Japan, Kanada, Spanien;– Vollanrechnungssysteme: Malta;– Steuerbefreiung beim Anteilseigner: Estland, Griechenland, Lettland, Slowakei, Zypern.

Zur Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa s. § 18 Rz. 510 ff.

Teilentlastungssysteme (auch als „Shareholder-Relief-Systeme“ bezeichnet) weichen zwar abvom Ideal einer synthetischen Einkommensteuer, da die Dividendenbelastung nicht mehr exaktder Belastung anderer Eink�nfte entspricht. Sie haben aber bei der Erfassung grenz�berschrei-tender Sachverhalte entscheidende Vorteile, indem sie �ber die (niedrige) K�rperschaftsteuer imSitzstaat der aussch�ttenden Gesellschaft und die (reduzierte) Einkommensteuer im Ans�ssig-keitsstaat des Anteilseigners automatisch zu einer in etwa h�lftigen Aufkommensteilung zwi-schen den beteiligten Staaten f�hren. Zudem lassen sie sich auf verh�ltnism�ßig einfache Weiseeuroparechtskonform auf Auslandssachverhalte10 erstrecken (dazu Rz. 18).

Charakterisierung Rz. 6–7 § 11

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4 Dazu ausf. J. Hey, Harmonisierung der Unternehmensbesteuerung in Europa, Diss., K�ln 1997,241 ff.; J. Hey, HHR, Einf. KSt Anm. 9 ff. m.zahlr.N. (1999); M. Reich, Die wirtschaftliche Doppel-belastung der Kapitalgesellschaften und ihrer Anteilsinhaber, Z�rich 2000; K. Tipke, StRO II[2],1163 ff.; J. Englisch, Dividendenbesteuerung, Diss., K�ln 2005, 96 ff.

5 Zur Kritik an dieser Entscheidung ausf. § 18 Rz. 533 m.N.6 J. Lang, DStJG 24 (2001), 49, 62.7 M. Jachmann, DStJG 23 (2000), 9, 18 f.; W. Sch�n, StuW 2000, 151, 152; J. Hey, DStJG 24 (2001),155, 171.

8 Dazu A. Weinelt, Das deutsche K�rperschaftsteuersystem im Spannungsfeld zwischen nationalerSteuerordnung und europ�ischem Steuerwettbewerb, Diss., K�ln 2007, 88 ff.

9 BMF (Hrsg.), Die wichtigsten Steuern im internationalen Vergleich, Berlin 2006; einen �berblickgeben ferner Mennel/F�rster, Steuern in Europa, USA, Kanada und Japan, Herne/Berlin (Loseblatt).

10 Grds. zur Behandlung von Auslandssachverhalten in unterschiedlichen K�rperschaftsteuersystemenM. Schraufl, K�rperschaftsteuersysteme im internationalen Rahmen unter Effizienzkriterien, Diss.,M�nchen 2004.

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2. Fr�here K�rperschaftsteuersysteme in Deutschland

In Deutschland wurde das klassische System der Doppelbelastung durch das K�rperschaft-steuergesetz 1920 eingef�hrt11. Von 1953 bis 1976 wurde die Doppelbelastung durch einengespaltenen Tarif gemildert (ab 1958 15 v.H. f�r Aussch�ttungen, Regelsteuersatz 51 v.H.).

Von 1977 bis 2000 praktizierte der deutsche Gesetzgeber die Vollanrechnung der K�rper-schaftsteuer auf den ausgesch�tteten Gewinn kombiniert mit einem erm�ßigten Aussch�t-tungssteuersatz auf K�rperschaftsebene12. Die k�rperschaftsteuerrechtliche Vorbelastung wurdebei Aussch�ttung zun�chst auf eine einheitliche Aussch�ttungsbelastung von 30 v.H. herab- bzw.heraufgeschleust und sodann durch Anrechnung auf die Einkommensteuer/K�rperschaftsteuer desAnteilseigners und ggf. Verg�tung vollst�ndig neutralisiert.

Um die Vorbelastung exakt zu erfassen, wurden s�mtliche noch nicht ausgesch�ttete Gewinne (= „f�rAussch�ttungen verwendbares Eigenkapital“, § 29 II KStG a.F.) in einer j�hrlich fortzuf�hrendenGliederungsrechnung erfasst und nach ihrer Vorbelastung unterteilt in:

1. ungemildert (zuletzt in 1999 und 2000 mit 40 v.H.) belastete Eigenkapitalteile (EK 40);

2.mit 30 v.H. belastete Eigenkapitalteile (EK 30);

3. unbelastete Eigenkapitalteile, d.h. Verm�gensmehrungen, die der K�rperschaftsteuer nicht unter-liegen (EK 0).

Je nachdem welchem dieser Teilbetr�ge eine Aussch�ttung entstammte, minderte oder erh�hte sichdie K�rperschaftsteuer nach § 27 I KStG a.F., um das Belastungsniveau der Aussch�ttungsbelastungvon 30 v.H. zu erreichen.

Diese Regelungen behalten f�r einen �bergangszeitraum bis zum Jahr 2017 Bedeutung: Wie darge-stellt, war das EK 40 mit einem latenten Steuerminderungsanspruch verbunden (dem Verm�genswertzukommt) und das EK 0 mit einer latenten Steuerlast. Beides sollte auch nach dem Systemwechselzum Halbeink�nfteverfahren nicht verloren gehen. Allerdings ist die Handhabung der aus dem An-rechnungsverfahren stammenden K�rperschaftsteuerguthaben und Nachbelastungsbetr�ge Gegen-stand permanenten gesetzgeberischen Herumexperimentierens13:

– Durch das StSenkG wurden die Teilbetr�ge des f�r Aussch�ttungen verwendbaren Eigenkapitalszun�chst zum Ende der Anwendung des Anrechnungsverfahrens (i.d.R. 31.12.2000) umgegliedert14

und nochmals gesondert festgestellt (§ 36 KStG). F�r das Folgejahr (i.d.R. 2001) wurde ein Steuer-guthaben i.H.v. 1/6 des EK 40 ermittelt (§ 37 I KStG), das urspr�nglich �ber einen Zeitraum von18 Jahren bei Vornahme ordentlicher Gewinnaussch�ttungen zu einer K�rperschaftsteuerminde-rung f�hren sollte (§ 37 KStG). Entsprechendes galt bei Verwendung von EK 02: bei Aussch�ttungErh�hung der K�rperschaftsteuer um 3/7 (§ 38 KStG)15.

– Mit dem StVergAbG v. 16.5.2003 (BGBl. I 2003, 660) fror der Gesetzgeber als Reaktion auf diemassenweise Mobilisierung der K�rperschaftsteuerguthaben (negatives K�rperschaftsteueraufkom-men in 2001!) die Guthaben f�r Aussch�ttungen zwischen dem 11.4.2003 und vor dem 1.1.2006durch ein sog. „K�rperschaftsteuermoratorium“16 ein. F�r ordentliche Gewinnaussch�ttungen abdem 1.1.2006 wurde die K�rperschaftsteuerminderung wieder gew�hrt, allerdings der H�he nach aufden Betrag begrenzt, der sich durch eine fiktive gleichm�ßige Verteilung des K�rperschaftsteuergut-habens auf die Restlaufzeit der �bergangsregelung bis zum Jahr 2019 ergab (§ 37 IIa Nr. 2 KStG).

§ 11 Rz. 8–10 § 11 K�rperschaftsteuer

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11 Zur geschichtlichen Entwicklung s. B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht[9], K�ln1993, 558 ff.; J. Hey, HHR, KStG, Dok. 1 KSt.

12 Zu den Einzelheiten s. 16. Aufl., § 11 Rz. 35 ff., 140 ff.13 �berblick �ber dem Gesamtkomplex E. Semmler, NWB 2006, Fach 4, 5047 u. 5069.14 Nach BFH BStBl. 2005, 884, verfassungskonform; eigentumsrechtlicher Schutz der K�rperschaft-

steuerguthaben (so J. Hey, HHR, StSenkG, Vor § 36 KStG Anm. R 25 [2001]) offen gelassen.15 Dazu E. Semmler, DStR 2002, 391. Europarechtlich bedenklich im Hinblick auf die Auslegung der

Mutter-Tochter-Richtlinie durch EuGH v. 4.10.2001 – Rs. C-294/99, EuGHE 2001, I-6797 (Athinai-ki Zythopoiia), s. A. Schnitger, GmbHR 2003, 1240; G. Frotscher, BB 2006, 861.

16 Von BFH BStBl. 2007, 662 als verfassungskonform best�tigt; a.A. Streck/Binnewies, DB 2007, 359;ebenso Birk/Desens, DB 2003, 1644; Birk/Desens, StuW 2004, 97; D. Birk, in: GS f�r C. Trzaskalik,K�ln 2005, 345 (aus kompetenzrechtlicher Sicht) und ausf. F. Lenz, Zul�ssigkeit der eingeschr�nktenRealisierungsm�glichkeit von K�rperschaftsteuerguthaben. Eine verfassungsrechtliche Untersuchungdes § 37 IIa KStG i.d.F. des StVergAbG, Diss., Frankfurt/M. 2005.

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– Das SEStEG v. 7.12.2006 (BGBl. I 2006, 2782) ordnet nunmehr f�r die Jahre 2008–2019 in Abkehrvom bisherigen System eine aussch�ttungsunabh�ngige Auszahlung in 10 gleichen Jahresbetr�-gen an (§ 37 V KStG)17; erstmalige Auszahlung zum 30.9.2008 (sog. „kleines“ K�rperschaftsteuer-moratorium). Die Regelung macht die zuvor f�r die volle Nutzung des Guthabens erforderlichekomplexe Aussch�ttungsplanung entbehrlich.

– Eine erneute �nderung der �bergangsregelung sieht das JStG 2008 v. 20.12.2007, BGBl. I 2007,3150, in § 38 IV–X KStG f�r vormals steuerfrei im EK 02 thesaurierte Gewinne vor. Nach derurspr�nglichen �bergangsregelung des StSenkG war bei Aussch�ttung des EK 02 eine Nachver-steuerung i.H.v. 3/7 des Aussch�ttungsbetrags vorgesehen, die allerdings durch Verzicht auf Aus-sch�ttung von EK 02 w�hrend des �bergangszeitraums vermieden werden konnte. Nunmehr isteine aussch�ttungsunabh�ngige Nachversteuerung von 3 v.H. des Nachversteuerungsbetrags in10 gleichen Jahresraten vorgesehen. Im �brigen wird auf Nachversteuerung verzichtet.

3. Seit 2001: Klassisches System mit pauschaler Entlastung auf Anteilseignerebene

Literatur (s. ferner 18. Aufl., vor Rz. 10): Br�hler Empfehlungen zur Reform der Unternehmens-besteuerung, BMF-Schriftenreihe, Heft 66, Bonn 1999; P. Bareis, Das Halbeink�nfteverfahren imSystemvergleich, StuW 2000, 133; S. Grotherr, Das neue K�rperschaftsteuersystem, BB 2000, 849; H.-J.Pezzer, Kritik des Halbeink�nfteverfahrens, StuW 2000, 144; Schneeloch/Trockels-Brand, K�rper-schaftsteuerliches Anrechnungsverfahren versus Reformpl�ne, DStR 2000, 907; Siegel/Bareis/Herzig/Schneider/Wagner/Wenger, Verteidigt das Anrechnungsverfahren gegen unbedachte Reformen!, BB2000, 1269; N. Bozza-Bodden, Das deutsche und das italienische K�rperschaftsteuersystem im Euro-p�ischen Binnenmarkt, Diss., Berlin 2002; P. Bareis, Probleme mit der H�lfte, BB 2003, 2315; Djanani/Herbener, Trends in der Besteuerung von Kapitalgesellschaften und deren Anteilseignern: Einzel- oderDoppelbesteuerung, IStR 2003, 506; M. Desens, Das Halbeink�nfteverfahren, Diss., K�ln 2004; J. Eng-lisch, Dividendenbesteuerung (Systemvergleich Deutschland – Spanien), Diss., K�ln 2005.

3.1 Grundstruktur

Seit 2001 gilt in Deutschland ein klassisches System mit Entlastung auf Anteilseignerebene.Gewinnaussch�ttungen lassen die K�rperschaftsteuer unber�hrt. Die Vorbelastung auf der Ebe-ne der aussch�ttenden K�rperschaft wird aber beim Empf�nger ber�cksichtigt. Dabei ist zwi-schen einkommensteuerpflichtigen und k�rperschaftsteuersteuerpflichtigen Gesellschaftern zuunterscheiden.

a) Teileink�nfteverfahren/Abgeltungsteuer in der Einkommensteuer: F�r Aussch�ttungenbis zum 31.12.2008 (vgl. § 52a III EStG) hat der Anteilseigner (Aussch�ttungsempf�nger) seineGewinnanteile aus der Beteiligung (Dividenden) nur zur H�lfte als Einnahmen aus Kapital-verm�gen anzusetzen (sog. Halbeink�nfteverfahren). Das Halbeink�nfteverfahren gilt gem.§ 3 Nr. 40 EStG bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 2008 unabh�ngig davon, aufwelche Weise der Gewinn der K�rperschaft auf die Einkommensteuerebene transferiert wurde(Aussch�ttung oder Anteilsver�ußerung) und unabh�ngig davon, ob die Anteile im Betriebs-oder Privatverm�gen gehalten werden.

Ab 2009 modifiziert der Gesetzgeber das Halbeink�nfteverfahren durch das UntStRefG 2008f�r im Betriebsverm�gen gehaltene Beteiligungen zu einem Teileink�nfteverfahren, indem dersteuerfreie Anteil des Beteiligungsertrags auf 40 v.H. abgesenkt wird (§ 3 Nr. 40 S. 1 EStG). Aufdiese Weise wird der reduzierten Vorbelastung auf Gesellschaftsebene Rechnung getragen. F�rErtr�ge aus im Privatverm�gen gehaltenen Beteiligungen gilt die teilweise Steuerbefreiung nurnoch f�r Aussch�ttungen im Jahr 2008. Ab 2009 unterliegen private Beteiligungsertr�ge derAbgeltungsteuer in H�he von 25 v.H. (§§ 20 I Nr. 1; 32d I; 43 I Nr. 1; 43a I 1 Nr. 1 EStGi.V.m. § 52a EStG). Der Stpfl. kann Veranlagung beantragen, wenn dies zu einer niedrigeren

Charakterisierung Rz. 10–12 § 11

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17 Dazu G. Bruschke, ZSteu 2007, 188; D�tsch/Pung, DB 2006, 2648, 2653 ff.; I. Ernsting, DB 2007, 180(Bilanzierung des K�rperschaftsteuerguthabens); F�rster/Felchner, DStR 2007, 280; Grube/Chuchra,BB 2007, 1479; Ortmann-Babel/Bolik, BB 2007, 73; H. Ott, StuB 2007, 87; J. Schiffers, GmbHStB2007, 76; F�rster/Felchner, DStR 2007, 280; H. Vogel, ZKF 2007, 176.

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§ 13 Bewertungsgesetzabh�ngige Steuerarten

A. Bewertung nach dem Bewertungsgesetz

Rechtsgrundlagen: Bewertungsgesetz (BewG), abgedruckt in Beck'sche Sammlung der Steuerge-setze unter Nr. 200; modifiziert durch Gesetzentwurf der BReg. zum Erbschaftsteuerreformgesetz –ErbStRefG, BR-Drucks. 4/08 = BT-Drucks. 16/7918 v. 28.1.2008 = „BewG n.F.“.

Verwaltungsvorschrif ten : Richtlinien (Art. 108 VII GG, s. § 21 Rz. 36) f�r die Bewertung desGrundverm�gens (BewRGr) v. 19.6.1966, BStBl. I 1966, 890; Verm�gensteuer-Richtlinien (VStR1995) v. 17.1.1995, BStBl. I 1995, Sondernummer 2; Erbschaftsteuer-Richtlinien (ErbStR) v. 17.3.2003,BStBl. I 2003, Sondernummer 1 mit den Erbschaftsteuer-Hinweisen (ErbStH) v. 17.3.2003, BStBl. I2003, 91, Erlasse zur Umsetzung des JStG 2007 v. 2.4.2007, BStBl. I 2007, 314.

Kommentare: Kreutziger/Lindberg/Schaffner, Bewertungsgesetz, M�nchen 2002; Simon/Cors/Halac-zinsky/Teß, Handbuch der Grundst�ckswertermittlung[5], M�nchen 2003; Viskorf/Glier/H�bner/Knobel/Schuck, Erbschaft- und Schenkungsteuergesetz, Bewertungsgesetz[2], Herne/Berlin 2004; G�r-sching/Stenger, Bewertungsgesetz und Verm�gensteuergesetz, K�ln (Loseblatt); R�ssler/Troll (Bear-beiter: Troll/Halaczinsky/Teß), Bewertungsgesetz M�nchen (Loseblatt).

Speziell zu den Wertbegriffen: R. Sch�rer-Waldheim, Wertbegriffe im �sterreichischen Abgabenrecht,Wien 1978; K. Vogel, Verkehrswert, Ertragswert und andere Werte, DStZA 1979, 28; A. Raupach(Hrsg.), Werte und Wertermittlung im Steuerrecht, DStJG 7 (1984), mit Beitr�gen von J. P. Meincke,W. Busse von Colbe, A. Uelner, A. Mark, J. Nolte, R. Hofmann; K. Tipke, StRO II[1], K�ln 1993, § 18(Zur Rechtfertigung der Wert-Bemessungsgrundlage); L. Osterloh, Unterschiedliche Maßst�be bei derBewertung von Verm�gen, DStJG 22 (1999), 177; K.-G. Loritz, Gedanken zu steuerlichen Bewer-tungsfragen und zum Sinn der Erbschaft- und Schenkungsteuer, in: FS f�r W. Schmitt Gl�ser, Berlin2003, 537–556; R. J�ptner, Bedarfsbewertung bei der Erbschaft- und Schenkungsteuer, StuW 2005,126.

1. Rechtsentwicklung und Zweck des BewG

1.1 Bisherige Idee der Einheitsbewertung

Das BewG enth�lt haupts�chlich gemeinsame Vorschriften f�r die Steuern, die nach einemruhenden oder zugewendeten Bestand des Verm�gens bemessen werden. Das BewG istdurch Gesetz v. 10.8.1925, RGBl. I 1925, 214, eingef�hrt worden, um steuerarten�bergreifendreichseinheitliche Bewertungsmaßst�be zu normieren1. Die Konzeption der Einheitsbewertungbaute das Reichsbewertungsgesetz v. 16.10.1934, RGBl. I 1934, 1035, weiter aus, indem es dieeinheitliche Wertfeststellung auf Realsteuern (Grund- und Gewerbesteuer) ausdehnte und einenperiodisch wiederkehrenden Hauptfeststellungszeitpunkt einf�hrte. Zweck der Einheitsbewer-tung war es, f�r alle an Verm�genswerte ankn�pfenden Steuern in verwaltungs�konomischerWeise einen einheitlichen Wert (Einheitswert) festzustellen. Diese Verklammerungsfunktionhat das BewG auch nach dem 2. Weltkrieg beibehalten2. Danach regelt es die Bewertung vorallem f�r die folgenden Steuerarten:

1. Periodisch den Verm�gensbestand belastende Steuern (§ 8 Rz. 43 f.) =

a) Verm�gensteuer (bis zum Veranlagungszeitraum 1996, s. Rz. 3),

b) Gewerbekapitalsteuer (bis zum Erhebungszeitraum 19973, s. § 12 Rz. 1),

c) Grundsteuer (s. Rz. 201 ff.);

2. Erbschaft- und Schenkungsteuer (s. Rz. 100 ff.) als Steuer, welche die Zuwendung einesVerm�gensbestandes belastet (§ 8 Rz. 40).

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1 Zur rechtshistorischen Entwicklung s. P. Kirchhof, Die Steuerwerte des Grundbesitzes, K�ln 1985, 8 ff.2 Vgl. Bewertungsgesetz v. 13.8.1965, BGBl. I 1965, 851.3 Die Gewerbekapitalsteuer ist mit Wirkung vom Erhebungszeitraum 1998 an durch Gesetz zur Fort-setzung der Unternehmenssteuerreform v. 29.10.1997, BGBl. I 1997, 2590, aufgehoben worden.

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Weil die Bemessungsgrundlagen dieser Steuern wesentlich an das BewG ankn�pfen, werdenVerm�gen-, Gewerbekapital-, Grund- sowie Erbschaft- und Schenkungsteuer als bewertungs-gesetzabh�ngige Steuern bezeichnet.

1.2 Scheitern der Einheitsbewertung und Gebot der realit�tsgerechten Wertrelation

Die Idee der Einheitsbewertung k�nnte auf Dauer nur �berzeugen, wenn der Belastungsgrundund das Belastungsziel aller erfassten Steuern im Wesentlichen vergleichbar w�ren und die vonden jeweiligen einheitswertabh�ngigen Steuern erfassten Bewertungsobjekte im Einheitswert-verfahren zumindest ann�herungsweise vergleichbare Werte zugewiesen erhielten4. Bereits Al-bert Hensel hatte aber erkannt, dass jeder im Steuerrecht verwendete „Wert“ nur wegen seinerim Steuertatbestand zu erf�llenden Funktion von Bedeutung ist5, dass bei der Bewertung alsozwischen den einzelnen Steuerarten differenziert werden kann und ggf. sogar muss. Den ob-jektiven Wert schlechthin, den (f�r alle Steuerarten maßgebenden) Wert „an sich“, gibt es nicht(Rz. 11)6. Zudem vermittelte die verwaltungsaufwendige und rechtstechnisch komplizierte Ein-heitsbewertung des BewG nur den Schein von Pr�zision und f�hrte tats�chlich zu Phantasie-werten. Da es vor allem nicht gelingen konnte, die Einheitsbewertung des Grundbesitzes derrealen Wertentwicklung auch nur einigermaßen zeitgerecht anzupassen7, blieb das Bewertungs-gleichmaß in eklatanter Weise auf der Strecke8.

Das BVerfG hat seine jahrzehntelange Zur�ckhaltung9 in den beiden bereits oben (§ 4Rz. 101 ff., 214 ff.) behandelten Einheitswertbeschl�ssen (BVerfGE 93, 121 und 165) aufge-geben und die Verfassungswidrigkeit des evidenten Missverh�ltnisses zwischen der Bewer-tung des Grund- und des Geldverm�gens f�r Verm�gensteuer sowie Erbschaft- undSchenkungsteuer klar ausgesprochen (j�ngst best�tigt durch BVerfGE 117, 1, 45 ff.). DieseJudikate des BVerfG haben die Einheitsbewertung und die von dieser Bewertung abh�ngigenSteuern, insb. die beiden genannten Steuerarten, tief greifend ersch�ttert. Die vom BVerfGbei einheitlichem Steuertarif verlangte realit�tsgerechte Wertrelation in der Bemessungs-grundlage (Rz. 48) erfordert f�r die periodisch den Verm�gensbestand belastenden Steuern,die unterschiedlichen Verm�gen permanent gegenwartsnah zu bewerten. Die historische Er-fahrung mit der Einheitsbewertung lehrt jedoch, dass dies mit zumutbarem Verwaltungsauf-wand praktisch unm�glich ist (§ 4 Rz. 105). Deshalb sah der Gesetzgeber von einer fristge-rechten Neufassung des Verm�gensteuergesetzes ab, ohne es allerdings ausdr�cklich aufzu-heben, so dass es seit dem 1.1.1997 außer Vollzug getreten ist (s. § 8 Rz. 43). W�hrend dieexplizite Abschaffung der Verm�gensteuer am Widerstand der damaligen Opposition und derSPD-regierten L�nder scheiterte, gelang es der Regierungskoalition, die Aufhebung der Ge-werbekapitalsteuer mit Wirkung vom Erhebungszeitraum 1998 an durchzusetzen. Von denperiodisch an den Verm�gensbestand ankn�pfenden Steuern ist derzeit nur noch die Grund-steuer in Kraft.

Die Einheitsbewertung existiert damit praktisch nicht mehr. Zwar werden nach § 19 I BewGf�r den inl�ndischen Grundbesitz weiterhin sog. Einheitswerte gesondert festgestellt (§ 21Rz. 122). Diese „Einheitswerte“ gelten steuerrechtlich jedoch nur noch f�r die Grundsteuer(§ 13 I GrStG; s. Rz. 16, 210 f.), nicht mehr f�r die aperiodisch anfallende Erbschaft- undSchenkungsteuer. Dort sind an die Stelle der Einheitswerte nach § 12 III ErbStG Grundbesitz-werte getreten, die nur noch im Bedarfsfalle zum Besteuerungszeitpunkt festzustellen sind (sog.Bedarfsbewertung, §§ 157; 151 I 1 Nr. 1 BewG i.d.F. des Entwurfs einer ErbStRefG 2008,

§ 13 Rz. 1–4 § 13 Bewertungsgesetzabh�ngige Steuerarten

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4 H. Zitzelsberger, in: FS f�r W. Ritter, K�ln 1997, 661, 662.5 A. Hensel, Steuerrecht[3], Berlin 1933, 82.6 Zu der Bewertung als Tatfrage u. Rechtsproblem s. grundl. A. Raupach (Hrsg.), Werte und Wert-ermittlung im Steuerrecht, DStJG 7 (1984), mit 20 Referaten ausschließlich zu steuerrechtlichen Be-wertungsproblemen.

7 Eine weitere Hauptfeststellung gelang f�r das Grundverm�gen nach 1935 �berhaupt nur zum 1.1.1964.8 Zur Verfassungswidrigkeit der Grundbesitz-Einheitsbewertung s. 15. Aufl. § 12 Rz. 52 ff.9 BVerfGE 23, 242, 254; 41, 269, 284; 65, 160, 168; 74, 182, 200; 89, 329, 336.

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dazu Rz. 30; zur Bedarfsbewertung s. Rz. 28). Der Wegfall der Verm�gen- und Gewerbekapi-talsteuer erlaubte es außerdem, die f�r inl�ndische gewerbliche und freiberufliche Betriebefr�her ebenfalls vorgesehene Einheitsbewertung (§ 19 I Nr. 2 BewG a.F.) mit Wirkung v.1.1.1998 abzuschaffen. Der Wert des Betriebsverm�gens braucht seitdem nur noch im Erb-oder Schenkungsfall f�r die Bemessung der Erbschaft- oder Schenkungsteuer ermittelt zu wer-den (Rz. 41). Mit Wirkung v. 1.1.2007 wird auch er nunmehr gesondert festgestellt (§ 151 I 1Nr. 2 BewG n.F.)10.

1.3 Verbleibende Funktion des BewG als Mantelgesetz

Der Besondere Teil des BewG (§§ 17–187 BewG n.F.) ist gem. § 17 I BewG nach Maßgabe derEinzelsteuergesetze anzuwenden. Umf�nglich verweisen § 12 ErbStG f�r die Erbschaft- undSchenkungsteuer und § 13 I GrStG f�r die Grundsteuer („Einheitsbewertung“ des inl�ndi-schen Grundbesitzes, § 17 II BewG) auf das BewG. Daneben finden sich in den Einzelsteuer-gesetzen punktuelle Verweisungen: z.B. f�r die Grunderwerbsteuer in § 8 II GrEStG (beifehlender Gegenleistung, bei Umwandlung oder Gesellschafterwechsel: Ankn�pfung an Grund-besitzwerte; s. § 15 Rz. 5) oder f�r die Einkommensteuer in § 13a IV, V EStG (s. § 9 Rz. 486).

Dar�ber hinaus gelten die allgemeinen Bewertungsvorschriften (= Erster Teil, §§ 1–16 BewG)nach § 1 I BewG f�r alle �ffentlich-rechtlichen Abgaben, die durch Bundesrecht geregelt sind(§ 3 Rz. 31 ff.), soweit sie durch Bundes- oder Landesfinanzbeh�rden verwaltet werden (§ 3Rz. 73) und nichts anderes vorgeschrieben ist. Das BewG enth�lt so den Allgemeinen Teil desBewertungsrechts und fasst als Mantelgesetz Vorschriften zusammen, die f�r alle oder meh-rere Steuerarten gelten.

Ein auf die Einheitsbewertung zugeschnittener Begriff des allgemeinen Teils ist der der wirt-schaftlichen Einheit, die aus mehreren Wirtschaftsg�tern bestehen kann (§ 2 I BewG). F�rZwecke der Grundsteuer bilden wirtschaftliche Einheiten weiterhin land- und forstwirtschaft-liche Betriebe (§ 33 I BewG) und Grundst�cke (§ 70 I BewG). Mehrere Wirtschaftsg�ter k�n-nen eine wirtschaftliche Einheit nur bilden, wenn sie demselben Eigent�mer geh�ren (Aus-nahme: § 26 BewG f�r Ehegatten)11. Steht ein Wirtschaftsgut mehreren Personen zu, ist zu-n�chst sein Wert im Ganzen zu ermitteln (§ 3 S. 1 BewG). Erst anschließend wird der ermittelteWert auf die Beteiligten entspr. ihrer Anteile verteilt (§ 3 S. 2 BewG). §§ 4–8 BewG behandelndie Zurechnung von Wirtschaftsg�tern und Lasten, die von einer Bedingung oder Befristungabh�ngig sind. Im �brigen richtet sich die Zurechnung nach § 39 AO (dazu § 5 Rz. 110 f.).

§§ 9–16 BewG legen allg. Bewertungsmaßst�be und Wertbegriffe fest: gemeiner Wert (§ 9BewG), Teilwert (§ 10 BewG), Kurswert (§ 11 I BewG), Nennwert (§ 12 I BewG), R�ckkaufs-wert (§ 12 IV 2, 3 BewG) und Kapitalwert (§§ 13 ff. BewG). Zur Bedeutung der einzelnenWertmaßst�be s. Rz. 49 ff.

Das BewG regelt grds. nicht die Bewertung von Markteinkommen. Die Bewertungen f�rSteuern auf Markteinkommen (§ 8 Rz. 30 ff.) basieren wesentlich auf realisierten, marktbest�-tigten Werten. Die realisationsorientierten Bewertungen (z.B. nach §§ 6, 8 II EStG) schließengem. § 1 II BewG die Anwendung des BewG aus. Obgleich das BewG im WesentlichenSonderrecht f�r die nach einem ruhenden oder zugewendeten Bestand des Verm�gens bemes-senen Steuern regelt (Rz. 1), gilt es in bestimmten Sonderf�llen auch außerhalb der vorgenann-ten bewertungsgesetzabh�ngigen Steuern. Neben den bereits in Rz. 5 aufgef�hrten F�llen findensubsidi�re Regeln des Ersten Teils des BewG nach § 1 I BewG z.B. bei der einkommensteuer-lichen Bewertung des Tausches (§ 6 VI EStG) oder der Wirtschaftsg�ter bei Betriebsaufgabe(§ 16 III EStG) oder vergleichbaren F�llen der Entstrickung (§ 17 Rz. 238) Anwendung.

Rechtsentwicklung und Zweck des BewG Rz. 4–9 § 13

Seer | 481

10 Das Jahressteuergesetz (JStG) 2007 v. 13.12.2006, BGBl. I 2878, 2910 f., hat das gesonderte Fest-stellungsverfahren erweitert, dazu D. Eisele, INF 2007, 376, 378 f.

11 Die Durchbrechung der Zurechnungsregel des § 39 AO allein f�r Ehegatten ist nicht gerechtfertigtund besitzt derzeit nur noch eine Bedeutung f�r die Grundsteuer.

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Die un�bersichtlich geregelte Anwendung des BewG ist in folgender Reihenfolge zu pr�fen:

1. Gibt es anzuwendende spezielle Vorschriften außerhalb des BewG (z.B. § 6 EStG)?

2. Verweist ein Steuergesetz ausdr�cklich auf die Anwendung des BewG (z.B. § 13a EStG)?

3. Gelten besondere Bewertungsvorschriften des Zweiten Teils des BewG (§ 17 BewG)?

4. Soweit die Pr�fung nach 1.–3. nichts anderes ergibt, gelten die allgemeinen Bewertungsvor-schriften (§§ 2–16 BewG) nach Maßgabe des § 1 I BewG.

1.4 Spannungsverh�ltnis Verkehrswert/Ertragswert

Hermann Veit Simon erkannte bereits vor einem guten Jahrhundert, dass der Wert einer Sache„weder eine Eigenschaft derselben noch �berhaupt eine Tatsache, sondern vielmehr eine Mei-nungssache“ sei12. Er wandte sich damit zu Recht gegen die Vorstellung von einem objektivenWert13. Den objektiven (einzig richtigen) Wert eines Wirtschaftsguts gibt es nicht (s. bereitsRz. 2). Vielmehr bewegt sich der Bewertende innerhalb eines Entscheidungsfeldes, dessen Um-fang von den ihm zur Verf�gung stehenden Vergleichsm�glichkeiten abh�ngt14. Eine Wert-ermittlung kann daher nicht den Anspruch auf absolute Richtigkeit, sondern nur auf relativeVertretbarkeit f�r sich erheben.

Bewerten bedeutet i.e.S. das Zuordnen von Geldeinheiten zu G�tern im Hinblick auf einbestimmtes Ziel15. Das Ziel der Bewertung besteht im Steuerrecht darin, Wirtschaftsg�tern f�rdie Bemessungsgrundlage einer Steuerart einen bestimmten Geldwert zuzuweisen. Dementspre-chend hat sich der Bewertungsmaßstab an dem jeweiligen Besteuerungsgut zu orientieren16.Der Wertmaßstab muss daher nicht f�r alle Steuerarten derselbe sein (Rz. 2; zum Scheitern derEinheitswertidee s. Rz. 3 f.).

Eine verbreitete Ansicht sieht gleichwohl den gemeinen Wert (§ 9 BewG) als den fundamenta-len (leitenden) Bewertungsmaßstab des BewG an17. Der gemeine Wert ist der Preis, der imgew�hnlichen Gesch�ftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsguts bei einer Ver�uße-rung zu erzielen w�re (§ 9 II 1 BewG). Dabei sind alle Umst�nde, die den Preis beeinflussen, zuber�cksichtigen; ungew�hnliche oder pers�nliche Verh�ltnisse bleiben jedoch außer Betracht(da sie den gemeinen Wert nicht repr�sentieren)18. Der gemeine Wert ist damit gleich bedeutendmit dem Verkehrswert (Ver�ußerungs-, Verkaufs-, Markt-, Tauschwert). Nicht wenige der imBewG verwendeten Wertbegriffe lassen sich als Verk�rperungen des Bewertungsmaßstabes„gemeiner Wert“ ansehen: z.B. Kurswert (§ 11 I BewG), R�cknahmepreis (§ 11 IV BewG),R�ckkaufswert (§ 12 IV 3 BewG), Kapitalwert (§§ 13 ff. BewG), Sachwert (§§ 76 II, III, 90 IBewG), Bodenrichtwert (§§ 145 III; 179 BewG).

Entgegen verbreiteter Meinung19 ist der Ertragswert keine bloße Unterart des Verkehrswerts20.Zwar beeinflussen die Ertr�ge von Erwerbsverm�gen den Verkehrswert. Gleichwohl fallen Er-trags- und Verkehrswert nicht selten erheblich auseinander, weil sich im Verkehrswert mehr als

§ 13 Rz. 10–13 § 13 Bewertungsgesetzabh�ngige Steuerarten

482 | Seer

12 H. V. Simon, Die Bilanzen der Aktiengesellschaften und der Kommanditgesellschaften auf Aktien[2],Berlin 1898, 293.

13 Dieser Vorstellung h�ngen z.B. nach BFH BStBl. 1991, 342; A. Uelner, DStJG 7 (1984), 275, 280.14 W. Busse von Colbe, DStJG 7 (1984), 39 f.15 W. Busse von Colbe, DStJG 7 (1984), 39, 40.16 K. Tipke, StRO II[1], 853 ff.17 J. Pelka, StuW 1975, 206, 208 ff.; U. Strunk, StuW 1980, 51, 54; M. Balke, Einheitswert oder Ver-

kehrswert f�r Grundbesitz im Erbschaft- und Schenkungsteuerrecht, Diss., Berlin 1984, 98 ff.;A. Uelner, DStJG 7 (1984), 275, 280; Wiss. Beirat, BMF-Schriftenreihe, Heft 41, Bonn 1989, 3 ff.

18 Zu den pers�nlichen Verh�ltnissen rechnet § 9 III BewG auch Verf�gungsbeschr�nkungen, die in derPerson des Stpfl. oder eines Rechtsvorg�ngers begr�ndet sind.

19 S. Autoren in Fn. 17.20 S. K. Vogel, DStZA 1979, 28, 32 f.; P. Kirchhof, DStR 1984, 575, 577; A. Mark, DStJG 7 (1984), 293,

298 ff.; H. W. Kruse, BB 1989, 1349, 1351 f.; K. Tipke, StRO II[1], 853 ff.; K.-G. Loritz, DStR-Bei-hefter 8/1995, 8 ff.; W. Leisner, DB 1996, 595, 597; H. Zitzelsberger, in: FS f�r W. Ritter, K�ln 1997,661, 666 ff.; R. J�ptner, StuW 2005, 126, 128 f.

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die Ertragskraft eines Wirtschaftsgutes abbildet (besonders deutlich wird dies bei unbebautenGrundst�cken, Edelmetallen, Kunstgegenst�nden u.�.). W�hrend der gemeine Wert (Verkehrs-wert) die Ver�ußerung als Vergleichsfall vor Augen hat, bezieht sich der Ertragswert auf dielaufende Nutzung des Wirtschaftsguts. Verkehrs- und Ertragswert sind mithin zwei leitendeWertbegriffe, die einander nicht �ber- bzw. untergeordnet, sondern nebengeordnet sind21.

Der Ertragswert ist dem Verkehrswert als Bewertungsmaßstab f�r solche Steuerarten vorzu-ziehen, die als sog. Sollertragsteuern (z.B. Verm�gen-, Grund-, Gewerbekapitalsteuer, s. § 8Rz. 43 f.) an die Ertragsf�higkeit des ruhenden Verm�gens ankn�pfen22. F�r Steuern, die nachihrer Konzeption nicht aus der Substanz, sondern aus dem Ertrag des Verm�gens gezahltwerden sollen, bildet nicht der Verkehrswert, sondern der Ertragswert den Belastungsgrundfolgerichtig ab23. Demgegen�ber erweist sich der Verkehrswert als konsequenter Bewertungs-maßstab, wenn das Gesetz dem Stpfl. bewusst zumutet, f�r die Steuerzahlung einen Teil deserworbenen Verm�gens am Markt zu realisieren. Deshalb ist der Verkehrswert bei der Erb-schaftsteuer der leitende Bewertungsmaßstab24.

Allerdings sollte – in �bereinstimmung mit dem BewG – zwischen Verkehrs- und Ertragswertkein strikter Gegensatz aufgebaut werden. Beide theoretischen Wertans�tze n�hern sich ein-ander, wenn man unter Ertrag nicht nur die laufenden Ertr�ge, sondern extensiv jeglichenNutzen, den das Wirtschaftsgut einem jeden Eigent�mer vermitteln kann (z.B. Wertsteigerun-gen, -stabilit�t), begreift25. Selbst dann aber wird der Ertragswert noch nicht auf den Verkehrs-wert zur�ckgef�hrt, da beide Werte von jeweils unterschiedlichen Vergleichsf�llen ausgehen.Am Markt erzielte Verkaufspreise sind h�ufig von keinem in Zahlen fassbaren Nutzen be-stimmt, lassen sich dann rational weder auf erwartete Wertsteigerungen noch auf eine besondereWertstabilit�t zur�ckf�hren26. Deshalb k�nnen Verkehrs- und Ertragswert �bereinstimmen; siem�ssen es aber nicht.

2. Residuale Geltung sog. Einheitswerte f�r die Grundsteuer

2.1 Bewertungsverfahren

Von den Einheitswertbeschl�ssen des BVerfG �ußerlich unangetastet geblieben ist die Grund-steuer. Mangels zeitnaher Bewertung sind jedoch auch innerhalb des Grundverm�gens erheb-liche gleichheitswidrige Wertverzerrungen zu verzeichnen (Rz. 25). Der Einheitswert bildetnach § 13 I GrStG weiterhin die Bemessungsgrundlage sowohl f�r die Grundsteuer A (Betriebeder Land- und Forstwirtschaft, § 14 GrStG) als auch f�r die Grundsteuer B (�brige Grundst�-cke, § 15 GrStG). Die Grundbesitz-Einheitswerte sollten an sich nach § 21 I BewG alle sechsJahre allgemein festgestellt werden (Hauptfeststellung). Nach Art. 2 I 3 des Bew�ndG v.13.8.1965, BGBl. I 1965, 851, ist dieses Intervall allerdings ausgesetzt worden. Nach Ergehender Einheitswertbeschl�sse des BVerfG (Rz. 3) ist mit keiner Hauptfeststellung mehr zu rech-nen. Entgegen der Auffassung der Rspr.27 wird der derzeitige Zustand verfassungsrechtlichen

Residuale Geltung sog. Einheitswerte Rz. 13–16 § 13

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21 K. Vogel, DStZ 1979, 28, 33; dazu krit. L. Osterloh, DStJG 22 (1999), 177, 185 ff.22 Vgl. Autoren in Fn. 20; L. Osterloh, DStJG 22 (1999), 177, 182 ff., lehnt diese Unterscheidung mit

dem Hinweis auf einen weiteren �konomischen Ertragswertbegriff ab.23 Vorsichtiger BVerfGE 93, 121, 143: Charakter der Sollertragsteuer „legt ein Ertragswertverfahren

nahe“.24 Vgl. BVerfGE 117, 1, 33 f.; zuvor bereits R. Seer, StuW 1997, 283, 287; R. Seer, DStJG 22 (1999), 191,

196 f.; aber krit. zum in der Entscheidung BVerfGE 117, 1, unklaren Verh�ltnis von Substanz- undErtragswert J. Hey, JZ 2007, 564, 565 f.; a.A. A. Nachrainer, ZEV 2005, 1, 5; R. J�ptner, StuW 2005,126, 139 ff.; s. auch § 8 Rz. 42.

25 So zutr. M. Balke, StJ 1994, 5, 20; L. Osterloh, DStJG 22 (1999), 177, 182 ff.; A. Raupach, DStR 2007,2037, 2038 ff.

26 Miehler/Kronthaler, DStZ 1992, 741, 742.27 BFH BStBl. 2005, 428; BFH/NV 2005, 1979; 2006, 253; 2006, 1450; 2007, 1829; FG Berlin EFG 2006,

476 m. Anm. T. Zimmermann; die dagegen erhobenen Verfassungsbeschwerden hat das BVerfG(1. Senat) nicht zur Entscheidung angenommen; dazu mit Recht krit. M. Balke, ZSteu 2006, 366 f.

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§ 14 Umsatzsteuer*

Rechtsgrundlagen: RL 2006/112/EG �ber das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL)v. 28.11.2006, ABl. EU 1977 Nr. L 347,1; Umsatzsteuergesetz v. 21.2.2005 (Bekanntmachung derNeufassung, BGBl. I 2005, 386), zuletzt ge�ndert durch JStG 2007 v. 13.12.2006 (BGBl. I 2006, 2878);Umsatzsteuer-Durchf�hrungsVO v. 21.2.2005 (Bekanntmachung der Neufassung BGBl. I 2006, 434)zuletzt ge�ndert durch JStG 2007.Verwaltungsvorschrif ten : Umsatzsteuer-Richtlinien 2005 v. 16.12.2004 (BStBl. 2004 I Sonder-nummer 3/2004).Rspr . : Zust�ndig f�r Umsatzsteuerrechtstreitigkeiten ist in letzter Instanz der BFH (V. Senat). Seinewichtigen Entscheidungen sind in der amtlichen Sammlung (BFHE) und im Bundessteuerblatt(BStBl.), Teil II ver�ffentlicht. F�r die Auslegung von Gemeinschaftsrecht ist der Europ�ische Ge-richtshof (EuGH) zust�ndig. Seine Entscheidungen werden in der amtlichen Sammlung (EuGHE)und im Amtsblatt (ABl. EG) ver�ffentlicht sowie teilweise im BStBl. Teil II.Literatur : Kommentare von Hartmann/Metzenmacher, Berlin (Loseblatt) – zit.: H/M; Pl�ckebaum/Malitzky, K�ln u.a. (Loseblatt); S�lch/Ringleb, M�nchen (Loseblatt); Rau/D�rrw�chter, K�ln (Lose-blatt); Reiß/Kraeusel/Langer, Bonn (Loseblatt); W. Birkenfeld, Das große Umsatzsteuer-Handbuch,K�ln (Loseblatt); zum �sterr. UStG H. G. Ruppe, Umsatzsteuergesetz-Komm.[3], Wien 2005; zumschweiz. MWStG Camenzind/Honauer/Vallender, Handbuch zum Mehrwertsteuergesetz, 2. Aufl.,Bern/Stuttgart/Wien 2003.Lehr- und Lernb�cher : H. Stadie, Umsatzsteuerrecht, K�ln 2005; O. Lippross, Umsatzsteuer[22],Achim 2007/8; W. Reiß, Umsatzsteuerrecht[9], K�ln/M�nster 2005; W. Jakob, Umsatzsteuer[3], M�n-chen 2005; G. Rose, Umsatzsteuer mit Grunderwerbsteuer[15], Bielefeld 2002.Zur Geschichte : J. Popitz, UStG-Kommentar[2], Berlin 1921; H. Franke, Die Geschichte der Reichs-Umsatzsteuer, Diss. rer. pol., K�ln 1941; Grabower/Herting/Schwarz, Die Umsatzsteuer – Ihre Ge-schichte und gegenw�rtige Gestaltung im In- und Ausland[2], K�ln/Berlin/Bonn/M�nchen 1962.Zur Entstehung des Umsatzsteuergesetzes 1967: M. Heilmann, Die Umsatzsteuerreformin der Bundesrepublik Deutschland (zugleich eine Fallstudie zur steuerpolitischen Willensbildungin einer parlamentarischen Demokratie), Bern/Frankfurt a.M. 1975; Pohmer/Flugmann-Hohlstein,25 Jahre Nettoumsatzsteuer in Deutschland, UR 1993, 37.

A. Charakterisierung und Rechtsgrundlagen der Umsatzsteuer

1. Die Umsatzsteuer als Verbrauchsteuer

Literatur : K. Tipke, Die Umsatzsteuer im Steuersystem, UStR 1972, 2; H. S�hn, Die Umsatzsteuerals Verkehrsteuer und/oder Verbrauchsteuer, StuW 1975, 1; H. S�hn, Die Umsatzsteuer als allge-meine, indirekte Verbrauchsteuer, StuW 1996, 165; K. Tipke, Umsatzsteuer – Verkehrsteuer und/oderVerbrauchsteuer, DStR 1983, 595; R. Philipowski, Umsatzsteuer: Verbrauch- oder Verkehrsteuer?,UStKongrBericht 1985, 183 ff.; H.-J. Tehler, Die Umsatzsteuer als angewandte Verkehr- und/oderVerbrauchsteuer, Diss. K�ln 1986; P. Walden, Die Umsatzsteuer als indirekte Verbrauchsteuer, Diss.Essen, Berlin 1988; W. Reiß, Der Belastungsgrund der Umsatzsteuer und seine Bedeutung f�r dieAuslegung des Umsatzsteuergesetzes, DStJG 13 (1990), 3; K. Tipke, StRO II[2], 968 ff.

Der BFH hat 1973 zum Sinn der USt noch bemerkt: „Die meisten Verkehrsteuern einschließlich derUmsatzsteuer haben keinen tieferen Sinn als den, dem Staat Geld zu bringen“1.

Dieser Fiskalzweck, den per definitionem alle Steuern haben, erkl�rt aber nicht, warum zurErzielung von Staatseinnahmen gerade eine USt erhoben wird. Auch zur Rechtsanwendungdarf der Fiskalzweck nicht herangezogen werden. Jedoch kann f�r die Rechtsanwendung dieFrage erheblich sein, ob der Unternehmer oder der Verbraucher belastet werden soll.Die USt ist von der Belastungskonzeption her eine Verbrauchsteuer, sie ist die allgemeineVerbrauchsteuer, respektive allgemeine Einkommensverwendungssteuer2 auf den Verbrauch

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1* F�r wertvolle Unterst�tzung bei der �berarbeitung des § 14 danke ich Herrn Diplom-KaufmannHeiko Leitl.

1 BFH BStBl. 1973, 94, 96.2 So H. G. Ruppe, UStG-Komm.[3], Einf. Rz. 37.

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von G�tern und Dienstleistungen durch Endverbraucher/Konsumenten. Das Einkommen wirdzweimal besteuert, einmal bei seiner Entstehung durch die ESt und zum Zweiten bei seinerVerwendung durch die USt. Dadurch gleichen sich die Vor- und Nachteile der ESt und der UStz.T. aus. Die Einkommensverwendung, der Verbrauch i.w.S., ist – erg�nzend zum Einkom-men – ein geeigneter Maßstab der steuerlichen Leistungsf�higkeit3. Das Leistungsf�higkeits-prinzip ist die �bergreifende Fundamentalregel, die auch das Umsatzsteuerrecht tr�gt und daf�rsorgt, dass es nicht zu einem aparten Teil des Steuerrechts wird.

Allerdings werden die Verbraucher aus Praktikabilit�tsgr�nden nicht direkt besteuert. DasUmsatzsteuergesetz h�lt sich technisch an die Unternehmer, die Lieferungen und sonstige Leis-tungen gegen Entgelt ausf�hren. Die Unternehmer d�rfen die Umsatzsteuer aber �berw�lzen;f�hren sie steuerpflichtige Lieferungen oder sonstige Leistungen aus, so berechnen sie die UStgesondert (§ 14 UStG). Soweit USt auf Unternehmer �berw�lzt wird, entlasten diese sich durchden sog. Vorsteuerabzug (§ 15 UStG). Die Unternehmer sollen n�mlich in ihrer Eigenschaftals Unternehmer nicht mit USt belastet werden; Steuertr�ger sollen die Verbraucher sein.Bemessungsgrundlage ist, was der Verbraucher f�r die Leistung aufwendet. Das ist nicht bloßeine finanzpolitische oder finanzwissenschaftliche Idee, sondern eine Idee, die das Umsatz-steuergesetz in seltener Klarheit in geltendes Recht umgesetzt hat. M.a.W.: Steuergut der UStsind die Aufwendungen oder Einkommensverwendungen der Verbraucher. Aus §§ 1 I Nrn. 1und 4, 10 I 2 („Leistungsempf�nger“), 14, 15 UStG l�sst sich das Verbrauchsteuerprinzip auchinduktiv sicher entnehmen. Art. 1 MwStSystRL bestimmt im �brigen insoweit mit verpflich-tender Wirkung f�r die Mitgliedstaaten – und damit auch f�r das deutsche UStG –, dass dasgemeinsame Mehrwertsteuersystem auf dem Grundsatz beruht, „dass auf Gegenst�nde undDienstleistungen [...] eine allgemeine, zum Preis der Gegenst�nde und Dienstleistungen genauproportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist“.4

Vom Steuergut ist das technische Steuerobjekt zu unterscheiden: Steuerobjekt sind insb. dieentgeltlichen Leistungen/Ums�tze der Unternehmer. Die Steuertypologie (s. § 8 Rz. 28 ff.), derSteuerartenvergleich und die Gesetzesauslegung (s. § 5 Rz. 40 ff.) sind nicht an einem techni-schen Tatbestand, sondern teleologisch am Steuergut zu orientieren.

Die Verbrauchsteuerauffassung hat sich in der Literatur5 und in der Rspr. klar durchgesetzt. DerEuGH versteht die USt uneingeschr�nkt als Verbrauchsteuer6. Dem folgt inzwischen auch der

§ 14 Rz. 1 § 14 Umsatzsteuer

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3 Zu Recht kritisch gg�. einem Systemwechsel der Einkommensbesteuerung hin zu einer ausschließlichkonsumorientierten Einkommensbesteuerung S. Reis, Konsumorientierte Unternehmensbesteuerung,Berlin, 2007. Vgl. auchH. G. Ruppe, UStG-Komm.[3], Einf�hrung Rz. 39; K. Tipke, StRO II[2], 982 f. zurRechtfertigung der USt als Einkommensverwendungssteuer als Erg�nzung neben der klassischen Besteue-rung des „konsumierbaren“ (Arbeits- und Kapital)Einkommens nach dem Leistungsf�higkeitsprinzip.

4 Auch Art. 1 schweiz. MwStG bestimmt ausdr�cklich, dass die schweiz. Mehrwertsteuer eine allge-meine, nach dem Prinzip der Allphasensteuer mit Vorsteuerabzug ausgestaltete Verbrauchsteuer ist;vgl. dazu Camenzind/Honauer/Vallender, Handbuch, Rz. 49 f. m.N. aus der Rspr. des Bundesge-richts, u.a. BGE 123 II 295 („allgemeine Verbrauchsteuer, die den Inlandsverbrauch belastet [...] Willedes Verfassungsgebers, wonach der Endverbraucher die Steuer tragen soll“).

5 I.d.S. verbrauchsteuerorientiert K. Tipke, UStR 1972, 2, 3 f.; K. Tipke, DStR 1983, 595; H. S�hn, StuW1975, 1 ff.; H.-J. Tehler, DStR 1983, 215; H. Krautwald, Ungel�ste Probleme im Rahmen der Umsatz-besteuerung, Frankfurt a.M./Bern 1982, 7 ff.; P. Kirchhof, HWStR[2], 1434; P. Walden, Die Umsatz-steuer als indirekte Verbrauchsteuer, Diss., Berlin 1988; Ruppe/Achatz, Sachleistungen an Arbeitneh-mer in umsatzsteuerlicher Sicht, Wien 1985, 69 ff.; H. S�hn, in: FS f�r H. v. Wallis, Bonn 1985, 443 ff.;H.-J. Tehler, Die Umsatzsteuer als angewandte Verkehr- und/oder Verbrauchsteuer, Diss. K�ln 1986;W. F. Ebke, A Statute in Search of a Purpose, in: FS f�r O. L. Walter, Osnabr�ck 1988, 215 ff., 224 f.;H. Stadie, Das Recht des Vorsteuerabzugs, K�ln 1989; W. Reiß, DStJG 13 (1990), 3; K. Tipke, StROII[2], 975 ff.; G. Crezelius, Steuerrecht II, 357 ff.; W. Jakob, Umsatzsteuer[3], Rz. 11; abl. E. Weiß,DStJG 7 (1984), 351; G. H�bner, UR 85, 6; R. Philipowski, UStKongrBericht 1985, 183; E. Weiß, UR1993, 329, 333; C. Theile (vor Rz. 1), 85 f.; 135 f.; C. Theile, StuW 1996, 154 ff.

6 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-475/03, EuGHE 2006, I-9373 (Banca popolare di Cremona); aus derfr�heren Rspr. vgl. u.a. EuGH v. 5.5.1982 – Rs. 15/81, EuGHE 1982, I-1409 (Schul) m. abl. Anm.E. Weiß, UR 1982, 246; v. 27.6.1989 – Rs. 50/88, EuGHE 1989, I-1925 (K�hne); v. 29.2.1996 – Rs.C-215/94, EuGHE 1996 I-959 (Mohr) m. (zu Unrecht) abl. Anm. W. Widmann, UR 1996, 120; v.24.10.1996 – Rs. C-317/94, UR 1997, 265 m. abl. Anm. E. Weiß.

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BFH7. Dem Verbrauchsteuercharakter der USt ist bei der Gesetzesauslegung im Rahmen der Aus-legungsgrenzen, wie sie sich aus dem objektivierten Wortlaut ergeben, dadurch Rechnung zu tragen,dass der Zweck einer Belastung des Endverbrauchers ber�cksichtigt wird. Der EuGH ber�cksichtigtden Verbrauchsteuercharakter durch die Betonung der Neutralit�t der USt insb. im Zusammenhangmit der Gew�hrleistung des Vorsteuerabzugs f�r den Unternehmer8 und der Rechtsformneutralit�t imHinblick auf den leistenden Unternehmer9; ebenso auch das BVerfG10.

Bereits technisch kn�pfen § 1 I Nr. 1 i.V.m. § 3 Ib Nr. 1 und § 3 IXa Nr. 1 und § 1 I Nr. 4UStG nicht an Verkehrsakte an, sondern an Realakte (Entnahme, Einfuhr). Man hat diese Tat-best�nde lange als fiktive Verkehrsakte („Leistung an sich selbst“) erkl�rt („Fiktionstheorie“)11.Aber es gibt keinen sinnvollen, sachlich einleuchtenden Grund f�r die Besteuerung fiktiverAkte. Ebenso vermag die Realakttheorie12, wonach bei Leistungsabgaben f�r außerunterneh-merische Zwecke die reale Wertabgabe besteuert wird, nicht zu befriedigen. Die Ankn�pfungan den Realakt ist nicht signifikant. Das Schlafen ist auch ein Realakt, gleichwohl wird es nichtmit USt belegt.

Sowohl die Besteuerung unentgeltlicher Wertabgaben f�r außerunternehmerische Zwecke alsauch der Einfuhr erkl�ren sich zwanglos daraus, dass der nichtunternehmerische Verbrauch, dieEinkommensverwendung f�r nichtunternehmerische Zwecke, den Belastungsgrund abgeben(Rz. 66 f.). Die Gleichstellung der Entnahme und Verwendung f�r außerunternehmerischeZwecke in § 3 Ib Nr. 1 und § 3 IXa Nr. 1 UStG mit entgeltlichen Ums�tzen belebt nicht dieFiktionstheorie, sondern bezweckt allein, f�r die unentgeltlichen Wertabgaben zum Zweckeaußerunternehmerischen Verbrauchs die Steuerbarkeit anzuordnen, respektive die Entlastungeines außerunternehmerischen Verbrauchs durch Vorsteuerabzug auf diesem Wege wieder auf-zuheben.

Zusammengefasst: Die USt besteuert Vorg�nge nicht deshalb, weil sie Verkehrsakte oder Real-akte eines Unternehmers sind oder weil sie einen Leistungsaustausch darstellen. Diese techni-schen Ankn�pfungen dienen nur dazu, die Verbraucher zu belasten.

Die USt ist eine indirekte Steuer, da sie �berw�lzt wird. Die USt ist ergiebig, ihre Erhebung istrelativ einfach. Bei den Tatbest�nden der unentgeltlichen Wertabgaben nach § 3 Ib Nr. 1 und§ 3 IXa UStG und der Einfuhr erfolgt eine direkte Besteuerung beim Verbraucher.

Die USt nimmt keine R�cksicht auf die pers�nlichen Verh�ltnisse des Verbrauchers als Steuer-tr�ger. Sie wird daher auch als Objektsteuer bezeichnet. Allerdings gibt es erm�ßigte Steuer-s�tze f�r Lebensmittel und bestimmte andere Gegenst�nde.

I.S. der Abgabenordnung geh�rt die USt – mit Ausnahme der Einfuhrumsatzsteuer (Verbrauch-steuer, s. § 21 I UStG) – nicht zu den Verbrauchsteuern im technischen Sinne. Daher betr�gt dieFestsetzungsfrist nach § 169 II Nr. 2 AO vier Jahre. Die einfache �nderungsm�glichkeit nach§ 172 I Nr. 1 AO ist nicht anwendbar13.

2. Die Umsatzsteuer als „Mehrwertsteuer“ mit Vorsteuerabzug

Die meisten dem Verbrauch oder Gebrauch dienenden Gegenst�nde durchlaufen eine Reihe vonPhasen oder Stadien, wenn sie vom Fabrikanten zum Verbraucher gelangen. An den Fabrikantenwerden, damit er die Ware produzieren kann, meist Roh- und Halbstoffe umgesetzt.

„Mehrwertsteuer“ Rz. 1–3 § 14

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7 Vgl. BFH BStBl. 2002, 266 (Vorsteuerausschluss f�r Reisekosten).8 Vgl. EuGH v. 8.6.2000 – Rs. C-396//98 (Schloßstraße) und Rs. C-400/98 (Breitsohl), BStBl. 2003, 446und 452.

9 EuGH v. 6.11.2003 – Rs. C-45/01, EuGHE 2003, I-12936 (Dornier-Stiftung).10 BVerfG v. 10.11.1999 – 2 BvR 2861/93, BVerfGE 101, 151.11 Dazu D. Dziadkowski, BB 1981, 746 f.; D. Dziadkowski, BB 1982, 2097; W. Widmann, UStKongr-

Bericht 1982/83, 58.12 E. Weiß, StbKongrRep. 1981, 131, 139; E. Weiß, UStR 1982, 184; E. Weiß, UR 1984, 57, 58 („Real-

akt-Theorie“); s. auch BFH BStBl. 1984, 169.13 BFH BStBl. 1987, 95.

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Umsatzsteuern k�nnen sein: einphasig (Fabrikanten- oder Produktionssteuer, Grossistensteuer,Einzelhandelssteuer), mehrphasig oder allphasig.

Im obigen Beispiel liefert der Fabrikant F Ware f�r 100 Euro an den Großh�ndler G, der Groß-h�ndler G liefert die n�mliche Ware f�r 200 Euro an den Einzelh�ndler E, der Einzelh�ndler Eliefert die n�mliche Ware f�r 300 Euro an den Verbraucher V. Die Pfeile zeigen die Richtung derWarenlieferung an.

Die (kumulative) Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer (in Kraft bis 31.12.1967) wirkte wie folgt:a) Jeder Umsatz eines Unternehmers im Inland wurde der USt unterworfen, im Beispiel also dieLieferungen F an G, G an E und E an V.

b) Bemessungsgrundlage f�r die Steuer war das jeweils vereinnahmte Brutto-Entgelt ohne Abz�ge,daher Brutto-Umsatzsteuer. Die Anzahl der von einer Ware auf ihrem Produktions- und Vertei-lungsweg zu durchlaufenden Phasen war also ausschlaggebend f�r die H�he der Gesamtbelastungder Ware (Kumulationswirkung).

Die sog. Kumulationswirkung der Allphasen-Brutto-Umsatzsteuer verletzte die Wettbewerbsneu-tralit�t. Die Versuche, die Zahl der Phasen zu reduzieren, f�hrte zu Bestrebungen, den Groß- undEinzelhandel auszuschalten, oder dazu, mehrere Phasen in demselben Unternehmen zu vereinigen.Diesem Zweck diente insb. die Organschaft (Rz. 133). Wegen der durch die Allphasen-Brutto-Um-satzsteuer ausgel�sten Wettbewerbsverzerrungen kam es zu Verfassungsbeschwerden, die vomBVerfG zugelassen wurden14.

Zur Herstellung der Wettbewerbsneutralit�t15, allerdings zugleich auch zum Zwecke derHarmonisierung der USt innerhalb der EU und zur Erm�glichung eines exakten Grenzaus-gleichs, ist am 1.1.1968 eine Allphasen-Netto-Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug eingef�hrtworden16. Diese Steuer ist ebenfalls eine Allphasen-Steuer. Sie ist keine echte MwSt; dennBemessungsgrundlage ist nicht der jeweilige Mehrwert, sondern das jeweilige Gesamtentgelt(ohne USt). Zwar darf der Unternehmer von der Umsatzsteuerschuld die in der Vorphase aufihn �berw�lzte USt im Wege des sog. Vorsteuerabzugs absetzen (§ 15 UStG). Das hat zurFolge, dass im Ergebnis aus der Sicht des Unternehmers vermeintlich nur der Nettoumsatz =„Mehrwert“ – in den nachfolgend skizzierten Beispielen jeweils 100 Euro – belastet wird. Tat-s�chlich geht es aber nicht um die Besteuerung eines vom Unternehmer geschaffenen „Mehr-werts“, sondern um die Belastung eines nichtunternehmerischen Endverbrauchs. Maßstab daf�rsind die Aufwendungen des Endverbrauchers.

Immer dann, wenn die vom Gesetz intendierte �berw�lzung der Steuer auf den Phasenn�chstengelingt, ist der Unternehmer wirtschaftlich nicht mit USt belastet,

– weil die Steuer, die in der Vorphase auf ihn �berw�lzt worden ist, im Wege des Vorsteuer-abzugs (s. § 15 UStG) an ihn verg�tet wird (s. Rz. 150 f.);

– weil die Steuer, die er selbst schuldet, �berw�lzt werden soll (§ 14 UStG).

Wirtschaftlich tr�gt die USt der private (nichtunternehmerische) Verbraucher; er ist zwar keinUmsatzsteuerschuldner, wohl aber Umsatzsteuertr�ger; denn nur Unternehmer k�nnen denVorsteuerabzug geltend machen (§ 15 UStG), nicht private Verbraucher.

Eine Steuer, die den Verbrauch (Konsum) belastet, kann bei einer Erh�hung des Steuersatzeszu einer Verringerung des f�r Konsumausgaben zur Verf�gung stehenden Einkommens f�h-ren. Dies kann sich auf die Nachfrage negativ auswirken und trifft dann den Leistungenanbietenden Unternehmer mit R�ckwirkungen auf sein Angebotsverhalten. Diese Banalit�t

§ 14 Rz. 3 § 14 Umsatzsteuer

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14 BVerfG v. 6.5.1964 – 1 BvR 320/57, BVerfGE 18, 1.15 Dazu BT-Drucks. IV/1590, 25.16 Dazu Bericht zu BT-Drucks. V/1581.

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rechtfertigt indes nicht, die USt als eine den Unternehmer belastende Steuer einzuordnen17. DieUSt ist weder von der Belastungskonzeption noch von ihrer technischen Ausgestaltung her einedie Wertsch�pfung des Unternehmens belastende Produktionssteuer. Zutreffend hat der EuGHdaher auch die italienische IRAP (eine der GewSt vergleichbare Produktionssteuer) nicht alsnach Art. 401 MwStSystRL (fr�her Art. 33 I der 6. MwStRL) unzul�ssige Steuer mit dem Cha-rakter einer USt qualifiziert18. Ausschlaggebend daf�r war, dass die MwSt gerade anders als dieIRAP keine Steuer auf den Nettomehrwert der Produktion ist.

Das folgende Beispiel soll den Vorgang veranschaulichen:

Zur obigen Skizze: F liefert einen Gegenstand f�r 100 Euro an G. Da der Normalumsatz mit19 v.H. USt belastet ist, stellt er dem G �ber den Kaufpreis hinaus 19 Euro USt offen in Rech-nung. Die 19 Euro, die F neben dem Kaufpreis von G erh�lt, f�hrt F an das Finanzamt (FA) ab; Gerh�lt sie im Wege des Vorsteuerabzugs von seinem FA zur�ck.

G liefert den n�mlichen Gegenstand an E weiter f�r 200 Euro; er stellt dem E neben dem Netto-Kaufpreis 38 Euro USt in Rechnung (19 v.H.). Die 38 Euro, die er von E erh�lt, f�hrt er an das FAab; E erh�lt sie im Wege des Vorsteuerabzugs von seinem FA zur�ck.

E liefert den n�mlichen Gegenstand an den Endverbraucher V. Neben dem Kaufpreis von 300Euro berechnet er 57 Euro (19 v.H.) USt. Diese erh�lt er von V und f�hrt sie an das FA ab. AlsNichtunternehmer kann V keinen Vorsteuerabzug geltend machen (s. § 15 I UStG). Das FA beh�ltalso die 57 Euro endg�ltig.

Es handelt sich um ein vereinfachtes Beispiel. Die vielfach begleitenden Umsatzverflechtungen(Einkauf von Hilfsg�tern, Investitionsg�tern und Inanspruchnahme von Werk- und Dienstleistun-gen) werden in dem Beispiel nicht ber�cksichtigt.

Das skizzierte Beispiel zeigt, dass die MwSt materiell eine Einzelhandelssteuer ist; die Kreisl�ufeG – F – FA – G und E – G – FA – E sind leerl�ufig.

Der Vorsteuerabzugsberechtigte macht den Vorsteuerabzug nicht bei dem f�r den leistendenVertragspartner zust�ndigen FA geltend, sondern bei dem f�r ihn selbst zust�ndigen FA. Dieobige Skizze zeigt auch, dass der Betrag von 57 Euro fraktioniert wird. Das FA erh�lt von F, Gund E je 19 Euro endg�ltig; diese Betr�ge braucht es nicht mehr herauszugeben.Die Einschaltung nicht nur des E, sondern aller Unternehmer in der Kette, wird wie folgt gerecht-fertigt:

a) Eine Einzelhandelssteuer er�ffne erhebliche Steuerhinterziehungsm�glichkeiten; sie mache jeden-falls umst�ndliche Pr�fungen dar�ber notwendig, inwieweit im Großhandel oder im Einzelhandel(d.h. an einen Endverbraucher) geliefert worden sei.

b) Wer die Vorsteuer reklamiere, werde gen�tigt sein, auch seine Ums�tze richtig zu deklarieren, dadurch Aufschl�ge auf die Vorums�tze auf die H�he der Ums�tze geschlossen werden k�nne.

c) Da die Steuer fraktioniert werde (s. letzte Skizze), �bten die Unternehmer zu Gunsten des FA eineInkassofunktion aus.

d) Das Verfahren sei aus psychologischen Gr�nden geboten19.

„Mehrwertsteuer“ Rz. 3–4 § 14

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17 So aber D. Kr�ger, UR 1988, 65 f.; verfehlt auch H. Zimmermann, StuW 1993, 231, 234, der die UStals der GewSt vergleichbare Wertsch�pfungssteuer (Mehrwert) qualifiziert. Vgl. dazu Rz. 1 f.; unzutr.auch C. Theile (vor Rz. 1), 135 f. (Wertsch�pfungssteuer); C. Theile, StuW 1996, 154 ff. und dagegenH. S�hn, StuW 1996, 165 ff.

18 EuGH v. 3.10.2006 – Rs. C-475/03, EuGHE 2006, I-9373 (Banca popolare di Cremona).19 Dazu schriftlicher Bericht des Finanzausschusses zu BT-Drucks. V/1581, Allg., Nr. 3.

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§ 16 Spezielle Verbrauch- und Aufwandsteuern

Literatur : K. Hansmeyer, Steuern auf spezielle G�ter, Handbuch der Finanzwissenschaft, T�bingen1980, Bd. II[3], 709 ff.; G. Nicolaysen, F�rdergewinne und Verbrauchsteuern, Stuttgart u.a. 1981; Birk/F�rster, Kompetenzrechtliche Grenzen des Gesetzgebers bei der Regelung der Verbrauchsteuer, DB-Beil. 17/1985; H. W. Kruse (Hrsg.), Z�lle, Verbrauchsteuern, europ�isches Marktordnungsrecht,DStJG 11 (1988); J. F�rster, Die Verbrauchsteuern, Geschichte, Systematik, finanzverfassungsrechtli-che Vorgaben, Diss., Heidelberg 1989; M. Peters, Das Verbrauchsteuerrecht, M�nchen 1989; K. Fried-rich, Das neue Verbrauchsteuerrecht ab 1993, DB 1992, 2000; A. Beermann, Das Verbrauchsteuer-Binnenmarktgesetz, DStZ 1993, 257; H. J. Rendels, Schwerpunkte des Verbrauchsteuer-Binnenmarkt-gesetzes, DStZ 1993, 113; Jatzke/Neumann/Wegener, Das neue Verbrauchsteuerrecht, Grundlagen,Schaubilder, Inst.FuSt Brief Nr. 327, Bonn 1994; H. Jatzke, Aktueller Stand und Perspektiven derVerbrauchsteuerharmonisierung, ZfZ 1995, 278; D. M�ller, Struktur, Entwicklung und Begriff derVerbrauchsteuern, Diss., Bochum 1995; S. Schr�er-Schallenberg, Harmonisierung der Verbrauch-steuern, in: D. Birk (Hrsg.), Handbuch des Europ�ischen Steuer- und Abgabenrechts, Herne/Berlin1995, 709; H. Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts unter Ber�cksichtigung derErgebnisse der Verbrauchsteuerharmonisierung in der Europ�ischen Union. Zugleich ein Beitrag f�reinen Allgemeinen Teil des deutschen Verbrauchsteuerrechts, Berlin 1997; R. Lechelt, Bundesge-setzliche Verbrauchsteuern, NWB Fach 14 S. 215 (1999); Peters/Bongartz/Schr�er-Schallenberg, Ver-brauchsteuerrecht, M�nchen 2000; Doralt/Ruppe, Grundriß des �sterreichischen Steuerrechts,Bd. II[4], Wien 2001, 250 ff.; K. Tipke, StRO II[2], 1037 ff., 1103 ff.; S. Cnossen (Hrsg.), Theory andPractice of Excise Taxation, Oxford 2005.

Sammelwerke: Beck'sche Textsammlung „Z�lle und Verbrauchsteuern“; VorschriftensammlungBundesfinanzverwaltung (VSF), Stoffgebiet Verbrauchsteuern (Inhalt: Gesetze, Verordnungen, Richt-linien, Merkbl�tter und Entscheidungen der Finanzgerichtsbarkeit).

1. �berblick

Verbrauch- und Aufwandsteuern (zur Terminologie s. § 3 Rz. 48 f.) sind

– auf kommunaler Ertragsebene die �rtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern (Art. 105 IIaGG), das sind insb. die Getr�nkesteuer, die Vergn�gungssteuer, die Hundesteuer, die Schank-erlaubnissteuer, die Jagd- und Fischereisteuer sowie die Zweitwohnungsteuer1;

– auf Landesertragsebene die Biersteuer (Art. 106 II Nr. 5 GG);

– auf Bundesertragsebene folgende Verbrauchsteuern i.S.d. Art. 106 I Nr. 2 GG: Tabak-,Branntwein-, Alkopop-, Schaumwein-, Zwischenerzeugnis-, Energie- (bis 31.7.2006: Mineral-�l-), Strom- und Kaffeesteuer.

Die fiskalisch bedeutsamen Verbrauchsteuern auf Energietr�ger, Tabak und alkoholhaltige Ge-tr�nke unterliegen innerhalb der EU durch sekund�res Gemeinschaftsrecht einer weit gehendenHarmonisierung. Die Mitgliedstaaten verf�gen aber insb. hinsichtlich der Steuers�tze noch�ber signifikante Gestaltungsspielr�ume. Grundlegende Direktiven f�r nahezu s�mtliche derharmonisierten Verbrauchsteuern enth�lt die sog. Systemrichtlinie 92/12/EWG (zuletzt ge�ndertdurch Richtlinie 2004/106/EG des Rates v. 16.11.2004), die nachfolgend durch Richtlinienzu Struktur, Steuers�tzen und Verfahren der einzelnen Verbrauchsteuern konkretisiert wurde.Der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgaben durch das Verbraucher-Binnenmarktgesetz v.21.12.1992 (BGBl. I 1992, 2150) in nationales Recht umgesetzt2. Außerdem sind die sog. kleinenVerbrauchsteuern auf Salz, Zucker, Leuchtmittel und Tee zum 1.1.1993 abgeschafft worden. Im

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1 Zu den �rtlichen Verbrauch- u. Aufwandsteuern s. § 3 Rz. 35; J. Eschenbach, Die kommunalen Ver-brauch- und Aufwandsteuern – Versuch einer klarstellenden Bestandsaufnahme, KStZ 1990, 121, 147;K. Tipke, �ber ungleichm�ßige Besteuerung durch kommunale Verbrauch- und Aufwandsteuern,D�V 1995, 1027; R. Lechelt, �rtliche Verbrauch- und Aufwandsteuern, NWB Fach 12 S. 249 (1998);A. Kasper, Kommunale Steuern, Stuttgart 2006. Zur Zweitwohnungsteuer s. H.-W. Bayer, KStZ 2005,41; Meier/Juhre, KStZ 2005, 46 (aktuelle Problemfragen bei Studierenden).

2 Grundl. H. Jatzke (zit. vor Rz. 1) m.w.N.

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Bereich der Energietr�ger waren zun�chst nur die Steuern auf Mineral�le europaweit angegli-chen worden. Infolge der sog. Energiesteuerrichtlinie 2003/96/EG erstreckt sich die gemein-schaftsrechtliche Rahmengesetzgebung nunmehr auch auf die Besteuerung von Strom sowie aufeine Vielzahl von Heiz- und Kraftstoffen. Dementsprechend wurde das Mineral�lsteuergesetzmit Wirkung v. 1.8.2006 durch das Energiesteuergesetz (Art. 1 des Gesetzes zur Neuregelungder Besteuerung von Energieerzeugnissen und zur �nderung des Stromsteuergesetzes v.15.7.2006, BGBl. I 2006, 1534) abgel�st und das Stromsteuergesetz angepasst.

Hinsichtlich aller der harmonisierten Besteuerung unterliegenden Waren k�nnen vom ge-meinsamen Verbrauchsteuersystem abweichende Steuern nur erhoben werden, wenn sieeine besondere Zielsetzung aufweisen (Art. 3 II Systemrichtlinie) und nicht lediglich fiskalischmotiviert sind3. In Deutschland betrifft dies die Alkopopsteuer (s. Rz. 9). Verbrauchsteuernauf sonstige Waren oder Dienstleistungen d�rfen die Mitgliedstaaten einf�hren oder beibe-halten, sofern diese Steuern im Handelsverkehr zwischen Mitgliedstaaten keine Grenzfor-malit�ten nach sich ziehen (Art. 3 III Systemrichtlinie)4. Sekund�rrechtlich zul�ssig ist dem-nach insb. die Erhebung von �rtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern auf solche G�ter.Dies gilt auch dann, wenn sie an Dienstleistungen ankn�pfen, die im Zusammenhang mit derLieferung von an sich harmonisiert besteuerten Waren stehen, wie z.B. an den Bierausschankdurch Gastronomen5. Als problematisch erweist sich hingegen die Kaffeesteuer (s. Rz. 13)wegen des im innergemeinschaftlichen Handel bestehenden Anzeigeerfordernisses nach § 11III KaffeeStG.

Die europarechtliche �berlagerung nahezu s�mtlicher bundesgesetzlich geregelter Verbrauch-steuern hat weit reichende Implikationen f�r ihre Auslegung und f�r die Pr�fung ihrer Verein-barkeit mit h�herrangigem Recht. Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 10 EG verpflichtet, dasharmonisierte Verbrauchsteuerrecht richtlinienkonform auszulegen6, soweit dies im Rahmen deranerkannten Auslegungsmethoden geschehen kann. Wenn dies nicht m�glich ist oder die ein-schl�gige Verbrauchsteuerrichtlinie nicht – fristgerecht – umgesetzt wurde, kann sich der Stpfl.auf die unmittelbare Anwendbarkeit der ihm g�nstigen Bestimmungen berufen7. Zudem kanner verlangen, dass auch mitgliedstaatliche Ermessensspielr�ume etwa bei der tatbestandlichenAusformung von optionalen Steuerbefreiungen in �bereinstimmung mit den Prinzipien desharmonisierten Verbrauchsteuerrechts wahrgenommen werden8, namentlich mit dem Grund-satz der Wettbewerbsneutralit�t9. Hingegen bietet die Richtlinie der Finanzverwaltung keine

§ 16 Rz. 2–4 § 16 Spezielle Verbrauch- und Aufwandsteuern

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3 Vgl. EuGH v. 9.3.2000, Evangelischer Krankenhausverein Wien, UR 2000, 242, Rz. 31. Zu Rechtanerkennt der Gerichtshof einen besonderen Lenkungszweck a.a.O., Rz. 36 ff., nur wenn die Steuerzu dessen Erreichung geeignet und folgerichtig ausgestaltet ist.

4 Zur Abgrenzung von Art. 3 II u. III der Systemrichtlinie vgl. EuGH v. 5.7.2007, Fendt, noch n.v.,Rz. 44. Art. 3 III erm�chtigt nur zur Erhebung zus�tzlicher Steuern und erlaubt keine Umgehung vonzwingenden Steuerbefreiungen, vgl. EuGH v. 10.6.1999, Braathens, Slg. 1999, I-3419, Rz. 22 ff.

5 Vgl. Art. 3 III, UAbs. 2 Systemrichtlinie. Anl�sslich der Pr�fung einer Gemeindesteuer auf die Abgabealkoholhaltiger Getr�nke zum unmittelbaren Verzehr an Ort und Stelle hat der EuGH mit Urt. v.10.3.2005, Hermann, KStZ 2005, 119, Rz. 21 ff., gemeint, dass es diesbez�glich auf ein �berwiegen desDienstleistungselements im konkreten Einzelfall ankomme. Richtigerweise muss eine typisierendeBetrachtung gew�hlt werden, weil mitgliedstaatliche Steuerkompetenzen anhand der Ausgestaltungder Steuer als solcher zu beurteilen sind.

6 Vgl. EuGH v. 15.6.2000, Brinkmann Tabakfabriken, Slg. 2000, I-4619, Rz. 40 zur TabakSt-RiLi;EuGH v. 19.4.2007, Profisa, HFR 2007, 713, zur AlkoholSt-StrukturRiLi; s. ferner die Nachw. in § 5Rz. 76, dort Fn. 35.

7 So z.B. EuGH v. 15.6.2000 (Fn. 6), Rz. 32 zur TabakSt-RiLi; vgl. auch EuGH v. 14.9.2006, Stradasfalti,Slg. 2006, I-8391, Rz. 66 ff. m.w.N., zum harmonisierten Mehrwertsteuerrecht.

8 Vgl. EuGH v. 8.6.2006, L.u.P., Slg. 2006, I-5123, Rz. 47 f. m.w.N.; dies gilt allerdings nur, soweit einVerstoß gegen tragende Grunds�tze des Verbrauchsteuerrechts nicht schon in der sekund�rrechtlichenErm�chtigungsgrundlage selbst enthalten ist, vgl. EuGH v. 11.5.2000, Id�al Tourisme, Slg. 2000,I-6049, Rz. 35 ff.

9 Vgl. etwa EuGH v. 1.4.2004, Deutsche See-Bestattungs-Genossenschaft, Slg. 2004, I-3537, Rz. 21 u.25, zur ehem. Mineral�lSt-StrukturRiLi; EuGH v. 30.3.2006, Smits-Koolhoven, Slg. 2006, I-3129,Rz. 17, zur TabakSt-StrukturRiLi.

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Grundlage f�r eine gegen�ber der Gesetzeslage versch�rfte Besteuerung10. Die vorstehend be-schriebene Ausstrahlungswirkung des Richtlinienrechts erlaubt unter anderem auch negativeKonkurrentenklagen auf gesetzes- und richtlinienkonforme Besteuerung von Wettbewerbern11,bspw. im Zusammenhang mit den zahlreichen Versuchen einer Umgehung der Tabaksteuer aufZigaretten. Die hohen H�rden f�r eine Konkurrentenklage, wie sie etwa das FG Bremen EFG1991, 263 in einem solchen Fall auf der Grundlage von im nationalen Recht wurzelnden sub-jektiven �ffentlichen Rechten aufgestellt hat, sind damit im harmonisierten Verbrauchsteuer-recht obsolet geworden.

Im Gegenzug kann der Steuerpflichtige nicht l�nger die Unvereinbarkeit nationaler Verbrauch-steuerbestimmungen mit den verfassungsrechtlichen Garantien einer gleichm�ßigen und ver-h�ltnism�ßigen Besteuerung geltend machen, soweit die angegriffenen Vorschriften auf binden-den Vorgaben des europ�ischen Richtlinienrechts beruhen12. Zudem k�nnen im Richtlinienrechtangelegte Steuerverg�nstigungen wie beispielsweise die Energiesteuerfreiheit von Flugbenzinmangels mitgliedstaatlicher Zurechenbarkeit auch nicht mehr anhand des Beihilfenverbotesnach Art. 87 Abs. 1 EG �berpr�ft werden13. Stattdessen sind die zu Grunde liegenden Richt-linienbestimmungen am steuerlichen Diskriminierungsverbot des Art. 90 EG14, an den Grund-freiheiten sowie an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen. Die Entwicklung steuerspezifi-scher Pr�fungsmaßst�be im Rahmen der allgemeinen europ�ischen Grundrechtsdogmatik stecktfreilich noch in den Kinderschuhen.

2. Steuerschuldner15

Technisch setzen fast alle Verbrauchsteuern nicht beim Verbraucher als intendiertem Steuer-tr�ger an, sondern als indirekte Steuern beim Hersteller oder H�ndler. Die �rtlichen Aufwand-steuern werden hingegen teilweise als direkte Steuern unmittelbar bei demjenigen erhoben, derdie Konsumaufwendungen t�tigt. Daneben existieren aber auch in diesem Bereich Steuern, dievom Dienstleistungserbringer auf den Konsumenten abgew�lzt werden sollen. Bei den auf

Steuerschuldner Rz. 4–6 § 16

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10 Dazu allg. und grundl. EuGH v. 26.2.1986, Marshall, Slg. 1986, 723, Rz. 48.11 Vgl. EuGH v. 8.6.2006, Feuerbestattungsverein Halle, Slg. 2006, I-4999, Rz. 23 ff., zum harmonisier-

ten Mehrwertsteuerrecht; grundl. zur Einklagbarkeit belastender Maßnahmen gegen Dritte auf Basisvon Gemeinschaftsrecht EuGH v. 7.1.2004, Delena Wells, Slg. 2004, I-721, Rz. 55 ff. Auf eine etwaigeDrittschutzwirkung am Maßstab der deutschen Schutznormlehre kommt es nicht an. Bei Klagen aufBesteuerung privater Konkurrenten ist allerdings die Umsetzung der nach europarechtlichen Grund-s�tzen individualsch�tzenden Richtlinienbestimmung (dazu grundl. EuGH v. 5.4.1979, Ratti, Slg.1979, 1629, Rz. 20 ff.) in eine nationale Rechtsgrundlage erforderlich, weil eine unmittelbare Berufungauf die Richtlinie zu Lasten Privater nicht in Betracht kommt (s.o.).

12 Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht beansprucht der EuGH ein Verwerfungsmonopol zwecksWahrung einer uniformen Anwendung des Gemeinschaftsrechts, vgl. Urteil v. 13.12.1979, Hauer,Slg. 1979, 3727, Rz. 13 ff., das vom BVerfG nunmehr konsequent auch f�r Richtlinienvorgabenohne mitgliedstaatliche Ermessensspielr�ume anerkannt wird, vgl. BVerfG DVBl. 2007, 821, sowieBVerfG DStRE 2007, 1335 speziell zur harmonisierten Umsatzsteuer. N�her dazu J. Englisch,Wettbewerbsgleichheit im grenz�berschreitenden Handel, Habil. K�ln 2006, im 4. Kapitel unterD.I.4.a.

13 Nach EuG v. 5.4.2006, Deutsche Bahn, Slg. 2006, II-1047, Rz. 102 u. 106, gilt dies ungeachtet einerErm�chtigung an die Mitgliedstaaten zum Verzicht auf die Steuerbefreiung. Anders muss es sich aberverhalten, wenn die Richtlinie umgekehrt als Regelfall die Besteuerung vorsieht und den Mitglied-staaten die Steuerbefreiung als Ausnahme gestattet, vgl. auch Art. 26 (2) der Energiesteuerrichtlinie2003/96/EG. Im nicht harmonisierten Bereich sind selektive Steuerverg�nstigungen bei Verbrauch-steuern uneingeschr�nkt �berpr�fbar, vgl. EuGH v. 8.11.2001, Adria-Wien-Pipeline, Slg. 2001, I-8365(zur Entlastung des produzierenden Gewerbes von den seinerzeit noch nicht harmonisierten Steuernauf Erdgas und Strom).

14 Vgl. EuGH v. 10.7.1984, Denkavit, Sgl. 1984, 2649, Rz. 27; einschr�nkend EuGH v. 5.10.2004,„Ouzo“, Slg. 2004, I-8923. Art. 90 EG bleibt auch bei mitgliedstaatlichen Ermessensspielr�umenPr�fungsmaßstab, vgl. EuGH v. 5.7.2007, Fendt, n.n.v., Rz. 42.

15 Dazu ausf. H. Jatzke, Das System des deutschen Verbrauchsteuerrechts (Fn. 2), 171 ff., 199 ff. (Steuer-schuldner bei Waren des freien Verkehrs).

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Waren bezogenen Verbrauchsteuern wird die Steuer auf verschiedenen Handelsstufen erhoben;Steuerschuldner k�nnen hier sein:

a) Inhaber eines Steuerlagers (sowohl Inhaber eines Herstellungsbetriebs als auch Inhabereines Warenlagers, s. H. Jatzke, Fn. 2, 174);

b) berechtigte Empf�nger, die mit einer gewissen Regelm�ßigkeit verbrauchsteuerpflichtigeWaren zu gewerblichen Zwecken aus anderen Mitgliedstaaten beziehen, und berechtigteEmpf�nger, die nur im Einzelfall, d.h. gelegentlich am innergemeinschaftlichen Verkehr mitunversteuerten Waren teilnehmen (s.H. Jatzke, Fn. 2, 177 f.), sowie

c) Beauftragte; diese werden im innergemeinschaftlichen Verkehr mit verbrauchsteuerpflichti-gen Waren bei der Belieferung von gewerblichen Empf�ngern, die �ber keine Steuerlagerverf�gen, und bei der Belieferung von Privatpersonen im Versandhandel eingeschaltet(s.H. Jatzke, Fn. 2, 179).

3. Steuerobjekte

Folgende Waren werden durch bundesgesetzlich geregelte Verbrauchsteuern belastet:

a) Tabakwaren16 (Zigaretten, Zigarren, Zigarillos, Rauchtabak) und den Tabakwaren gleichgestellteErzeugnisse (s. § 3 TabStG). Kau- und Schnupftabak, Zigarettenh�llen, Zigarettenpapier und Roh-tabak unterliegen nicht mehr der Tabaksteuer bzw. sind steuerfrei. Die unterschiedliche Steuer-belastung von Tabakerzeugnissen verschiedener Verarbeitungsformen und -stufen (§§ 4, 5 Tabak-StG), die vom Verbraucher letztlich derselben Verwendung zugef�hrt werden k�nnen, ist unsach-gerecht und schafft einen best�ndigen Anreiz f�r rein steuergetriebene Produktinnovationen17.Daraus resultieren Wettbewerbsverzerrungen und Steuerschlupfl�cher, die den ohnehin fragw�rdi-gen gesundheitspolitischen Nebenzweck der Tabaksteuer (s. Rz. 22 ff.) weiter unterminieren.

b) Bier18 und Biermischgetr�nke; alkoholfreies Bier ist seit der Harmonisierung der Biersteuer keinSteuergegenstand mehr.

c) Branntwein; das Gesetz �ber das Branntweinmonopol besteht nunmehr aus zwei Teilen, vondenen der erste Teil das Monopolrecht und der zweite Teil (§§ 130 ff.) die Besteuerung vonBranntwein und branntweinhaltigen Waren regelt. Zur Besteuerung der Lik�rweine sowie derweinhaltigen und wein�hnlichen Getr�nke wurde die neue Verbrauchsteuer auf „Zwischenerzeug-nisse“ eingef�hrt (s. Rz. 10). Die Harmonisierung f�hrte zur Abschaffung der Besteuerung vonAlkohol zur Verwendung von Kosmetika, Arznei- und Lebensmitteln. Mit Gesetz v. 23.7.2004,BGBl. I 2004, 1857, wurde „zum Schutze junger Menschen“ (so der Gesetzestitel) die Steuer aufalkoholhaltige S�ßgetr�nke (Alkopopsteuer) eingef�hrt (dazu A. Pfab, DStZ 2006, 249). DieseSondersteuer erg�nzt den Tatbestand der harmonisierten Branntweinsteuer, ist aber eine nichtharmonisierte Verbrauchsteuer mit besonderer Zielsetzung im Sinne von Art. 3 II Systemrichtlinie(s. Rz. 3).

d) Schaumweine (Champagner, Qualit�tsschaumweine u.a. sch�umende gegorene Getr�nke, z.B.Obst- und Fruchtschaumweine) und Zwischenerzeugnisse (z.B. Sherry, Portwein, Madeira),s. SchaumwZwStG. Wein wird inzwischen in den meisten Mitgliedstaaten besteuert, aber inDeutschland ist nach wie vor der Widerstand gegen eine Weinsteuer groß19. Die EG hat die Wein-

§ 16 Rz. 6–10 § 16 Spezielle Verbrauch- und Aufwandsteuern

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16 S. W. J. Zimmermann, Die Tabaksteuer, Instrument der fiskalischen Einnahmeerzielung und dergesellschaftlichen Verbrauchslenkung, Geschichtliche Entwicklung, internationaler Vergleich und Re-formperspektiven, Frankfurt u.a. 1987; F. Ossenb�hl, Verfassungsrechtliche Grenzen einer Erh�hungder Tabaksteuer, StuW 1988, 349; F. Kirchhof, Die steuerliche Doppelbelastung der Zigaretten, EinBeitrag zur Kumulation und Kaskadenwirkung der Umsatz- und der Verbrauchsteuer, Berlin 1990;M. Bongartz, Die Auswirkungen der Verbrauchsteuerharmonisierung auf das Tabaksteuerrecht, ZfZ1993, 370; T. Kempf, Die Rechtfertigung der Tabaksteuer, Frankfurt a.M. 2005.

17 Exemplarisch EuGH v. 10.11.2005, „West Single Packs“, ZfZ 2006, 21.18 Zu den steuerlich maßgeblichen Charakteristika von Bier vgl. BFH/NV 2006, 1732.19 Deutschland und Italien haben sich von Anfang an (1967) gegen eine EG-weite Einf�hrung der

Weinsteuer ausgesprochen. S. M. Gr�nenberg, Die Weinsteuer und ihre Harmonisierung in denEurop�ischen Gemeinschaften, Diss. Mannheim 1992; H. Jatzke, Das System des deutschen Ver-brauchsteuerrechts (Fn. 2), 269 ff.

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steuer zwar harmonisiert, den Mitgliedstaaten aber einen Mindeststeuersatz von 0 v.H. vorgegebenund damit faktisch die M�glichkeit zum Verzicht auf eine Weinsteuer einger�umt. Speziell inDeutschland ist dabei ein Verstoß gegen das steuerliche Protektionismusverbot des Art. 90 II EGmit Blick auf ausl�ndische Bierprodukte20 angesichts der Benachteiligung auch einer signifikantenheimischen Bierproduktion nicht zu bef�rchten.

e) Energieerzeugnisse (Benzin, Diesel, Heiz�l, Fl�ssig- und Erdgas, Kohle, Koks, sowie zur Ver-wendung als Heiz- und Kraftstoffe bestimmte Pflanzen�le und Fette) und Strom. Bereits vorErlass der Energiesteuerrichtlinie (s. Rz. 2) hat der deutsche Gesetzgeber durch die sog. �kologi-sche Steuerreform einen Verbund der Besteuerung von Energie hergestellt, indem die harmoni-sierte Mineral�lsteuer auf Erd- und Fl�ssiggas erstreckt und das Stromsteuergesetz (StromStG,Art. 1 des Gesetzes zum Einstieg in die �kologische Steuerreform v. 24.3.1999, BGBl. I 1999, 378)eingef�hrt wurde21. Ihrem Charakter als „�kosteuern“ entsprechend zielen diese Abgaben nichtauf die sozial gerechte Verteilung �ffentlicher Lasten am Maßstab individueller Konsumleistungs-f�higkeit, sondern sie sollen eine nach marktwirtschaftlichen Maßst�ben optimale Verteilung vonRessourcen unter den Bedingungen �kologisch erw�nschter Verteuerung erm�glichen. Freilichbleibt die Besteuerung von Energietr�gern selbst nach Verabschiedung des Energiesteuergesetzes(EnergieStG, s. Rz. 2) noch deutlich hinter dem Konzept einer europ�ischen CO2-Steuer zur�ck(s. § 2 Rz. 58).

Energie- und Stromsteuergesetz sehen zahlreiche Steuererm�ßigungen und -befreiungen vor.Nach der Art ihrer Erzeugung steuerlich beg�nstigt sind Biokraft- und Bioheizstoffe (§ 50 Ener-gieStG), wobei sog. Biodiesel und Pflanzen�le inzwischen keine vollst�ndige Steuerentlastung mehrerfahren22. Diese ethisch fragw�rdige Verschonungssubvention f�r die Konversion potenziellerLebensmittel in Kraftstoffe ist gemeinschaftsrechtlich durch die Art. 16 u. 26 der Energiesteuer-richtlinie i.V.m. einer beihilferechtlichen Genehmigung zugelassen. In �bereinstimmung mit derErm�chtigung in Art. 15 (1b) der Richtlinie wird außerdem Strom aus erneuerbaren Energietr�gernvon der Stromsteuer befreit (§ 9 I Nr. 1 StromStG). Ebenfalls richtlinienkonform sind eine Reiheweiterer steuerlicher Erleichterungen betr. die Verwendung von Strom und Energieerzeugnissen.Generell profitieren Unternehmen des „produzierenden Gewerbes“ i.S.d. § 2 Nr. 3 StromStG vonerm�ßigten Steuers�tzen (§ 9 III StromStG; § 54 EnergieStG), wobei sich die Steuerlast �ber densog. „Spitzenausgleich“ noch weiter vermindern kann (§ 10 StromStG; § 55 EnergieStG). Danebenexistieren Sondervorschriften f�r die gewerbliche Schiff- und Luftfahrt (§§ 27; 52 EnergieStG), f�renergieintensive Produktionsprozesse (§ 9a I StromStG; § 51 EnergieStG), f�r den �ffentlichenPersonennahverkehr (§ 9 II Nr. 2 StromStG; § 56 EnergieStG), f�r Betriebe der Land- und Forst-wirtschaft und f�r Gew�chsh�user (§ 9 III StromStG; §§ 57; 58 EnergieStG).

f) Kaffee, und zwar R�stkaffee, Ausz�ge, Essenzen und Konzentrate aus Kaffee (§§ 1; 2 KaffeeStG);bei kaffeehaltigen Waren unterliegt auch der in ihnen enthaltene Kaffeeanteil der Steuer (sog.Anteilbesteuerung).

�rtliche Aufwand- und Verbrauchsteuern werden regelm�ßig kraft kommunaler Steuersat-zungen, in den Stadtstaaten auf Grund von Landesgesetzen erhoben. Folgende �rtliche Auf-wandsteuern sind auch jenseits grundlegender Einw�nde gegen eine punktuelle kommunaleVerbrauchsbesteuerung (s. Rz. 20) diskussionsw�rdig:

a) Die Zweitwohnungsteuer (ZwSt) kn�pft als direkte Aufwandsteuer an das Innehaben einerweiteren Wohnung neben der Hauptwohnung an. Erfasst wird regelm�ßig sowohl angemieteter

Steuerobjekte Rz. 10–15 § 16

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20 Dazu EuGH v. 17.6.1999, Socridis, Slg. 1999, I-3791, Rz. 20.21 Lit. (zur �kologischen Steuerreform s. auch § 8 Rz. 121 ff., dort Fn. 103 ff.): M. Bongartz, ZfZ 1999,

182; M. Bongartz, EnergieStG, StromStG (Loseblatt), M�nchen; S. Soyk, Mineral�l- und Strom-steuerrecht, M�nchen 2000; Energiesteuer: Teichner/Alexander/Reiche, Mineral�lsteuer, Mineral�l-zoll (Loseblatt), Berlin/Frankfurt; A. Klemm, Die Neuregelung des Energiesteuerrechts, BB 2006,1884; F. Kirchhof, Nationale Steuererm�ßigungen und europ�isches Beihilfeverbot, ZfZ 2006, 246(Genehmigungsf�higkeit der neuen Energiesteuererm�ßigungen f�r das Produzierende Gewerbe);R. Stein, Die Besteuerung von Pflanzen�l und Biodiesel, ZfZ 2007, 118; Stromsteuer: H.-W. Arndt,Stromsteuergesetz, Kommentar, Heidelberg 2000; J. Bloehs, BB 1999, 1845 (Erhebungsverfahren undEU-Recht); Bongartz/Schr�er-Schallenberg, DStR 1999, 962 (Gemeinschaftsrecht u. Verfassungs-recht); J. Hidien, BB 1999, 341; H. Jatzke, DStZ 1999, 520; C. Meißner, ZfZ 2001, 260 (Erlaubnis-erfordernisse).

22 Vgl. R. Stein, ZfZ 2007, 118.

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Viertes Kapitel: Bilanz- und Unternehmensteuerrecht

§ 17 Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)

A. �berblick �ber das System betrieblicher Gewinnermittlung

I. Gewinnermittlungsarten

§ 2 II Nr. 2 EStG bestimmt: Eink�nfte bei Land- und Forstwirtschaft, Gewerbebetrieb undselbst�ndiger Arbeit sind der Gewinn. Im Zentrum der Ermittlung des steuerrechtlichen Ergeb-nisses f�r Zwecke der Gewinneinkunftsarten des EStG (§ 2 I Nrn. 1–3 EStG) steht der Be-triebsverm�gensvergleich nach §§ 4; 5 EStG mit seinen komplexen Beziehungen zwischenhandelsrechtlicher Rechnungslegung und steuerrechtlichen Spezialvorschriften in §§ 5–7k EStG.Das Gesetz unterscheidet zwischen dem Betriebsverm�gensvergleich nach § 4 I EStG und demnach § 5 I EStG. § 5 I 1 EStG ordnet f�r Gewerbetreibende, die auf Grund gesetzlicher Ver-pflichtung (§§ 140; 141 AO) oder freiwillig B�cher f�hren und regelm�ßig Abschl�sse machen,die Befolgung der handelsrechtlichen Grunds�tze ordnungsm�ßiger Buchf�hrung (GoB) an (§ 5I 1 EStG). § 4 I 1 EStG enth�lt f�r die �brigen Gewinneinkunftsarten keinen ausdr�cklichenHinweis auf ein spezielles Rechnungslegungssystem, gleichwohl werden die handelsrechtlichenGoB auch dem allg. Betriebsverm�gensvergleich zugrunde gelegt1. Unterschiede zwischen derGewinnermittlung nach § 4 I EStG und § 5 I EStG ergeben sich nur dort, wo das Handelsrechtabw. von steuerrechtlichen Wahlrechten zwingende Ans�tze vorschreibt, das Steuerrecht aberWahlm�glichkeiten er�ffnet (Beispiel : zwingende Teilwertabschreibung nach § 253 III 1HGB bei Wahlrecht nach § 6 I Nr. 2 S. 2 EStG; dazu Rz. 84). Hier bleibt es f�r den § 4 I-Ermittler bei dem Wahlrecht.

Alternativ zum Betriebsverm�gensvergleich nach § 4 I EStG sieht § 4 III EStG f�r StPfl., dieweder auf Grund gesetzlicher Verpflichtung noch freiwillig B�cher f�hren, die Ermittlung desGewinns durch �berschussrechnung (�berschuss der Betriebseinnahmen/-ausgaben �ber dieBetriebsausgaben/-einnahmen) vor (Rz. 255 ff.). Es handelt sich um eine vereinfachte Gewinn-ermittlung nach Art der in §§ 8 ff. EStG normierten Kassenrechnung, deren Leitbild aber derBetriebsverm�gensvergleich ist (Grundsatz der Gesamtgewinngleichheit, Rz. 257).

Privilegierend wirken die pauschalierende Gewinnermittlung f�r Eink�nfte aus Land- undForstwirtschaft gem. § 13a EStG (§ 9 Rz. 201, 409 ff.) und die sog. Tonnagebesteuerung f�rBetriebe der Handelsschifffahrt gem. § 5a EStG (§ 9 Rz. 202).

Die Gewinnermittlung nach dem EStG gilt mit Modifikationen auch f�r die K�rperschaftsteuer(§ 8 I 1 KStG) und die Gewerbesteuer (§ 7 I 1 GewStG).

II. Subjektiver Anwendungsbereich der Gewinnermittlungsarten

Der Anwendungsbereich der einzelnen Gewinnermittlungsarten ist mit der Buchf�hrungs-pflicht verkn�pft. § 4 III 1 EStG er�ffnet Stpfl., die weder auf Grund gesetzlicher Vorschriftenzur F�hrung von B�chern und regelm�ßigen Abschl�ssen verpflichtet sind noch freiwilligB�cher f�hren, ein Wahlrecht zwischen betrieblicher �berschussrechnung und Bestandsver-gleich. Wer buchf�hrungspflichtig ist, regeln §§ 140; 141 AO (dazu § 21 Rz. 178 ff.). § 140 AOverweist insb. auf die Buchf�hrungspflicht nach dem HGB. § 238 I 1 HGB verpflichtet Kauf-leute (§§ 1–6 HGB) zur Buchf�hrung. Kapitalgesellschaften sind als Formkaufleute gem. §§ 6;

Hey | 7031 BFH BStBl. 1980, 146; 1981, 398.

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238 HGB handelsrechtlich zur Buchf�hrung verpflichtet, so dass f�r sie �ber §§ 7 II; 8 I 1 KStGebenfalls § 5 I EStG gilt, dazu i.E. unten Rz. 240 ff.

§ 141 AO ordnet daneben umsatz- bzw. gewinnabh�ngig f�r gewerbliche Unternehmer undLand- und Forstwirte origin�r steuerrechtliche Buchf�hrungspflichten an. Da Gewerbetreiben-de regelm�ßig bereits nach dem vorrangigen § 140 AO i.V.m. §§ 1 ff.; 238 I 1 HGB buchf�h-rungspflichtig sind, hat § 141 AO Bedeutung vor allem f�r Land- und Forstwirte sowie Klein-gewerbetreibende, deren Unternehmen keinen nach Art oder Umfang in kaufm�nnischer Weiseeingerichteten Gesch�ftsbetrieb erfordert (§ 1 II HGB). Sie sind, wenn sie nicht freiwillig in dasHandelsregister eingetragen sind (§ 2 S. 1 HGB), nach § 141 I 1 Nrn. 1, 4 AO buchf�hrungs-pflichtig, sobald der einzelne Betrieb einen Umsatz von 500 000 Euro bzw. einen Gewinn von50 000 Euro im Kalenderjahr �berschreitet.

Die Umsatz- und Gewinngrenzen des § 141 AO sind mit dem Ziel, die steuerliche Gewinnermittlungkleiner und mittelst�ndischer Unternehmen zu erleichtern, mehrfach angehoben worden2, zun�chstdurch das Kleinunternehmerf�rderungsgesetz v. 31.7.2003 (BGBl. I 2003, 1550), dann durch 1. und2. Gesetz zum Abbau b�rokratischer Hemmnisse (BGBl. I 2006, 1970 u. 2007, 2246). Indes hilft dieAnhebung der Grenzen steuerlicher Buchf�hrungspflichten in § 141 AO wenig, solange prim�r an diehandelsrechtlichen Buchf�hrungspflichten angekn�pft wird. Denn zumeist sind Gewerbetreibende,auch wenn sie die Grenzen des § 141 AO nicht �berschreiten, bereits nach § 140 AO i.V.m. § 238HGB buchf�hrungspflichtig und damit zum Bestandsvergleich nach § 5 I EStG verpflichtet. EineErleichterung der Aufzeichnungspflichten und Verbesserung der Liquidit�tssituation k�nnte durchFreigabe der Wahl zwischen § 4 III EStG und § 4 I EStG auch f�r Gewerbetreibende erreicht werden(dazu Rz. 55) oder durch �bernahme der AO-Grenzen in das HGB (so jetzt § 241a HGB-E i.d.F. desBilMoG, s. Referentenentwurf v. 8.11.2007, www.bmj.bund.de.

Selbst�ndige i.S.d. § 18 EStG sind weder nach § 140 AO noch nach § 141 AO buchf�hrungs-pflichtig. Sie haben folglich ein freies Wahlrecht zwischen Bestandsvergleich nach § 4 I EStGund �berschussrechnung nach § 4 III EStG.

Damit ergibt sich folgende personelle Zuordnung betrieblicher Gewinnermittlung:

Betriebsverm�gensvergleichnach handelsrechtlichen GoB§ 5 I EStG

Gewerbetreibende gesetzlich buchf�hrungspflich-tig oder freiwillig buchf�hrend

allgemeiner Betriebsver-m�gensvergleich gem.§ 4 I EStG

Land- und Forstwirte gesetzlich buchf�hrungspflich-tig gem. § 141 AO oder frei-willig buchf�hrend

Selbst�ndige freiwillig buchf�hrend

wahlweise �berschussrech-nung gem. § 4 III EStG

Kleingewerbetreibende weder gesetzlich (§ 238 HGB;§ 141 AO) buchf�hrungs-pflichtig noch freiwillig buch-f�hrend

Land- und Forstwirte weder gesetzlich buchf�h-rungspflichtig gem. § 141 AOnoch freiwillig buchf�hrend

Selbst�ndige soweit sie nicht freiwilligB�cher f�hren

Einstweilen frei.

§ 17 Rz. 5–9 § 17 Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)

704 | Hey2 Dazu Tipke/Kruse/Dr�en, AO, § 141 Tz. 13b, c (2007).

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B. Betriebsverm�gensvergleich nach §§ 4 I; 5 I EStG

Literatur : M. Lion, Das Bilanzsteuerrecht[2], Berlin 1923; W. Freericks, Bilanzierungsf�higkeit undBilanzierungspflicht in Handels- und Steuerbilanz, Habil., K�ln u.a. 1976; A. Moxter, Bilanzlehre I u.II[3], Wiesbaden 1984/86; Leffson/R�ckle/Großfeld (Hrsg.), Handw�rterbuch unbestimmter Rechts-begriffe im Bilanzrecht des HGB, K�ln 1986; W. Doralt (Hrsg.), Probleme des Steuerbilanzrechts,DStJG 14 (1991); B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht[9], K�ln 1993; H. Weber-Grellet, Das Steuerbilanzrecht, M�nchen 1996; Adler/D�ring/Schmaltz, Rechnungslegung und Pr�-fung der Unternehmen[6], 9 Bde., Stuttgart 1995/2001; Berger/Ellrott/F�rschle/Hense, Beck'scher Bi-lanz-Kommentar[6], M�nchen 2006; Baetge/Kirsch/Thiele, Bilanzen[7], D�sseldorf 2003; Breithecker/Schmiel, Steuerbilanzrecht und Verm�gensaufstellung in der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre,Bielefeld 2003; C. A. Oestreicher, Handels- und Steuerbilanzen[6], Heidelberg 2003; H. Weber-Grel-let, Bilanzsteuerrecht[8], M�nster/K�ln 2004; Großfeld/Luttermann, Bilanzrecht[4], Heidelberg 2005;A. Coenenberg, Jahresabschluss und Jahresabschlussanalyse[20], Stuttgart 2005; K�ting/Weber (Hrsg.),Handbuch der Rechnungslegung[4], Heidelberg 2005; G. W�he, Die Handels- und Steuerbilanz[4],M�nchen 2005; Thiel/L�dtke-Handjery, Bilanzrecht, Handelsbilanz, Steuerbilanz[5], Heidelberg 2005;R. Winnefeld, Bilanz-Handbuch[4], M�nchen 2006; Falterbaum/Beckmann/Bolk, Buchf�hrung undBilanz[20], Bonn/Achim 2007; R. Federmann, Bilanzierung nach Handels- und Steuerrecht[12], Berlin2007; C. Meyer, Bilanzierung nach Handels- und Steuerrecht[18], Berlin 2007; Horschitz/Groß/Weid-ner/Franck, Bilanzsteuerrecht und Buchf�hrung[11], Stuttgart 2007; A. Moxter, Bilanzrechtsprechung[6],T�bingen 2007; Castan/Heymann/M�ller/Ordelheide/Scheffler, Beck'sches Handbuch der Rech-nungslegung, Loseblatt, M�nchen.

I. Gewinn i.S.d. § 4 I 1 EStG

§ 4 I 1 EStG, der durch Verweisung auch f�r die Gewinnermittlung nach § 5 I EStG gilt,bestimmt:

„Gewinn ist der Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsverm�gen am Schluss des Wirtschafts-jahres und dem Betriebsverm�gen am Schluss des vorangegangenen Wirtschaftsjahres, vermehrt umden Wert der Entnahmen und vermindert um den Wert der Einlagen.“

Betriebsverm�gen meint Betriebsreinverm�gen (= Eigenkapital). Das ist die nach Abzug derPassiva (Schulden) von den Aktiva (Verm�gen) verbleibende Gr�ße. �bersteigen die Passiva dieAktiva, ergibt sich kein Betriebsreinverm�gen (Kapital�berschuss), sondern ein am Ende derBilanz auf der Aktivseite auszuweisender nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag(§ 268 III HGB; s. auch Rz. 247) oder negatives Kapital. Man spricht auch von (buchm�ßiger)„�berschuldung“ oder „Unterbilanz“.

§ 4 I 1 EStG verlangt den Vergleich zweier Eigenkapitalgr�ßen, deren Differenz um die Ein-lagen und Entnahmen (s. Rz. 178 ff.) korrigiert werden muss, weil die Verm�gensmehrungdurch Einlagen keine durch den Betrieb verursachte (erwirtschaftete) Verm�gensmehrung unddie Verm�gensminderung durch Entnahmen keine durch den Betrieb verursachte Verm�gens-minderung ist.

In dem skizzierten Bsp. ergibt der Vergleich: Das Betriebsreinverm�gen hat sich im Laufe des Jahres01 von 400 000 Euro auf 600 000 Euro vermehrt. Der Gewinn betr�gt also 200 000 Euro. Dabei wirdunterstellt, dass es keine Entnahmen und keine Einlagen gegeben hat.

Gewinn i.S.d. § 4 I 1 EStG Rz. 10–12 § 17

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§ 4 I 1 EStG spricht nur von „Gewinn“3. Stellt sich beim Betriebsverm�gensvergleich zweierStichtage heraus, dass das Betriebsreinverm�gen (der Kapital�berschuss) sich vermindert oderdass der Kapitalfehlbetrag sich erh�ht hat, so handelt es sich um einen Verlust. Hat sichdagegen der Kapitalfehlbetrag von einem auf das andere Jahr vermindert, so ist ein Gewinnerwirtschaftet worden.

II. Bestandteile des Betriebsverm�gensvergleichs

1. Bilanz

Der Betriebsverm�gensvergleich nach §§ 4 I; 5 I EStG – Vergleich zweier Betriebsreinverm�gen– setzt voraus, dass das Betriebsreinverm�gen am Anfang und am Schluss des Gewinnermitt-lungszeitraums festgestellt wird. Die Ermittlung des Betriebsreinverm�gens oder Eigenkapitalsgeschieht durch die Bilanz.

Regul�r ist die Bilanz eine Jahresbilanz. Neben den Jahresbilanzen gibt es besondere Bilanzen:die Er�ffnungsbilanz am Beginn eines Handelsgewerbes (§ 242 I 1 HGB), Bilanzen f�r Rumpf-wirtschaftsjahre, wenn ein Betrieb er�ffnet, erworben, aufgegeben, ver�ußert oder wenn dasWirtschaftsjahr umgestellt wird (§ 8b EStDV), ferner Bilanzen f�r besondere Vorg�nge4: Um-wandlungs-, Verschmelzungs-, Spaltungs-, Auseinandersetzungs-, Liquidations-5, Sanierungs-,Insolvenz- und Vergleichsbilanzen.

Die Bilanz ist eine Verm�gens�bersicht (s. § 4 II 2 EStG). Nach § 246 I 1 HGB muss dieBilanz s�mtliche Verm�gensgegenst�nde, Schulden und Rechnungsabgrenzungsposten ent-halten (Vollst�ndigkeitsgebot). F�r Kapitalgesellschaften sieht § 266 HGB in Abh�ngigkeit vonihrer Gr�ße (§ 267 HGB) ein verbindliches Gliederungsschema vor6. Personenunternehmensind in der Gliederung grds. frei; die Praxis orientiert sich aber am Schema des § 266 HGB.Demnach weist die Handelsbilanz auf der Aktivseite Verm�gensgegenst�nde sowie aktive Rech-nungsabgrenzungsposten und auf der Passivseite neben dem Eigenkapital R�ckstellungen, Ver-bindlichkeiten und passive Rechnungsabgrenzungsposten aus (vgl. § 266 II, III HGB).

Beispiel einer Bilanzgliederung

Aktiva Passiva

A. Anlageverm�genI. Immaterielle Verm�gensgegenst�ndeII. SachanlagenIII. Finanzanlagen

A. Eigenkapital

B. Umlaufverm�genI. Vorr�teII. Forderungen und sonstige Verm�gens-gegenst�nde

III. WertpapiereIV. Kassenbestand

B. R�ckstellungenC. Verbindlichkeiten

C. Rechnungsabgrenzungsposten D. Rechnungsabgrenzungsposten

Bilanzsumme

Aus der linken Bilanzseite (Aktivseite) l�sst sich die Mittelverwendung im Betrieb ablesen. Dierechte Bilanzseite (Passivseite) gibt Aufschluss �ber die Mittelherkunft. Sie zeigt an, wie die

§ 17 Rz. 13–16 § 17 Steuerrechtliche Gewinnermittlung (Bilanzsteuerrecht)

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3 Dagegen spricht § 268 I 1 HGB neutral von Jahresergebnis (= Jahreserfolg) und unterscheidet Jahres-�berschuss (= Gewinn) und Jahresfehlbetrag (= Verlust).

4 Dazu Budde/F�rschle, Sonderbilanzen. Von der Gr�ndungsbilanz bis zur Liquidationsbilanz[3], M�n-chen 2002; Kresse/Lenz (Hrsg.), Sonderbilanzen, Stuttgart 2003.

5 F�rster/D�ring, Liquidationsbilanz[4], K�ln 2005.6 Zur formalen Gestaltung s. K�ting/Busch, StuB 2002, 885; Meyer/Jahn, StuB 2003, 1005.

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§ 18 Unternehmensteuerrecht

A. Dualismus der Unternehmensbesteuerung

Das Unternehmensteuerrecht der Bundesrepublik Deutschland ist gepr�gt durch den Dualis-mus von einkommensteuerpflichtigen Personenunternehmen und k�rperschaftsteuerpflichtigenKapitalgesellschaften und sonstigen erwerbswirtschaftlich t�tigen K�rperschaften (dazu s. § 11).Dabei spielen Personenunternehmen – anders als im Ausland – im Wirtschaftsleben der Bun-desrepublik mit 80 bis 85 v.H. aller Unternehmen zahlenm�ßig eine große Rolle; sie erwirt-schaften 54 v.H. des Gesamtumsatzes1. Dies erkl�rt die Bedeutung des Steuerrechts der Perso-nengesellschaft f�r die Praxis.

Die Zuordnung zu Einkommen- oder K�rperschaftsteuer orientiert sich streng an der zivil-rechtlichen Rechtsform2. Steuersubjekt ist entweder die nat�rliche Person (Einzelunternehmer,Mitunternehmer) oder die juristische Person (Kapitalgesellschaft). Die Personengesellschaft hatder Gesetzgeber in § 15 I 1 Nr. 2 S. 1 EStG ungeachtet ihrer zivilrechtlichen Verselbst�ndigungkonzeptionell dem Einzelunternehmer zugeordnet, statt sie als solche der K�rperschaftsteuer zuunterwerfen. Als Folge dieser Entscheidung beherrschen die Widerspr�che zwischen zivilrecht-licher Verselbst�ndigung und steuerrechtlicher Transparenz der Personengesellschaft das Rich-terrecht der Mitunternehmerschaft (Rz. 9 ff.).

Die Rechtsformabh�ngigkeit der Unternehmensbesteuerung bietet durch geschickte Kombina-tion steuerlicher Eigenschaften in aus unterschiedlichen Rechtsformen zusammengesetztenUnternehmen (dazu Rz. 300 ff.) vielf�ltige M�glichkeiten der steuerlichen Optimierung. Ge-setzgeber und Rspr. versuchen, derartigen Praktiken Einhalt zu gebieten und tragen damitihrerseits erheblich zur Kompliziertheit des deutschen Unternehmensteuerrechts bei.

Einstweilen frei.

B. Besteuerung von Mitunternehmerschaften

I. Besteuerung der laufenden Eink�nfte von Mitunternehmern durch die Ein-kommensteuer (§§ 15 I 1 Nr. 2, III; 15a; 13 VII; 18 IV 2 EStG)

Literatur (bis 1993 s. 15. Aufl.): B. Knobbe-Keuk, Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht[9], K�ln1993, 361 ff.; M. Kempermann, Einheit der Gesellschaft – Vielheit der Gesellschafter, DStZ 1995, 225;W. Sch�n, Der Große Senat des BFH und die Personengesellschaft, StuW 1996, 275; D. Schulze zurWiesche, Die Personengesellschaften in der neueren Rspr. des BFH, FR 1996, 237; D. Schulze zurWiesche, Die gewerbliche Personengesellschaft im Ertragsteuerrecht, in: FS zum 20j�hrigen Bestehender Fachhochschule f�r Finanzen Nordrhein-Westfalen in Nordkirchen, Baden-Baden 1997, 111; E.-A.Ehlers, Die gewerbliche Mitunternehmerschaft – Umfang und Ermittlung der Eink�nfte im Lichteneuer Rspr., StbKongrRep. 1997, 379; D. Hallerbach, Die Personengesellschaft im Einkommensteuer-recht, Diss., M�nchen 1999; W. Reiß, Grundprobleme der Besteuerung von Personengesellschaften,Stbg. 1999, 356 u. 417; H. Schaumburg, Die Personengesellschaft im internationalen Steuerrecht, Stbg.1999, 97 u. 156; G. Bodden, Eink�nftequalifikation bei Mitunternehmern, Diss., Aachen 2001; R. Pin-kernell, Eink�nftezurechnung bei Personengesellschaften, Diss., Berlin 2001; G. Bodden, Tatbestands-verwirklichung nach § 15 I 1 Nr. 2 EStG, DStZ 2002, 391; M. Kempermann, Mitunternehmerschaft,Mitunternehmer, Mitunternehmeranteil – steuerrechtliche Probleme der Personengesellschaft aus derSicht des BFH, GmbHR 2002, 200; M�ller/Hoffmann, Beck'sches Handbuch der Personengesell-schaften[2], M�nchen 2002; E. Rieden, Ertragsteuerliche Behandlung der Personengesellschaften inDeutschland und �sterreich, Diss., Lohmar/K�ln 2002; H. List, Personengesellschaften im Wandel

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1 H. Hansen, GmbHR 2003, 22, 23; zur weiteren Entwicklung H. Hansen, GmbHR 2004, 39, 41.2 BFH GrS BStBl. 1984, 751, 759.

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zivil- und steuerrechtlicher Beurteilung, BB 2004, 1473; J. Lange, Personengesellschaften im Steuer-recht[6], Herne/Berlin 2005; Niehus/Wilke, Die Besteuerung der Personengesellschaften[3], Stuttgart2005; H. Sudhoff, Personengesellschaften[8], M�nchen 2005; G. S�ffing, Besteuerung der Mitunterneh-mer[5], Herne/Berlin 2005; Zimmermann/Hottmann/H�bner/Schaeberle/V�lkel, Die Personengesell-schaft im Steuerrecht[9], Achim 2007; rechtsvergleichend: Hey/Bauersfeld, Die Besteuerung der Perso-nen(handels)gesellschaften in den Mitgliedstaaten der EU, der Schweiz und den USA, IStR 2005, 649;R. A. Hermann, Die Besteuerung von Personengesellschaften in den EU-Mitgliedstaaten und denUSA, Diss., Frankfurt/M. 2006.

1. Besteuerung der Mitunternehmerschaft nach dem Transparenzprinzip

Das Einkommensteuerrecht der Personengesellschaft und ihrer Gesellschafter unterscheidetsich grundl. von dem der Kapitalgesellschaft und ihrer Anteilseigner durch die Steuersubjektivi-t�t der Gesellschaft: Die Kapitalgesellschaft ist K�rperschaftsteuersubjekt; hingegen ist diePersonengesellschaft kein Einkommensteuersubjekt3. Subjekt der Einkommensteuer ist dienat�rliche Person (§ 1 EStG), demnach die Gesellschafter und Mitunternehmer einer Personen-gesellschaft i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG, nicht die Gesellschaft als solche. Daher werden dieGewinne der Personengesellschaft nach dem Transparenzprinzip unmittelbar der nat�rlichenPerson als dem Einkommensteuersubjekt zugerechnet4, w�hrend die Gewinne der Kapitalge-sellschaft nach dem Trennungsprinzip zun�chst der K�rperschaftsteuer und sodann erst inGestalt von Gewinnaussch�ttungen (§ 20 I Nr. 1 EStG) der Einkommensteuer des Anteilseig-ners unterliegen (s. § 11 Rz. 1 f.).

Die Rspr. des RFH und des BFH zur Besteuerung des Mitunternehmers war �ber Jahrzehnteganz vom Transparenzprinzip geleitet: Ziel war die Gleichstellung von Mit- und Einzelunter-nehmern. Die rechtliche Existenz der Personengesellschaft wurde mittels der Bilanzb�ndel-theorie hinweggedacht5. Die Besteuerung der Mitunternehmerschaft basierte auf dem Konzeptder „Vielheit der Gesellschafter“. Dem lag die Vorstellung zugrunde, jeder Gesellschafter unter-halte durch die Teilhaberschaft in der Gesellschaft einen eigenen Gewerbebetrieb; nicht nur derGewinn wurde anteilig zugerechnet, sondern auch das Betriebsverm�gen der Personengesell-schaft gedanklich aufgespalten. Dieses Konzept kollidiert indes mit der gesamth�nderischenBindung des Gesellschaftsverm�gens und der zivilrechtlichen Subjektivit�t der Personengesell-schaft6, die dogmatisch auf der modernen Gesamthandlehre7 basiert und die der BGH nunmehrauch f�r die BGB-Gesellschaft best�tigt hat8.

§ 18 Rz. 9–10 § 18 Unternehmensteuerrecht

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3 Grundl. und dogmatisch weiterf�hrend R. Pinkernell, Eink�nftezurechnung bei Personengesellschaf-ten, Diss., Berlin 2001, 62 ff., 81 ff. Weitere Lit.: K. Meßmer, FR 1990, 205; J. Lang, in: FS f�rL. Schmidt, M�nchen 1993, 291; H. Gschwendtner, in: FS f�r F. Klein, K�ln 1994, 751; H. J. Herr-mann, DStZ 1998, 87; U. Zisowski, SteuerStud 1998, 495; W. Reiß, Stbg. 1999, 361 f.; W. Reiß, StuW2000, 399 f.; G. Bodden, DStZ 1996, 73; G. Bodden, Eink�nftequalifikation bei Mitunternehmern,Diss., Aachen 2001, 37 ff.; Kirchhof/Reiß, EStG[7], § 15 Rz. 200 ff.

4 Dazu B. E. Bippus, DStR 1998, 749; M. Groh, Trennungs- und Transparenzprinzip im Steuerrecht derPersonengesellschaften, ZIP 1998, 89; W. Reiß, Stbg. 1999, 356; R. Pinkernell (Fn. 3), 62 ff. (Grund-lagen des Transparenzprinzips), 130 ff. (dogmatische Konkretisierung des Transparenzprinzips);W. Reiß, StuW 2000, 399 f.; Kirchhof/Reiß, EStG[7], § 15 Rz. 201.

5 Dazu E. Becker, Grundlagen der Einkommensteuer, Berlin 1940, 102 ff.; K. Meßmer, StbJb. 1972/73,127; G. S�ffing, StbJb. 1976/77, 241; H. Kurth, StuW 1978, 1; H. Kurth, StuW 1978, 203; F. J. Haas, Istdie Bilanzb�ndeltheorie tats�chlich �berholt?, DStR 1997, 1706.

6 Zur Rechtssubjektivit�t der Personengesellschaft im Zivilrecht m.w.N. D. Hallerbach, Die Personen-gesellschaft im Einkommensteuerrecht, Diss., M�nchen 1999, 15 ff.; G. Bodden (Fn. 3), Diss., Aachen2001, 24 ff.; R. Pinkernell (Fn. 3), 101 ff.

7 Grundl. W. Flume, Gesellschaft und Gesamthand, ZHR 136 (1972), 177, und im Weiteren sehr ins-truktiv U. Huber, in: FS f�r M. Lutter, K�ln 2000, 107; ferner P. Ulmer, M�nchener Kommentar zumBGB[4], Vor § 705 Rz. 9 ff.; P. Ulmer, AcP 198 (1998), 113; K. Schmidt, Gesellschaftsrecht[4], K�ln2002, 196 ff.

8 BGH v. 29.1.2001, NJW 2001, 1056. Dazu umf. K. Schmidt, NJW 2001, 993, u. im Weiteren H. Wiede-mann, JZ 2001, 661; O. Jauernig, NJW 2001, 2231; H. Baumann, JZ 2001, 895; N. Kazele, INF 2001,335; J. M. Schmittmann, StuB 2001, 519.

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Auf die zivilrechtliche Verselbst�ndigung der Gesellschaft („Einheit der Gesellschaft“) nimmtder BFH seit Mitte der 1970er Jahre zunehmend mehr R�cksicht9, indem der Personengesell-schaft partielle Steuerrechtsf�higkeit zugestanden wird: Zwar sei die Personengesellschaft nichtEinkommensteuersubjekt; dies sei nach § 1 EStG allein der Gesellschafter als nat�rliche Person.Jedoch sei die Zivilrechtsf�higkeit der Personengesellschaft bei der Bestimmung des Einkom-mensteuerobjekts zu beachten: Die Personengesellschaft sei „Steuerrechtssubjekt bei der Fest-stellung der Einkunftsart und der Eink�nfteermittlung“ (so BFH GrS BStBl. 1995, 617, 621).Diese Qualifikation sei aber nicht abschließend, da bei Gef�hrdung der „sachlich richtigenBesteuerung der Gesellschafter“ das Prinzip der Einheit der Gesellschaft hinter dem der Viel-heit der Gesellschafter zur�cktreten m�sse. Das klingt nach ergebnisorientierter Einzelfallbe-trachtung, nicht aber nach einem in sich geschlossenen Konzept. Zu Recht ist dem BFH vorge-worfen worden, er schwanke zwischen Einheits- und Vielheitsbetrachtung10, auch wenn den sogewonnenen Ergebnissen weithin zugestimmt werden kann.

Eine �berzeugende Erkl�rung liefert die Vorstellung der gemeinschaftlichen Tatbestandsver-wirklichung mit wechselseitiger Zurechnung der Erfolgsbeitr�ge. Da eine einkommensteuer-liche Subjektivit�t der Personengesellschaft weder dem Wortlaut noch der Systematik des EStGentnommen werden kann11, ist im Grundsatz davon auszugehen, dass die Gesellschafter ineigener Person gemeinschaftlich den Einkommensteuertatbestand verwirklichen und die vonder Personengesellschaft erwirtschafteten Eink�nfte nach dem Transparenzprinzip den Gesell-schaftern als Rechtssubjekten der Einkommensteuer origin�r als eigene Eink�nfte zuzurechnensind. Das bedeutet jedoch abweichend von der Bilanzb�ndeltheorie nicht, dass die rechtlicheExistenz der Personengesellschaft einkommensteuerrechtlich hinwegzudenken ist. Vielmehrsind die Gemeinschaftlichkeit der Marktteilnahme und die gesamth�nderischen Bindungen derGesellschafter als einkommensteuerrechtlich beachtliche Determinanten wirtschaftlicher Leis-tungsf�higkeit zu ber�cksichtigen12.

2. Zweistufigkeit der Eink�nfte von Mitunternehmern

Daher stellt sich dogmatisch die Aufgabe, die sog. „Einheitsbetrachtung“ in die Qualifikation,pers�nliche Zurechnung und Ermittlung von Eink�nften der Gesellschafter zu integrieren. Diesgeschieht durch ein sog. duales System der durch die Einheit der Gesellschaft mitbestimmtenVielheit der Gesellschafter, das zweistufig wie folgt angelegt ist13:– Auf der ersten Stufe sind die Eink�nfte der Personengesellschaft entspr. der gemeinschaft-lichen Tatbestandsverwirklichung zu qualifizieren. Auf Gesellschaftsebene setzen auch dieSondertatbest�nde des § 15 III EStG an (s. Rz. 32 ff.). Die Gewerblichkeit der Gesellschaft istbesonders bedeutsam f�r die Gewerbesteuer, die nach § 5 I 3 GewStG von der Gesellschaftgeschuldet wird (s. § 12 Rz. 15). I.�. l�sst sich u.E. die Einkunftsart abschließend nicht aufder Ebene der Gesellschaft, sondern nur bezogen auf den einzelnen Gesellschafter bestimmen(s. Rz. 12).

Die erste Stufe der Gewinnermittlung bildet den Gewinnanteil (§ 15 I 1 Nr. 2 S. 1 Hs. 1EStG), d.i. der Anteil des Gesellschafters und Einkommensteuersubjekts am Gewinn der

Zweistufigkeit der Eink�nfte von Mitunternehmern Rz. 11–13 § 18

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9 BFH BStBl. 1976, 744; 1976, 748; 1977, 145; 1981, 164; BFH GrS BStBl. 1984, 751, 761 f.; 1991, 691,699 ff.; 1995, 617, 620 ff.; J. Schulze-Osterloh, Zivilrechtliche Theorien in der neueren Rspr. des BFHzum Ertragsteuerrecht, in: FS f�r L. Schmidt, K�ln 1993, 307.

10 W. Sch�n, StuW 1996, 275, 287 f.; R. Pinkernell (Fn. 3), 41 ff.; D. Hallerbach (Fn. 6), 136.11 R. Pinkernell (Fn. 3), 74 ff., 206.12 �berzeugend R. Pinkernell (Fn. 3), 85 ff., 98 f. Zur Dogmatik steuersubjektbezogener Tatbestands-

verwirklichung auch O. Beierl, Die Eink�nftequalifikation bei gemeinsamer wirtschaftlicher Bet�ti-gung im Einkommensteuerrecht, Berlin 1987; G. Bodden (Fn. 3), 57 ff. (u.a. zu O. Beierl u. R. Pin-kernell).

13 Zum dualen oder zweistufigen System s. FS f�r L. Schmidt, M�nchen 1993, 294 ff. (J. Lang), 421 ff.(A. Bordewin); D. Gosch, DStZ 1996, 417; M. Kempermann, DStZ 1995, 225 f.; H. Weber-Grellet,DStR 1995, 1341; G. Bodden, DStZ 1996, 73; R. Pinkernell (Fn. 3), 23 ff., 98 f.; Schmidt/Wacker,EStG[26], § 15 Rz. 163 ff.; T. K�ster, HHR, EStG, § 15 Anm. 451 (2003).

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Gesellschaft (s. Rz. 58: Schaubild); dabei sind die in sog. Erg�nzungsbilanzen einzelner Mit-unternehmer ausgewiesenen Wertkorrekturen der Gesellschaftsbilanz miterfasst (s. Rz. 54,62). Hier manifestiert sich bereits die spezifisch einkommensteuerrechtliche Gesellschafterbe-zogenheit des Gesellschaftsgewinns.

– Auf der zweiten Stufe tritt zur gemeinschaftlichen die ausschließlich und abschließend aufden einzelnen Gesellschafter und Einkommensteuerschuldner bezogene Tatbestandsver-wirklichung hinzu: Die Eink�nfte eines Gesellschafters k�nnen nicht steuerbar sein, weiler pers�nlich auf Grund von Sonderaufwendungen keine Gewinnerzielungsabsicht hat(s. Rz. 24), oder die Eink�nfte aus der Gesellschaft k�nnen bei den einzelnen Gesellschafternverschiedenen Einkunftsarten zuzurechnen sein (zur sog. Zebragesellschaft s. Rz. 26).

Die zweite Stufe der Gewinnermittlung erfasst den außerhalb der Gesamthand erwirtschaf-teten Teil der Eink�nfte des einzelnen Mitunternehmers, seine Sonderverg�tungen (§ 15 I 1Nr. 2 S. 1 Hs. 2 EStG) und sein Sonderbetriebsverm�gen (s. Rz. 67 ff.).

3. Mitunternehmerschaft als Unterfall der Personengesellschaft

Das Steuerrecht der Personengesellschaft ist zweigeteilt. Nicht jede Personengesellschaft istMitunternehmerschaft, sondern nur, wenn ihre Gesellschafter als Mitunternehmer i.S.v. § 15 I 1Nr. 2 EStG anzusehen sind. Dies trifft zu auf gewerblich t�tige Personengesellschaften mit derErweiterung des § 15 III EStG und kraft Verweisung gem. § 13 VII EStG auf land- und forst-wirtschaftliche sowie gem. § 18 IV 2 EStG auf freiberufliche Personengesellschaften. Verm�-gensverwaltende Personengesellschaften14 und Personengesellschaften mit sonstigen Eink�nf-ten i.S.d. §§ 2 I Nr. 7; 22 EStG sind dagegen keine Mitunternehmerschaften; § 15 I 1 Nr. 2 EStGist nicht anwendbar, und zwar auch dann nicht, wenn die Gesellschaft qua Eintragung in dasHandelsregister Personenhandelsgesellschaft15 ist (§ 105 II 1 HGB). Nicht die zivilrechtlicheGesellschaftsform ist entscheidend, sondern die steuerrechtliche Einkunftsartenabgrenzung.

I.E. unterscheiden sich verm�gensverwaltende Personengesellschaften von Mitunternehmer-schaften, indem sie kein Betriebsverm�gen haben; der Personengesellschaft �berlassene Wirt-schaftsg�ter werden nicht zu Sonderbetriebsverm�gen. Wertsteigerungen der zur Eink�nfte-erzielung eingesetzten Verm�gensgegenst�nde unterliegen der Besteuerung nur im Rahmen von§§ 22 Nr. 2; 23 EStG. Da verm�gensverwaltende Personengesellschaften nicht der Gewerbe-steuer unterliegen, besteht kein Bed�rfnis der Umqualifizierung von Verg�tungen zwischenGesellschaft und Gesellschafter in Sonderverg�tungen. Die Eink�nfte werden als �berschussder Einnahmen �ber die Werbungskosten ermittelt; §§ 4 I; 5 I EStG gelten nicht (zur Ein-k�nfteermittlung der Zebragesellschaft als Sonderfall der verm�gensverwaltenden Personenge-sellschaft s. Rz. 26, 52).

4. Qualifikation und Zurechnung der Eink�nfte von Mitunternehmern

4.1 Der Begriff des Mitunternehmers

Literatur (bis 1989 s. 15. Aufl.): K. Meßmer, Rechtssubjekte im Rahmen der Besteuerung gem. § 15Abs. 1 Nr. 2 EStG, FR 1990, 205; H. Westerfelhaus, KG und steuerliche Mitunternehmerschaft, DB1990, 1531; FS f�r L. Schmidt, M�nchen 1993: H.-J. Priester, Die faktische Mitunternehmerschaft –

§ 18 Rz. 13–14 § 18 Unternehmensteuerrecht

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14 Dazu M. Groh, JbFSt. 1979/80, 221; J. Lang, in: FS f�r L. Schmidt, M�nchen 1993, 304 f.; F. Kr�ger,Die verm�gensverwaltende Personengesellschaft im Ertragsteuerrecht, Diss., Frankfurt/M. 1995;M. Strahl, K�SDI 2001, 12802; Tulloch/Wellisch, DStR 1999, 1093; N�cker/Solfrian, StuB 2002, 428;M. Engel, Verm�gensverwaltende Personengesellschaft und ertragsteuerrechtliche Selbst�ndigkeit,Diss., Herne/Berlin 2003; K.-D. Dr�en, SteuerStud 2004, 8; F.-A. M�nkem�ller, Die Zurechnung der�berschusseink�nfte bei Personengesellschaften, Diss., Frankfurt/M. 2005; T. Kuhn, Die steuerrecht-liche Behandlung verm�gensverwaltender Gesamthandsgemeinschaften, Diss., Baden-Baden 2006;Strunk/Haase, ZSteu 2007, 19; R. Wacker, StbJb. 2006/07, 55.

15 Aus gesellschaftsrechtlicher Sicht E. Lamping, Die verm�gensverwaltende Personenhandelsgesell-schaft, Diss., Berlin 2003.

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ein gesellschaftsrechtliches Problem, 331, u. G. Crezelius, Der Mitunternehmerbegriff – ein Cham�-leon?, 355; C. Kneip, Der einkommensteuerrechtliche Mitunternehmer, Diss., Stuttgart 1994; W. Ba-chem, K�nnen Kleinkinder Mitunternehmer sein?, DStZ 1995, 610; G. Schreiber, Wer ist Mitunter-nehmer? Bestandsaufnahme und Versuch einer Definition des Mitunternehmerbegriffs im Einkom-mensteuerrecht, Diss., Augsburg 1995; H. Gschwendtner, Die atypisch stille Gesellschaft als be-schr�nkt rechtsf�higes Steuerrechtssubjekt im Einkommensteuerrecht, DStZ 1996, 335; P. Fischer,Auch der Mitunternehmer ist ein Unternehmer des Betriebs, in: FS f�r H. Beisse, D�sseldorf 1997,189; D. Schulze zur Wiesche, Mitunternehmerschaft und Mitunternehmerstellung, DB 1997, 244;Haep/K�ster, HHR, EStG, § 15 Anm. 300–454 (2003).

4.1.1 Funktion des Mitunternehmerbegriffs

Eink�nfte i.S.d. § 15 I 1 Nr. 2 EStG liegen nur dann vor, wenn der Stpfl. die Merkmale einesMitunternehmers erf�llt. Der Mitunternehmerbegriff hat zwei Funktionen: Zum einen grenzt erdie Erwerbs- von der Privatsph�re, insb. die Mitunternehmerschaft von einem verdecktenUnterhaltsverh�ltnis (s. Rz. 43 ff.) ab. Zum anderen unterscheidet er die Eink�nfte i.S.d. § 15I 1 Nr. 2 EStG von anderen Einkunftsarten (s. Rz. 14), z.B. von Eink�nften eines typischstillen Gesellschafters, der Eink�nfte aus Kapitalverm�gen i.S.d. § 20 I Nr. 4 EStG erzielt.

4.1.2 Zivilrechtliche Gesellschafterstellung

Die j�ngere Rspr. des BFH16 kn�pft an den Begriff des Gesellschafters in § 15 I 1 Nr. 2 EStGan und leitet daraus einen zivilrechtlich orientierten Begriffsinhalt des Mitunternehmers ab. Sokann nach BFH GrS BStBl. 1984, 751, 768, Mitunternehmer nur sein, wer „zivilrechtlichGesellschafter einer Personengesellschaft ist oder – in Ausnahmef�llen – eine diesem wirtschaft-lich vergleichbare Stellung innehat“. Dazu nennt der GrS beispielhaft Gesamthandsgemein-schaften in Form von Erben- und G�tergemeinschaften (s. auch BFH BStBl. 2006, 165) sowieBruchteilsgemeinschaften. Bloße B�ro- und Praxisgemeinschaften mit dem Zweck der Teilungder Betriebskosten begr�nden dagegen keine Mitunternehmerschaft (BFH BStBl. 2005, 752).

Aus der Ankn�pfung an die zivilrechtliche Gesellschafterstellung folgt, dass der BFH faktische(verdeckte) Mitunternehmerschaften nur dann anerkennt, wenn ihnen entweder ein (verdeck-tes) Gesellschaftsverh�ltnis oder ein wirtschaftlich vergleichbares Gemeinschaftsverh�ltnis zu-grunde liegt. Ob ein solches verdecktes Gesellschaftsverh�ltnis vorliegt, ist unabh�ngig von derformalen Bezeichnung der zwischen den Beteiligten bestehenden Rechtsbeziehungen nach demGesamtbild der Verh�ltnisse zu beurteilen17. Die bloße B�ndelung von Austauschvertr�gen istaber selbst bei gewinnabh�ngiger Verg�tung nicht ausreichend (BFH BStBl. 1984, 282; BFH/NV 2003, 1564).

Die Orientierung am zivilrechtlichen Gesellschafterbegriff verspricht auf den ersten BlickRechtssicherheit, verstellt aber den Blick f�r die steuerrechtliche Teleologie. Dies zeigt �ber-

Qualifikation und Zurechnung der Eink�nfte von Mitunternehmern Rz. 15–18 § 18

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16 Grundl. BFH GrS BStBl. 1984, 751 (Aufgabe der Gepr�ge-Rspr.); 1991, 691 (mehrst�ckige Personen-gesellschaft); BFH BStBl. 1994, 282 (verdeckte Mitunternehmerstellung); zust. L. Woerner, BB 1986,704, 706; G. Haep, HHR, EStG, § 15 Anm. 336 (2003). Nach BFH/NV 1998, 1339, ist f�r die An-nahme einer Mitunternehmerschaft allerdings nicht erforderlich, dass der Gesellschaftsvertrag allenformellen Anforderungen des Zivilrechts gen�gt. Auch bei einer fehlerhaft zu Stande gekommenenGesellschaft handle es sich zivilrechtlich um ein Gesellschaftsverh�ltnis. Die zivilrechtliche Betrach-tungsweise wird also durch die in § 41 I 1 AO positivierte wirtschaftliche Betrachtungsweise erg�nzt.

17 Grundl. BFH BStBl. 1994, 282 m. Anm. L. Schmidt, FR 1994, 193. Im Weiteren BFH BStBl. 1986,10; 1996, 66; 1996, 133 (Kriterien f�r die steuerliche Anerkennung von Vertr�gen zwischen Angeh�-rigen sind bei der Beurteilung verdeckter Mitunternehmerschaften nicht heranzuziehen!); 1997, 271m. Anm. C. Luttermann, JZ 1998, 107; BFH/NV 1999, 167; 1999, 195; 2003, 1564; B. Knobbe-Keuk,Bilanz- und Unternehmenssteuerrecht[9], K�ln 1993, 384 ff.; H. J. Priester, Die faktische Mitunter-nehmerschaft – ein gesellschaftsrechtliches Problem, in: FS f�r L. Schmidt, M�nchen 1993, 331,353; B. Janssen, BB 1994, 1757; H. Fichtelmann, INF 1996, 257; M. Ritzrow, StBp. 1999, 177 u.197 (Innengesellschaft); Kirchhof/Reiß, EStG[7], § 15 Rz. 252 ff.; Schmidt/Wacker, EStG[26], § 15Rz. 280 ff.; G. Haep, HHR, EStG, § 15 Anm. 340 ff. (2003).

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§ 20 Gemeinn�tzigkeits- und Spendenrecht

A. Gemeinn�tzigkeitsrecht

Literatur : Kommentare zu §§ 51 ff. AO; M. Kraft, Die steuerrechtliche Gemeinn�tzigkeit,VJSchrStFR Bd. 6 (1932), 315; J. Lang, Gemeinn�tzigkeitsabh�ngige Steuerverg�nstigungen, StuW1987, 221; J. Lang, StbJb. 1988/89, 251; Gutachten der Unabh�ngigen Sachverst�ndigenkommissionzur Pr�fung des Gemeinn�tzigkeits- und Spendenrechts, BMF-Schriftenreihe, Heft 40, Bonn 1988;C. Franz, Grundlagen der Besteuerung gemeinn�tziger K�rperschaften bei wirtschaftlicher Bet�ti-gung, Diss., Berlin 1991; R. H�ttemann, Wirtschaftliche Bet�tigung und steuerliche Gemeinn�tzig-keit, Diss., K�ln 1991; Fischer/Helios, Die aktuelle Vereinsbesteuerung[5], K�ln 2003; M. Jachmann(Hrsg.), Gemeinn�tzigkeit, DStJG 26 (2003); M. Jachmann, Reformbedarf im Gemeinn�tzigkeits-recht, ZSt 2003, 35; M. Achatz (Hrsg.), Die Besteuerung der Non-Profit-Organisationen[2], Wien2004; M�rkle/Alber, Der Verein im Zivil- und Steuerrecht[11], Stuttgart u.a. 2004; Troll/Wallenhorst/Halaczinsky, Die Besteuerung gemeinn�tziger Vereine, Stiftungen und der juristischen Personen des�ffentlichen Rechts[5], M�nchen 2004; F. Baur, Gemeinn�tzigkeitsrecht i.S.d. 6. EG-RL, Diss., M�n-chen 2005; S. H�flacher, �konomische Aspekte steuerlicher Gemeinn�tzigkeit, in: FS f�r P. Bareis,Stuttgart 2005, 109; S. Mock, Reformbedarf im Gemeinn�tzigkeits- und Spendenrecht, Berlin 2005;Wiss. Beirat beim BMF, Die abgabenrechtliche Privilegierung gemeinn�tziger Zwecke auf dem Pr�f-stand, BMF-Schriftenreihe, Heft 80, Berlin 2006; Sauer/Luger, Verein und Steuern[6], M�nchen 2006;M. Ketel, Systematische Pr�fung gemeinn�tzigkeitssteuerrechtlicher Fragen, SteuerStud 2006, 504;Kießling/Buchna, Gemeinn�tzigkeit im Steuerrecht[9], Achim 2008; S. Schauhoff (Hrsg.), Handbuchder Gemeinn�tzigkeit[3], M�nchen 2007; Walz/v. Auer/v. Hippel (Hrsg.), Spenden- und Gemeinn�t-zigkeitsrecht in Europa. Rechtsvergleichende, rechtsdogmatische, �konometrische und soziologischeUntersuchungen, T�bingen 2007; S. Winheller, Aktuelle Entwicklungen im Gemeinn�tzigkeitsrecht2006 und ein Ausblick auf 2007, DStZ 2007, 165; R. H�ttemann, Gemeinn�tzigkeits- und Spenden-recht, K�ln 2008.

1. Gemeinn�tzigkeit als F�rderung der Allgemeinheit

Die einzelnen Steuergesetze enthalten Verg�nstigungen f�r K�rperschaften, die gemeinn�tzige,mildt�tige oder kirchliche Zwecke verfolgen (s. § 5 I Nr. 9 KStG; § 13 I Nrn. 16, 17 ErbStG;§ 3 I Nrn. 3, 4 und § 4 Nr. 6 GrStG; § 3 Nrn. 6, 20b, c GewStG; § 4 Nrn. 16, 18, 20, 22, 25 und§ 12 II Nr. 8 UStG; § 3 Nr. 5a KraftStG). Sie legen den Inhalt dieser mehr oder minder unbe-stimmten Rechtsbegriffe aber nicht n�her fest. Das tun die §§ 51 ff. AO; sie bilden den allg. Teildes Gemeinn�tzigkeitsrechts.

Die Steuerverg�nstigungen wegen Verfolgung gemeinn�tziger (§ 52 AO), mildt�tiger (§ 53 AO)oder kirchlicher (§ 54 AO) Zwecke (k�nftig wird pars pro toto von gemeinn�tzigen Zweckengesprochen) dienen dazu, die private selbstlose F�rderung des Gemeinwohls zu stimulieren undzu pr�mieren und auf diese Weise den Fiskus und die staatlichen B�rokratien zu entlasten. DasGemeinn�tzigkeitsrecht gewinnt in dem Maße an Bedeutung, wie sich der Staat auf Grundfinanzieller �berforderung zur�ckzieht. In diesem Kontext steht die r�ckwirkend zum1.1.2007 in Kraft getretene Reform des Gemeinn�tzigkeits- und Spendenrechts durch das Ge-setz zur weiteren St�rkung des b�rgerschaftlichen Engagements v. 10.10.2007, BGBl. I 2007,23321 (Stichwort „Hilfe f�r Helfer“).

Gemeinn�tzigkeit ist ein unbestimmter, ausf�llungsbed�rftiger Wertbegriff. Nach § 52 I 1 AOist gemeinn�tzig die F�rderung der Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichemGebiet. Eine verfassungskonforme Auslegung l�sst es angezeigt erscheinen, die F�rderung der

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1 Dazu R. H�ttemann, DB 2007, 127 m. Nachw. der vorbereitenden Gutachten und Stellungnahmenund zu weiterem Reformbedarf; ferner R. H�ttemann, DB 2007, 2053; Kemcke/Sch�tz, Stbg. 2007, 81;Tiedtke/M�llmann, DStR 2007, 509; Tiedtke/M�llmann, NJW 2007, 3321; T. Fritz, BB 2007, 69 u.2546; J. Melchior, DStR 2007, 1745; P. Fischer, NWB 2007, Fach 2, 9439; Schauhoff/Kirchenhain, DStR2007, 1985.

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Allgemeinheit als „F�rderung des Gemeinwohls“ aufzufassen. § 52 I 2 AO schließt aus, dassnur exklusive Kreise oder Sonderinteressen gef�rdert werden. Die beg�nstigten Zwecke m�ssengrds. unmittelbar (§§ 51; 57 AO), selbstlos (§§ 52 I; 53; 54 I; 55; 61 AO) und ausschließlich(§§ 51; 56 AO) verfolgt werden.

Eine absolut richtige Auffassung dar�ber, was gemeinn�tzig ist, gibt es nicht. Konservative,liberale, sozialdemokratische und „gr�ne“ Gemeinn�tzigkeitsvorstellungen weichen vonein-ander ab. Aktivit�ten, die das Grundgesetz oder andere Gesetze (insb. Strafgesetze) verletzen,sind nicht gemeinn�tzig2. Das Mittel entheiligt den Zweck! Bei Aktivit�ten, die zugleich n�tzenund schaden (z.B. Motorsport mit L�rmbel�stigung und Umweltbelastung), ist eine G�ter-abw�gung vorzunehmen.

Bislang enthielt § 52 II AO lediglich eine beispielhafte Konkretisierung der gemeinn�tzigenZwecke („insbesondere“). Das Gesetz zur weiteren St�rkung des b�rgerschaftlichen Engage-ments v. 10.10.2007 (BGBl. I 2007, 2332) will den Wertungsspielraum einschr�nken. Hierzuwerden die gemeinn�tzigen Zwecke in § 52 II AO in einem abschließenden Katalog enume-rativ aufgelistet3, allerdings ohne dass hierdurch der Umfang der gemeinn�tzigen T�tigkeitver�ndert werden soll (BT-Drucks. 16/5200, 19 ff.).

Schon 1988 trat die Unabh�ngige Sachverst�ndigenkommission4 zur Pr�fung des Gemeinn�tzigkeits-und Spendenrechts (Mehrheitsvotum) daf�r ein, die steuerliche Beg�nstigung auf solche T�tigkeitenzu beschr�nken, die auch zu den Pflichtaufgaben des Staats oder der Kommunen geh�ren oder diegeeignet oder erforderlich sind, die Lebensgrundlagen des Gemeinwesens zu festigen, zu sichern oderzu erhalten. Nicht zu den Gemeinwohlzwecken rechnete sie eigenn�tzige Zwecke der Freizeitgestal-tung der Mitglieder. Auch der Wiss. Beirat beim BMF5 pl�diert f�r eine restriktive Interpretation derGemeinwohlzwecke und die Abschaffung der Beg�nstigung von Freizeitvereinen. Der Gesetzgeber istjedoch einen anderen Weg gegangen. Er hat zun�chst durch Vereinsf�rderungsgesetz v. 18.12.1989,BGBl. I 1989, 2212, dem § 52 II AO eine Nr. 4 angef�gt, durch die auch Freizeithobbys als F�rderungder Allgemeinheit anerkannt werden, n�mlich Tier- und Pflanzenzucht, Kleing�rtnerei, Karneval/Fastnacht/Fasching, Amateurfunken, Modellflug und Hundesport. Worin die selbstlose F�rderungder Allgemeinheit auf geistigem, sittlichem oder materiellem Gebiet in diesen F�llen bestehen soll, istnicht erfindlich6. Doch aller Kritik zum Trotz wird die Steuerbeg�nstigung der Freizeitvereine imReformgesetz v. 10.10.2007 (Rz. 1) durch Aufnahme in § 52 II Nr. 23 AO nicht nur best�tigt, sondernden sonstigen gemeinn�tzigen Zwecken auch hinsichtlich der H�he des Spendenabzugs (s. Rz. 16)gleichgestellt. Damit ist der Hundesport dem Gesetzgeber genauso viel wert wie Kunst und Kultur,Wissenschaft oder Bildung. Die unsachgem�ße Privilegierung der Freizeit kostet den Staat Einnah-men, die ihm an anderer Stelle fehlen.

Entgegen der Auffassung der Gemeinn�tzigkeitskommission (Fn. 4) und des Wiss. Beirats beim BMF(Fn. 5, 33 f.) hat der Gesetzgeber auch den Sport (§ 52 II Nr. 21 AO) uneingeschr�nkt als gemein-n�tzig best�tigt7. Der Sport ist ein Musterbeispiel f�r den Grenzbereich zwischen F�rderung derAllgemeinheit, nicht gemeinn�tziger Freizeitbet�tigung und Gemeinwohlsch�dlichkeit. Zu Letzteremhat BFH BStBl. 1998, 9, fehlentschieden, dass Motorsport gemeinn�tzig sein k�nne. Die Gemein-n�tzigkeit des Sports setze nicht voraus, dass die gef�rderte Sportart weder unfalltr�chtig noch

§ 20 Rz. 2–3 § 20 Gemeinn�tzigkeits- und Spendenrecht

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2 BFH BStBl. 1985, 106; 2002, 169; R. Jansen, FR 2002, 996; M. Brill, Der Verlust der Gemeinn�tzigkeitaufgrund von Verst�ßen gegen die Rechtsordnung und aufgrund des Verzichts, Diss., Hamburg 2006.

3 Der notwendigen Entwicklungsoffenheit des unbestimmten Rechtsbegriffs der F�rderung der Allge-meinheit wird diese Regelungstechnik nicht gerecht; ebenfalls krit. R. H�ttemann, DB 2007, 128; a.A.M. Jachmann, DStR 2007, Heft 26, VIII.

4 BMF-Schriftenreihe, Heft 40, Bonn 1988.5 Wiss. Beirat beim BMF (Vor Rz. 1), 31 ff., der i.�. aber mit einer rein allokationstheoretischen Sichtinsges. zu restriktiv argumentiert; zu Recht krit. P. Fischer, FR 2006, 1001.

6 Dazu ausf. Tipke/Kruse, AO, § 52 Tz. 32–44; G. Gmach, FR 1996, 308.7 Dazu H.-U. Herrnkind, Steuerliche F�rderung von Sportvereinen, Diss., K�ln 1995; G. M�ller-Gater-mann, FR 1995, 261; P. Fischer, in: FS f�r K. Offerhaus, K�ln 1999, 597; Schauhoff/Fischer, in: NonProfit Law, Yearbook 2003, 199; E. Henning, Sport und Gemeinn�tzigkeit, Diss., Stuttgart 2005;A. Leisner-Egensperger, HHSp, AO, § 52 Rz. 196 ff. (2006) mit Aufstellung gemein�tziger Sportarten.M. Jachmann, in: GS f�r C. Trzaskalik, K�ln 2005, 31. R. Seer, DStJG 26 (2003), 11, 17 f., weist daraufhin, dass die Sportf�rderung mittlerweile in den meisten Landesverfassungen als Staatsziel abgesichertist.

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umweltbelastend ist. Entgegen fr�herer Rspr. setze Sport i.S.d. § 52 II Nr. 21 AO keine k�rperlicheErt�chtigung durch Leibes�bungen voraus. In Bezug auf Golfclubs hat sich allerdings die Rspr.versch�rft. BFH BStBl. 1998, 711; BMF BStBl. 1998, 1424, versagt zu Recht die Gemeinn�tzigkeit,wenn die Mitgliedsbeitr�ge und Aufnahmegeb�hren so hoch angesetzt sind, dass die Allgemeinheitkeinen Zugang mehr zu dem Sportverein hat (zu den H�chstgrenzen BMF BStBl. 1998, 1424; BFHBStBl. 2005, 443).

Gemeinn�tzigkeitsf�hig sind K�rperschaften i.S. des KStG (§ 51 S. 2 AO). I. d. R. wird gemein-n�tzige T�tigkeit in der Rechtsform des Vereins (§ 1 I Nrn. 4, 5 KStG) oder der Stiftung8 (§ 1 INr. 5 KStG), seltener der GmbH9 betrieben. Auch die �ffentliche Hand kann im Rahmen ihrerBetriebe gewerblicher Art gemeinn�tzige Zwecke verfolgen10.

§§ 55; 58 AO stellen Anforderungen an die Mittelverwendung auf. Die Mittel d�rfen nur f�rdie satzungsm�ßigen Zwecke verwendet werden (§ 55 I Nr. 1 AO). Zu beachten ist insb. dasGebot zeitnaher Mittelverwendung (§ 55 I Nr. 5 AO)11; allerdings erlaubt das Gesetz inGrenzen die Bildung von R�cklagen (§§ 58 Nrn. 6, 7a, b; 63 IV AO).

Eine wichtige Ausnahme vom Unmittelbarkeitserfordernis enth�lt § 58 Nr. 1 AO f�r F�rder- undSpendensammelvereine, die Mittel f�r die Verwirklichung gemeinn�tziger Zwecke durch eine andereK�rperschaft beschaffen (§ 58 I Nr. 1 AO). Die Erbringung von Hilfst�tigkeiten gegen�ber einergemeinn�tzigen K�rperschaft f�rdert die Allgemeinheit dagegen nicht unmittelbar (BFH BStBl. 2007,628 m. zu Recht krit. Anm. H�ttemann/Schauhoff, FR 2007, 1133).

2. Wirtschaftliche Bet�tigung gemeinn�tziger K�rperschaften

K�rperschaften, die gemeinn�tzige Zwecke verfolgen, tun dies nicht immer ausschließlich.Nicht selten verfolgen sie Nebenzwecke, nicht selten unterhalten sie wirtschaftliche Gesch�fts-betriebe, auch um Mittel f�r die gemeinn�tzige T�tigkeit zu beschaffen (sog. Mittelbeschaf-fungsbetriebe). Dadurch geraten sie in Konkurrenz zu der nicht steuerbeg�nstigten unterneh-merischen T�tigkeit.

Die Einzelsteuergesetze schließen die Steuerverg�nstigung aus, soweit ein wirtschaftlicher Ge-sch�ftsbetrieb (§ 14 AO) unterhalten wird (§ 5 I Nr. 9 S. 2 KStG; § 3 Nr. 6 S. 2 GewStG; § 12 IINr. 8a S. 2 UStG). Die K�rperschaft verliert f�r die Werte (Verm�gen, Eink�nfte, Ums�tze),die zu diesem Betrieb geh�ren, die Steuerverg�nstigung, soweit nicht ein Zweckbetrieb (§§ 65–68AO)12 gegeben ist (§ 64 I 1 AO). Aus den Steuerverg�nstigungsvorschriften der Einzelgesetzeund aus § 64 AO ergibt sich, dass die K�rperschaft, die auch einen wirtschaftlichen Gesch�fts-

Gemeinn�tzigkeitsrecht Rz. 3–6 § 20

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8 Milatz/Kemcke/Sch�tz, Stiftungen im Zivil- und Steuerrecht, Heidelberg 2004; Pues/Scheerbarth,Gemeinn�tzige Stiftungen im Zivil- und Steuerrecht[2], M�nchen 2004; W. G. Leisner, Die mildt�tigeFamilienstiftung, DB 2005, 2434; C. Kirchenhain, Gemeinn�tzige Familienstiftung, Diss., Frankfurt/M. 2006; R. Seer, Die Besteuerung gemeinn�tziger Stiftungen, ZSteu 2006, 158; K. Ebling, Stiftungzur F�rderung der Kunst – ein Modell mit Zukunft?, FR 2007, 565; rechtsvergleichend S. Geringhoff,Das Stiftungssteuerrecht in den USA und Deutschland – ein Rechtsvergleich, Diss., K�ln 2007;S. Selbig, F�rderung und Finanzkontrolle gemeinn�tziger Organisationen in Großbritannien undDeutschland, Diss. T�bingen 2006; Seer/Versin, Die gemeinn�tzige Stiftung im Steuerrecht, Steuer-Stud 2007, 588; weitere Lit. in § 11 Rz. 23 Fn. 37.

9 Zur gemeinn�tzigen GmbH J. Thiel, GmbHR 1997, 10; J. Thiel, DStJG 20 (1997), 103; A. Schl�ter,GmbHR 2002, 535 u. 578; Engelsing/Rohde, NWB 2005, Fach 4, 4965; s. auch M. Schmidt, Steuer-liche Aspekte der Rechtsformwahl bei privaten gemeinn�tzigen Organisationen, Diss., Baden-Baden2001.

10 Dazu J. Hey, StuW 2000, 467; Seer/Wolsztynski, Steuerrechtliche Gemeinn�tzigkeit der �ffentlichenHand, Berlin 2002; Thieme/Dorenkamp, FR 2003, 693; zur Auslagerung hoheitlicher T�tigkeit aufgemeinn�tzige Tochterkapitalgesellschaften Regierer/Becker, DStZ 2007, 597.

11 Dazu J. Thiel, DB 1992, 1900; F. Schr�der, DStR 2005, 1238; Thiel/Eversberg, DB 2007, 191 m.Erwiderung und Replik R�sch/Woitschell u. Thiel/Eversberg, DB 2007, 1434.

12 Dazu P. Fischer, in: GS f�r C. Trzaskalik, K�ln 2005, 49; P. Fischer, FR 2006, 1001, 1008 ff. Ein-schr�nkung des Anwendungsbereichs des erm�ßigten USt-Satzes (§ 12 II Nr. 8a UStG) f�r Zweckbe-triebe gem. §§ 66 ff. AO durch JStG 2007 v. 13.12.2006, BGBl. I 2006, 2878; dazu krit. W. G. Leisner,ZSteu 2007, 12; F. Vochsen, ZKF 2006, 271.

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betrieb unterh�lt, die Steuerverg�nstigung nicht wegen § 56 AO g�nzlich verliert, sondern nurbez�glich des wirtschaftlichen Gesch�ftsbetriebs (BFH BStBl. 2002, 162). Steuerpflichtig ist diewirtschaftliche T�tigkeit erst dann, wenn sie die Grenzen der steuerunsch�dlichen Verm�gens-verwaltung (§ 14 AO) und die Nichtaufgriffsgrenze des § 64 III AO i.H.v. 35 000 Euro �ber-schreitet.

Somit hat das Gemeinn�tzigkeitsrecht es mit vier Sektoren (hierzu K. Neuhoff, DStZ 2005,191) zu tun:

1. mit dem gemeinn�tzigen Sektor i.e.S. (Idealsph�re),

2. mit dem Sektor der nicht steuersch�dlichen Verm�gensverwaltung (§ 14 AO),

3. mit dem Sektor des steuerbelasteten wirtschaftlichen Gesch�ftsbetriebs (§ 64 i.V.m. § 14AO) und

4. mit dem Sektor des nicht steuerbelasteten Zweckbetriebs (der auch ein wirtschaftlicherGesch�ftsbetrieb ist, dazu §§ 65–68 AO).

Der Gesetzgeber versucht, einen Interessenausgleich zwischen der steuerbelasteten Privatwirt-schaft und den gemeinn�tzigen K�rperschaften zu schaffen, soweit diese mit der Privatwirt-schaft konkurrieren13. Grds. sind Wettbewerbsverzerrungen durch die T�tigkeit von Zweckbe-trieben nur hinzunehmen, soweit dies zur Zweckerreichung unerl�sslich ist (§ 65 Nr. 3 AO).Die Privilegierungen in §§ 66; 67; 67a und 68 AO verschieben dieses Verh�ltnis jedoch zuGunsten des gemeinn�tzigen Sektors, indem hier unabh�ngig davon, ob die Wettbewerbswir-kung das f�r die Erf�llung des gemeinn�tzigen Zwecks unvermeidbare Maß i.S. des § 65 Nr. 3AO �bersteigt (BFH BStBl. 1995, 446), ein steuerbefreiter Zweckbetrieb angenommen wird;s. z.B. die Regelung des § 68 Nr. 9 S. 2 AO zu Gunsten der Drittmittelforschung14.

Das sog. Sponsoring15 kennzeichnet einen schwierigen Abgrenzungsbereich zwischen Spendenim Idealbereich und Leistungsaustausch im Rahmen eines stpfl. wirtschaftlichen Gesch�ftsbe-triebs. Durch BMF BStBl. 1998, 212, sind wichtige Streitfragen gekl�rt worden.

§§ 59–63 AO enthalten formelle Vorschriften zur Gemeinn�tzigkeit, insb. Anforderungen andie Satzung.

Nach BMF BStBl. 2004, 1059, sollen aus Gr�nden des Vertrauensschutzes bei Erteilung von vorl�ufi-gen Bescheinigungen �ber die Gemeinn�tzigkeit auf der Grundlage von Satzungsentw�rfen keinenachteiligen Folgen f�r die Vergangenheit gezogen werden, wenn die Satzung bei einer sp�teren �ber-pr�fung beanstandet wird. Dem ist zuzustimmen. Die vorl�ufige Gemeinn�tzigkeitsbescheinigung er-f�llt den Tatbestand der Zusage (a.A. BFH BStBl. 2000, 320, 322: unverbindliche Auskunft). Vorzugs-w�rdig w�re freilich die Schaffung eines besonderen Anerkennungsverfahrens durch den Gesetzgeber.

Einstweilen frei.

§ 20 Rz. 6–14 § 20 Gemeinn�tzigkeits- und Spendenrecht

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13 Dazu R. H�ttemann, Wirtschaftliche Bet�tigung und steuerliche Gemeinn�tzigkeit, Diss., K�ln 1991;M. Orth, FR 1995, 253. Zu wirtschaftlichen Gesch�ftsbetrieben U. Herbert, Der wirtschaftliche Ge-sch�ftsbetrieb des gemeinn�tzigen Vereins, Diss., K�ln 1988; Lang/Seer, FR 1994, 521; L. Stobbe,DStZ 1996, 298; T. Menke, Die wirtschaftliche Bet�tigung nichtwirtschaftlicher Vereine, Diss., Berlin1998; T. Fritz, Aufnahme, Strukturwandel und Beendigung wirtschaftlicher T�tigkeiten von gemein-n�tzigen K�rperschaften, Diss., Baden-Baden 2003; F. Schr�der, DStR 2004, 1815 u. 1859; A. Chris-tiansen, in: FS f�r F. Wassermeyer, M�nchen 2005, 49; M. Orth, FR 2007, 326. Zur Abgrenzungzwischen Verm�gensverwaltung und wirtschaftl. Gesch�ftsbetrieb bei Beteiligung an anderen Unter-nehmen s. A. Arnold, DStR 2005, 581. Zur Wettbewerbsklausel des § 65 Nr. 3 AO BFH BStBl. 2000,705; BMF BStBl. 2000, 1548.

14 Einschr�nkend BFH BStBl. II 2007, 631 m. Anm. Becker/Volkmann, DStZ 2007, 529; Kaufmann/Schmitz-Herscheidt, BB 2007, 2039; M. Strahl, DStR 2007, 1468; ferner M. Strahl, FR 2006, 1012.

15 Dazu C.-H. Heuer, DStR 1998, 18; S. Schauhoff, DB 1998, 494; J. Thiel, DB 1998, 842; N. G.Weiand, BB 1998, 344; R. M�rkle, StbJb. 1998/99, 265; A. Krome, DB 1999, 2030; T. R�del, INF1999, 716 ff. u. 747 ff.; S. R�ckert, Die ertragsteuerliche Behandlung des Sponsoring, K�ln 1999;W. Boochs, Sponsoring in der Praxis, Neuwied 2000; U.-P. Krause, StuB 2000, 57; E. Alberti, Sponso-ring im Steuerrecht, Frankfurt/M. 2001; Engelsing/Rohde, NWB 2004, Fach 4, 4811; A. Kasper, DStZ2005, 397; N. M�ckl, StuW 2007, 122 (Schenkungsteuer).

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B. Spendenrecht

1. Spenden f�r gemeinn�tzige Zwecke16

Durch das Spendenabzugsrecht soll der private Altruismus stimuliert werden. Zur Entlastungder �ffentlichen Haushalte sollen �ber das Steueraufkommen hinaus weitere Mittel f�r altruisti-sche Zwecke beschafft werden. Zu diesem Zweck wird zugelassen, dass Spenden – obwohl sieprivate Einkommensverwendungen sind – in Grenzen von der Steuerbemessungsgrundlageabgezogen werden k�nnen. Die Spendenabzugsvorschriften sind Sozialzwecknormen17 (s. § 4Rz. 21), die den Spender pr�mieren.

Damit unvereinbar ist es, Spender mit h�heren Einkommen (entspr. der H�he des Grenzsteuer-satzes) st�rker zu pr�mieren als Spender mit geringeren Einkommen. Am Maßstab des Verdienst-prinzips (§ 4 Rz. 129) ist im Gegenteil das Verdienst des Stpfl. mit geringerem Einkommen, derdenselben Betrag spendet wie derjenige mit h�herem Einkommen, nicht weniger, sondern genausoviel, ja sogar mehr wert. Richtigerweise sollte der Spendenabzug deshalb statt – wie nach geltendemRecht – als Abzug von der Bemessungsgrundlage als Abzug von der Steuerschuld ausgestaltetwerden18.

Das Gesetz zur weiteren St�rkung des b�rgerschaftlichen Engagements v. 10.10.2007 (BGBl. I2007, 2332) ordnet und vereinfacht das zerkl�ftete Spendenrecht. Die f�rderungsw�rdigenZwecke werden k�nftig ausschließlich in der AO festgelegt, die spendenrechtlichen Regelungender EStDV entfallen ebenso wie die Differenzierung zwischen gemeinn�tzigen und spendenbe-g�nstigten Zwecken. Zudem werden die Spendenh�chstgrenzen deutlich angehoben.

Nach § 10b I EStG d�rfen Zuwendungen (Spenden und Mitgliedsbeitr�ge) zur F�rderungsteuerbeg�nstigter Zwecke i.S.d. §§ 52–54 AO in begrenzter H�he als Sonderausgaben vomGesamtbetrag der Eink�nfte abgezogen werden. K�rperschaften d�rfen Zuwendungen gem.§ 9 I Nr. 2 KStG vom Einkommen abziehen; s. ferner § 9 Nr. 5 GewStG. Gem. § 13 I Nrn. 16b,17 ErbStG sind Spenden schenkungsteuerfrei.

Zuwendungen i.S.d. § 10b I 1 EStG sind Spenden und Mitgliedsbeitr�ge. Spenden sind alt-ruistisch motivierte, unentgeltliche Zuwendungen oder Geschenke. Leistungsaustausch schließtdie Annahme einer Spende aus, und zwar auch dann, wenn das Entgelt den Wert der Leistungdeutlich �bersteigt; eine Aufteilung scheidet aus (BFH BStBl. 2007, 8, 9 m. Anm. Tiedtke/Szczesny, FR 2007, 765). Mitgliedsbeitr�ge sind regelm�ßig geleistete Zahlungen auf Grundsatzungsm�ßiger Bestimmung.

Zur Abgrenzung Spenden – Betriebsausgaben BFH BStBl. 1990, 237; zur Abgrenzung beim Sponso-ring s. den sog. Sponsoringerlass (BMF BStBl. 1998, 212).

Ab dem 1.1.2007 d�rfen Zuwendungen (Spenden und grds. auch Mitgliedsbeitr�ge) generell biszur H�he von 20 v.H. des Gesamtbetrags der Eink�nfte oder 2 v.T. der Summe der gesamtenUms�tze und der im Kalenderjahr aufgewendeten L�hne und Geh�lter abgezogen werden. DieH�chstgrenzen �bersteigende Zuwendungen k�nnen in den folgenden Veranlagungszeitr�umenabgezogen werden (§ 10b I 3, 4 EStG). Die fr�here Großspendenregelung und der Spenden-r�cktrag sind entfallen. § 10b Ia EStG f�rdert daneben den Verm�gensaufbau von Stiftungenmit einem auf zehn Jahre verteilten Sonderausgabenabzug von bis zu 1 Mio. Euro sowohl bei

Spendenrecht Rz. 15–16 § 20

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16 Kommentare zu § 10b EStG; S. Geserich, Privater, gemeinwohlwirksamer Aufwand im System derdeutschen Einkommensteuer und des europ�ischen Rechts, Diss., Heidelberg 1999; S. Lahme, Spen-denabzugsverfahren & Anerkennungsverfahren gemeinn�tziger K�rperschaften, Diss., Aachen 2004;zu den Neuerungen seit dem 1.1.2007 Richter/Eichler, FR 2007, 1037.

17 R. H�ttemann, Gemeinn�tzigkeits- und Spendenrecht, K�ln 2008, § 1 Rz. 69; die Gegenauffassungvon M. Jachmann, ZSt 2003, 35, wonach die gemeinn�tzige Zweckverfolgung systemimmanentes�quivalent zu Steuerzahlung und folglich nicht als Ausnahmebestimmung einzuordnen ist, wird derFreiwilligkeit der Spende nicht gerecht. Der Spender hat es anders als der Steuerzahler in der Hand,wo die Mittel zum Einsatz gelangen. Spende und Steuer sind wesensverschieden.

18 �berzeugend R. Seer, DStJG 26 (2003), 11, 42; ebenso C. Trzaskalik, Gutachten E zum 63. DJT,M�nchen 2000, Bd. I, 87 f.; anders noch 17. Aufl., § 20 Rz. 8.

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Sechstes Kapitel: Steuerverfahrensrecht

§ 21 Durchf�hrung der Besteuerung

A. Prinzipien des Steuerverfahrens

I. Gesetzm�ßigkeit und Gleichm�ßigkeit der Besteuerung

Literatur : § 4 vor Rz. 161; K. Tipke, StRO III, K�ln 1993, § 27; R. Eckhoff, Rechtsanwendungs-gleichheit im Steuerrecht, Habil. M�nster, K�ln 1999; H. W. Kruse, Gesetzm�ßigkeit der Verwaltungund Verfahrensordnungen, FS f�r K. Vogel, Heidelberg 2000, 517; K. Tipke, in: FS f�r H. W. Kruse,K�ln 2001, 215; R. Seer, Reform des Veranlagungsverfahrens, StuW 2003, 40; R. Seer, StbJb. 2004/2005, 53 ff.; C. Winterhoff, Steuerverfahrensrecht und tats�chliche Belastungsgleichheit, Diss. G�ttin-gen, Baden-Baden 2004; D. Birk, Das Gebot des gleichm�ßigen Steuervollzugs und dessen Sanktionie-rung, StuW 2004, 277; Bundesrechnungshof, Probleme beim Vollzug der Steuergesetze, Stuttgart 2006;W. Widmann (Hrsg.), Steuervollzug im Rechtsstaat, DStJG Bd. 31, K�ln 2008, mit Beitr�gen v.R. Seer, E. Schmidt, K. Schleicher, M. Schmitt, C. Staringer, K.-D. Dr�en, M. Loose, R. R�sken u.K. Randt; Tipke/Kruse, Kommentierung zu § 85 AO.

Rechtsvergleichend: R. Seer, Besteuerungsverfahren: Rechtsvergleich USA-Deutschland, Heidelberg2002; S. Nagel, Selbstveranlagung im britischen und amerikanischen Steuerrecht, Diss., Frankfurt a.M.u.a. 2003; S. Ahrens, Der Vollzug von Steuergesetzen durch den niederl�ndischen Belastingdienst imVergleich zur deutschen Finanzverwaltung, Diss., Berlin 2005.

1. Rechtsstaatlicher Auftrag der Finanzbeh�rden

Die Finanzbeh�rde ist nach Art. 20 III GG als vollziehende Gewalt an Gesetz und Rechtgebunden. Art. 20 III GG enth�lt damit ein Abweichungsverbot dergestalt, dass die Finanzbe-h�rde nicht gegen die geltenden Rechtss�tze verstoßen darf. Dar�ber hinausgehend statuiertArt. 20 III GG ein Anwendungsgebot, wonach die Finanzbeh�rde nicht nur berechtigt, sondernauch verpflichtet ist, die gesetzlich geschuldete Steuer fest- und durchzusetzen (Legalit�tsprin-zip, nicht Opportunit�tsprinzip, s. § 4 Rz. 161 ff.)1. Zugleich verpflichtet Art. 3 I GG die Fi-nanzbeh�rde zur Rechtsanwendungsgleichheit (s. § 4 Rz. 70 ff.), die sich nicht im bloßenAnwendungsgebot ersch�pft. Vielmehr gibt der objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalt desArt. 3 I GG der Administration ein dar�ber hinausreichendes Vereinheitlichungsgebot auf, demdie Verwaltung z.B. durch Vereinheitlichung ihrer Vollzugspraxis in Verwaltungsvorschriften(§ 5 Rz. 20 ff.) nachkommt.

Einfachgesetzlich verpflichtet § 85 S. 1 AO demzufolge die Finanzbeh�rden, die Steuern so-wohl „nach Maßgabe der Gesetze“ als auch „gleichm�ßig“ festzusetzen und zu erheben. Eshandelt sich um einen Optimierungsauftrag, wonach die Finanzbeh�rde beiden Fundamental-grunds�tzen (der Gesetz- und der Gleichm�ßigkeit der Besteuerung) zu gen�gen hat2. Gleich-zeitig haben die Finanzbeh�rden dabei die Freiheitsgrundrechte der Stpfl. zu beachten. Indiesem verfassungsrechtlichen Abw�gungsdreieck hat sich ein rechtsstaatlicher Steuervollzugzu bewegen (§ 4 Rz. 162).

Der Auftrag der Finanzbeh�rden ist rechtsstaatlich, nicht fiskalisch ausgerichtet. Deshalb hebt § 85S. 2 AO hervor, dass Finanzbeh�rden auch sicherzustellen haben, dass Steuern nicht zu Unrechterhoben oder Steuererstattungen und Steuerverg�tungen nicht zu Unrecht versagt werden d�rfen.Die Finanzbeh�rden handeln als Treuh�nder f�r die Solidargemeinschaft der Steuerzahler3. F�rdie Funktionsf�higkeit des Gemeinwesens als Steuerstaat ist es von vitalem Allgemeininteresse, dass

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1 K. Tipke, StRO I[2], 131; D. Birk, StuW 1989, 212, 213.2 R. Seer, Verst�ndigungen in Steuerverfahren, K�ln 1996, 295 ff.3 Dazu K. Tipke, in: H. Vogelgesang (Hrsg.), Perspektiven der Finanzverwaltung, K�ln 1992, 95 ff.

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die gesetzliche Steuerpflicht m�glichst fl�chendeckend realisiert wird. Im steuerlichen Massenver-fahren hat die Finanzbeh�rde dazu einen strukturellen Vollzugssicherungsauftrag zu erf�llen(Rz. 5 f.).

2. Verfahrensmaximen

2.1 Untersuchungsmaxime

Dazu haben die Finanzbeh�rden den Sachverhalt grunds�tzlich von Amts wegen zu ermitteln(§ 88 I AO): Die Beh�rde tr�gt die Verantwortung f�r die Sachaufkl�rung; sie bestimmt Artund Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und an die Beweisantr�ge der Beteiligten istsie nicht gebunden (§ 88 I 2 AO)4. Bei der Sachaufkl�rung haben die Finanzbeh�rden alle f�rden Einzelfall bedeutsamen, auch die f�r die Beteiligten g�nstigen Umst�nde zu ber�cksich-tigen (§ 88 II AO); sie d�rfen also nicht einseitig-fiskalisch verfahren.

Damit nach M�glichkeit niemand deshalb benachteiligt wird, weil er seine verfahrensrechtlichenM�glichkeiten nicht kennt, begr�ndet § 89 I AO (Sollvorschrift) eine gewisse F�rsorge- oder Be-treuungspflicht, eine Pflicht zur Beratung und Auskunft �ber Verfahrensfragen (zur verbindlichenAuskunft u. Zusage s. Rz. 14 ff.).

2.2 Kooperationsmaxime

Da die Finanzbeh�rde aus eigener Wahrnehmung aber nur wenig zum Sachverhalt beitragenkann, h�ngt die Erf�llung ihres Vollzugsauftrages (Rz. 1 f.) weitestgehend von der Mitwirkungdes Stpfl. ab. Deshalb ist das Besteuerungsverfahren nach §§ 88, 90 AO auf eine kooperativeArbeitsteilung zwischen Finanzbeh�rden und Stpfl. angelegt. Ausdruck dieser Kooperations-maxime sind die Mitwirkungspflichten (§§ 90 ff. AO, s. Rz. 172 ff.), die dem Stpfl. einesph�renorientierte Mitverantwortung f�r die Sachaufkl�rung zuweisen5. Beide Seiten bildenzusammen eine Art „Arbeitsgemeinschaft“, eine Verantwortungsgemeinschaft, bei der jedochdie Letztverantwortung auf Seiten der Finanzbeh�rde als „Treuh�nderin der Gemeinwohl-interessen“ verbleibt. Auf Grund ihrer Letztverantwortung ist sie grds. auch dann noch zurweiteren Sachaufkl�rung verpflichtet, wenn der Stpfl. seine Mitwirkungspflichten verletzt6. Jeweniger der Stpfl. aber mitwirkt, umso weniger Anhaltspunkte stehen ihr regelm�ßig zurVerf�gung, um die eigene (hoheitliche) Sachaufkl�rung zu betreiben. Insoweit stehen Unter-suchungsgrundsatz und Mitwirkungspflicht in einem wechselseitigen Zusammenhang. Schei-tert die Sachaufkl�rung schließlich an der mangelnden Mitwirkung des Stpfl., so hat dieserdas Beweisrisiko seiner Sph�renverantwortung entsprechend zu tragen (dazu Rz. 207 ff.; § 22Rz. 190 ff.).

3. Rechtsstaatlicher Steuervollzug unter den Bedingungen einer Massenverwaltung

Die Finanz�mter erlassen j�hrlich mehr als 120 Millionen Verwaltungsakte und sehen sich einerSchattenwirtschaft in Deutschland von ca. 15 v.H. des Bruttosozialprodukts gegen�ber. Ange-sichts der j�hrlich wiederkehrenden un�berschaubaren Quantit�ten befindet sich die Finanzver-waltung dauerhaft in einem Zielkonflikt zwischen der sorgf�ltigen Sachaufkl�rung im Einzelfall

§ 21 Rz. 2–5 § 21 Durchf�hrung der Besteuerung

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4 Gebunden sind die Finanzbeh�rden allerdings an gestaltende Verwaltungsakte anderer Beh�rden; siek�nnen diese nicht nachpr�fen; s. R. Wagner, Die Bindung der Finanzbeh�rden und Finanzgerichte anEntscheidungen anderer Beh�rden und Gerichte, Diss., W�rzburg 1966; H. Paulick, StbJb. 1964/65,351 ff.

5 R. Seer (Fn. 2), 179 ff.; R. Seer, StuW 2003, 40, 52 ff.; J. Hoffmann, Der maßvolle Gesetzesvollzug imSteuerrecht, K�ln 1999, 200 ff.; R. Eckhoff, Rechtsanwendungsgleichheit im Steuerrecht, K�ln 1999,450 ff.; a.A. H. S�hn, HHSp, AO § 88 Rz. 94; S. M�ller-Franken, Maßvolles Verwalten, Habil. Passau,T�bingen 2004, 236, der nur vom „mitwirkungsoffenen Verwalten“ spricht; dazu R. Seer, FR 2004,1037, 1044 f.; R. Seer, StbJb. 2004/2005, 53 ff.

6 Insoweit a.A. BFH BStBl. 1989, 462, 464; BFH/NV 2006, 1801, 1802; J. Martens, StuW 1981, 322, 323.

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und der Sicherstellung des Gesamtvollzugs, d.h. der Summe aller Einzelf�lle7. Begrenzte Ver-waltungsressourcen bewirken bei periodisch wiederkehrenden Verwaltungsverfahren, dass sichdie gr�ßtm�gliche Realisierung der Gesetzm�ßigkeit im Einzelfall nicht mehr mit der gr�ßt-m�glichen Realisierung der Gesetzm�ßigkeit im Gesamtvollzug aller Einzelf�lle deckt (§ 4Rz. 162). In dieser Situation widerspr�che es dem verfassungsrechtlichen Gebot gesetz- undgleichm�ßiger Besteuerung, den steuerlichen Sachverhalt nach Art eines Untersuchungsrichterszu ermitteln. Eine daran orientierte �berzeugungsdoktrin (sog. 100 v.H.-Doktrin) ist daheraufzugeben (s. Rz. 204)8. Die Forderung nach finanzbeh�rdlicher �berzeugung von der Rich-tigkeit des der Besteuerung zugrunde gelegten Sachverhalts bliebe selbst in einem Idealzustanddes materiellen Steuerrechts schlichte Illusion. Fl�chendeckende, einzelsachverhaltsbezogeneVerifikation aller Steuerf�lle zu fordern, hieße die Finanzbeh�rden zu �berfordern9.

In den massenhaften Steuerverwaltungsverfahren erh�lt der Gesetzesvollzug die folgende Ge-stalt: Wirkt der Stpfl. hinreichend mit und liegen aus Sicht der Finanzbeh�rde keine Anhalts-punkte vor, dass die von ihm erkl�rten Tatsachen unrichtig oder unvollst�ndig sind, bestehtgrds. kein Anlass f�r weitere Ermittlungen; der Stpfl. genießt einen freiheitsschonenden Ver-trauensvorschuss10. Allerdings darf sich ein rechtsstaatlicher Gesetzesvollzug nicht in der Ge-w�hrung des Vertrauensvorschusses ersch�pfen; ansonsten w�rde das Gesetzm�ßigkeitsprinzipeinseitig geopfert. Wer eine gesetz- und gleichm�ßige Besteuerung strukturell sichern will,kommt auch in einem Rechtsstaat nicht ohne Kontrolle aus11. Deshalb ist das Vertrauensvor-schussprinzip durch das Kontrollprinzip (Verifikationsprinzip) zu beschr�nken. F�r die mas-senhaften Steuerverfahren �bernimmt diese Funktion zun�chst eine (computergesteuerte) Plau-sibilit�tskontrolle12. Der freiheitsschonende Vertrauensvorschuss ist verbraucht, wenn sich dieAngaben als unschl�ssig, unvollst�ndig oder gar perplex erweisen oder der beh�rdlichen Er-fahrung widersprechen. In einem solchen Fall muss die Finanzbeh�rde in eine intensivere Ein-zelfallpr�fung eintreten. Um dar�ber hinaus Stpfl. prophylaktisch davon abzuhalten, in sichschl�ssige, aber falsche (!) Tatsachen gegen�ber dem Finanzamt zu erkl�ren, sind die Plausibili-t�tskontrollen durch Stichprobenkontrollen, die sich nach dem Zufallsprinzip oder nach Sach-kriterien der Verwaltungserfahrung richten, zu erg�nzen. Dabei wird zum einen durch genauePr�fung einzelner Punkte induktiv auf die Zuverl�ssigkeit der �brigen Angaben des Stpfl.geschlossen. Zum anderen kann als Stichprobe ein ganzer Fall unabh�ngig vom Ergebnis derPlausibilit�tskontrolle in seinen Einzelheiten gepr�ft werden. Zwar behandelt diese Stichprobeden Betroffenen gegen�ber anderen Stpfl. ungleich. Sie ist aber als Generalpr�vention zurSicherung der Gesetzm�ßigkeit sachlich gerechtfertigt, damit sich niemand dauerhaft auf einenur oberfl�chliche Kontrolle verlassen kann13.

Rechtsstaatlicher Steuervollzug unter den Bedingungen einer Massenverwaltung Rz. 5–6 § 21

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7 Zum sog. Vollzugsdefizit K. Arlt, JbFSt. 1973/74, 26, 30 ff.; J. Isensee, Die typisierende Verwaltung,Habil. Erlangen, Berlin 1976, 155 ff.; J. Jenetzky, StuW 1982, 273; P. Neckels, StWa 1993, 61; K. Tip-ke, StRO III, 1196 ff.; K. Tipke, StWa 1994, 221; H. Egge, StuW 1994, 272; D. Ondracek, in: FS f�rW. Ritter, K�ln 1997, 227 ff.; R. Eckhoff (Fn. 5), 377 ff.; H. Helsper, Wege f�r Beweger im Steuer-wesen, K�ln 2001, 73 ff.

8 R. Seer, DStJG Bd. 31 (f�r 2008 in Vorbereitung), m.w.N. Die 100 v.H.-Doktrin vertritt unver�ndertS. M�ller-Franken (Fn. 5), 305 ff., der in praxisferner Anlehnung an den Gerichtsprozess die finanz-beh�rdliche „�berzeugungsgewissheit“ fordert.

9 R. Seer, StbJb. 2004/2005, 53 ff.10 BFH BStBl. 2004, 911, 912; 2006, 835, 836; AEAO, BStBl. I 2008, 26, 76, zu § 88 AO, Tz. 2;

K. H. Friauf, StbJb. 1977/78, 39, 60; L. Osterloh, Gesetzesbindung und Typisierungsspielr�ume beider Anwendung der Steuergesetze, Habil. Berlin, Baden-Baden 1992, 295 f.: „Zuverl�ssigkeitsvermu-tung“; R. Eckhoff (Fn. 5), 278 f.; J. Hoffmann (Fn. 5), 262 ff.

11 Eindringlich BVerfGE 84, 239, 273; 110, 94, 112 ff.; BFH BStBl. 2006, 178, 180 ff.; K. Tipke, StRO III,1204 ff.; K. Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, 54 ff., 66 ff.; s. auch R. Eckhoff (Fn. 5), 465.

12 Dazu n�her R. Seer, StuW 2003, 40, 48 ff.; zum System der US-amerikanischen Bundessteuerverwal-tung R. Seer, Besteuerungsverfahren: Rechtsvergleich USA-Deutschland, Heidelberg 2002, Rz. 51 ff.;S. Ahrens, Der Vollzug von Steuergesetzen durch den niederl�ndischen Belastingdienst im Vergleichzur deutschen Finanzverwaltung, 158 ff.; f�r eine Plausibilit�tskontrolle als Mindeststandard K. Bu-ciek, DStZ 1995, 513, 515 f.; R. Eckhoff, StuW 1996, 107, 114.

13 R. Seer, FR 1997, 553, 559; Tipke/Kruse, AO, § 88 Tz. 11.

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Ihren strukturellen Vollzugssicherungsauftrag (Rz. 2) versucht die Finanzverwaltung, nunmehr durchein EDV-gest�tztes Risikomanagement zu erf�llen14. Dieser Weg ist alternativlos. Der Ausbauelektronischer Steuererkl�rungssysteme (Rz. 183) erm�glicht den elektronischen Informationsaus-tausch zwischen Verwaltung und B�rger (sog. E-Government)15 und setzt Verwaltungskapazit�tenfrei, die im Rahmen des Risikomanagements zur Pr�fung risikogeneigter oder gar bisher unbekannterSteuerf�lle genutzt werden k�nnen. Ziel des Risikomanagements ist es, die kontrollbed�rftigen, mitdem Risiko eines normabweichenden Verhaltens behafteten Steuerf�lle von den risikoarmen Steuer-f�llen m�glichst zielgenau abzugrenzen und die Pr�fungst�tigkeit der Finanzbeh�rden darauf zufokussieren. Dazu w�hlt die Finanzverwaltung die pr�fungsbed�rftigen F�lle nicht mehr nach einemgroben Umsatz-/Gewinn-/Eink�nfte-Raster aus16, sondern bedient sich mehrerer Risikoparameter,die das Kontrollbed�rfnis kennzeichnen. Eine wichtige Funktion �bernimmt dabei eine Art Steuer-vita, die das bisherige Verhalten des Stpfl. im konkreten Steuerrechtsverh�ltnis abbildet. Diese Ideeverbindet die repressive Kontrolle mit einem sog. Compliance-Faktor, der die bisherige Einhaltungsteuerlicher Pflichten ausdr�ckt. Kooperatives Verhalten f�hrt den Stpfl. einer Klasse mit geringerRisikoneigung zu, w�hrend umgekehrt Pflichtverletzungen ihn in eine Klasse mit h�herer Risikonei-gung bef�rdern. Die in den „risikolosen“ Klassen durchgef�hrte Stichprobenpraxis liefert Erkennt-nisse f�r die permanente System�berpr�fung und zeitnahe Anpassung der Risikoindikatoren. Es han-delt sich so um ein „selbstlernendes System“, wo manuelle Stichprobenpr�fung in st�ndiger Wechsel-bez�glichkeit zur computergesteuerten Kontrolle steht.

Konsequenz des Ausbaus des Electronic Governments ist de lege ferenda ein Selbstveranlagungs-system, das durch ein ausgefeiltes Risikomanagement abgesichert wird17. Im zeitlichen Stadium vorder Steuerfestsetzung reduziert sich dabei die finanzbeh�rdliche Kontrolle auf computergest�tztePlausibilit�tspr�fungen. Es ergeht grunds�tzlich ohne weitere manuelle Pr�fung ein automatischerSteuerbescheid, der nach § 164 AO unter dem Vorbehalt der Nachpr�fung (s. Rz. 283 ff.) steht. BeiAnwendung der f�r die Steueranmeldung geltenden Regel des § 168 Satz 2 AO (s. Rz. 186) k�nnenaber Erstattungsf�lle zum Schutz des Fiskus noch unter besonderen Zustimmungsvorbehalt der Fi-nanzbeh�rde gestellt werden. Die Selbstveranlagung beschleunigt die Festsetzung der jeweiligen Jah-ressteuer. Zugleich schafft sie den n�tigen Raum, um die wertvollen Personalressourcen der Finanz-beh�rden nunmehr tats�chlich f�r eine qualifizierte Kontrolle und Ermittlung der Steuerf�lle imRahmen des Risikomanagements einzusetzen. Denn bei einer elektronischen Selbstveranlagung bedarfes nur noch einer weitaus geringeren Anzahl von Mitarbeitern, die nicht einmal �ber eine qualifiziertesteuerrechtliche Ausbildung verf�gen m�ssen, um etwa durch Einscannen solcher Steuererkl�rungen,die weiterhin auf Papiervordrucken eingereicht werden, die verbleibenden Rest-Veranlagungsarbeitenzu erledigen. Deshalb verwundert es nicht, dass eine F�lle von entwickelten OECD-Staaten mitt-lerweile Selbstveranlagungssysteme auch im Bereich der Einkommen- und K�rperschaftsteuer nut-zen18.

Zur Kontrolle von Konten und des Zahlungsverkehrs von und mit Kreditinstituten s. Rz. 198 ff.

§ 21 Rz. 7 § 21 Durchf�hrung der Besteuerung

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14 Eingehend E. Schmidt, DStJG Bd. 31 (f�r 2008 in Vorbereitung); zum sog. Risikomanagement 5000der nordrhein-westf�lischen Finanzverwaltung s. R. Seer, in: Brandt (Hrsg.), Deutscher Finanzge-richtstag 2007, 99, 108 f.

15 Zum Begriff und Ph�nomen allg. J. Skrobotz, Das elektronische Verwaltungsverfahren, Diss. Regens-burg, Berlin 2005, 20 ff.; M. Eifert, Electronic Government – Das Recht der elektronischen Verwal-tung, Habil. Hamburg, Baden-Baden 2006, 20 ff.; zur elektronischen Vernetzung des Steuerabzugs-mit dem Veranlagungsverfahren s. R. Seer, FR 2004, 1037, 1041 ff., R. Seer, DStJG Bd. 31 (f�r 2008 inVorbereitung), und unten Rz. 183.

16 So noch die sog. „Grunds�tze zur Organisation der Finanz�mter und Neuordnung des Besteuerungs-verfahrens“ (GNOF� 1997) Gleichlautende L�ndererlasse v. 19.11.1996, BStBl. I 1996, 1391; dazukrit. R. Seer, FR 1997, 553, 560 ff., u. 18. Aufl. § 21 Rz. 7.

17 Dazu im Einzelnen R. Seer, StuW 2003, 40, 45 ff.; R. Seer, StbJb. 2004/2005, 53 ff.; R. Seer, DStJGBd. 31 (f�r 2008 in Vorbereitung).

18 Ohne Anspruch auf Vollst�ndigkeit: Großbritannien, Irland, Italien, Kanada, Lettland, Litauen, Po-len, Spanien, Slowakei, Tschechien, Ungarn, USA, s. R. Seer, DStJG Bd. 31 (f�r 2008 in Vorberei-tung), m.w.N.

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II. �bermaßverbot als Schranke der Sachaufkl�rung

Das Steuerverfahrensrecht dient nicht nur der Verwirklichung des materiellen Steuerrechts,sondern hat als rechtsstaatliches Verfahren (§ 2 Rz. 17) zugleich die grundrechtliche Freiheits-sph�re des Stpfl. zu sch�tzen19. Durch den Besteuerungsakt greift die Finanzbeh�rde nachhaltigin Freiheitsgrundrechte (Art. 14 I, 12 I, 2 I GG) des Stpfl. ein. Zwar ist die Realisierung derSteuerpflicht eine conditio sine qua non f�r ein funktionierendes Staatswesen. Zum Schutz derFreiheitsgrundrechte unterliegt die Finanzbeh�rde aber den Schranken-Schranken des �ber-maßverbots (§ 4 Rz. 209 ff.). Als anerkanntes Verfassungsprinzip der Freiheitssicherung bindetes sowohl die Legislative bei der Ausgestaltung der grundrechtsbeschr�nkenden Norm (Prinzipfreiheitsschonender Besteuerung; zur speziellen Auspr�gung des Art. 14 GG s. § 4 Rz. 214 ff.)als auch die Exekutive bei deren Anwendung auf den konkreten Einzelfall (f�r das Ermitt-lungsverfahren s. Rz. 173, 193)20.

Danach m�ssen sowohl die Verfahrenseinleitung (§ 86 AO) als auch die Ermittlungsmaßnah-men im (eingeleiteten) Verwaltungsverfahren hinreichend veranlasst sein. Es w�rde das �ber-maßverbot verletzen, wenn die Finanzbeh�rden im Rahmen von sog. Rasterfahndungen oder�hnlichen Ermittlungen „ins Blaue hinein“ ermitteln d�rften21. Andererseits braucht aber auchkein Anfangsverdacht f�r eine objektive Steuerverk�rzung im strafprozessualen Sinne (§ 152 IIStPO) vorzuliegen. Vielmehr gen�gt es, dass nach den allgemeinen Erfahrungen der Finanzbe-h�rde Anhaltspunkte daf�r bestehen, dass m�glicherweise eine Steuerschuld entstanden ist22. DieFinanzbeh�rden sind damit weder verpflichtet noch berechtigt, den Sachverhalt auf alle m�gli-chen Ausnahmen hin zu erforschen, wenn keine hinreichenden Anhaltspunkte daf�r vorliegen.

Die Finanzbeh�rde genießt hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung der Sachaufkl�rung einVerfahrensermessen mit einem gewissen Gestaltungsspielraum. Der Steuervollzug ist undbleibt die Dom�ne der Exekutive. Allerdings darf sie ihren Gesetzesvollzugsauftrag (Rz. 1 ff.)nicht vernachl�ssigen. Deshalb korreliert mit dem �bermaßverbot ein Untermaßverbot23. DasUntermaßverbot setzt der finanzbeh�rdlichen Zur�ckhaltung im Interesse der Solidargemein-schaft der Steuerzahler (Rz. 2) eine Untergrenze, w�hrend umgekehrt das �bermaßverbot demadministrativen Eingriff in Freiheitsgrundrechte eine Obergrenze setzt. Die Finanzbeh�rde ver-letzt ihre Sachaufkl�rungspflicht (Untermaßverbot), wenn sie Tatsachen oder Beweismittelnnicht nachgeht, die sich ihr in Anbetracht der Umst�nde des Einzelfalls aufdr�ngen mussten(Formel des „Sich-Aufdr�ngens“)24, etwa weil sich einschl�gige Hinweise aus den Akten ergeben.

III. Recht auf Informationsteilhabe, Grundsatz rechtlichen Geh�rs

Den Beteiligten (Rz. 153) trifft in Gestalt der Mitwirkungspflichten nicht nur eine sph�ren-orientierte Mitverantwortung f�r die Sachaufkl�rung (Rz. 4). Der Mitwirkungspflicht entsprichtein Mitwirkungsrecht, d.h. ein Recht auf Informationsteilhabe und -beschaffung, das demBeteiligten als Verfahrenssubjekt im konkreten Verwaltungsrechtsverh�ltnis zur Finanzbeh�rde

Recht auf Informationsteilhabe, Grundsatz rechtlichen Geh�rs Rz. 8–9 § 21

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19 Gegen die These von der ausschließlich dienenden Funktion des Verfahrens ebenfalls R. Eckhoff(Fn. 5), 244 ff.; J. Hoffmann (Fn. 5), 186 ff.; Schwarz/Uterhark, AO, § 88 Rz. 16.

20 Die urspr�ngliche Schutzrichtung des �bermaßverbots beschr�nkte sich auf den Schutz gegen�berdem staatlichen Handeln der Exekutive, s. B. Remmert, Verfassungs- und verwaltungsgeschichtlicheGrundlagen des �bermaßverbotes, Diss. M�nster, Heidelberg 1995.

21 BFH BStBl. 2000, 643, 647 f.; 2002, 495, 497 ff.22 Zu Sammelauskunftsersuchen s. BFH BStBl. 1987, 484 ff.; 1991, 277, 278; 1997, 495, 497 ff.; 2002,

495, 497 ff. (an Kreditinstitute); BStBl. 1988, 359, 361 (an eine Tageszeitung wegen zweier Chiffre-Anzeigen), best�tigt durch BVerfG HFR 1989, 440; BFH BStBl. 2007, 155, 157 f. (Auskunftsersuchenan Verh�tungsmittelhersteller �ber bestimmte Lieferbeziehungen); BFH BStBl. 2007, 365, 367 (Aus-kunftsersuchen an Rechtsanwaltskammer); s. n�her Rz. 198.

23 R. Seer (Fn. 2), 298 f.; A. Funke, A�R Bd. 132 (2007), 168, 203 ff.: subj.-�ffentl. Leistungsanspruch aufein gleichheitsgew�hrleistendes Steuerverfahren; R. Seer, DStJG Bd. 31 (f�r 2008 in Vorbereitung).

24 Vgl. BFH BStBl. 1970, 296; 1986, 241; 1988, 482; 1993, 806.

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§ 22 Rechtsschutz in Steuersachen

Literatur : FS 75 Jahre RFH/BFH, Bonn 1993; K. Tipke, StRO III, § 31; C. Trzaskalik (Hrsg.), DerRechtsschutz in Steuersachen, DStJG 18 (1995); R. Seer, Defizite im finanzgerichtlichen Rechtsschutz,StuW 2001, 3; Harenberg/Kanzler, Grundz�ge des finanzgerichtlichen Verfahrens, SteuerStud 2002,544 (Teil I), 586 (Teil II), 666 (Teil III), SteuerStud 2003, 14 (Teil IV), 101 (Teil V); R. Seer, Rechts-mittel und Rechtsschutz nach der FGO-Reform, StuW 2003, 193; K. Tipke, Zwischen materiellemSteuerrecht und Steuerverfahrensrecht, StuW 2004, 3; Sauer/Schwarz, Handbuch des finanzgerichtli-chen Verfahrens – Vorverfahren – Klageerhebung – Prozess – Revision – Kosten[6], Berlin 2006;L. Jesse, Einspruch und Klage im Steuerrecht[3], M�nchen 2008; Kommentare zur FGO.

Zur historischen Entwicklung W. J�ger, Die Entwicklung des Rechtsmittelverfahrens vom 18. Jahr-hundert bis zum Erlass der Finanzgerichtsordnung v. 6.10.1965, Diss., Marburg 1974; P. Hoffmann-F�lkersamb, Geschichte und Perspektiven des Rechtsbehelfsverfahrens auf dem Gebiet des Steuer-rechts in Deutschland, Diss., Frankfurt/M. u.a. 1991;W. Schulze u. J. H. Kumpf, in: FS 75 Jahre RFH/BFH, Bonn 1993, 3 ff., 23 ff.; J. H. Kumpf, Der Reichsfinanzhof 1933–1945, StuW 1994, 15; R. Voß,Steuern im Dritten Reich – Vom Recht zum Unrecht unter der Herrschaft des Nationalsozialismus,M�nchen 1995, 183 ff.; R. Sunder-Plassmann, HHSp, FGO, Einf.

Zur Rechtslage in �sterreich: 16. �sterreichischer Juristentag 2006 zum Rechtsschutz im Steuerrechtmit Gutachten v. M. Tanzer (Wien 2006) und Referaten v. K. H�finger, M. Moloubek, T. Keppert,C. Lenneis u. R. Seer.

A. �berblick �ber das Rechtsschutzsystem

I. Der Justizgew�hrleistungsanspruch des Art. 19 IV GG

Nach Art. 19 IV GG kann jeder, der durch die �ffentliche Gewalt in seinen Rechten verletztwird, den Rechtsweg (= Gerichtsweg) beschreiten. Art. 19 IV GG enth�lt damit eine System-entscheidung zu Gunsten des Individualrechtsschutzes1. Ein gerichtliches Verfahren ist unterArt. 19 IV GG daher kein verl�ngertes Ermittlungs- und Veranlagungsverfahren2 mehr, indem die Klage des Betroffenen lediglich die objektive Rechtm�ßigkeits�berpr�fung des staat-lichen Handelns anst�ßt. Vielmehr bildet nach Art. 19 IV GG allein die vom Kl�ger ger�gteRechtsverletzung den Gegenstand der Klage und limitiert damit zugleich das gerichtliche Streit-programm (dazu Rz. 162).

Der Gerichtsschutz ist nicht bloß ein Additum, das zum materiellen Grundrecht des Stpfl.hinzutritt, sondern ist Teil des subjektiv-rechtlichen Grundrechtsschutzes selbst3. Art. 19 IV GGgarantiert deshalb nicht bloß den Zugang zum Gericht, sondern auch wirksamen (effektiven)Rechtsschutz4. Wirksamer (effektiver) Rechtsschutz bedeutet Rechtsschutz innerhalb angemes-sener Zeit5. Das Gebot effektiven Rechtsschutzes erfordert deshalb die M�glichkeit eines vor-l�ufigen Rechtsschutzes (Rz. 210 ff.)6.

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1 Zur Bedeutung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG s. etwa BVerfGE107, 395, 401 (Plenarbeschluss); ausf. N. Voßen, Die Rspr. des BVerfG zur Rechtsweggarantie desArt. 19 IV GG, den Verfahrensgarantien nach Art. 101 I 2, 103 I GG und zum Prozessrecht der Fach-gerichte, Diss., Frankfurt a.M. 2002; zum Individualrechtsschutz in der Finanzgerichtsbarkeit R. Voß,in: FS f�r K. Tipke, K�ln 1995, 165 ff.

2 So der Charakter des sog. Berufungsverfahrens nach der RAO 1919/1931; rechtsvergleichend zwischenDeutschland u. �sterreich s. R. Seer, Referat 16. �JT 2006, 103 ff.

3 R. Seer, StuW 2001, 3.4 St. Rspr., s. BVerfGE 35, 263, 274; 94, 166, 226; 97, 298, 315.5 BVerfGE 40, 237, 257; 55, 349, 369; BVerfG HFR 1993, 37; 1995, 530; P. Kirchhof, DStZ 1989, 55, 58;N. Lemaire, DStJG 18 (1995), 17, 34 f.; zur Inhaltsbestimmung der Effektivit�t des Rechtsschutzess. N. Lemaire, Der vorl�ufige Rechtsschutz im Steuerrecht, Diss., Aachen 1997, 10 ff.

6 W.-R. Schenke, JZ 1988, 317, 324 f.; Tipke/Kruse/Seer, FGO, § 69 Tz. 1 ff.

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Die Realisierung effektiven Rechtsschutzes fordert eine �berschaubare Verfahrensdauer. Die durch-schnittliche Verfahrensdauer bis zu einer Sachentscheidung betrug im Jahre 2004 bei den Finanzge-richten 17 Monate7 und beim BFH im Jahre 2006 ebenfalls weitere ca. 21 Monate8. Unter Ber�ck-sichtigung der Dauer des obligatorischen außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens (Rz. 9 ff.) k�n-nen im Einzelfall aber durchaus acht bis zehn Jahre vergehen, bis ein finanzgerichtliches Verfahrenletztinstanzlich abgeschlossen ist.

Nach der Rspr. f�hrt eine �berlange Verfahrensdauer jedoch grds. nicht zur Verfassungs- undRechtswidrigkeit des angefochtenen Steuerbescheides und steht einer gerichtlichen Entscheidung nichtentgegen9. Zwar hat der EGMR der Anwendung von Art. 6 I EMRK eine Absage erteilt, da sichdiese Vorschrift nur auf zivil- und strafprozessualen Rechtsschutz bezieht10. Jedoch kann Art. 6EMRK als eine Vorschrift verstanden werden, die einen europ�ischen Rechtsschutzmindeststandardund damit zugleich einen allgemeinen Rechtsgrundsatz normiert11. Weder der Bedeutung des Art. 19IV GG noch der des Art. 6 EMRK wird gerecht, wer eine Verfahrensdauer von zehn Jahren und mehrtoleriert. Vielmehr besteht ein Folgenbeseitigungsanspruch, wonach ein erlittener Verz�gerungs-schaden wenigstens monet�r auszugleichen ist (zur Verzinsungspflicht nach §§ 233a ff. AO s. § 21Rz. 347 ff.)12. Zudem kann sich die �berlange Verfahrensdauer Beweismaß reduzierend zu Gunstendes Kl�gers auswirken13.

Der �berlangen Verfahrensdauer versucht die Gesetzgebung durch Verfahrensbeschleunigungsno-vellen (s. etwa FGO-�nderungsgesetz v. 21.12.1992, BGBl. I 1992, 2109) zu begegnen. Bei aller Sym-pathie f�r Verfahrensbeschleunigung muss aber verhindert werden, dass sie zur Beschr�nkung desRechtsschutzes f�hrt. Denn ein „kurzer Prozess“ ist ebenso rechtsstaatswidrig wie eine �berlangeVerfahrensdauer (s. auch Rz. 69, 231)14.

II. Die verschiedenen Rechtswege

Es gibt keinen einheitlichen Rechts- (= Gerichts-)weg, sondern verschiedene Rechtswege mit inverschiedenen Prozessordnungen geregelten Verfahren. Zum Schutz gegen beh�rdliche Eingrif-fe sind Verwaltungsgerichte eingesetzt. In Steuersachen sind die Finanzgerichte als besondereVerwaltungsgerichte zur Entscheidung berufen (sog. Finanzrechtsweg, s. § 33 I FGO)15. Der

§ 22 Rz. 3–6 § 22 Rechtsschutz in Steuersachen

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7 Gesch�ftsbericht der Finanzgerichte in der BundesrepublikDeutschland 2003/2004, EFG 2006, 942, 944.8 Vgl. Jahresbericht des BFH f�r 2006, 18: f�r Revisionen mit Sachentscheidungen. Die durchschnitt-liche Erledigungsdauer s�mtlicher Verfahren (einschließlich der Nichtzulassungsbeschwerden) lagdagegen nur bei 10 Monaten.

9 BFH BStBl. 1992, 148, 149 ff.; 1996, 232, 235; 1996, 518, 522; 1997, 348, 350; 1999, 407, 410. Zwar hatdas BVerfG zu den Rechtsfolgen einer �berlangen Verfahrensdauer nicht ausdr�cklich Stellung ge-nommen, s. BVerfG HFR 1986, 317; DB 1987, 1722; DB 1992, 1224; HFR 1993, 37 f. Gegen dieRspr. des BFH gerichtete Verfassungsbeschwerden hat es aber mehrfach bereits im Annahmeverfah-ren (Rz. 276 ff.) nicht zur Entscheidung angenommen.

10 EGMR NJW 2002, 3453 (Ferrazzini); EGMR EuGRZ 2005, 234, 238 (Emesa Sugar); BFH BStBl.1992, 148, 150; 1996, 232, 235; 1996, 518, 522; BFH/NV 1999, 655; s. auch M. M�ssner, StuW 1991,224, 226 f.; a.A. R. Bezgovsek, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und das steuerrechtliche Verfahren, Diss. Z�rich2002, 204 ff., 237 ff.

11 M. Brenner, Allgemeine Prinzipien des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes in Europa, Die Ver-waltung, Bd. 31 (1998), 1, 10. Deshalb wenden E. St�cker, DStZ 1989, 367, 376 ff.; N. Lemaire (Fn. 5),81 ff., B. Sangmeister, NJW 1998, 2952, Art. 6 EMRK richtigerweise auch auf den finanzgerichtlichenRechtsschutz an; zur�ckhaltender (differenzierend) H. Hahn, DStZ 2001, 501, 505 ff.

12 S. auch P. Kirchhof, DStJG 18 (1995), 17, 35 f.; H. List, DB 2005, 571.13 BFH BStBl. 1999, 407, 411; FG K�ln EFG 1999, 484, bei zwischenzeitlich verstorbenen Zeugen.14 P. Kirchhof, DStZ 1989, 55.15 Auf Initiative der Justizminister der L�nder hat der BR den Gesetzentwurf eines sog. Zusammenf�h-

rungsgesetzes in der 16. Legislaturperiode erneut in den Bundestag eingebracht (BT-Drucks. 16/1040v. 23.3.2006, zuvor bereits BT-Drucks. 15/4108 u. 4109 v. 3.11.2004). Das bislang noch nicht ver-abschiedete Gesetz soll es den L�ndern erm�glichen, die drei Verwaltungsgerichte (Verwaltungs-,Sozial-, Finanzgerichte) zu einem einheitlichen „Oberfachgericht“ zusammenzuf�hren. Gleichzeitigsoll in Art. 92 II GG eine entsprechende �ffnungsklausel eingef�hrt werden (BT-Drucks. 16/1034 v.23.3.2006). Zumindest f�r die spezialisierte, zweistufige Finanzgerichtsbarkeit macht diese Maßnahmejedoch weder aus Rechtschutzsicht noch aus Kostenersparnisgr�nden Sinn, s. I. Ebling, in J. Brandt

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allgemeine Verwaltungsrechtsweg (§ 40 VwGO) ist nur in Kommunalabgabenangelegenheiteneinschl�gig. Die ordentliche Gerichtsbarkeit ist zust�ndig f�r Steuerstrafverfahren (§ 24 Rz. 11)und nach Art. 34 GG i.V.m. § 839 BGB f�r Zivilrechtsklagen wegen Amtspflichtverletzungendurch Finanzbeh�rden in Steuersachen (s. Rz. 51).

Einstweilen frei.

B. Außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren

Literatur : Kommentare zu §§ 347–367 AO; G. Heyne, Das Vorverfahren nach der VwGO, derFGO und dem SGG, Diss., W�rzburg 1974; N. Stolterfoht, DStJG 18 (1995), 77 ff.

I. Zweck und Rechtsnatur des Rechtsbehelfsverfahrens

Das Steuerrecht ist Massenfallrecht. Die einzelnen F�lle k�nnen von den Finanzbeh�rdendurchweg nicht so intensiv wie von den Gerichten gepr�ft werden. Der Prozentsatz unrichtigerEntscheidungen ist daher relativ hoch. Damit die Finanzgerichte nicht mit Klagen �ber-schwemmt werden16, wird der Steuerverwaltung in einem außergerichtlichen (ordentlichen)Rechtsbehelfsverfahren die Gelegenheit gegeben, die F�lle nochmals zu �berpr�fen. Das f�rm-liche außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren in Steuersachen ist in §§ 347 ff. AO als legesspeciales zum Widerspruchsverfahren der VwGO geregelt. Es besitzt den Charakter eines (ver-l�ngerten) Verwaltungsverfahrens und ist dem gerichtlichen Verfahren obligatorisch vorge-schaltet (sog. Vorverfahren, §§ 44–46 FGO). Als Verwaltungsverfahren dient das außergericht-liche Rechtsbehelfsverfahren – im Gegensatz zum gerichtlichen Verfahren (Rz. 1 ff.) – nichtallein dem Individualrechtsschutz des Rechtsbehelfsf�hrers17, sondern mehreren Zwecken:(1) dem Rechtsschutz des Rechtsbehelfsf�hrers. Der Betroffene allein kann das Rechtsbehelfsverfah-

ren in Gang setzen und durch R�cknahme (§ 362 AO) wieder beenden;

(2) der Selbstkontrolle der Verwaltung. Die Finanzbeh�rde �berpr�ft die Sache in vollem Umfang(§ 367 II 1 AO) und kann den Bescheid im Falle des Einspruchs sogar verb�sern (§ 367 II 2 AO,dazu Rz. 47);

(3) der Entlastung der Finanzgerichte. Das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren besitzt einesog. Filterfunktion, die sich rechtstats�chlich durch die Statistiken best�tigt. So f�hrten im Jahre2004 von den ca. 3,5 Mio. eingelegten Einspr�chen gerade einmal ca. 2 v.H. zu Klagen18.

Auf Grund seiner Rechtsnatur als ein Verwaltungsverfahren weist das außergerichtliche Rechts-behelfsverfahren im Vergleich zum gerichtlichen Verfahren erhebliche Unterschiede auf. Diezur Entscheidung �ber den Rechtsbehelf befugte Finanzbeh�rde ist im Gegensatz zu denGerichten an Verwaltungsvorschriften (Richtlinien, BdF-Schreiben, Erlasse, OFD-Verf�gun-gen) gebunden. Anders als im Gerichtsverfahren beschr�nkt sich der Verfahrensgegenstandnicht auf den außergerichtlichen Rechtsbehelfsantrag, sondern es erfolgt eine volle �berpr�fung

Außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren Rz. 6–10 § 22

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(Hrsg.), F�r eine bessere Steuerrechtskultur, Stuttgart 2004, 20 ff.; Wissenschaftlicher Beirat Ernst &Young AG, BB 2004, 1825; Tipke/Kruse, FGO, Einl. Tz. 67; R. R�sken, in: FS f�r K. Korn, Bonn2005, 639, 643 f.; K. Redeker, NJW 2004, 496, der aber immerhin f�r eine einheitliche Verwaltungs-prozessordnung pl�diert (dazu ausf. C. D. Hermanns, Einheit der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Diss.,Osnabr�ck 2002, 61 ff.).

16 Nach der Einspruchsstatistik des BMF (Referat IV D 2) wurden im Jahre 2006 ca. 5,9 Mio. Ein-spr�che bei den Finanz�mtern eingelegt (im Jahr 2005 waren es noch ca. 4,5 Mio. und im Jahr 2004noch ca. 3,5 Mio.). Damit hat sich die Zahl der Einspr�che innerhalb von 2 Jahren um ca. 66 v.H.erh�ht! Dies spiegelt sowohl den schlechten Zustand der Steuergesetzgebung als auch die �berlas-tung der Finanzverwaltung wider.

17 N. Stolterfoht, DStJG 18 (1995), 77, 85 ff., negiert sogar eine Rechtsschutzfunktion des außergericht-lichen Rechtsbehelfsverfahrens.

18 Vergleich der Einspruchsstatistik des BMF mit der Eingangszahl (ca. 73 000 p.a.) lt. Gesch�ftsberichtder Finanzgerichte 2003/2004, EFG 2006, 942, 943.

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des Steuerfalles. Der Einspruch besitzt eine bloße Anstoßfunktion19. Es ist deshalb grds. nichtm�glich, einen Steuerverwaltungsakt teilweise anzufechten, um so eine Teil-Bestandskraft zuerreichen20. Vielmehr wird auf Grund des Einspruchs der Eintritt der Bestandskraft in vollemUmfang gehemmt (zur M�glichkeit einer Teil-Einspruchsentscheidung s. Rz. 47).

Der Einspruch (§ 347 AO) l�st keinen Devolutiveffekt aus: Die Ausgangsbeh�rde entscheidetstets selbst �ber den Rechtsbehelf (zu den Motiven s. BT-Drucks. 12/7427). Unter dem Aspekteines funktionsf�higen außergerichtlichen Rechtsschutzes erscheint es aber nicht unbedenklich,wenn die Ausgangsbeh�rde ihre eigenen Entscheidungen �berpr�ft21. Um eine unvoreingenom-mene, objektive �berpr�fung der Sach- und Rechtslage zu gew�hrleisten, sollten wenigstensinnerbeh�rdlich sog. Rechtsbehelfsstellen, die organisatorisch und personell von den �brigenFinanzamtsstellen getrennt sind, �ber den Einspruch entscheiden22.

II. Durchf�hrung des Rechtsbehelfsverfahrens

1. Zul�ssigkeitsvoraussetzungen

Nach § 358 S. 1 AO hat die zur Entscheidung �ber den Rechtsbehelf berufene Finanzbeh�rdezun�chst zu pr�fen, ob der Einspruch zul�ssig ist. Ankn�pfend an das Prozessrecht darf sich dieFinanzbeh�rde daher nur dann mit der Sache selbst befassen, wenn die Zul�ssigkeitsvoraus-setzungen (Sachentscheidungsvoraussetzungen) vorliegen23. Mangelt es an einer Sachentschei-dungsvoraussetzung, so ist der Einspruch als unzul�ssig zu verwerfen (§ 358 S. 2 AO). Deshalbist in diesem Fall auch eine Verb�serung (§ 367 II 2 AO) ausgeschlossen. Da die Zul�ssigkeits-voraussetzungen des Einspruchs im Wesentlichen mit denen f�r eine finanzgerichtliche Klageidentisch sind, wird auf die Darstellung der Rz. 89 ff. verwiesen. Zur Vermeidung von Wieder-holungen sollen an dieser Stelle nur etwaige Unterschiede aufgezeigt werden:

(1) Zul�ssigkeit des Finanzverwaltungsweges (§ 347 AO). § 347 AO entspricht § 33 FGO, s. daherRz. 92 ff.;

(2) Statthaftigkeit des eingelegten Einspruchs (§§ 347 I, 348 AO). Die Statthaftigkeit gibt dar�berAuskunft, in welchen Angelegenheiten ein außergerichtliches Rechtsbehelfsverfahren �berhauptstattfindet. Voraussetzung ist nach § 347 I 1 AO, dass ein Verwaltungsakt angefochten wird24.Dem stellt § 347 I 2 AO gleich, dass die Finanzbeh�rde �ber einen vom Einspruchsf�hrer bean-tragten Erlass eines Verwaltungsakts ohne Mitteilung eines zureichenden Grundes binnen ange-messener Frist sachlich nicht entschieden hat (sog. Unt�tigkeitseinspruch, zu den Tatbestands-merkmalen s. Rz. 106 ff. f�r die sog. Unt�tigkeitsklage). In § 348 AO z�hlt das Gesetz ausdr�ck-lich F�lle auf, in denen ein Einspruch unstatthaft ist. § 348 Nr. 1 AO stellt klar, dass gegen dieEinspruchsentscheidung nicht erneut Einspruch erhoben und damit das Vorverfahren nicht adinfinitum verl�ngert werden kann25. Nach Abschluss des Einspruchsverfahrens kommt vielmehr

§ 22 Rz. 10–14 § 22 Rechtsschutz in Steuersachen

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19 N. Stolterfoht, DStJG 18 (1995), 77, 88 f.20 Zu Ausnahmef�llen (z.B. §§ 354 Ia, 362 Ia AO) s. A. v. Wedelst�dt, Teilanfechtung und ihre Folgen,

DB 1997, 696.21 Ebenfalls krit. G. R�ßler, DStZ 1995, 270.22 In den meisten Bundesl�ndern existieren innerhalb der Finanz�mter spezielle Rechtsbehelfsstellen, die

f�r die Bearbeitung der Einspr�che zust�ndig sind (Ausnahme z.B. Hessen). Sie haben �ber denEinspruch zu entscheiden, wenn der Sachbearbeiter bzw. Sachgebietsleiter, der den Bescheid erlassenhat, dem Einspruch nicht abhilft.

23 BFH BStBl. 1990, 561, 564; Tipke/Kruse, AO, § 358 Tz. 1.24 Ein auf Rechtsschutz gegen einen Steuerbescheid gerichtetes Schreiben des steuerlichen Beraters ist

im Zweifel als Einspruch auszulegen, BFH/NV 2003, 585, 586 (s. auch BFH/NV 2003, 1142, 1143:zur Alternative eines schlichten �nderungsantrages i.S.d. § 172 I 1 Nr. 2a AO, dazu § 21 Rz. 400).Ebenso ist eine innerhalb der Einspruchsfrist eingehende Steuererkl�rung als Einspruch gegen denzuvor ergangenen Sch�tzungsbescheid zu werten, BFH BStBl. 2003, 505, 506 f.

25 BFH BStBl. 2007, 736, 737, wendet § 348 Nr. 1 AO aber nicht auf einen nicht als Einspruchsent-scheidung ergangenen Vollabhilfebescheid (�nderungsbescheid i.S.d. § 172 I 1 Nr. 2a AO, s. Rz. 48)an. Gegen den Vollabhilfebescheid kann der Betroffene also erneut Einspruch einlegen und weitergehende Einwendungen geltend machen.

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nur das Klageverfahren in Betracht (s. § 44 I FGO). Dies gilt gegenst�ndlich beschr�nkt auch f�reine Teil-Einspruchsentscheidung i.S.d. § 367 IIa AO (dazu Rz. 47)26 und nach § 348 Nr. 6 AO f�rAllgemeinverf�gungen i.S.d.r §§ 172 III, 367 IIb AO (dazu Rz. 49). Ebenso ist ein (weiterer) Ein-spruch nach § 348 Nr. 2 AO unstatthaft, wenn die Entscheidung �ber den Einspruch ausbleibt. Indiesem Fall muss der Einspruchsf�hrer mit der Unt�tigkeitsklage nach § 46 FGO vorgehen(Rz. 106 ff.). Ausgeschlossen ist der Einspruch ferner nach § 361 V AO gegen die Ablehnung einesAntrages auf Aussetzung der Vollziehung (Rz. 26 ff.) und nach § 363 III AO gegen die Ablehnungeines Antrages auf Aussetzung bzw. Ruhen des Verfahrens (Rz. 44 ff.). Der Einspruchsf�hrer kannden vorl�ufigen Rechtsschutz nach § 69 III, V 3 FGO nur vor dem Finanzgericht weiterverfolgen(Rz. 210 ff.). Ebenso vermag er die Rechtswidrigkeit der Ablehnung seines Antrages nach § 363 AOnur durch eine Klage gegen die Einspruchsentscheidung �berpr�fen zu lassen;

(3) Einspruchsbefugnis (§§ 350–353 AO). Zur Einlegung des Einspruchs ist befugt, wer geltendmacht, durch einen Verwaltungsakt (die Ablehnung eines Verwaltungsakts ist selbst Verwaltungs-akt) oder dessen Unterlassung (s. § 347 I 2 AO) beschwert zu sein (§ 350 AO). Die Beschwer geht�ber die Rechtsverletzung i.S.d. § 40 II FGO insoweit hinaus, als sie auch die R�ge fehlerhafterAnwendung einer Verwaltungsvorschrift und unzweckm�ßiger Ermessensaus�bung umfasst.§ 351 I AO stellt klar, dass ein �nderungsbescheid nur insoweit beschwert, als die �nderungreicht27. Dementsprechend k�nnen Entscheidungen eines Grundlagenbescheides (§ 21 Rz. 83)nicht durch Anfechtung des Folgebescheides angegriffen werden (§ 351 II AO). Die §§ 350–352AO korrespondieren mit §§ 40 II, 42, 48 FGO, s. Rz. 114 ff. Bei dinglich wirkenden Verwaltungs-akten i.S.d. § 182 II AO (z.B. Einheitswertbescheid, Grundsteuer-Messbescheid; § 21 Rz. 122,130) l�uft die Rechtsbehelfsfrist (Rz. 20) auch gegen�ber einem Rechtsnachfolger. Nach Fristab-lauf verliert er deshalb seine Einspruchsbefugnis (s. § 353 AO). Die Einspruchsbefugnis bei ein-heitlicher Feststellung (§ 352 AO) entspricht der Klagebefugnis nach § 48 FGO, dazu Rz. 130 ff.

(4) Beteiligtenf�higkeit. Beteiligter eines Rechtsbehelfsverfahrens kann nur sein, wer auch steuer-rechtsf�hig ist (§ 6 Rz. 11 ff.);

(5) Handlungsf�higkeit (§ 365 I AO i.V.m. § 79 AO). Der Beschwerte muss auch zur Vornahme vonVerfahrenshandlungen f�hig sein, § 21 Rz. 156 ff.;

(6) Bei Einlegung des Einspruchs durch einen Angeh�rigen der steuerberatenden Berufe: Vorliegeneiner Vollmacht (§ 365 I AO i.V.m. § 80 AO, s. § 21 Rz. 161 ff.);

(7) Kein Rechtsbehelfsverzicht (s. § 354 I 3 AO). § 354 AO entspricht § 50 FGO, s. Rz. 153;

(8) Wahrung der Einspruchsfrist (s. § 358 S. 1 AO). Sie betr�gt grds. einen Monat (§ 355 I AO). DerUnt�tigkeitseinspruch (§ 347 I 2 AO) ist unbefristet (§ 355 II AO). Die Frist beginnt nach § 355 IAO grds. mit Bekanntgabe des Verwaltungsakts (§ 122 AO, dazu § 21 Rz. 61 ff.). Zur Fristberech-nung s. § 108 AO. Handelt es sich um einen schriftlichen Verwaltungsakt, l�uft die Frist nicht,solange nicht eine zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung erfolgt ist (§ 356 I AO); es gilt dann abereine H�chstfrist von einem Jahr (§ 356 II AO). F�r m�ndliche Verwaltungsakte bleibt es dagegenbei der Regelung des § 355 I AO. Ebenso wenig bedarf es einer Rechtsbehelfsbelehrung bei einerSelbstveranlagung durch Steueranmeldung, die nach § 168 S. 1 AO wie eine Steuerfestsetzungunter dem Vorbehalt der Nachpr�fung (§ 164 AO) wirkt (§ 21 Rz. 284)28. Die Einspruchsfrist istnur dann gewahrt, wenn der Einspruch fristgem�ß bei der richtigen Beh�rde eingeht (dazu § 357II AO). Bei Fristvers�umnis kann die Unzul�ssigkeit des Rechtsbehelfs nur dadurch verhindertwerden, dass (auf Antrag) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) gew�hrt wird29.Dabei sind §§ 126 III, 356 II AO zu beachten. Ist der Einspruch wegen Fristvers�umnis unzul�s-sig, muss gepr�ft werden, ob eine Korrektur des Verwaltungsakts nach §§ 130 ff., 172 ff. AO(s. § 21 Rz. 381 ff.) in Betracht kommt. Die Korrektur kann vom Stpfl. angeregt werden;

(9) Wahrung der Einspruchsform (s. § 358 S. 1 AO). Der Einspruch ist schriftlich einzureichen (esgen�gt: Telegramm, Fernschreiben, Telefax oder Telebrief; s. Rz. 147) oder zur Niederschrift zu

Durchf�hrung des Rechtsbehelfsverfahrens Rz. 14–21 § 22

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26 T. L�hn, StB 2007, 292, 294; s. auch AEAO BStBl. I 2008, 26, 209 (Nr. 6.3 zu § 367 AO).27 Beispiele zur Anwendung des § 351 I AO bei D. Kies, DStR 2001, 1555.28 BFH BStBl. 1998, 649; B. Heuermann, DStR 1998, 959, 961; a.A. W. Birkenfeld, HHSp, AO, § 356

Rz. 15.29 BVerfG BStBl. 2002, 835, 836: zur Wiedereinsetzung bei unterlassener Weiterleitung eines eingegan-

genen Einspruchs von der unzust�ndigen an die zust�ndige Finanzbeh�rde; zu rechtsschutzvereiteln-den Kleinlichkeiten bei der Frage der Wiedereinsetzung s. K. Tipke, StuW 2004, 3, 9 ff.

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Siebentes Kapitel:Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitenrecht

Literatur : G. Kohlmann, Steuerstrafrecht mit Ordnungswidrigkeitenrecht und Verfahrensrecht,Kommentar zu den §§ 369–412 AO 1977, K�ln (Loseblatt); HHSp, zu §§ 369–412 AO K�ln (Lose-blatt); Rolletschke/Kemper, Steuerverfehlungen, Kommentar, Neuwied (Loseblatt); G. Kohlmann(Hrsg.), Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, DStJG 6 (1983); U. Hellmann, DasNeben-Strafverfahrensrecht der Abgabenordnung, Habil. Osnabr�ck, K�ln u.a. 1995; v. Briel/Ehl-scheid, Steuerstrafrecht[2], Bonn 2001; E. R�ckl, Das Steuerstrafrecht im Spannungsfeld des Verfas-sungs- und Europarechts, Diss., Berlin 2002; Hirsch/Wolter/Brauns (Hrsg.), FS f�r G. Kohlmann,K�ln 2003; W. Joecks, Steuerstrafrecht[3], K�ln 2003; Flore/D�rn/Gillmeister, Steuerfahndung undSteuerstrafverfahren[3], Neuwied 2003; Lammerding/Hackenbroch, Steuerstrafrecht[8], Achim 2004;Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts[2], M�nchen 2004; W. Wanne-macher (Hrsg.), Steuerstrafrecht[5], Handbuch, Bonn 2004; K. Randt, Der Steuerfahndungsfall, M�n-chen 2004; Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht[6], M�nchen 2005; Quedenfeld/F�llsack, Verteidi-gung in Steuerstrafsachen[3], Heidelberg 2005; K.Webel, Das Steuerstrafrecht – Ein �berblick, Steuer-Stud 2006, Beilage Nr. 3; Simon/Vogelberg, Steuerstrafrecht[2], Stuttgart 2007.

Zur internationalen Rechtsvergleichung: �ber Tax avoidance, Tax evasion und Tax fraud, IFA-Bulletin 83, 441 ff., 451 ff.; Tax avoidance/Tax evasion (Steuervermeidung/Steuerhinterziehung), IFA-Cahiers LXVIIIa (betr. Kongress Venedig); Leitner/Toifl, Steuerstrafrecht International mit 10 L�n-derberichten, Wien 2007.

Spezialzeitschriften: Zeitschrift f�r Wirtschaft, Steuer, Strafrecht (wistra); Praxis Steuerstrafrecht(PStR).

§ 23 Materielles Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrecht

A. �berblick �ber das System des Steuerstraf- und-ordnungswidrigkeitenrechts

I. Rechtfertigung eines Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrechts

Durch die Straf- und Bußgeldvorschriften der AO wird nach h.M. das �ffentliche Interesse amrechtzeitigen und vollst�ndigen Aufkommen der einzelnen Steuern, der staatliche Steuer-anspruch, gesch�tzt1. Jedoch folgt die Strafw�rdigkeit der Steuervergehen nicht nur aus einemUngehorsam gegen�ber dem Staat, sondern auch und gerade aus der damit verbundenen Sch�-digung der ehrlichen Steuerzahler2. Die Stpfl. bilden eine Solidargemeinschaft. F�r den ein-zelnen B�rger bleibt die Steuerpflicht nur ertr�glich, wenn gew�hrleistet ist, dass der Staat diegeschuldeten Steuern ebenso gegen�ber den anderen durchsetzt (§ 21 Rz. 2). Deshalb liegt esauch im Interesse eines jeden ehrlichen Steuerzahlers, dass der Staat alle geeigneten und er-forderlichen Mittel anwendet, damit alle Stpfl. ihren gesetzlichen Lastenanteil tragen. § 370 AOsch�tzt damit zugleich auch eine gerechte und gleichm�ßige Lastenverteilung3.

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1 So zum gesch�tzten Rechtsgut des § 370 AO BGHSt 36, 100, 102; 40, 109; 41, 1, 5; BGH BStBl. 2001,79, 84; Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht[6], Einl. 8 ff., m.w.N.; C. Suhr, Rechtsgut der Steuerhin-terziehung und Steuerverk�rzung im Festsetzungsverfahren, Diss., Frankfurt 1989.

2 So schon § 23 des Preußischen Klassensteuergesetzes v. 6.12.1811, Preuß. Gesetz-Sammlung 1811, 361,367.

3 K. Tipke, Besteuerungsmoral und Steuermoral, Wiesbaden 2000, 97 f.; K. Tipke, in: FS f�r G. Kohl-mann, K�ln 2003, 555, 561 f.; E. R�ckl, Das Steuerstrafrecht im Spannungsfeld des Verfassungs- undEuroparechts, Berlin 2002, 184 ff.; F. Salditt, in: FS f�r K. Tipke, K�ln 1995, 475, 479, der aber abw.die gleichm�ßige Lastenverteilung als Individualrecht f�r das alleinige Rechtsgut des § 370 AO h�lt;ihm folgend W. Bornheim, StuW 1998, 146, 154; Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161, 166.

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Nicht gesch�tzt werden verfassungswidrige Steuern. Zu weitgehend ist es aber, bereits dieHinterziehung „schlicht ungerechter“ Steuern unter Hinweis auf das Rechtsgut aus der Straf-barkeitszone auszuklammern4. Die Meinungen dar�ber, welche Steuern ungerecht sind, gehenweit auseinander. Unter Hinweis auf die vermeintliche Verfassungswidrigkeit der jeweiligenSteuer w�re es f�r Stpfl. ein Leichtes, ihre steuerlichen Pflichten ohne strafrechtliches Risiko zuverletzen. Angesichts des Verwerfungsmonopols des BVerfG (§ 22 Rz. 281) kann die Verfas-sungswidrigkeit eines Steuergesetzes deshalb erst von dem Zeitpunkt an, in dem das BVerfG esauch tats�chlich f�r verfassungswidrig erkl�rt hat, der Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehungentgegenstehen5. Dies ist dann aber nicht nur bei einer Nichtigkeitserkl�rung (§ 22 Rz. 285)anzunehmen, sondern auch bei Unvereinbarkeitserkl�rungen, welche die materielle Verfas-sungswidrigkeit der Norm explizit feststellen und lediglich aus budget�ren Gr�nden ex nunceine befristete Reformpflicht vorsehen (s. § 22 Rz. 286 f.)6.

Die Beschr�nkung der Sichtweise auf die Gef�hrdung des Steueranspruchs des (anonymen) Staatesf�hrt dazu, dass die Steuerhinterziehung als „Kavaliersdelikt“, ja sogar als eine Art von „Sport“angesehen wird. Insoweit �hnelt die Steuerhinterziehung dem Versicherungsbetrug, den die Bev�lke-rung in weiten Kreisen ebenfalls nicht als Sch�digung der Mitversicherten, sondern als ein „cleveresVerhalten“ einsch�tzt. Ein gestiegener Anteil der Bev�lkerung sieht Steuerehrlichkeit als wenig loh-nend an und hegt sogar Mitleid mit denjenigen, die nicht „bei der Steuer mogeln“7. Das Bewusststeindaf�r, dass ein Steuerhinterzieher die Gemeinschaft und damit zugleich andere (ehrliche) Steuerzahlersch�digt, ist geschwunden. Leider ist das derzeit geltende Steuerrecht nicht dazu angetan, hier eineBewusstseins�nderung hervorzurufen. Solange Steuerb�rger den Eindruck erhalten, in unserem realexistierenden Steuerstaat gehe es nur um den Versuch jeder Gruppe, anderen Gruppen m�glichst „vielaus der Tasche zu ziehen“, wird sich bei ihnen keine Steuermoral einstellen k�nnen8.

Die wesentliche Rechtfertigung der Strafe ist die Herstellung eines Schuldausgleichs untergleichzeitiger Ber�cksichtigung spezial- und generalpr�ventiver Gesichtspunkte9. Das Steuer-

§ 23 Rz. 2–4 § 23 Materielles Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrecht

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4 So aber f. Salditt (Fn. 3), 480 ff.; dagegen zutr. E. R�ckl (Fn. 3), 192 f.5 BGH DStR 2008, 144; G. Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rn. 1476; abw. allerdings Kohlmann/Hilgers-Klautzsch, wistra 1998, 161, 165 ff.

6 A.A. aber BGH BStBl. II 2002, 259, 260 f.; BFH BStBl. 2000, 378 (Hinterziehungszinsen auf VSt);BFH BStBl. 2001, 16, 19 (Hinterziehungszinsen auf ESt bzgl. Zinseink�nften); OLG Frankfurt a.M.,wistra 2000, 154; Rolletschke/Kemper, AO, § 370 Rz. 17; Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht[6], AO,§ 369 Rz. 29b; J. Lang, StuW 2003, 289, 295; zum Streitstand ausf. E. R�ckl (Fn. 3), 186 ff.; G. Kohl-mann, Steuerstrafrecht, AO, § 370 Rz. 1476; wie hier K. Tipke, in: FS f�r G. Kohlmann, K�ln 2003,555, 574 ff.; s. auch M. Nolte, Die Hinterziehung verfassungswidriger und „verfassungswidrig“ ge-nannter Steuern, Diss., Bochum, Holzkirchen/Obb. 2005, 107 ff. (Anwendung der § 2 III, IV StGB).Die Strafbarkeit h�ngt nach der h.M. von eher zuf�lligen Entscheidungen ab (z.B. BVerfGE 93, 121:Unvereinbarkeitserkl�rung bei der VSt einerseits; BVerfGE 110, 94: Nichtigkeitsfeststellung bei derBesteuerung von Spekulationsgewinnen andererseits). Ebenso wird pl�tzlich steuerstrafrechtlich rele-vant, welche Veranlagungszeitr�ume vom BVerfG behandelt worden sind, s. Spatscheck/Wulf, PStR2004, 131; R. Seer, in: GS f�r C. Trzaskalik, K�ln 2005, 457 ff., mit dem Beispiel der Steuerhinterzie-hung bei Spekulationsgewinnen (BVerfG, a.a.O. hatte nur �ber die Veranlagungszeitr�ume 1997, 1998entschieden); dagegen vorschnell und ohne Problembewusstsein BayOblG, wistra 2003, 315, 316(Strafbarkeit sogar im Veranlagungszeitraum 1997; insoweit aufgehoben durch BVerfG, BFH/NV2007, 256, 258).

7 Nach der Erhebung der Forschungsstelle f�r empirische Sozial�konomik zur „Steuermentalit�t undSteuermoral der bundesdeutschen Bev�lkerung und deren Einstellung zur Steuerreform 1999“, K�ln1999, 23 ff., ist dieser Anteil von 37 v.H. (1990) auf 46 v.H. (1999) angestiegen! S. auch K�rner/Strot-mann (Institut f�r Angewandte Wirtschaftsforschung), BMF-Monatsbericht 3/2005 (ausf. Studie).

8 Zur Interdependenz zwischen Steuermoral und Besteuerungsmoral (= Steuermoral des Staates) und derAkzeptanz des derzeitigen Steuerrechts s. K. Tipke, StRO III, 1408; K. Tipke, Besteuerungsmoral undSteuermoral (Fn. 3), 80 ff.; außerdem W. Klotz, �ber den Verfall der guten Sitten im Steuerrecht, in: FSf�r f. Klein, K�ln 1994, 289; A. Klein, Steuermoral und Steuerrecht, Diss., Frankfurt a.M. u.a. 1997,4 ff.; R. Scholz, in: FS f�r W. Leisner, Berlin 1999, 797, 800 ff.; E. R�ckl (Fn. 3), 54 ff.; K. Mackscheidt,Am Staat vorbei – Transparenz, Fairness und Partizipation kontra Steuerhinterziehung, Berlin 2004,15; K�rner/Strotmann (Fn. 7), 77 ff.; F. H�gemann, Besteuerung und Steuermoral, 2006, 37 ff.;C. Fuest, Steuerakzeptanz und Steuerwiderstand als Herausforderung in der Steuergesetzgebung,4. Deutscher Finanzgerichtstag, Stuttgart 2007, 87.

9 S. BVerfGE 45, 187, 253 ff.; 105, 135, 175, 185; 110, 1, 18 ff.

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strafverfahren ist dementsprechend ein Individualverfahren, das nach Schuld und Verantwor-tung fragt10. Das Steuerstrafrecht ist deshalb ungeeignet, strukturelle Vollzugsdefizite (s. § 4Rz. 71) auszugleichen und die gebotene Belastungsgleichheit herzustellen11. Auf Grund seinesintensiven Eingriffscharakters bleibt das Mittel der Strafe die ultima ratio im Instrumentariumdes Gesetzgebers (BVerfGE 39, 1, 47). Steuerliches Fehlverhalten im Massenverfahren ist des-halb prim�r nicht durch das daf�r untaugliche Steuerstrafrecht, sondern durch eine effizienteAusgestaltung des hierf�r bestimmten Besteuerungsverfahrens herzustellen. Dazu bedarf eseines auf elektronischem Datenaustausch basierenden Risiko-Managements der Finanzverwal-tung (s. § 21 Rz. 5 ff.). Statt die Strafbarkeitszone – ohne R�cksicht auf Vollzugsf�higkeit –normativ auszudehnen (Rz. 81 ff.), ließe sich die gew�nschte Pr�vention durch ein verschul-densunabh�ngiges Steuerzuschlagsystem erreichen (sog. Entp�nalisierung des Steuerrechts)12.Straftatbest�nde, die mehr oder weniger nur auf dem Papier stehen, diskreditieren das Rechtund untergraben die Steuermoral. Deshalb sollte sich auch das normierte Steuerstrafrecht vonvornherein auf F�lle gewichtiger Kriminalit�t konzentrieren. Wenn sich die Strafverfolgungsbe-h�rden mit deutlich weniger F�llen zu befassen haben, k�nnten sie außerdem von den Finanz-beh�rden auch ressortm�ßig getrennt werden. Dadurch fielen eine Vielzahl der durch dieGemengelage von Besteuerungs- und Steuerstrafverfahren hervorgerufenen Probleme (s. § 24Rz. 3, 13, 38) weg.

II. Unterscheidung zwischen Steuerverfehlungen und allgemeinen Straftatenund Ordnungswidrigkeiten

§§ 369 I, 377 I AO definieren, welche Tatbest�nde Steuerstraftaten und welche Steuerordnungs-widrigkeiten sind. Diese Unterscheidung ist von erheblicher Bedeutung, weil f�r Steuerverfeh-lungen (= Steuerstraftaten und Steuerordnungswidrigkeiten) besondere Verfahrensvorschriftengelten (so sind die Finanzbeh�rden hier f�r die Sachaufkl�rung zust�ndig, s. §§ 385 ff., 409 ff.AO, dazu § 24 Rz. 3, 49). Die §§ 369 I Nr. 1, 377 I AO grenzen als Steuerstraftaten und Steuer-ordnungswidrigkeiten rein formal nach ihrem Standort solche Taten und Zuwiderhandlungenaus, die nach den Steuergesetzen strafbar sind oder mit Geldbuße geahndet werden k�nnen.Steuergesetze sind dabei solche Rechtsnormen, die die Begr�ndung oder Verwirklichung vonSteueranspr�chen i.S.d. § 3 AO regeln, also insb. die AO selbst (§§ 370 ff. AO). Den Kreis derSteuerstraftaten erweitern schließlich § 369 I Nrn. 2–4 AO.

Dar�ber hinaus erkl�ren § 14 III 5. VermBG, § 8 II WoPG die Vorschriften des Steuerstraf- und-ordnungswidrigkeitenrechts f�r entsprechend anwendbar. Das Erschleichen einer Investitions- oderEigenheimzulage f�llt dagegen unter den Tatbestand des Subventionsbetruges (§ 264 StGB)13. § 8InvZulG 1999, § 7 InvZulG 2005, § 14 InvZulG 2007 und § 15 II EigZulG verweisen f�r die Straf-verfolgung insoweit lediglich auf die strafverfahrensrechtlichen Vorschriften der AO.

Der zum 1.1.1994 eingef�hrte Zollkodex enth�lt keine steuerstrafrechtlichen Vorschriften, so dass§§ 369 ff. AO auf gemeinschaftsrechtliche Abgaben weiterhin uneingeschr�nkt anwendbar sind.

Unterscheidung Rz. 4–6 § 23

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10 M. Streck, DStJG 6 (1983), 217, 220.11 H.-J. Papier, Stbg. 1999, 49, 56; K. Tipke, PStR 2000, 143, 145 f.12 R. Seer, StuW 2003, 40, 56 ff.; R. Seer, in: GS f�r C. Trzaskalik, K�ln 2005, 457 ff.; zust. K. Tipke, in:

FS f�r G. Kohlmann, K�ln 2003, 555, 576; zur Vereinbarkeit mit Art. 6 EMRK s. Seer/Krumm, StuW2006, 346, 350 ff.

13 BGH NJW 2007, 2864, 2867, m. Anm. A. Schmitz.

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III. Unterscheidung zwischen Steuerstraftaten und Steuerordnungswidrig-keiten

Je nach Schwere der steuerlichen Pflichtverletzungen sind zu unterscheiden:

Durch die Einstufung einer Steuerverfehlung als (kriminelle) Steuerstraftat wird ein ethisches Un-werturteil gef�llt. Dagegen sollen als Steuerordnungswidrigkeiten ethisch indifferente oder denRechtsg�terschutz nicht wesentlich tangierende Verst�ße gegen allgemeine Ordnungsbelange (alsbloßes Ordnungsunrecht) geahndet werden. In den F�llen der §§ 378–383 AO hat der Gesetzgeberentweder wegen der geringen Bedeutung des zu sch�tzenden Rechtsgutes oder wegen der lediglichabstrakten Gef�hrlichkeit der Tat die Ahndung als Ordnungswidrigkeit f�r ausreichend angesehen.Ob damit die richtige Grenzziehung gefunden worden ist, erscheint zumindest f�r den Tatbestand derleichtfertigen Steuerverk�rzung (§ 378 AO) zweifelhaft. Denn die Unterscheidung zwischen der (kri-minellen) Steuerhinterziehung und der leichtfertigen Steuerverk�rzung erweist sich als nur sehr gra-duell und h�ngt im Wesentlichen davon ab, ob dem T�ter der Vorsatz nachgewiesen werden kann(s. Rz. 43 ff., 92 ff.; zur Idee der Entp�nalisierung des Steuerrechts s. Rz. 4).

Die Unterscheidung zwischen Steuerstraftat und -ordnungswidrigkeit wirkt sich besonders in denRechtsfolgen aus. Die Steuerstraftat kann eine freiheitsentziehende Sanktion in Gestalt der Freiheits-strafe (§ 369 II AO, §§ 38, 39 StGB) nach sich ziehen, die Steuerordnungswidrigkeit dagegen nicht(§ 377 II AO, §§ 17, 18 OWiG). Die Geldbuße wird im Gegensatz zur Strafe nicht in das Bundes-zentralregister eingetragen (s. § 4 Nr. 1 BZRG). Eine Steuerordnungswidrigkeit kann mit einer Geld-buße von h�chstens 50 000 Euro (§§ 378 II, 383 II AO), im Fall der sog. Gef�hrdungstatbest�ndesogar nur von h�chstens 5000 Euro (§§ 379 IV, 381 II, 382 III AO) bzw. 25 000 Euro nach § 380 IIAO geahndet werden14. Dagegen kann eine Steuerstraftat mit einer Geldstrafe von maximal 1 800 000Euro (beim H�chsttagessatz von 360 Tagen, s. § 369 II AO, § 40 I, II StGB, dazu Rz. 71 ff.) belegtwerden15.

§ 23 Rz. 7–9 § 23 Materielles Steuerstraf- und -ordnungswidrigkeitenrecht

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14 Die Geldbuße soll nicht nur die Zuwiderhandlung als solche ahnden, sondern zudem den aus der Tatgezogenen wirtschaftlichen Vorteil absch�pfen. Reicht hierzu das H�chstmaß nicht aus, darf diesesnach § 377 II AO, § 17 IV 2 OWiG �berschritten werden.

15 Da die Geldstrafe einkommensabh�ngig ist (§ 40 II 2 StGB), muss sie aber nicht notwendigerweise�ber der vergleichbaren Geldbuße liegen. Die Absch�pfung eines aus der Tat gezogenen wirtschaft-lichen Vorteils erfolgt dagegen nicht durch die Geldstrafe, sondern durch Anordnung des sog. Ver-falls (§ 369 II AO, § 73 ff. StGB), der nicht repressiv-vergeltende, sondern pr�ventiv-ordnende Ziele

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Leichtfertig verk�rzte Steuern (§ 378 AO) werden im Gegensatz zu vors�tzlich hinterzogenen Steuern(§ 370 AO) nicht nach § 235 AO verzinst (zu den Hinterziehungszinsen, s. § 21 Rz. 355 ff.). Nur derSteuerhinterzieher (§ 370 AO), nicht aber der leichtfertige Steuerverk�rzer (§ 378 AO) haftet nach§ 71 AO (dazu § 7 Rz. 53).

Eine Strafe darf nur ein Gericht verh�ngen16. Zust�ndig sind hierf�r – auch im Falle derSteuerstraftaten – die ordentlichen Strafgerichte (s. § 385 I AO i.V.m. §§ 24, 25, 74, 74c INr. 3 GVG)17. Dagegen liegt die Zust�ndigkeit f�r die Verh�ngung von Geldbußen im Zusam-menhang mit Steuerordnungswidrigkeiten bei den Finanzbeh�rden (§ 409 AO).

Soweit in den Steuergesetzen nicht ausdr�cklich etwas anderes geregelt ist, finden die allgemeinenVorschriften des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts Anwendung (§§ 369 II, 377 II AO). Dieinsoweit geltenden Grunds�tze werden ausf. in den Lehrb�chern und Kommentaren zum allgemeinenStrafrecht erl�utert, s. etwa Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, Allgemeiner Teil[5], Berlin1996; C. Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I[4] u. II M�nchen 2006/2003; Wessels/Beulke, Straf-recht, Allgemeiner Teil[37], Heidelberg 2007.

Einstweilen frei.

B. Die einzelnen Steuerstraftaten

I. Steuerhinterziehung (§ 370 AO)

Literatur : C. Seckel, Die Steuerhinterziehung, L�beck 1978; A. Paufler, Die Steuerhinterziehung,Diss. rer. pol., Stuttgart 1983; G. Dannecker, Steuerhinterziehung im internationalen Wirtschaftsver-kehr, Diss., K�ln 1984; V. Schneider, Die historische Entwicklung des Straftatbestandes der Steuer-hinterziehung, Diss., K�ln 1987; H.-J. L�tt, Das Handlungsunrecht der Steuerhinterziehung, Diss.,Frankfurt a.M. u.a. 1988; C. Suhr, Rechtsgut der Steuerhinterziehung und Steuerverk�rzung im Fest-setzungsverfahren, Diss., Frankfurt/M. u.a. 1989.; R. Pohl, Steuerhinterziehung durch Steuerumge-hung, Diss., Frankfurt a.M. 1990; F. Hardtke, Steuerhinterziehung durch verdeckte Gewinnaussch�t-tung, Diss., Berlin 1995; F. Salditt, Die Hinterziehung ungerechter Steuern, in: FS f�r K. Tipke, K�ln1995, 475; B. Grunst, Steuerhinterziehung durch Unterlassen, Diss., Frankfurt a.M. 1996; R. U. Knist,Kapitalverm�gen und Steuerhinterziehung – Eine rechtsvergleichende Untersuchung unter besondererBer�cksichtigung des Steuer- und Verfahrensrechts in �sterreich, Luxemburg, Deutschland und derSchweiz, Diss., M�nster 1996; Bayer/Reichl, Ein Verhaltensmodell zur Steuerhinterziehung, Berlin1997; J. Hundsd�rfer, Die Steuerhinterziehung und ihre Integration in betriebswirtschaftliche Ent-scheidungsmodelle – Eine Wirkungsanalyse, Diss. rer. pol., K�ln 1998; A. Hoff, Das Handlungsun-recht der Steuerhinterziehung, Diss., Berlin u.a., 1999; O. L�we-Krahl, Steuerhinterziehung bei Bank-gesch�ften[2], Stuttgart (u.a.) 2000; M. Wulf, Handeln und Unterlassen im Steuerstrafrecht, Diss.,Baden-Baden 2001; H. D�rn, Steuerhinterziehung durch Unterlassen, Baden-Baden 2001; J. Lohmar,Steuerstrafrechtliche Risiken typischer Bankgesch�fte, Diss., Berlin 2002; M. Nolte, Hinterziehungverfassungswidriger und „verfassungswidrig“ genannter Steuern, Diss. Bochum, Holzkirchen 2005.

1. Gesch�tztes Rechtsgut und Deliktscharakter

Die Steuerhinterziehung ist das Zentraldelikt des Steuerstrafrechts; die anderen Vorschriftenerg�nzen und vervollst�ndigen den Rechtsgutschutz des § 370 AO. Rechtsgut ist nach h.M. das

Gesch�tztes Rechtsgut und Deliktscharakter Rz. 10–20 § 23

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verfolgt und daher keine dem Schuldgrundsatz unterliegende straf�hnliche Maßnahme darstellt,s. BVerfGE 110, 1, 18 ff. Die dar�ber hinaus zur Bek�mpfung der organisierten Kriminalit�t zus�tz-lich in § 43a StGB 1992 eingef�hrte sog. Verm�gensstrafe war jedoch angesichts des mit ihr verbun-denen intensiven Grundrechtseingriffs zu unbestimmt und daher nichtig, s. BVerfGE 105, 135, 175,184.

16 S. BVerfGE 22, 49, 73 ff., 80 f., wo es das fr�her geltende Strafbescheids- u. Unterwerfungsverfahrender Finanz�mter als verfassungswidrig verwarf.

17 Dies gilt auch f�r das summarische Strafbefehlsverfahren (§§ 407 ff. StPO), in dem die Finanzbeh�r-den aber ein eigenes Antragsrecht nach § 400 Hs. 1 AO besitzen, s. § 24 Rz. 43 ff.

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§ 24 Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitsverfahren

A. Steuerstrafverfahren

Literatur : U. Hellmann, Das Neben-Strafverfahrensrecht der Abgabenordnung, Habil. Osnabr�ck,K�ln u.a. 1995.

Verwaltungsanweisung: Richtlinien f�r das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren v. 1.1.1977i.d. bundeseinheitlich ab dem 1.2.1997 geltenden Fassung, BAnzeiger 1997, Nr. 18 (mit �nderun-gen, s. L. Meyer-Goßner, StPO[50], M�nchen 2007, Anhang 12); Gleichlautende L�ndererlasse v.27.11.2006, BStBl. I 2006, 635 ff.(Anweisung f�r das Straf- und Bußgeldverfahren – AStBV [St] 2006).

I. Einf�hrung

Zwar gelten nach § 385 I AO auch f�r das Steuerstrafverfahren grds. die allgemeinen Regeln desStrafverfahrens, namentlich die Strafprozessordnung (StPO) und das Gerichtsverfassungsgesetz(GVG). Das Steuerstrafverfahren wird aber modifiziert durch die Spezialvorschriften der§§ 385 ff. AO.

II. Ermittlungsverfahren

1. Zust�ndigkeit zur Strafverfolgung

Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren liegt grds. in der Hand der Staatsanwaltschaft alsHerrin des Ermittlungsverfahrens (s. §§ 160, 161 StPO). Dieses Ermittlungsmonopol schr�nkt§ 386 AO f�r das Steuerstrafverfahren ein. Aus Gr�nden der Verfahrens�konomie (s. BT-Drucks. IV/2476, 17 zu Art. 1) tritt die Finanzbeh�rde bei der Verfolgung von Steuerstraftatenals Ermittlungsbeh�rde an die Stelle der Staatsanwaltschaft und nimmt deren Rechte undPflichten im Ermittlungsverfahren wahr (s. §§ 386 I 1, II, 399 I AO). Das Ermittlungsverfahrenwird von der Finanzbeh�rde selbst�ndig und ohne Weisungsgebundenheit gegen�ber derStaatsanwaltschaft durchgef�hrt, wenn die Tat

(1) ausschließlich eine Steuerstraftat (§ 386 II Nr. 1 AO),

(2) ein Kirchensteuer- oder sonstiges Abgabenvergehen, das an Besteuerungsgrundlagen, Steuer-messbetr�ge oder Steuerbetr�ge ankn�pft (§ 386 II Nr. 2 AO), oder

(3) eine der Steuerstraftat gleichgestellte Tat (sog. Analogtat) ist. Hierunter fallen einmal sog. Vor-spiegelungstaten i.S.d. § 385 II AO. Außerdem erkl�ren h�ufig Vorschriften des Subventionsrechtsdie §§ 385 ff. AO f�r entsprechend anwendbar: s. etwa § 96 VII 2 EStG (Altersvorsorgezulage),§ 8 InvZulG 1999, § 7 InvZulG 2005, § 14 InvZulG 2007, § 14 III 2 5. VermBG, § 8 II 2 WoPG,§ 5a II 2 BergPG, § 15 II EigZulG.

Sachlich zust�ndig ist die Finanzbeh�rde, welche die betroffene Steuer verwaltet (§§ 386 I 2, 387 I AO).Das sind die Finanz�mter f�r den Bereich der Besitz- und Verkehrsteuern, die Hauptzoll�mter f�r denBereich der Z�lle, Verbrauchsteuern und Abgaben der EU, das Bundeszentralamt f�r Steuern, soweit ihmnach § 5 I FVG die Verwaltung einer Steuer �bertragen worden ist (s. § 21 Rz. 40), und seit dem 1.1.1996die Familienkasse im Bereich des § 5 I Nr. 11 FVG. Zur �rtlichen Zust�ndigkeit s. §§ 388 ff. AO.

In allen anderen F�llen bleibt die Staatsanwaltschaft f�r das Ermittlungsverfahren funktional alleinzust�ndig:

(1) wenn die Tat nicht ausschließlich eine Steuerstraftat darstellt, sondern zugleich andere Straftatbe-st�nde verletzt (arg. e § 386 II Nr. 1 AO)1,

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1 Nr. 17 AStBV, BStBl. I 2006, 635, 640, verpflichtet daher die Finanzbeh�rde, den Vorgang der Staats-anwaltschaft vorzulegen, wenn die Steuerstrafttat mit einer allgemeinen Straftat (z.B. Urkundenf�l-schung, § 267 StGB) als einheitlicher Lebensvorgang i.S.d. § 264 StPO zusammenf�llt, s. n�her Rol-

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(2) sobald gegen den Beschuldigten ein Haft- oder Unterbringungsbefehl erlassen ist (§ 386 IIIAO).

Die Staatsanwaltschaft bleibt auch f�r die Taten, deren Verfolgung in den Zust�ndigkeitsbereichder Finanzbeh�rde fallen, Herrin des Verfahrens. Denn sie kann die Strafsache jederzeit an sichziehen (§ 386 IV 2 AO, sog. Evokationsrecht). Die Finanzbeh�rde kann die Sache auch vonsich aus jederzeit an die Staatsanwaltschaft abgeben (§ 386 IV 1 AO). Umgekehrt kann dieStaatsanwaltschaft die Sache in beiden F�llen im Einvernehmen mit der Finanzbeh�rde wiederzur�ckgeben (§ 386 IV 3 AO).

In ihrer Funktion als Strafverfolgungsbeh�rde k�nnen die Finanzbeh�rden als Steuerstaats-anwaltschaften bezeichnet werden2. Organisatorisch nehmen innerhalb des Finanzamtes diesog. Straf- und Bußgeldstellen (StraBu-Stellen) diese Aufgabe wahr. Hiervon zu unterscheidensind die Dienststellen der Steuerfahndung (§ 21 Rz. 253 ff.) und die Zollfahndungs�mter, die als„Steuerpolizei“ und Vollzugsorgan f�r die Straf- und Bußgeldstellen t�tig werden3. DerenBeamte handeln mit den Befugnissen und in der Funktion als sog. Ermittlungspersonen derStaatsanwaltschaft (s. § 404 S. 1 AO, § 152 I GVG)4.

Leitet die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen selbst, so �bernimmt die Finanzbeh�rde die Funktioneiner Polizeibeh�rde (s. §§ 402 I, 399 II 2 AO: mit den Befugnissen von Ermittlungsbeamten derStaatsanwaltschaft).

Es ergibt sich damit folgendes Zust�ndigkeitsschema:

§ 24 Rz. 4–8 § 24 Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitsverfahren

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letschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 386 AO Rz. 36 ff.; G. Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 385Rz. 102 ff.; § 386 AO Rz. 20 ff.; dort mit Recht krit. gegen�ber BGHSt 36, 283, 285, der bei Tateinheit(§ 52 I StGB) mit einem allgemeinen Strafdelikt die verj�hrungsunterbrechende Wirkung einer Ver-nehmung durch das Zollfahndungsamt auch auf das allgemeine, nichtsteuerliche Delikt erstreckt.

2 So R. Weyand, wistra 1990, 4, 7; U. Hellmann, DStZ 1994, 371, 374.3 In Nds. u. NRW sind Straf- u. Bußgeldstellen u. Steuerfahndung zu einer Beh�rde als sog. „Finanz-�mter f�r Steuerstrafsachen und Steuerfahndung“ zusammengefasst worden, vgl. VO v. 30.11.1981,Nds. GVBl. 1981, 385 = BStBl. I 1982, 225; VO v. 12.9.1986, GVBl. NW 1986, 639 ff. = BStBl. I 1987,449 ff.; 2006, 106, 115 ff.; in Berlin unter der Bezeichnung „Finanzamt f�r Fahndung und Strafsachen“,s. BStBl. I 2000, 43, 50 und in Hamburg seit dem 1.7.2005 als „Finanzamt f�r Pr�fungsdienste undStrafsachen“ zusammengelegt. Wegen der Verbindung von Steuerstaatsanwaltschaft u. Steuerpolizeikrit. Streck/Spatschek, Die Steuerfahndung[4], K�ln 2006, Rz. 35; G. Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 385AO Rnr. 98; U. Hellmann, Das Nebenstrafverfahrensrecht der AO, Habil., K�ln 1995, 144 ff., 337 ff.,C. Hentschel, NJW 2006, 2300, 2301.

4 Das 1. Justizmodernisierungsgesetz v. 24.8.2004, BGBl. I 2198, 2207 f., hat in § 152 I GVG dentradierten Begriff „Hilfsbeamte“ durch „Ermittlungspersonen“ der Staatsanwaltschaft ersetzt, ohnedamit eine Inhalts�nderung zu verbinden.

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2. Einleitung des Ermittlungsverfahrens5

Im Steuerstrafverfahren gilt das Legalit�tsprinzip (§ 385 I AO, §§ 152 II, 160 I StPO). Danachist die Finanzbeh�rde (bzw. die Staatsanwaltschaft) zur Einleitung des Strafverfahrens verpflich-tet, wenn sie – etwa durch Strafanzeige oder Strafantrag (dazu § 158 StPO), durch eigene(amtliche) Wahrnehmung, durch Mitteilung anderer Beh�rden oder auf andere Weise – Tat-sachen erf�hrt, die den Verdacht einer Steuerstraftat rechtfertigen (§§ 386 I 1, 399 AO, §§ 152II, 160 I StPO).

Der Verdacht einer Straftat ist gegeben, wenn „zureichende tats�chliche Anhaltspunkte“ f�r dieTat vorliegen (sog. Anfangsverdacht, s. § 152 II StPO). Aus den tats�chlichen Anhaltspunktenmuss mit einer gewissen (wenn auch zweifelhaften) Wahrscheinlichkeit auf eine Straftat ge-schlossen werden k�nnen. Sonst liegt eine bloße Vermutung vor; sie reicht zur Einleitung einesStrafverfahrens nicht aus6.

Das Steuerstrafverfahren ist eingeleitet, sobald die Finanzbeh�rde (evtl. die Staatsanwaltschaftoder ihre Ermittlungsbeamte) eine Maßnahme (= jede Handlungsweise) getroffen hat, die er-kennbar darauf abzielt, gegen jemanden wegen einer Steuerstraftat strafrechtlich vorzugehen(§ 397 I AO).

Mit der Einleitung des Ermittlungsverfahrens ver�ndert sich die Rechtsstellung des Stpfl. ineinschneidender Weise7. W�hrend er im fortbestehenden Besteuerungsverfahren zur Mitwir-kung verpflichtet bleibt, braucht er im Steuerstrafverfahren zu seiner �berf�hrung nichts bei-zutragen (s. §§ 136 I 2, 163a III 2, IV 2 StPO; s. auch EGMR, NJW 2002, 499, 501; s. Rz. 28 f.).Diesen Konflikt versucht § 393 I 2 AO dadurch zu l�sen, dass die Mitwirkung (auch) imBesteuerungsverfahren nicht mehr erzwungen werden darf. Der BGH folgert daraus („nemotenetur se ipsum accusare“8) sogar weitergehend, dass eine strafbewehrte Steuererkl�rungspflicht(s. § 21 Rz. 182 ff.) insoweit und solange suspendiert ist, als f�r denselben Besteuerungszeitraumein Steuerstrafverfahren gegen den Stpfl. eingeleitet worden ist9. Dies soll aber nicht f�r dieAbgabe von Steuererkl�rungen f�r nachfolgende Besteuerungszeitr�ume gelten, selbst wenndaraus Schlussfolgerungen f�r das eingeleitete Steuerstrafverfahren gezogen werden k�nnen.Das Nemo tenetur-Prinzip berechtigt zudem nur zur Passivit�t, nicht aber zur Vornahmeneuerlichen Unrechts10. Der von der Judikatur gew�hrte Schutz reicht somit nicht weit. Dieszeigt auch der Fall, dass die Finanzbeh�rde dem Beschuldigten „nachteilige Sch�tzungen“ daf�randroht, dass er nicht mitwirkt11. Dadurch wird ein faktischer Zwang zur strafrechtlich be-

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5 Dazu K. Blesinger, wistra 1994, 48 ff.; L. Meyer-Goßner, StPO[50], § 152 Rz. 4, m.w.N.6 Zum Anfangsverdacht einer Steuerhinterziehung bei sog. Tafelgesch�ften und Bank�berweisungenins Ausland (z.B. Luxemburg) BVerfG wistra 2002, 298 f.; 2005, 21, 22; BFH BStBl. 2001, 306, 310 f.;2001, 624, 627 f.; 2001, 665, 668; Burkhard/Adler, Stbg. 2001, 154; krit. P. Bilsdorfer, INF 2001, 193;P. Bilsdorfer, SteuerStud 2001, 249; O. Schmechel, Zufallsfunde bei Durchsuchungen im Steuerstraf-verfahren, Diss., Frankfurt a.M. u.a. 2004, 56 ff.; S. Rolletschke, Stbg. 2006, 221, 223.

7 Dazu M. Streck, DStJG 6 (1983), 217 ff.8 Zur verfassungsrechtlichen Fundierung des Selbstbelastungsverbots s. BVerfGE 56, 37, 41 f.; 95, 220,241.

9 BGHSt 47, 8, 12 ff.; BGH wistra 2002, 150 f.; OLG Frankfurt a.M., wistra 2006, 198; M. Aselmann,NStZ 2003, 71; krit. U. Hellmann, JZ 2002, 617, 619; abl. M. B�se, wistra 2003, 47, 49 f., der eineStrafbarkeit �ber die Rechtsfigur der omissio libera in causa herleiten will.

10 BGH wistra 2002, 149; daher bleibt die Abgabe einer unrichtigen USt-Jahreserkl�rung trotz Suspen-sion der Steuererkl�rungspflicht nach vorheriger Abgabe unrichtiger USt-Voranmeldungen strafbar,s. BGH wistra 2005, 228; OLG Frankfurt a.M., wistra 2006, 198; krit. W. Joecks, in: FS f�r G. Kohl-mann, K�ln 2003, 451, 460 ff.; H. Torm�hlen, in: FS f�r K. Korn, Bonn 2005, 779, 793 ff.

11 So etwa in den Merkbl�ttern der Steuerfahndung, BStBl. I 1979, 115, u. der Betriebspr�fung, BStBl. I1982, 656 f.; zum Problem s. K. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, Berlin1977, 170 ff.; M. Streck, DStJG 6 (1983), 217, 241 ff.; R. Rengier, BB 1985, 720 ff.; R. Seer, StB 1987,128 ff.; C. Teske, wistra 1988, 207 ff.; Berthold, Der Zwang zur Selbstberichtigung aus § 370 I AOund der Grundsatz des nemo tenetur, Diss., Frankfurt a.M. 1993; G. Kohlmann, in: FS f�r K. Tipke,K�ln 1995, 487, 493 ff.; E. R�ckl, Das Steuerstrafrecht im Spannungsfeld des Verfassungs- und Euro-parechts, Diss., Berlin 2002, 122 ff.; unter dem Blickwinkel der EMRK s. Frommel/F�ger, StuW 1995,

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lastenden Aussage ausge�bt, da der Stpfl. nur durch die Preisgabe der Tatsachen (und damitpraktisch durch ein Gest�ndnis) eine �berzogene Sch�tzung im Besteuerungsverfahren ab-wenden kann. Zwar erkennt § 393 II AO ein ausdr�ckliches Verwertungsverbot nur dannan, wenn der Stpfl. in Erf�llung seiner steuerlichen Mitwirkungspflichten sich selbst wegenaußersteuerlicher Straftaten belastet12. In Anwendung des sog. Gemeinschuldner-Beschlusses(BVerfGE 56, 37, 43 f.) besteht in verfassungskonformer Auslegung des § 393 AO zumindestdann f�r das Steuerstrafverfahren ein Verwertungsverbot, wenn die Finanzbeh�rde durch dieAndrohung einer materiell �berh�hten Sch�tzung (§ 162 AO) auf die Willensentschließung und-bet�tigung des Beschuldigten in beeintr�chtigender Weise eingewirkt hat13.

Mit bekannt gegebener Einleitung des Steuerstrafverfahrens endet die M�glichkeit der Selbst-anzeige (§ 371 II Nr. 1b AO). Außerdem wird die Verfolgungsverj�hrung unterbrochen (§ 78c INr. 1 StGB).

Wegen dieser einschneidenden rechtlichen Wirkungen ist die Einleitung unter Angabe des Zeit-punktes unverz�glich in den Akten zu vermerken (§ 397 II AO) und dem Beschuldigten mitzu-teilen (§ 397 III AO). Sp�testens mit Bekanntgabe der Einleitung des Strafverfahrens ist derBeschuldigte �ber sein Recht zur Aussageverweigerung (§§ 136 I 2, 163a IV 2 StPO) und dar�berzu belehren, dass seine Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren nicht mehr erzwungenwerden d�rfen (§ 393 I 4 AO). Ein Verstoß gegen die strafprozessuale Belehrungspflicht f�hrthinsichtlich der erteilten Ausk�nfte zu einem Verwertungsverbot f�r das Steuerstrafverfahren14.

Ein Strafverfahren darf nicht mehr eingeleitet werden, wenn die Tat bereits verj�hrt ist. DieVerj�hrung ist Verfolgungshindernis. Sie beginnt, sobald die Tat beendet ist (§ 78a StGB)15. Siebetr�gt in Steuerstrafsachen f�nf Jahre (§ 78 III Nr. 4, IV StGB)16. Zu den Unterbrechungens. § 78c StGB und § 376 AO. Nach Eintritt der Strafverfolgungsverj�hrung ist die Steuerfahn-dung nach § 208 I Nr. 2 AO (s. § 21 Rz. 255) aber gleichwohl befugt, bereits begonnene Ermitt-lungen f�r Besteuerungszwecke fortzusetzen17.

In weniger schwerwiegenden F�llen und in F�llen mit Auslandsbeziehung erm�glicht das GesetzAusnahmen vom Legalit�tsprinzip, indem es die Strafverfolgungsbeh�rden unter bestimmten Voraus-

§ 24 Rz. 12–15 § 24 Steuerstraf- und Steuerordnungswidrigkeitsverfahren

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58 ff.; einen unzul�ssigen Zwang zur Selbstbelastung dagegen grds. abl. S. R�ster, wistra 1988, 49, 50;S. H�ttinger, Schutz des Stpfl. durch Beweisverbote im Steuer- und Steuerstrafverfahren, Diss., T�-bingen 1997, 124 ff.; P. A. Besson, Das Steuergeheimnis und das Nemo-tenetur-Prinzip im (steuer-)strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, Diss., Frankfurt a.M. 1997, 119 ff.; Streck/Spatscheck, wistra1998, 334, 338 ff.

12 Zur Anwendung des § 393 II AO auf eine im Zusammenhang mit einer Steuerhinterziehung began-gene Urkundenf�lschung (§ 267 StGB) s. BayOblG wistra 1996, 353; 1998, 117; zust. H. Spriegel,wistra 1997, 321; dagegen abl. BGH wistra 1999, 341; BGH wistra 2004, 309, 312; dem. zust. BVerfGwistra 2005, 175, 176; W. Maier, wistra 1997, 53; A. Jarke, wistra 1997, 325; differenzierend W. Joecks,wistra 1998, 86; grundl. zu § 393 II AO W. Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren, Habil.Bonn, K�ln 1987; P. A. Besson (Fn. 11), 155 ff.; K. Rogall, in: FS f�r G. Kohlmann, K�ln 2003, 465;P. W�stenhagen, SteuerStud 2006, 511, 513 ff.; M. Wulf, wistra 2006, 89, 92.

13 Zur�ckhaltend BFH BStBl. 2002, 4, 5 f.; BFH/NV 2006, 15 u. 914, 915; 2007, 646, 647; weiterH. List, DB 2006, 469, 471.

14 BGHSt 38, 214 = NJW 1992, 1463, unter Aufgabe seiner fr�heren Rspr. (BGHSt 22, 170; 31, 395);eingehend G. Kohlmann, in: FS f�r K. Tipke, 487, 500 ff.; U. Hellmann, HHSp, AO, § 393 Rz. 121;differenzierend H. Torm�hlen, DStZ 2001, 850; nach BFH BStBl. 2002, 328, 329, gilt dies aber nichtf�r die Verwertung im Besteuerungsverfahren (a.A. FG Mecklenburg-Vorpommern wistra 2003, 473,477 f.); nach BFH BStBl. II 2007, 227, 235 kann bei einem qualifizierten Verwertungsverbot im Wegeeiner sog. Fernwirkung auch der Verwertung eines – isoliert betrachtet – rechtm�ßig erhobenenweiteren Beweismittel entgegenstehen; s. auch § 21 Rz. 220.

15 Zur praktisch sehr bedeutsamen Rechtslage nach Aufgabe der Rechtsfigur des Fortsetzungszusam-menhangs s. bereits § 23 Rz. 69.

16 Lediglich im Falle des § 148 II StGB (Wiederverwendung bereits entwerteter Steuerzeichen) endet dieVerfolgungsverj�hrung bereits nach drei Jahren (s. § 78 III Nr. 5 StGB).

17 BFH BStBl. 1998, 231; H. Torm�hlen, wistra 1993, 174, 176; Tipke/Kruse/Seer, AO, § 208 Tz. 24;a.A. D�cker/Keune, DStR 1999, 14, 16; G. Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 404 AO, Rz. 71 ff.; Fran-zen/Gast/Joecks/Randt, Steuerstrafrecht[6], § 404 AO, Rz. 25–27.

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setzungen zur Einstellung des Verfahrens erm�chtigt (s. §§ 153 ff. StPO, § 398 AO, sog. Opportuni-t�tsprinzip, s. Rz. 40).

3. Befugnisse der Strafverfolgungsbeh�rden

Zur Sachverhaltserforschung darf die Finanzbeh�rde (StraBu-Stelle) bzw. die Staatsanwaltschaft(geeignete) Ermittlungen jeder Art selbst durchf�hren oder durch Beamte des Polizeidienstes(insb. der Steuerfahndung) durchf�hren lassen (s. § 161 StPO). Dazu geh�rt insb. die Verneh-mung des Beschuldigten und der Zeugen (s. §§ 133 ff., 161a StPO). Dar�ber hinaus haben dieFinanzbeh�rde (StraBu-Stelle), die Staatsanwaltschaft und ggf. die Steuer- bzw. Zollfahndung(als Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft) insb. folgende spezifisch strafprozessualeM�glichkeiten:

a) die Durchsuchung nach §§ 102, 103 StPO18.

Ihr Zweck besteht entweder in der Ergreifung des Verd�chtigen (sog. Ergreifungsdurchsuchung)oder in der Erlangung von Beweismitteln (sog. Ermittlungsdurchsuchung). Als Durchsuchungs-objekte kommen Wohnungen und andere R�ume, sowie Personen und Sachen in Betracht. Wirdbei einem Unverd�chtigen durchsucht, so sind an die Zul�ssigkeit h�here Anforderungen als imFalle der Durchsuchung bei einem Verd�chtigen zu stellen (s. § 103 StPO gegen�ber § 102 StPO).Der Betroffene darf der Durchsuchung beiwohnen; bei Abwesenheit ist m�glichst eine Ersatz-person hinzuzuziehen (§ 106 StPO). Zum Verfahren s. im �brigen §§ 104 ff. StPO.

Durchsuchungen sind in R�umlichkeiten eines Unternehmens (z.B. in einer Bank) nur dann unterden erleichterten Voraussetzungen des § 102 StPO zul�ssig, wenn sich der Tatverdacht gegen einePerson richtet, die als Inhaber, Organ oder sonstiger Vertreter an den R�umlichkeiten Gewahrsambesitzt19. Handelt es sich beim Beschuldigten dagegen um einen bloßen Angestellten (z.B. Bankmit-arbeiter; zur Strafbarkeit s. § 23 Rz. 27), so darf die Durchsuchung �ber dessen begrenzte Gewahr-samssph�re hinaus nur unter den strengeren Bedingungen des § 103 StPO durchgef�hrt werden20.Den Strafverfolgungsbeh�rden ist es verwehrt, auf Grund eines nicht individualisierten „Betriebs-verdachts“ das gesamte Unternehmen (z.B. einer Bank) zu durchsuchen. Ebenso unzul�ssig ist es,einen irgendwie gearteten Tatvorwurf gegen Bankmitarbeiter (s. § 23 Rz. 27) zu konstruieren, umdurch umfangreiche Untersuchungen an Material gegen unbekannte Steuerhinterzieher oder anandere „Zufallsfunde“ (s. Einschr�nkung des § 108 StPO) heranzukommen. Es stellt einen Rechts-missbrauch dar, wenn das Steuerstrafverfahren gegen Bankmitarbeiter nur zum Schein als „trojani-sches Pferd“ eingeleitet wird, um an Kontrollmaterial gegen andere Personen zu gelangen21.

Im Wege teleologischer Extension der §§ 102, 103 StPO werden auch Computer, Server undandere Datentr�ger (CD, Diskette, USB-Stick) als durchsuchungs- und beschlagnahmef�hig ange-sehen22. Dies ist nicht unzweifelhaft, weil es bei der Durchsuchung von EDV-Anlagen letztlichnicht um den Datentr�ger, sondern um die darauf gespeicherten Daten geht. Nicht von §§ 102, 103StPO jedenfalls gedeckt sind sog. verdeckte Online-Durchsuchungen mittels speziellen Trojanern(BGH NJW 2007, 930, 931);

Ermittlungsverfahren Rz. 15–18 § 24

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18 Dazu H. R�ping, DStJG 6 (1983), 267 ff.; H. R�ping, DStR 2006, 1249, 1251 f.; A. Warda, DieDurchsuchung beim Verd�chtigen und bei anderen Personen nach den §§ 102, 103 StPO, Diss., K�ln1986; Tipke/Kruse/Seer, AO, § 208 Tz. 59 ff.

19 Vgl. A. Warda (Fn. 18), 234 ff.; Krekeler/Sch�tz, wistra 1995, 296, 297; W. Joecks, WM-Beil. 1/1998,20 ff.

20 In ihrer Konturenlosigkeit erweisen sich deshalb die vom BVerfG wistra 1994, 221 ff.; 1995, 139 ff.,umfassend gebilligten Durchsuchungsbeschl�sse („Dresdner Bank“) als rechtsstaatlich bedenklich,mit Recht krit. W. Arndt, K�SDI 1994, 9760, 9764 f.; W. Leisner, BB 1994, 1941 ff.; W. Leisner, BB1995, 525 ff.; Papier/Dengler, BB 1996, 2593, 2596 ff.; W. Joecks, WM-Beil. 1/1998, 21 ff.; O. Schme-chel (Fn. 6), 45 ff.; dagegen uneingeschr�nkt zust. Carl/Klos, DStZ 1994, 391 ff.; zur anwaltlichenBetreuung von Kreditinstituten in dieser Situation s. Aulinger/Weinreich/Park, FS 50 Jahre Arbeits-gemeinschaft FfStR, Herne/Berlin 1999, 645.

21 Vgl. BVerfGE 20, 162, 192; BFH BStBl. 2000, 643, 646 ff.; K. Tipke, BB 1998, 241, 243; zu denverfassungsrechtlichen Grenzen der Durchsuchung s. Tipke/Kruse/Seer, AO, § 208 Tz. 62 ff., m.w.N.

22 S. BVerfGE 113, 29, 50 f.; 115, 166, 191; ausf. Matzky, Zugriff auf die EDV im Strafprozeß, Diss.Greifswald, Berlin 1999, 217 ff.; Franzen/Gast/Joecks, Steuerstrafrecht[6], § 399 Rz. 48 ff.; krit. Rol-letschke/Kemper, Steuerverfehlungen, § 399 AO Rz. 72 ff.

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