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Leseprobe aus: Theo Fischer Wu Wei © 1992 by Rowohlt Verlag GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

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Page 1: Theo Fischer Wu Wei...WU WEI. In diesen beiden Silben ist das ganze Geheimnis der Lebenskunst des Tao enthalten. Wörtlich übersetzt bedeutet es in etwa «Nichtstun», «Nichthandeln»

Leseprobe aus:

Theo FischerWu Wei

© 1992 by Rowohlt Verlag GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

Page 2: Theo Fischer Wu Wei...WU WEI. In diesen beiden Silben ist das ganze Geheimnis der Lebenskunst des Tao enthalten. Wörtlich übersetzt bedeutet es in etwa «Nichtstun», «Nichthandeln»

Die Kunst des Nichthandelns

Unser heutiges Dasein ist an eine Unzahl Bedingungen ge-knüpft. Scheinbar sind wir frei, aber tief im Innern spürenwir, dass diese Freiheit ein Trugschluss ist, dass wir an allenEcken und Enden gebunden sind: an die Spielregeln der Ge-sellschaft, an die Voreingenommenheit unserer Rasse oderNation oder der Bildungsschicht, der wir angehören. Viel-leicht haben wir uns an einen Partner gebunden, oder wirsind beruflich oder religiös in irgendeiner Form hoffnungsloseingeschlossen. Der menschliche Alltag ist seit Jahrtausen-den durchsetzt mit Bedrängnis, Sorgen, Nöten, Krankheitund Elend. Selbst dort, wo anscheinend die Welt in Ordnungist, gibt es Probleme, ja, die Probleme sind trotz des zeitwei-lig im Leben herrschenden Sonnenscheins in der Regel über-wältigend. Sie und ich bilden darin kaum eine Ausnahme.Wenn nun jemand an Sie heranträte mit der kühnen Behaup-tung, Sie könnten alle Schwierigkeiten und Engpässe des Le-bens beseitigen, allein dadurch, dass Sie lernten, ausschließ-lich in der Gegenwart zu leben und Ihren Problemen wachund aufmerksam ins Auge zu sehen? Spontan würden Sie dasals Unsinn abtun, es in einen Bereich außerhalb der Realitätverweisen. Mit dem Verweisen aus der Realität hätten Siezum Teil sogar Recht, und zwar Verweisen aus Ihrer Realität,denn das, was Sie für Realität halten, hat keinerlei Bezug zurobjektiven Wirklichkeit. Unser Leben verläuft nach einemselbst geschaffenen Denkmodell, in dem sich die Summe un-serer gemachten oder angelernten Erfahrung manifestiert.

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Jeder Vorgang um uns her wird nach den Gesichtspunktendieses Denkmodells verglichen und analysiert. Erst wenn Siebegreifen, dass die Art, wie Sie die Welt und Ihre Existenz be-urteilen, voreingenommen und vollkommen falsch ist, wer-den Sie aufnahmefähig für die große Weisheit des Lebens imFluss des Tao. Was dies in der Praxis bedeutet, soll Ihnen inder Folge ganz deutlich erklärt werden. Geniale Lösungen be-stechen in der Regel durch ihre Einfachheit. Die vorgeschla-gene Lösung all unserer Lebensprobleme hört sich sehrschlicht an, sodass es scheinen mag, dahinter stünden wederEnergie noch Wirksamkeit, aber dieser Eindruck täuscht. DasSchöne am Tao ist, dass man nichts glauben muss, keine ob-skuren Übungen vorgeschrieben sind, keine strengen Moral-vorschriften vor dem Erfolg stehen, sondern dass Tao gelebtwird und Sie die gewaltige Wirkung auf einfachste Weise er-fahren können – indem Sie es ausprobieren.

Gestatten Sie, dass ich Ihnen kurz chinesisch komme:WU WEI. In diesen beiden Silben ist das ganze Geheimnis derLebenskunst des Tao enthalten. Wörtlich übersetzt bedeutetes in etwa «Nichtstun», «Nichthandeln». Damit wird keines-falls gesagt, man solle träge, entschlusslos oder lässig sein.Die Feinheit des wu wei lässt sich schwer in ein paar Wortenausdrücken. In seinem tiefsten Sinn meint wu wei, wir sollenin unseren Entscheidungen nicht gegen unsere innere Auto-rität, eben das Tao, handeln. Herausforderungen des Lebenspflegen wir mit den unzulänglichen Mitteln unseres Intellek-tes, unserer Erfahrung zu begegnen. Damit pfuschen wir je-des Mal den unserem Denken nicht zugänglichen Kräften insHandwerk, die unsere Probleme nicht nur besser lösen kön-nen, sondern sie auf eine ganz andere Art und Weise auszu-loten imstande sind. Könnten wir lernen, dieses wu wei zupraktizieren, dann würden wir sofort aufhören, über unsere

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Probleme nachzugrübeln, sie zu analysieren und nach Lösun-gen zu forschen. Es genügt vollständig, uns das Problem ganzgenau anzusehen, ohne darüber nachzudenken, ohne Ana-lyse. Den Rest können wir getrost dem Tao überlassen. Soweitunser direktes Eingreifen notwendig wird, empfangen wirden Handlungsanstoß spontan durch eine kräftige Intuition.Wobei Intuition, wie wir sie landläufig verstehen, den Vor-gang nur unzulänglich beschreibt, denn es handelt sich viel-mehr um einen inneren Dialog, der jedem zur Gewohnheitwird, der gelernt hat, im Geiste des Tao zu leben. Was ich hierals Beispiel anführe, ergibt seinen Sinn auch erst dann, wenndas Leben als Ganzheit richtig gelebt wird. Zur Meisterungdieses Lebens wird keine einzige Fähigkeit gefordert, dienicht bereits bei uns vorhanden ist. Allerdings haben diemeisten Menschen verlernt, mit der einen oder anderen die-ser Fähigkeiten umzugehen. Keine der Maßnahmen, die ichIhnen im Verlauf dieses Buches zeige, erfordert Kraftauf-wand; richtig angewendet, entfalten sich diese Fähigkeitensogar unbeschreiblich mühelos. Diese Mühelosigkeit ist Aus-druck einer außerordentlichen Energie, die gleichfalls jedemvon uns latent innewohnt. (Wenn Sie die erteilten Ratschlägebefolgen und Sie feststellen, dass es Sie anstrengt, dann istdas ein sicheres Zeichen, dass Sie etwas falsch machen.) Wirwerden uns in der Folge mit unseren Gedanken zu befassenhaben, mit Bewusstsein, mit Gegenwart, Vergangenheit undZukunft, wobei ich gleich vermerken möchte, dass Tao nur inder Gegenwart, also jeweils im gleichen Augenblick, gelebtund verwirklicht werden kann. Das dürfte die einzige schwie-rige Aufgabe für Sie werden, nämlich sich anzugewöhnen,mit Ihren Sinnen weder in der Vergangenheit noch in der Zu-kunft herumzustreunen, sondern stets und ständig im Hierund Jetzt zu bleiben.

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Schwierig nicht nur wegen unser aller unseligen Ge-wohnheit, mit den Gedanken überall zu sein, nur nicht in derUnmittelbarkeit des Augenblicks, schwierig insbesondere,weil unser Alltag keineswegs erfreulich genug erscheint, alsdass man ihn sich gerne ganz genau ansehen und ihn inten-siv leben möchte. Die Stunden allerdings, die wir gerne fest-halten und viel intensiver leben möchten, weil sie uns Freudeoder Vergnügen bereiten, bekommen wir genauso wenig inden Griff. Ich will Ihnen am Beispiel eines Witzes klar ma-chen, wie wir Menschen es mit dem Erleben der Gegenwarthalten: Da fährt ein Bus mit Touristen durch die prächtigeLandschaft südlicher Gefilde. Alle haben die Kamera amAuge und fotografieren, was das Zeug hält. Ein einziger Fahr-gast nur sitzt still da und blickt zum Fenster hinaus. «Warumfotografieren Sie nicht?», wird er gefragt. «Ich sehe mir’sgleich hier an», antwortet der. Sehen Sie, die Masse der Men-schen lebt wie diese Touristen. Zwischen dem wirklichen Er-leben der Realität und uns stehen unsere Gedanken wie dasFotografieren der Touristen in diesem Witz. Wir sind pau-senlos im Geiste unterwegs, unsere Gedanken beschäftigensich mit vergangenen oder künftigen Ereignissen, Vorfreudediktiert unseren Blick oder Furcht vor möglichen Ereignissen,oder wir halten mit Hoffnung Ausschau. Aber den Augen-blick, in dem wir gerade leben, den nehmen wir nicht wahr.Dazu sind wir geistig viel zu sehr mit allem möglichen Unsinnbeschäftigt, als dass wir uns auch noch um die Wirklichkeitkümmern könnten. Schließlich geht sie uns ja nicht verloren,unser Gehirn hat jenen Kameras gleich die Szene für alle Zei-ten in unserer Erinnerung festgehalten. Und wenn wir tat-sächlich einmal zufälligerweise unseren Blick auf den Augen-blick, auf die Gegenwart richten, dann erleben wir diese auchnicht unmittelbar.

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Bevor ein äußerer Vorgang uns bewusst wird, passierter aus alter, übler Gewohnheit einen Denkprozess. In Gedan-ken prüft unser Geist erst, ob an der wahrgenommenenSzene etwas mit früheren Erfahrungen zu erkennen ist, dannholt er sich aus dem Speicher des Gedächtnisses den für dasPhänomen aufgefundenen Namen, klebt der Szene dieses Eti-kett auf – und erst dann, wenn all dieses geschehen ist, ge-stattet unser Verstand dem Bewusstsein, Kenntnis von die-sem Vorgang zu nehmen. Sie sehen, auch dieses scheinbarspontane Erfahren eines Vorgangs erfolgt aus zweiter Hand.Der menschliche Geist gestattet es den Sinneseindrücken nie-mals, unmittelbar zum Bewusstsein zu dringen. (Wobei ichmit Geist keine spezielle Definition treffen möchte, mit Geistist einfach unsere Person oder unser Ich gemeint.)

Und das muss keineswegs so sein. Es ist nicht unser un-widerrufliches Schicksal, unser ganzes Leben lang dem ge-genwärtigen Moment der Wirklichkeit ausweichen zu müs-sen. Genau genommen ist es eine Untugend, die wir uns an-gewöhnt haben, weil kein Mensch uns beigebracht hat, wieman es richtig macht. Wu wei erfordert unsere geistige Prä-senz in der Gegenwart, sonst können die Kräfte nicht wirk-sam werden, welche die Dinge dann ohne unser Zutun verän-dern und zum Guten wenden. Solange wir der Tristesse unse-res Alltags nicht direkt ins Auge blicken, kann sich auf demWeg des Tao auch nichts daran ändern. Wenn wir es aller-dings schaffen, unser Dasein so nüchtern und realistisch zubetrachten, wie es tatsächlich ist, ohne irgendeiner Erkennt-nis auszuweichen – und sei sie noch so unangenehm –, dannwerden wir nicht lange in diesem permanenten Grau-in-grau-Zustand verweilen müssen. Wie ferngesteuert waltenalsbald Energien in unser Leben hinein, von denen wirhöchstenfalls zu träumen gewagt hätten.

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Über das Wie – damit meine ich die Technik – erfahrenSie in den folgenden Kapiteln noch genügend Einzelheiten,wenn wir uns mit der Struktur des Denkens und der Persön-lichkeit des Denkers befassen. Hier will ich zunächst einenmehr allgemeinen Überblick geben. Einen Grundsatz könnenwir aber jetzt an dieser Stelle schon festhalten: Gedanken ent-stehen immer aus dem Vergleichen mit Elementen des Ge-dächtnisses, der Erinnerung, sie gehören folglich grundsätz-lich der Zeitform der Vergangenheit an, gleich, womit sie sichbefassen mögen. Auch Ideen und Ausblicke auf die Zukunftwurzeln in Erfahrungen, die Sie in der Vergangenheit gemachthaben. Das Tao, diese zeitlose Dimension in uns, aber existierteinzig in der Gegenwart, in diesem hauchdünnen Raum zwi-schen Vergangenheit und Zukunft. Das Zusammenwirken die-ser Kräfte geschieht hier und jetzt, niemals vorher oder nach-her. Das bedeutet, dass das Denken uns immer von der Gegen-wart weg in die Vergangenheit führt, und sei es nur um die Dif-ferenz von Sekundenbruchteilen, wenn wir ein unmittelbaresErlebnis interpretieren, statt es direkt zu erfahren. Damit sollDenken nicht verteufelt werden, es hat seinen Platz dort, wo esnützlich ist und gebraucht wird. Aber die ununterbrocheneGeschwätzigkeit unseres Geistes ist ein ernsthaftes Hindernisfür das Leben in der absoluten Gegenwart. Dabei ist es völligsinnlos, wenn wir versuchen, dieses Stromes Herr zu werden,indem wir alle Gedanken unterdrücken wollen. Ein solchesVorgehen ist extrem anstrengend und obendrein völlig nutz-los. Wir würden hier lediglich die Vorzeichen verändern. DerProzess, Denken auszuschalten, ist nämlich gleichfalls einDenkvorgang. Wer auf diese Weise versucht, im Hier und Jetztzu leben, beschummelt sich selbst und vergeudet unnötigEnergie. Lassen Sie sich bitte trotzdem nicht entmutigen. Dieganze Sache ist im Grunde recht einfach – die Bereitschaft des

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Menschen vorausgesetzt. Es müssen hier auch keinerlei Spit-zenleistungen erbracht werden, denn in der Gegenwart zu le-ben, ohne in Gedanken abzuschweifen, ist keine olympischeDisziplin. Überhaupt hält man in Kreisen des Tao nichts vonBestrebungen nach irgendetwas. Es ist gut, kein Ziel zu haben,keinen Ehrgeiz, kein Motiv. Das menschliche Bemühen, im-mer auf eine Art besser zu sein als andere oder als man selbstim gegenwärtigen Zustand, ist geradezu lächerlich, bedenktman, dass jeder Mensch in Wahrheit erheblich mehr ist, als ersonst jemals werden kann. Der vollkommene Zustand des Im-wu-wei-Lebens wird im Zen-Buddhismus als Erleuchtung, alsVerwirklichung des Buddha angesehen. Man nennt die di-rekte, aufmerksame Wahrnehmung der unmittelbar ablaufen-den Geschehnisse: das Bewusstsein ohne Wohnsitz oder derGeist ohne Wohnsitz. Mit diesem Bewusstsein oder Geist istbereits die absolute schöpferische Kraft ins Leben des Prakti-zierenden eingezogen. Bereits wenn wir ein paar Sekundenaufmerksam unsere Umgebung, die Geschehnisse direkt umuns herum beobachten, haben wir Berührung mit dieser kos-mischen Energie. Und sie ist es, die unseren Alltag, unser gan-zes Leben verändert, wenn wir uns ihr nur völlig rückhaltlosanvertrauen. Wie in dem Spiel, das wir in der Jugend undKindheit ab und zu ausprobiert haben: Man breitet die Armeaus, schließt die Augen und lässt sich hintenüberfallen in dieArme eines dort stehenden Freundes. Diese spielerischeÜbung ist gar nicht so einfach, es ist ein recht unbehaglichesGefühl, so ins Ungewisse zu fallen, selbst wenn ich weiß, dasshinter mir einer steht, der mich auffängt. Die Erfahrung desGeistes ohne Wohnsitz ist gleichbedeutend mit der Fähigkeit,ungezwungen zu beobachten, von keinem inneren Zentrumaus, nur einfach hinzusehen, wie ich zum Beispiel einen Vogelvor dem Fenster beobachte oder die Katze des Nachbarn. So-

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bald eine solche Beobachtung frei von begleitenden Gedankenist, wird sie identisch mit der Wirksamkeit des Tao. Dies klingtalles ungewohnt und keinesfalls logisch. Gut, logisch ist esauch nicht. Aber stimmt etwas nur, wenn es logisch ist? Dieobjektive Wirklichkeit unseres Daseins ist eher paradox dennlogisch. Logik ist eine Krücke, die sich der menschliche Ver-stand geschaffen hat, um nicht an den tatsächlichen Dingen zuverzweifeln. Logik ist nachvollziehbar, und alles, was man mitihr in den Griff kriegt, gibt uns Sicherheit, nicht wahr?

Echt und dauernd im Geiste in der Gegenwart verwei-len, die Geschehnisse aufmerksam beobachten, wahrneh-men, ohne zu analysieren, wäre der erste Schritt zur Ver-wirklichung des Tao in unserem Leben. Den Geschehnissenihren Lauf lassen, ohne Widerstand zu leisten, sie nur be-trachten, das ist Handeln im Nichthandeln, das ist wu wei.Wenn Sie gelernt haben, so Ihre Tage zu verbringen, wird IhrLeben sein wie in der schönsten Zeit Ihrer Kindheit: ohneSorgen, frei von Konflikten, das Gestern vergessend, vomMorgen nichts wissend, einzig im Heute verweilend, vollerGlück und Gelassenheit. Das ist Lebenskunst, das ist Lebenaus dem Geist des Tao. Und wie fern liegt diese Vorstellungdem Bild Ihrer jetzigen gequälten Existenz. Entgegen allenanders lautenden Predigten und Binsenweisheiten ist das Än-dern Ihres Lebens, das Erreichen dieses ungemein positivenZustands keineswegs eine Frage der Zeit. Es ist einzig eineFrage der Konsequenz, mit der Sie sich frei machen von liebgewordenen Vorstellungen.

Der zweite (und der einzige zusätzliche) Schritt ist dieNotwendigkeit, sich innerlich von allen Bindungen zu be-freien, von jeder Art Autorität, ganz gleich, ob diese von au-ßen kommt oder in Ihnen selbst ist in Gestalt von festgefahre-nen Denkschablonen, religiösen Bindungen oder Ähnlichem.

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Dieser zweite Schritt kann Ihnen das Leben in der Gegenwartungemein erleichtern. Mit der Forderung nach Freiheit vonBindungen ist nicht gemeint, dass Sie etwa auf die Freudendes Lebens oder auf Besitz oder Partnerschaft verzichtenmüssen. Problematisch ist im Grunde kein einziger Vorgangin unserem Leben, weder Spiritualität noch Sinnenfreude,weder Wohlstand noch der Wunsch nach den Annehmlichkei-ten des Daseins. Das Problem steckt im «Anhaften», wie dieChinesen es genannt haben. Nicht das Genießen des Lebenshält uns vom Leben im Tao ab, sondern nur die innere Bin-dung daran. Wiederum wäre es völlig nutzlos und selbstquä-lerisch, wenn Sie jetzt sagen würden: «Gut, ab sofort will ichinnerlich frei sein von jedem Anhaften», und wenn Sie versu-chen würden, sich dieses Freisein so lange zu suggerieren, bisSie tatsächlich eine Art von Freiheitsgefühl hätten. Leidergeht es nicht so einfach. Menschen mag man mit solchenMaßnahmen täuschen können, das Tao aber können wir nichtbetrügen. Ein solches Vorgehen ist erstens ausgesprochenstrapaziös, und zweitens klappt es nicht, denn wieder ist nurein Gedankenbild durch ein anderes, aber in gleichem Maßebindendes Modell ersetzt worden. Sie hätten lediglich denTeufel mit dem Beelzebub ausgetrieben. Doch es gibt leichtereWege, die Wahrheit über Ihre Bindungen und Engagementszu erfahren. Wenn Sie beharrlich und ohne innere Stellung-nahme Ihre Reaktionen auf die Geschehnisse des Lebens be-obachten, und zwar jeweils in dem Augenblick, in dem sie ein-treten, werden Sie bald Art und Umfang Ihres Gebundenseinswahrnehmen. Diese Beobachtung ist bereits Meditation, diean keine äußere Form und an keinen zeitlichen Rhythmus ge-bunden ist. Sie findet stets dann statt, wenn die Ereignisse sienotwendig machen. Dadurch bleibt solche Art zu meditierenlebendig, erstarrt nie zur Routine oder schläfert den Geist ein.

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Sobald die Erkenntnis von Ihren verschiedenen Bindungentief in Ihnen lebendig ist, weit über das intellektuelle BegreifenIhres Zustands hinaus, werden Sie feststellen, dass diese Bin-dungen ganz von selbst ihre Macht über Sie verlieren. Wiedurch Zauberhand sind die Fäden Ihrer Gebundenheit miteinem Mal zerrissen. Dies alles setzt natürlich immer voraus,dass Sie von Ihren diversen Anhängseln innerlich wirklich freiwerden wollen und sich insgeheim nicht nach wie vor an daseine oder andere zu klammern suchen.

In diesem Auflösen aller Bindungen liegt nämlich einanderes Problem: die Frage nach der persönlichen Sicher-heit. Solange Sie an irgendeine Institution, Ideologie oder Or-ganisation gebunden sind, empfangen Sie aus dieser Vorstel-lung Sicherheit. Sie fühlen sich integriert in die Gesellschaft,und Ihre Anpassung an deren Ordnung und Spielregeln ver-mittelt Ihnen ein Gefühl von Geborgenheit. Sie finden Halt inIhrer Partnerschaft, im Beruf, in Ihren alltäglichen, festgefah-renen Gewohnheiten. All dieses gewährt einen Anschein vonSicherheit, und diesen scheint der Mensch zu brauchen, ist erdoch das Einzige, was die Misere der hochgradigen innerenUnfreiheit der Menschheit ein wenig verzuckert. Dabei istdiese Sicherheit absolut trügerisch, sie ist relativ, in Wahrheitexistiert sie nur als intellektuelle oder emotionale Vorstellung,es ist eine Beruhigungspille mit Dauerwirkung. Diese Dauer-wirkung hält aber bestimmt nicht bis zum Tode an. Irgend-wann wird jeder einmal gezwungen, der Wahrheit ins Gesichtzu sehen, der eine früher, der andere später. Denn eine ge-dankliche Konstruktion von Sicherheit ist keine, und wenndann das Leben mit ernsthaften Herausforderungen an unsherantritt, das Sicherheitsgefüge rings um uns zerbricht,dann stehen wir nackt da, wie eine Muschel, die ihrer schüt-zenden Schale beraubt ist. Der Mensch, dem das widerfährt –

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und es geschieht weltweit täglich –, muss dann wahrnehmen,dass er auf Sand gebaut hat. Er sieht sich aller Stützen undOrientierungspunkte beraubt. Aber oft macht er gerade danneine bestürzende Erfahrung, die die meisten von uns sichnicht zu deuten wissen: Wenn Sie im Leben bereits einmaleine tief greifende Krise durchgemacht haben, die bis an dieFundamente Ihrer Existenz reichte, dann werden Sie sich er-innern, dass die Wendung zum Besseren just in jener Phaseeintrat, da Sie sich, zu erschöpft zum Weiterkämpfen, totalaufgegeben hatten. Dabei haben Sie damals nichts andereserfahren als die Hand des Tao, denn dieses tritt in demAugenblick mächtig in unserem Leben in Erscheinung, wowir die Hand vom Ruder nehmen, wo wir aufgeben. Dannkann diese ungeheure kosmische Kraft wirksam werden, undzwar mit einer Intelligenz, die jenseits des Denkens operiert.Unsere existenziellen Probleme lösen sich auf eine Art, dereine tiefe Weisheit zugrunde liegt, wie unser Verstand sienicht besitzt. Sie mögen daraus erkennen, wie töricht es ist,sich an diesen Scheinsicherheiten, die das tägliche Leben an-bietet, festzuklammern.

Wer sich der Lebenskunst des Tao zuwendet, sich demintuitiven Handeln verschreibt und sich hineinfallen lässt indie Geborgenheit der eigenen inneren Autorität, wird das Le-ben und seinen Alltag in Zukunft mit anderen Augen anse-hen. Diese Geisteshaltung ist wirkliche Sicherheit, aber inter-essanterweise verliert der Gedanke an Sicherheit weitgehendseine hohe Bedeutung, wenn wir erst einmal gelernt haben,unser Leben dem Strom des Tao zu überlassen. Denn derStrom des Lebens ist identisch mit dem Tao, wie auch wir mitihm identisch sind. Von dem Augenblick an, wo Sie das er-kennen, ist es nicht mehr notwendig, dass Sie kämpfen undsich abplagen, dass Sie sich Tag und Nacht mit Ihren Sorgen

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und Nöten beschäftigen, dass Ihr Leben aus einer Mischungaus wenig Freuden und vielen Problemen besteht. Sie könnenjegliche Art von Zielsetzung aus Ihren Gedanken streichen,denn wenn Sie aufmerksam im Hier und Jetzt dem Lauf desLebens folgen, trägt Sie dieses an jeden beliebigen Ort, an je-des Ziel, bevor Sie es sich überhaupt vorstellen können. Ja, esist unerlässlich, dass Sie Ihre Motive, Ihr eigenes Streben,Ihren Wunsch, etwas zu werden, was Sie noch nicht sind,aufgeben. Sie müssen stattdessen lernen, nichts mehr zu tun,zu beobachten, aufmerksam zu sein. Dies ist die wahre Art in-telligenten Handelns. «Es» handelt für Sie, besser, als Ihr Ver-stand es jemals vermochte. Ein Mensch, der diese Wahrhei-ten wirklich versteht, lebt aus seiner geistigen Mitte heraus.Über diese Mitte ist auf dieser Welt schon viel Unsinn ge-schrieben worden. Leben aus der Mitte bedeutet in erster Linie, dass Sie in keiner Richtung gebunden sind. Dann kön-nen Sie von Ihrem Zentrum aus ungehindert in jeder Rich-tung direkt und ohne Verzug in Aktion treten, sich beteiligenund wieder zu Ihrem Kern zurückkehren. Dieser Kern ist kei-nesfalls als Örtlichkeit zu verstehen, im Gegenteil, so seltsames klingen mag, dieser Kern hat universelle, kosmische Dimensionen und ist nicht etwa an einen Sitz in Höhe IhresSolarplexus gebunden oder an Herz oder Bauch. Ein Mensch,der aus seiner Mitte lebt, kann von hoher Spiritualität erfülltsein und sich dennoch froh und heiter jeder Art sinnlicher Ge-nüsse hingeben. Wenn er damit fertig ist, kehrt er zur Mittezurück, ohne dass eine Spur des Geschehens seinen Geist ge-fangen hält. Dies ist der Ausdruck wirklicher Freiheit. AlleVersuche, den Menschen einseitig zu orientieren, zum Bei-spiel, ihm ein streng religiöses Leben vorzuschreiben undihm dabei jede Art von Lebensfreude als sündig darzustellenund zu verbieten, macht jeden unfähig, aus der Mitte zu

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leben. Er ist einseitig, verkrüppelt. Und diejenigen, die ihmdiese Lebensweise als notwendig vorgeschrieben haben, sindkeinen Deut besser. Da werden Narren von Narren angeleitet.

Lassen Sie mich das bis jetzt Gesagte zusammenfassen:Tao ist kein Weg, es ist der Schritt zu sich selbst und der eige-nen inneren Autorität. Wu-wei bedeutet, nicht selbst handelnzu wollen, sondern eben der erwähnten Autorität das Han-deln, die Entscheidungen zu überlassen. Gekoppelt mit dieserBereitschaft, selbst weitgehend die Hand vom Steuer unseresLebens zu nehmen, ist die Notwendigkeit, unsere Sinne in im-mer größerem Maße der Gegenwart zuzuwenden. Im glei-chen Maße, wie wir – statt ständig in Gedanken über Vergan-genheit und Zukunft zu kreisen – unseren Alltag beobachten,ihm unsere Aufmerksamkeit voll zuwenden, werden sich un-ser ganzes Leben und unsere Sicht darauf verändern. Dabeiwird keineswegs olympische Perfektion gefordert. Es gilt, imHier und Jetzt, im Augenblick und seiner Geborgenheit zu le-ben. Freiheit von Meinungen und Bindungen vollendet dasBild einer neuen Art zu leben. Diese Freiheit kann jeder er-langen, wenn er sich an die gegebenen Ratschläge hält.

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