telemedizin 2020 - dsck: startseite · monitoring von herzfunktionen kardiale ereignisse durch...
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Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Seminararbeit in der speziellen Betriebswirtschaftslehre
Strategisches Technologiemanagement
Abschlussbericht der Szenarioanalyse
Telemedizin 2020
in Zusammenarbeit mit der Deutschen Stiftung für chronisch Kranke
Dr. Bettina Zippel-Schultz
Forschungsseminar „Szenarioanalysen für technologiebasierte Dienstleistungen“
Dr. Frank Tietze
28.01.2013
Wintersemester 2012/2013
Stephan Kucharczik
Stefan Schumacher
Jens Friedrich
Björn Scharfschwerdt
I
Gliederung
I Abbildungsverzeichnis.............................................................................................. S. II
II Tabellenverzeichnis................................................................................................... S. III
1 Prozess der Informationsgewinnung, -verarbeitung und
Entscheidungsfindung............................................................................................... S. 1
2 Statusbeschreibung der Telemedizin......................................................................... S. 2
2.1 Beschreibung des Anwendungsfeldes................................................................. S. 2
2.2 Forschungsstand.................................................................................................. S. 2
2.3 Lebenszyklusstatus.............................................................................................. S. 3
2.4 Geschäftspotentiale............................................................................................. S. 4
2.5 Akteure................................................................................................................ S. 5
3 Beschreibung der Einflussfaktoren........................................................................... S. 6
4 Entwicklung der Einflussfaktoren............................................................................. S. 8
5 Durchführung der Szenarioanalyse........................................................................... S. 10
6 Beschreibung der Szenarien……….......................................................................... S. 13
6.1 Prä-Kollaps – Auf dem Weg nach unten............................................................ S. 13
6.1.1 Handlungsempfehlungen............................................................................ S. 15
6.2 Telemedizin 2.0 – My Health, Our Business...................................................... S. 16
6.2.1 Handlungsempfehlungen............................................................................ S. 18
6.3 Grauer Star – Fehlt der Durchblick?................................................................... S. 20
6.3.1 Handlungsempfehlungen............................................................................ S. 22
7 Zusammenfassung und Empfehlungen..................................................................... S. 23
III Anhang...................................................................................................................... S. IV
IV Quellenverzeichnis.................................................................................................... S. VIII
II
I Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Publikationen pro Jahr aus der Datenbank Medline über Telemedizin
und die thematisierten chronischen Krankheiten................................................................... S. 3
Abbildung 2: Einordnung des Lebenszyklusstatus der Telemedizin.……...…………......... S. 4
Abbildung 3: Die Short-List aus 20 Einflussfaktoren und ihren bewerteten
Wechselwirkungen untereinander. Blaue Felder illustrieren einen positiven
und rote einen negativen Einfluss; mit der Bewertungsskala: 0 = keine Wechselwirkung,
1 = schwache/indirekte Wechselwirkung, 2 = starke Wechselwirkung................................. S. IV
Abbildung 4: Um eine ähnliche Ebene der 20 Einflussfaktoren zu demonstrieren,
werden diese auf einem Kreis angeordnet und ihre Wechselwirkungen durch blaue Pfeile
(positiver Einfluss) oder rote Pfeile (negativer Einfluss) dargestellt..................................... S. V
Abbildung 5: Die Aktiv/Passiv-Matrix illustriert den Grad der Beeinflussung bzw.
Beeinflussbarkeit der bewerteten Einflussfaktoren................................................................ S. VI
Abbildung 6: Konsistenzmatrix mit Bewertungen der Konsistenzen zwischen den
Mikroszenarien auf einer Skala von -3 bis 3.......................................................................... S. VI
Abbildung 7: Cluster-Ansicht der von EIDOS kombinierten Mikroszenarien. Die drei
ausgewählten Szenarien sind farblich markiert...................................................................... S. VII
III
II Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Übersicht der drei gewählten Szenarien.............................................................S. 12
Tabelle 2: Die sechs enthaltenen Mikroszenarien des Szenarios 1 (Konsistenzwert nach
EIDOS: 1,67)....................................................................................................................... S. 13
Tabelle 3: Die sechs enthaltenen Mikroszenarien des Szenarios 2 (Konsistenzwert nach
EIDOS: 1,60)....................................................................................................................... S. 16
Tabelle 4: Die sechs enthaltenen Mikroszenarien des Szenarios 3 (Konsistenzwert nach
EIDOS: 1,33)....................................................................................................................... S. 20
Tabelle 5: Handlungsempfehlungen für die aktiv involvierten Akteure bei der
Durchsetzung der Telemedizin............................................................................................ S. 24
1
1 Prozess der Informationsgewinnung, -verarbeitung und
Entscheidungsfindung
Zum Aufbau einer Wissensbasis bezüglich der Telemedizin wurde die Einstiegsliteratur, die Frau
Zippel-Schultz zur Verfügung stellte, genutzt. Davon ausgehend fanden hauptsächlich elektronische
Medien wie das Internet Verwendung. Mit Hilfe von Google hat jedes Gruppenmitglied Quellen
gesucht und sich in die Thematik der Telemedizin eingearbeitet.
Nachdem ein grundsätzlicher Überblick über die Thematik geschaffen worden war, galt es genauere
Informationen bezüglich der Telemedizin und ihren Anwendungsfeldern, dem aktuellen
Forschungsstand und dem Lebenszyklus der Technologie zu sammeln sowie Geschäftspotentiale zu
erkennen. Weiterhin wurden Daten hinsichtlich relevanter Akteure im Markt der Telemedizin und
deren Aktivitäten und Rollen zusammengetragen, sowie Einflussfaktoren und Treiber.
Über Google und Google Scholar konnten Informationen über Schlagwörter wie „Telemedizin“,
„Telemonitoring“, „eHealth“ und „telemedicine“ gesammelt werden. Darüber hinaus wurden die
Hinweise von Frau Zippel-Schultz aufgenommen und Informationsquellen von Akteuren der
Telemedizin wie die Homepages von Krankenkassen, Bundesärztekammern, Bundesministerien,
Institut Arbeit und Technik, vitaphone usw. genutzt. Dies war von entscheidender Bedeutung, um
Informationen zu gewinnen und das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten zu können.
Um Schlüsseltreiber der Telemedizin zu identifizieren, machte sich jeder individuell Gedanken und
sammelte Informationen, bevor es in einem Gruppentreffen zum Informationsaustausch kam. Während
des Gruppentreffens kam es zu kontroversen Diskussionen, innerhalb derer die wichtigsten
Schlüsseltreiber identifiziert wurden.
Die Kommunikation innerhalb der Gruppe fand größtenteils über E-Mail und persönliche Treffen statt.
Zum Austausch von Quellen, Vorbereitung auf Gruppentreffen und Koordinierung der Arbeit konnte
das Programm Dropbox genutzt werden, wodurch es möglich war, nahezu in Echtzeit Dateien und
Ideen zu teilen. Das erste Gruppentreffen wurde per E-Mail arrangiert. Die weiteren Termine für
Gruppenmeetings konnten am Ende des jeweiligen Meetings abgestimmt und nur bei kurzfristigen
Änderungen per E-Mail angepasst werden. Anlass der Gruppentreffen waren der Austausch von Ideen
und Informationen, kontroverse Diskussionen, die Klärung von Fragen und die Einigung bezüglich der
oben genannten Themen.
Die Entscheidungen innerhalb der Gruppe wurden demokratisch gefällt. Jedes Mitglied hatte die
Möglichkeiten, Meinungen oder Einwände vorzubringen und die Gruppe davon zu überzeugen. Der
Entscheidungsprozess konnte durch den intensiven Meinungsaustausch gefördert werden. Bei
unüberwindbaren Differenzen kam es zu demokratischen Abstimmungen. Das am kontroversesten
diskutierte Thema waren die Einflussfaktoren und die Schlüsseltreiber der Telemedizin.
2
2 Statusbeschreibung der Telemedizin
2.1 Beschreibung des Anwendungsfeldes
In Kanada verband Albert Jutra mithilfe eines Teleradiologiesystems 1959 erstmals zwei
Krankenhäuser miteinander (vgl. Jutra (1959), S. 1099). Seitdem integriert die Telemedizin in
steigendem Maße in einem innovativen Prozess Informations- und Kommunikationstechnologien
(IKT) in das Gesundheitswesen. Das sogenannte Telemonitoring ermöglicht dabei die kontinuierliche,
orts- und zeitunabhängige Datenerfassung und -übertragung von Vitalparametern. Diagnose, Therapie,
Prävention und Nachsorge bilden hierbei die Hauptanwendungsfelder. Speziell chronische
Erkrankungen wie kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes und Atemwegserkrankungen stehen im
Zentrum, da sie mit rund 80 % den größten Anteil der Kosten im Gesundheitswesen verursachen (vgl.
Perlitz (2010), S. 5). Weil bei chronisch kranken Menschen häufig Komorbiditäten auftreten, stellt die
Vernetzung verschiedener Fachärzte, u.a. Kardiologen, Orthopäden, Neurologen, im Sinne der
ganzheitlichen Medizin ein erstrebenswertes Ziel dar, das die Telemedizin als Barriere-reduzierendes
Instrument in der Kommunikation, Versorgung und Verwaltung innerhalb des Gesundheitswesens
maßgeblich befördert und in Zukunft in Deutschland so stark befördern kann, wie in den USA (vgl.
Ashish (2010), S. 1709 f.) und Skandinavien (vgl. Lang (2005)) schon seit mehr als einem Jahrzehnt.
2.2 Forschungsstand
Gemessen an der Zahl internationaler Publikationen (Abb. 1), lässt sich erkennen, dass dem Thema
Telemedizin und chronische Krankheiten innerhalb der letzten acht Jahre eine zunehmende
Aufmerksamkeit gewidmet wird. Hinsichtlich der Verbreitung und Durchdringung der Telemedizin
haben besonders Kosten-Wirksamkeits-Analysen einen wachsenden Stellenwert eingenommen. Im
Auftrag der zum US-amerikanischen Gesundheitsministerium zugehörigen Agency for Healthcare
Research and Quality führten Hersh et al. 2006 (vgl. Hersh et al. (2006), S. 3 f.) ein zweites,
aktualisiertes systematisches Review zur Evidenzbasis der Telemedizin durch. Ihre Selektion aus 597
Publikationen, die sich mit den Wirksamkeitskriterien „Qualität der Diagnose und
Therapieentscheidung“, „Zugang zur Versorgung in Abhängigkeit davon“ und „messbarer klinischer
Outcome (Gesundheitsstatus, Verbesserung klinischer Parameter)“ befassten, enthielt 28 Studien aus
dem Anwendungsbereich eHomecare/Telemonitoring. Hieraus konnten fünf randomisierte
kontrollierte Studien eine eindeutige Verbesserung oder aber klare Gleichwertigkeit der Telemedizin
im Hinblick auf klinische Outcomegrößen belegen. Es fiel auf, dass die Rehospitalisierungsrate und
Verweildauer der Patienten und damit die Inanspruchnahme kostenintensiver stationärer Leistungen
geringer waren als in den Kontrollgruppen. Es konnten ebenfalls positive Effekte auf die Zahl der
erforderlichen Notfalleinsätze sowie der Vitalparameter als auch der Lebensqualität der Patienten
nachgewiesen werden. Zum gleichen Ergebnis kam der 2006 veröffentlichte HTA(Health Technology
3
Assessment)-Bericht „Monitoring von Herzfunktionen mit Telemetrie“ des Deutschen Instituts für
Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI). Die im HTA-Bericht enthaltenen sechs
randomisierten und kontrollierten Studien sowie fünf nicht randomisierten Studien belegen, dass beim
Monitoring von Herzfunktionen kardiale Ereignisse durch frühzeitiges Erkennen und Intervenieren
verhindert werden können. Der potenzielle Nutzen der Telemedizin ist inzwischen anerkannt, weil
diese die Effizienz im Gesundheitswesen durch rationellere Behandlungsabläufe und höhere
Behandlungsqualität steigern könnte, so das Fazit der Autoren (vgl. Heinen-Kammerer et al. (2006)).
Obwohl Studien den Nutzen und die Kosteneinsparungen durch Telemonitoring bestätigen und die
zugrundeliegende Technologie schon weit entwickelt ist, hat sich in Deutschland der Einsatz von IKT
im Gesundheitssystem aufgrund diverser Barrieren jedoch noch nicht durchsetzen können (vgl.
Berger et al. (1998)). Eine wichtige Rolle spielt hier die Akzeptanz der medizinischen
Leistungserbringer, vor allem der Ärzte, die die IKT zur Effizienzsteigerung einsetzen und in ihren
Alltag integrieren sollen. In ihrer Untersuchung zur Telemedizinakzeptanz im Doc2Doc-Bereich
fanden Schultz und Kock heraus (vgl. Schultz u. Kock (2005), S. 276 f.), dass aus Sicht der Ärzte
eigene Erfahrungswerte, Informiertheit und besonders der wahrgenommene Wert für den
Behandlungsprozess und die wahrgenommene Integrierbarkeit wichtige Treiber der Akzeptanz
darstellen. Trotz gewisser methodisch bedingter Einschränkungen in der Aussagekraft der Ergebnisse,
liefern sie mögliche wichtige Ansatzpunkte, die Akzeptanz und damit die Diffusion der Telemedizin
im Gesundheitswesen zu erhöhen.
Abbildung 1: Publikationen pro Jahr aus der Datenbank Medline über Telemedizin und die
thematisierten chronischen Krankheiten. (Quelle: Wootton (2012), S. 212)
2.3 Lebenszyklusstatus
Beim Lebenszyklusstatus (Abb. 2) der Telemedizin in Deutschland ergibt sich für die
Nachfragesituation eine zunehmende Durchdringung trotz vorhandener Diffusionsbarrieren (z. B.
Gesetze, Kostenübernahme, Akzeptanz). Der Grad der technischen Diffusion besteht in der Produkt-
und Prozessinnovation. Die hergestellten und vertriebenen Produkte weisen eine große Varianz im
4
Zuge einer geringen Standardisierung auf (z. B. länderspezifische Übertragungsfrequenzen),
wenngleich die Herstellung der nicht telematischen Basisgeräte der Massenproduktion entspricht. Der
Wettbewerb im Anwendungsfeld „Telemedizin“ kann als technologiegetrieben und mit vermehrten
Markteintritten charakterisiert werden. Die Kernkompetenzen bilden sowohl die Produktinnovationen
als auch die Prozesstechnologien. Die Telemedizin befindet sich im Lebenszyklusstatus „Wachstum“,
während sie vor allem wegen zu geringer Standardisierung der Produkte wie auch deren immer noch
beständiger Innovation und einem technologiegetriebenen Wettbewerb zum Teil den
Lebenszyklusstatus „Entstehung“ erst endgültig verlassen muss (vgl. Perlitz (2010), S. 12).
Abbildung 2: Einordnung des Lebenszyklusstatus der Telemedizin.
(Quelle: In Anlehnung an Sommerlatte und Deschamps (1986), S. 52)
2.4 Geschäftspotentiale
In Anbetracht der steigenden Anzahl chronischer Volkskrankheiten und dem gleichzeitig wachsenden
Kosten- und Wettbewerbsdruck im Gesundheitswesen ist davon auszugehen, dass für Produkt- und
Prozessinnovationen, die sich gerade dieser Probleme annehmen, große Wachstumschancen bestehen.
Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems führen in Deutschland, wie auch in anderen
Industrieländern, unverändert die Liste der häufigsten Todesursachen an (vgl. Statistisches Bundesamt
(2010)), während zudem die Anzahl chronisch herzkranker Patienten altersübergreifend ansteigt.
Infolgedessen könnte das Telemonitoring besonders im Bereich der kardiologischen
Funktionsdiagnostik präventive Hilfe leisten und die Einschränkungen in der Lebensqualität der
Patienten sowie Kosten im Gesundheitssystem mindern. In Deutschland ist die Telemedizin zwar noch
eine junge Branche, in der vorwiegend kleine und mittlere Medizintechnikunternehmen aktiv sind,
doch langfristig gesehen ist hier von einem Marktpotential für Telemonitoring-Leistungen von rund
1,5 Milliarden Euro auszugehen (vgl. Häcker (2009)).
Das Geschäftspotential für Telemonitoring-Leistungen ist in der Bundesrepublik Deutschland jedoch
nicht nur auf die Bewältigung der nationalen Kapazitätsengpässe im Gesundheitswesen beschränkt,
sondern würde durch einen weltweiten Bedarf der zugrundeliegenden Medizin-, Informations- und
Kommunikationstechnologien weiter expandieren. Importeure solcher Technologien könnten sowohl
andere Industriestaaten mit ähnlichen Gesellschaftsstrukturen und Morbiditätsraten sein als auch
Länder mit einer geringen Bevölkerungsdichte oder medizinisch schwachaufgestellten Infrastruktur.
Auch für Opfer in Krisen- oder Katastrophengebieten wären durch ein satelliten- oder
breitbandgestütztes Telemonitoring eine schnelle Ferndiagnose und daraus abgeleitete
5
Behandlungsstrategien möglich, ohne dass medizinische Spezialisten direkt vor Ort sein müssten.
Dieses Prinzip der räumlichen und zeitunabhängigen Trennung von Arzt und Patient bietet
offensichtlich auch aufkommende Einsatzmöglichkeiten für Luft-, See- oder zukünftige Raumfahrten.
Schon allein für den weltweiten Flugverkehr schätzen Experten die stark schwankende Zahl
medizinischer Notfälle auf rund 200.000 pro Jahr (vgl. Nößler (2010)). Telemonitoring könnte hierbei
durch eine umfassende und interaktive Ferndiagnose die Notwendigkeit einer teuren Zwischenlandung
abwenden und somit Kosten von bis zu 100.000 Euro für die jeweilige Airline einsparen (vgl.
Richthofen (2009)). Gleicherweise hat sich der Einsatz und die Unterstützung durch Telemonitoring
schon für Expeditionen in entlegene Gebiete und insbesondere bei militärischen Einsätzen etabliert
(vgl. Otto et al. (2003), S. 99 f.).
2.5 Akteure
Patienten als, neben den medizinischen Leistungserbringern, wichtigste Akteure in der Telemedizin
sind gefordert, für eine erfolgreiche Behandlung sowohl Ärzten eine umfassende Auskunft über ihre
Symptome zu geben (vgl. Ong et al. (1995), S. 913 f.) als auch die Eigeninitiative beim Umgang mit
ihrer chronischen Erkrankung und deren Therapie zu erhöhen (vgl. Friedenberger et al. (2009), S. 87).
Der selbstständige Gebrauch der telemedizinischen Geräte durch die Anwender bzw. Nutzer steht im
Vordergrund, wodurch Patienten auch zu Diffusionstreibern der Telemedizin werden, wenn sie z. B.
regelmäßige Gesprächsangebote von Selbsthilfegruppen wahrnehmen, um Erfahrungen auszutauschen.
Die medizinischen Leistungserbringer wie z. B. Ärzte, Krankenhäuser, Notfalldienste,
Pflegedienste, Apotheken oder Labors spielen eine wichtige Rolle für die Diffusion der Telemedizin,
da sie die IKT für ihre Gesundheitsdienstleistungen mit dem Ziel einer Effizienz- und
Qualitätssteigerung einsetzen sollen. Durch ihr medizinisches Fachwissen fokussiert sich die Aktivität
der medizinischen Leistungserbringer, im Rahmen ihrer vorher genannten Zielsetzung, neben dem
Informationsaustausch untereinander (Doc2Doc) und mit den Patienten (Doc2Patient), auf die
Kontrolle, Verantwortung und Entscheidungsgewalt von Behandlungsstrategien. Somit dienen sie
sowohl als entscheidende betriebswirtschaftlich orientierte Nutzer als auch als wichtige
Kommunikatoren und Promotoren in dem Innovationsprozess der Telemedizin.
Die Krankenkassen bzw. Krankenversicherungen haben die Rolle des Kostenträgers inne, in der sie
die Abrechnung und Erstattung der Kosten im Gesundheitswesen vollziehen. Darüber hinaus obliegt
ihnen die Verwaltung der Versichertendaten, die im Rahmen der Telemedizin effizienter und deutlich
kostensenkend genutzt werden sollen (vgl. Perlitz (2010), S. 4 f.). Insbesondere aufgrund der
angestrebten Kostenreduktion treten die Versicherer im Gesundheitssystem – zurzeit nur vereinzelt –
als Promotoren der Telemedizin auf.
Die Technischen Versorger wie die vitaphone GmbH, aipermon GmbH oder getemed AG betreiben
die Forschung und Entwicklung der für Telemonitoring-Leistungen notwendigen Technologien und
konkurrieren daher in einem Innovationswettbewerb miteinander, um eigene Wettbewerbspositionen
6
zu sichern und/oder auszubauen. Durch die Dynamik des Wettbewerbs tragen sie maßgeblich zur
Standardisierung und Qualitätssteigerung der Produkte bei. Die Kernkompetenzen der Aipermon
GmbH und getemed AG liegen in der Herstellung von Produkten für die Telekardiologische
Funktionsdiagnostik und für das Monitoring von Vitalparametern. Das Unternehmen vitaphone
hingegen definiert sich als weltweit führender global aufgestellter Telemedizin-Provider und hat sein
Spektrum von reinen Produktinnovationen auf ein Versorgungs- und Qualitätsmanagement
ausgedehnt, indem es alle angebotenen Dienstleistungen und Produkte durch den Aufbau eines
Telemedizinischen Service Centers für Patienten und Leistungserbringer vernetzt.
Die EU sowie in Deutschland Bund und Länder initiieren maßgeblich die Forschung und
Pilotprojekte, die die Implementierung der IKT im Gesundheitswesen vorantreiben. Außer Initiator
und Geldgeber zu sein kommt der Politik die prägende Rolle des Gesetzgebers zu, sodass der
rechtliche Rahmen für die Telemedizin innerhalb bestehender Gesetze zumeist mittels Lösen von
Gesetzeskonflikten geschaffen wird (vgl. Vorberg (2012)). Die EU und Deutschland übernehmen die
ganzheitliche Planung über das Etablieren der Telemedizin in Kooperation mit den
Krankenversicherungen, medizinischen Leistungserbringern, Patienten, Herstellern und Anbietern
telemedizinischer Geräte und Dienstleistungen sowie Hoch- und Berufsschulen.
Die Hoch- und Berufsschulen stehen zur Aus-, Fort- und Weiterbildung zur Verfügung. Dadurch
verankern sie im zukunftsorientierten Bereich der Bildung die Selbstverständlichkeit der Telemedizin
und den Umgang mit ihr (vgl. Krüger-Brand (2011)). Des Weiteren erarbeiten Hochschulen
Grundlagen in puncto Technologie und Entwicklung, gleichsam werden zu Themen wie
beispielsweise „Akzeptanz der Telemedizin“ [Schultz et al. (2005)] Studien erhoben, die Politik,
Wirtschaft und weiteren Entscheidern wertvolle Informationen geben, um flächendeckende
Einführung, Betrieb und Ausbau der Telemedizin in Deutschland optimal zu gestalten.
3 Beschreibung der Einflussfaktoren
Die Altersstruktur der Gesellschaft in Deutschland verändert sich in den kommenden Jahrzehnten
signifikant. Ein doppelter Alterungsprozess (niedrige Geburtenrate und steigende Lebenserwartung)
führt dazu, dass die Bevölkerung im Mittel deutlich älter sein wird. Die geburtenstarken Jahrgänge
der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts treffen auf relativ schwachbesetzte Jahrgänge der 80er
und 90er Jahre, die zukünftig als überschussbringende Einzahler im Gesundheitssystem für den
Ausgleich der Umverteilung verantwortlich sind. Für die gesetzlichen Krankenversicherungen
bedeutet dies zunehmend, dass der schwächer werdenden Einnahmeseite eine immer stärker
beanspruchte Ausgabenseite gegenüber steht. Für ältere Patienten steigen deren Kosten für
Gesundheitsleistungen mit dem Alter immer mehr an. Die Ausgaben für eine heute 65-69 Jahre alte
Person ist im Vergleich zu der Altersgruppe der 0-14-Jährigen um den Faktor 4 höher (bei über 80-
Jährigen um das Sechsfache). Diese Entwicklung wird sich durch eine zahlenmäßig stärkere Gruppe
der (erwerbslosen) über 65-Jährigen fortsetzen (vgl. Ulrich (2003)).
7
Durch die Möglichkeiten der Datenerfassung vor dem Arztbesuch ist durch Telemedizin eine
effizientere und effektivere Behandlung vor Ort möglich. Der Zeitaufwand für Basisuntersuchungen
und Ursachenfindung wird durch den Einsatz technischer Geräte und der möglichen Datenübertragung
im Vorwege verkürzt. Somit kann die Behandlungszeit bei den Ärzten vor Ort verkürzt bzw.
intensiver genutzt und die Behandlungsstrategie differenzierter erarbeitet werden. Weiterhin werden
Doppeluntersuchungen verschiedener Fachärzte durch die zentrale Datenerhebung und -bereitstellung
vermieden. In Krankenhäusern können durch die Überwachung der Patienten mittels Telemonitoring
deren Liegezeiten verkürzt werden und somit die Auslastung verbessert werden. Diese telematische
Umsetzung trägt sich durch die Effizienzsteigerung somit selbst (vgl. Schmidt (2011)).
Exemplarisch stehen die beiden oben genannten Punkte für den steigenden Kostendruck im
Gesundheitssystem. Mehrere Evaluationsstudien belegen, dass der Einsatz von telemedizinischen
Leistungen einen positiven Kosten- und Zeiteffekt besitzt. Deutlich wird auch, dass eine kritische
Masse an Patienten erreicht werden muss, um eine ausreichende Verteilung der Fixkosten zu
ermöglichen (vgl. Salomo und Schultz (2005)).
Die rasante Entwicklung technischer Geräte im Zuge der Miniaturisierung durch Mikro- und
Nanotechnologien in der Halbleiterherstellung ermöglicht den Einsatz der IKT über vielerlei
Anwendungsfelder hinweg. So fand auch die Verwendung dieser Techniken und Prozesse Einzug in
die Medizin. Die kontinuierliche Datenerfassung und -übertragung durch telemedizinische Geräte
eröffnen neue Behandlungsmethoden und mittel- bis langfristig Einsparungen im Gesundheitssektor.
Nach einem Bericht der Bundesärztekammer (BÄK) besitzen 92% der Krankenhäuser und 80% der
niedergelassenen Ärzte einen Internetanschluss in ihren Praxen, jedoch tauschen sich Ärzte
untereinander nur zu 14% via Email über Patientendaten aus. Die befragten Ärzte sehen Potentiale der
Telemedizin vorwiegend in den Bereichen der Teleradiologie, Telekonsultation und des
Telemonitorings (vgl. Institut für Demoskopie (2010)).
Ein konkreter technologischer Bereich stellt die, unter dem Begriff „Ambient Assisted Living“ (AAL)
zugefasste, individuelle Unterstützung durch Assistenzsysteme von Patienten dar. Vorwiegend
chronisch kranken und pflegebedürftigen Patienten wird dadurch die Möglichkeit eröffnet,
medizinische sowie Pflegeleistungen in häuslicher Umgebung zu nutzen und somit stationäre
Aufenthalte in Krankenhäusern oder Pflegestätten zu minimieren (vgl. T-Systems (2010)).
Im Weiteren ist die Rolle des Datenschutzes für die Telemedizin zu untersuchen. Diesem
Einflussfaktor kommt aufgrund der hohen Sensibilität der persönlichen Daten im Gesundheitswesen
eine außerordentliche Bedeutung zu. Aus diesem Grund müssen bei der Anwendung der Telemedizin
die allgemeinen datenschutzrechtlichen Anforderungen des Bundes und der EU besondere Beachtung
finden, damit es zu keiner rechtlichen oder faktischen Verschlechterung der Patientenrechte kommt.
Zu solchen Sicherheitsanforderungen gehören u.a. die Vertraulichkeit, Validität, Revisionsfähigkeit,
Nutzungsfestlegung und die Rechtssicherheit der Daten, die einen Einfluss auf mögliche Formen der
Datenhaltung innerhalb der Telemedizin haben (vgl. Bultmann et al. (2002), S. 3 f., 10 ff.).
8
4 Entwicklung der Einflussfaktoren
Die Entwicklung der Einflussfaktoren entstand durch intensive Gruppendiskussion auf der Grundlage
der Literaturrecherche. Dabei wurde für jeden Einflussbereich ein Brainstorming durchgeführt, um
möglichst alle Aspekte abzudecken. Im weiteren Verlauf wurden diese Punkte in der Gruppe
verifiziert und deren Bedeutung für das Anwendungsfeld erarbeitet.
Demographisch:
Veränderung der Altersstruktur Rückläufige Geburtenrate und höhere Lebenserwartung
Urbanisierung Vermehrte Landflucht
Anzahl chronisch Kranker Altersübergreifender Anstieg
Politisch-rechtlich:
Elektronische Gesundheitskarte Symbol- und kostenträchtiger Initiator der Telemedizin
Moderation des Aufbaus,
Ausbaus und Betriebes der
Telemedizin
Ganzheitliche Planung und Schaffung der Infrastruktur sowie der
Diffusion landesweit
Rechtliche Standards EU-weit uneinheitliche rechtliche Rahmenbedingungen
Verbraucherzentralen,
Patienten- und
Versichertenvereinigungen
Anlaufstellen bei Unregelmäßigkeiten und Fragen auf
Patientenseite
Prüfung und Zertifizierung Medizinische und technische Überwachung zur Wahrung
rechtlicher Standards und Normen
Datenschutz Gewährleistung sicherer Datenspeicherung, -verwaltung und
-übertragung patientenbezogener Daten
Haftung für medizinisches
Handeln Klare Zuweisung und Abgrenzung von Verantwortungsbereichen
Ökonomisch:
Bereitschaft zum Eigenanteil Unterschiedliche Finanzierungsmodelle
Höhe der Eintrittskosten Hohe spezifische Investitionen in IKT nötig
Serviceorientierung Aufbau vermehrter Servicedienstleistungen
Kosten der Industrie Rohstoff- und Herstellungskosten
Verbreitungsgrad des
Breitbandnetzwerkes Schon vorhandene Infrastruktur
Kosten des Gesundheitssystems Steigender Kostendruck durch veränderte Altersstruktur
Entlohnung Bezahlung zusätzlicher Akteure
Effizienz und Effektivität Qualität der patientenspezifischen Behandlung
Marktstruktur Diffusionsbarrieren, Zersplitterung des Marktes, Wettbewerb
Technologisch:
Innovationswettbewerb Förderung der Entwicklungsgeschwindigkeit
Cloudcomputing Stabile Datenverfügbarkeit
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Benutzerfreundlichkeit Handhabung und intuitive Bedienbarkeit
Haltbarkeit Technische und materielle Langlebigkeit
Kompatibilität Leichte Integration neuer Technologien in vorhandene
Infrastruktur
Zuverlässigkeit Genaue und verlässliche Datenerhebung
Länderspezifische
Übertragungsfrequenzen Verschiedene Übertragungsstandards
e/mHealth Mobile und elektronische Plattform der Kommunikation
Langzeitkontrolle Einfache langfristige Überwachung
Videokonferenzsysteme Neue Möglichkeiten der Kommunikation zwischen Arzt und
Patient und Arzt zu Arzt, höheres Vertrauen
Leistungsfähigkeit und
Konvergenz von Technologien
Technologische Annäherung und Eingliederung sowie
fortschreitende fachfremde technologische Entwicklung
Sensortechnik Ambient Assisted Living und Möglichkeiten der häuslichen
Kontrolle
Industrienormen Einheitliche Entwicklungsstandards
Sozio-kulturell:
Gesundheitsbewusstsein Gesellschaftliche Veränderung zur gesunden Lebensweise
Entpersonalisierung Befürchtung eines leidenden Arzt-Patienten-Verhältnisses
Medien Informationskanal
Anzahl von Digital Natives und
Digital Immigrants Intuitive, vertraute Handhabung technischer Geräte
Persönliche technologische
Einstellung Aversion älterer Menschen, Vertrautheit jüngerer
Eigenverantwortung Bereitschaft zur Kommunikation und Information bzgl. neuer
Behandlungsmethoden
Lobbyismus Einfluss ethischer und moralischer Institutionen
Akzeptanz bei medizinischen
Leistungserbringern
Integration und Nutzenerkennung durch Informiertheit und
Erfahrungswerte
Akzeptanz bei Patienten Einstellung und Bereitschaft zur Integration in den Alltag
Medizinisch:
Individualisierte Medizin Patientenspezifische Behandlung
Ganzheitliche Medizin Disziplinübergreifende Anwendung
Entwickeln neuer Kompetenzen Fort- und Weiterbildungen zum Kompetenzausbau der
medizinischen Leistungserbringer
Qualitätsmanagement Sicherstellung qualitativ hochwertiger Behandlungen
Fachärzteverteilung Fachärztemangel in ländlichen Gebieten
Als Quellen für die Ausarbeitung der Einflussfaktoren wurden sowohl medizinische als auch
ökonomische Studien und Papers herangezogen. Abgesehen von der Einstiegsliteratur dienten sowohl
weitere wissenschaftliche Publikationen als auch industrielle Berichte sowie Leitfäden zur
Abgrenzung einzelner Einflussfaktoren.
10
5 Durchführung der Szenarioanalyse
Im Rahmen eines Seminars wurde in Kooperation mit der Deutschen Stiftung für chronisch Kranke
eine Szenarioanalyse über die Zukunft der Telemedizin 2020 in Deutschland durchgeführt. Auf
Grundlage des Szenario-Ansatzes nach v. Reibnitz (vgl. v. Reibnitz (1991)) erfolgte die Analyse in
einer Gruppenarbeit mithilfe der Software EIDOSTM
8.2 (vgl. Parmenides Foundation© (2005-2012)).
Gemäß den ersten beiden Schritten des Szenario-Ansatzes wurde nach der Definition des
Anwendungsfeldes, der Identifikation der relevanten Akteure und dem Erstellen einer Long-List der
Einflussfaktoren die gegenwärtige Situation der Telemedizin in Deutschland analysiert. Die Long-List
aus über 40 Einflussfaktoren wurde anschließend durch die Diskussion der Gruppenteilnehmer zu
einer Short-List aus 20 Einflussfaktoren (Abb. 3) verdichtet, sodass möglichst dezidierte
Einflussfaktoren definiert und gegenseitige Überschneidungen weitestgehend reduziert wurden. Um zu
erfahren, welche der 20 Einflussfaktoren die zukünftige Entwicklung der Telemedizin maßgeblich
beeinflussen, wurden gegenseitige Wechselwirkungen dieser Faktoren jeweils aufeinander bewertet.
Im Falle einer starken oder auch schwachen/indirekten Wechselwirkung zweier Einflussfaktoren
untereinander, wurde diese entweder als positiver oder negativer Einfluss entsprechend einer Skala
von +2 bis -2 bewertet. Zur grafischen Veranschaulichung wurden die 20 Einflussfaktoren in
EIDOSTM
8.2 auf einem Kreis angeordnet und die Wechselwirkungen durch Pfeile dargestellt (Abb. 4).
Auf Grundlage des durch Recherche zum Anwendungsfeld erworbenen Wissens ergab die Bewertung
eine Unterteilung der Einflussfaktoren in vier Gruppen. Die erste Gruppe beeinflusst die restlichen
Einflussfaktoren sehr stark und wird selbst kaum beeinflusst; diese Gruppe besitzt hohe Aktiv- und
geringe Passivsummen. Die zweite Gruppe verzeichnet sowohl hohe Aktiv- als auch hohe
Passivsummen; sie ist prägend für die anderen Einflussfaktoren, wird aber auch selbst stark
beeinflusst. Die Einflussfaktoren der dritten Gruppe, mit geringen Aktiv- und hohen Passivsummen,
befinden sich zum Teil noch im relevanten Spannungsfeld der Einflüsse, wohingegen die vierte
Gruppe, mit geringen Aktiv- und Passivsummen, abseits von Beeinflussung und Beeinflussbarkeit, in
der Regel irrelevant ist. Anschließend wurde die Lage der Einflussfaktoren in einer Aktiv/Passiv-
Matrix illustriert (Abb. 5). Anhand dieser Darstellung konnten die wichtigsten Einflussfaktoren der
ersten beiden Gruppen ausgewählt werden. Dies sind: „Anzahl chronisch Kranker“, „Urbanisierung“,
„Kosten im Gesundheitswesen“, „Rechtliche Rahmenbedingungen“, „Qualität der Behandlung“ und
„Akzeptanz bei Patienten“.
Der Einflussfaktor „Lobbyismus“ zeigte zwar eine hohe Aktivsumme, wurde jedoch nicht selektiert,
weil er eine zu geringe Passivsumme aufwies und im Gegensatz zu der „Anzahl chronisch Kranker“
und der „Urbanisierung“ keine direkte Pro- oder Kontra-Charakteristik gegenüber der Telemedizin
besaß. Unter „Lobbyismus“ wurden Inhalte versammelt wie z. B. die Beeinflussung der
Rechtsvorschriften durch die Lebensmittelindustrie, die über eine erhöhte Anzahl chronisch kranker
Menschen Einfluss auf die Telemedizin nähme. In der Diskussion stellte sich aber heraus, dass ein
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Einflussfaktor mit direktem Bezug zur Telemedizin zum Wohle der eindeutigen Abgrenzung der
Einflüsse gewählt werden sollte. Hierzu wurden die Einflussfaktoren an der Grenze zwischen der
zweiten und dritten Gruppe betrachtet. Alle wiesen eine relativ hohe Passivsumme sowie nur geringe
Unterschiede bei den Aktivsummen auf. Der Einflussfaktor „Qualität der Behandlung“ setzte sich in
der Diskussion gegen die ebenso relevante „Entpersonalisierung“ durch, da die Qualität der
medizinischen Behandlung fortwährend die Telemedizin beeinflusst, wobei die befürchtete
Entpersonalisierung der Behandlung die Telemedizin nur kurzfristig beeinträchtigen würde. Die
Entpersonalisierung zeichnet sich eher als ein übergreifendes und allgemeines Phänomen in der
Gesellschaft ab, sodass Patienten sich bei der medizinischen Betreuung an den Umgang und die neu
übernommene Eigenverantwortung gewöhnen werden, wie auch in anderen Bereichen des Lebens
(Fahrkartenautomat, Hotlines, Online-Banking).
Dem dritten Schritt des Szenario-Ansatzes nach v. Reibnitz entsprechend wurden für die insgesamt
sechs gewählten Einflussfaktoren jeweils drei bis fünf Mikroszenarien entwickelt, die möglichst
plausibel und unterschiedlich sein sollten. Ein Mikroszenario bzw. Deskriptor beschreibt eine
eindeutige oder auch alternative Entwicklung des jeweiligen Einflussfaktors. Dass Herzkrankheiten
bei Berufstätigen zunehmen, ist eine Zukunftsprojektion für den Einflussfaktor „Anzahl chronisch
Kranker“. Dass die „Anzahl chronisch Kranker“ sinkt, weil Diabetes in Zukunft heilbar wäre, stellt
eine weitere Projektion dieses Einflussfaktors dar. Zur Ausgestaltung eines Mikroszenarios wurden
Überlegungen basierend auf dem Wissensstand, aktuellen Themen oder auch möglichst kreativen
Denkansätzen formuliert. Bei dem Einflussfaktor „Urbanisierung“ kann z. B. eine Stadtflucht
aufgrund günstigerer Mieten auf dem Land einsetzen oder Küstenbewohner müssen ihren Lebensraum
wegen steigender Meeresspiegel verlassen. So wird in einem Mikroszenario ein Einflussfaktor
gestärkt, geschwächt oder bleibt unverändert. Wenn z. B. Patienten den Nutzen der Telemedizin aus
verschiedenen Gründen partout nicht erkennen, dann verändert sich folglich die „Akzeptanz bei
Patienten“ nicht. Gleichwohl kann die Akzeptanz zunächst auf demselben Niveau verharren und erst
ab einem bestimmten Zeitpunkt steigen. Wie plausibel die Entwicklung eines Einflussfaktors
gemeinsam mit der Entwicklung eines anderen Einflussfaktors ist, wurde in einer sogenannten
Konsistenzmatrix bewertet; der vierte Schritt des Szenario-Ansatzes. Die Bewertung erfolgte hierbei
nach dem Grad der gemeinsamen Konsistenz oder des gegenseitigen Widerspruchs, den die jeweils
paarweise Zusammensetzung zweier Mikroszenarien zur Folge hätte. Auf Grundlage dieser
Konsistenzanalyse wurden im fünften Schritt jeweils sechs Mikroszenarien mittels EIDOSTM
8.2 zu
möglichen Szenarien kombiniert und nach absteigendem Konsistenzwert aufgelistet. Zunächst wurde
aus der resultierenden Cluster-Ansicht (Abb. 6) das Szenario mit dem höchsten Konsistenzwert, also
Szenario 1, ausgewählt. Wie Szenario 1 sollte auch Szenario 2 die Bedingung erfüllen, inhaltlich über
eine schlüssige Kombination von Mikroszenarien zu verfügen. Darüber hinaus sollte das
nächstgewählte Szenario 2 in der Cluster-Ansicht einen möglichst großen Abstand zu Szenario 1
besitzen. Das zuletzt gewählte Szenario 3 wurde schließlich ausgesucht, da es durch seine
12
ausgeprägten Unterschiede zu den anderen beiden Szenarien inhaltlich neue und interessante Aspekte
anbietet. Die sechs Mikroszenarien, aus denen die drei gewählten Szenarien (Tabelle 1) jeweils
bestehen, wurden im Anschluss inhaltlich miteinander verknüpft und zu einem Gesamtbild eines
Szenarios verdichtet und interpretiert. Aus den unterschiedlichen Verflechtungen der jeweils sechs
Projektionen entstanden somit drei unterschiedliche Szenarien, anhand derer sich etwaige
Konsequenzen für das Anwendungsfeld Telemedizin analysieren und entsprechende
Handlungsempfehlungen für ihre bisherigen und zukünftigen relevanten Akteure ableiten lassen.
Tabelle 1: Übersicht der drei gewählten Szenarien.
Szenario 1
Prä-Kollaps
Auf dem Weg nach unten
Szenario 2
Telemedizin 2.0
My Health, Our Business
Szenario 3
Grauer Star
Fehlt der Durchblick?
13
6 Beschreibung der Szenarien
6.1 Szenario 1: Prä-Kollaps – Auf dem Weg nach unten
In den Trümmern des deutschen Gesundheitswesens glimmt ein Funke auf: Telemedizin.
Nach dramatisch angestiegenen Zahlen der Herzkrankheiten bei Berufstätigen müssen weniger
Beitragszahler höhere Kosten schultern und die ländliche medizinische Infrastruktur ist überlastet.
Dann erst wird sich die Politik auf eine Anpassung des Fernbehandlungsverbotes zubewegen; die
Telemedizin setzt sich von da an nicht alleine durch, sondern muss von den Ärzten und dem am
eigenen Leib erfahrenen Nutzengewinn der Patienten getragen werden (Tabelle 2). Die hohen
finanziellen Aufwendungen zur Installation der telemedizinischen Voraussetzungen (z. B. System für
den ID-Zugriff auf elektronische Patientendaten) schrecken nur noch die Wenigsten ab, weil die
Erkenntnis, dass das Gesundheitswesen eine tiefgreifende Reform benötigt, allgegenwärtig wird.
Tabelle 2: Die sechs enthaltenen Mikroszenarien des Szenarios 1 (Konsistenzwert nach EIDOS: 1,67).
Im Jahr 2020 führt das ständig voran schreitende Ökonomisieren des Lebens dazu, dass die
sogenannte „Manager-Krankheit“ endgültig zur Volkskrankheit wird (vgl. Kivimäki et al. (2012)).
Der von Unternehmen auf Privatpersonen übertragene Wettbewerbsdruck, der immer größere
Leistungen in immer kürzerer Zeit verlangt, lässt den Zustand des „Dauerstresses“ eintreten. Die
Schlaf- und Ruhezeiten werden kürzer, auch u. a. weil das Anpassen an ungesunde Trends in Form
von Fitnesswahn, ökonomisch-effiziente Selbstoptimierung und selbstverordnete bzw. unterhaltende
Dauerbeschäftigung die Freizeitgestaltung bestimmen – „Survival of the Fittest“ wird solange
betrieben, bis der Körper als der Klügere nachgibt. Die neu hinzugekommenen Herzinsuffizienz-
Patienten füllen zusätzlich die Wartezimmer der insbesondere auf dem Land demographisch bedingt
seltener werdenden Spezies „Arzt“, die der steigenden Patientenzahl Rechnung tragen und für viele
Patienten die Behandlungszeiten kürzen müssen.
•Herzkrankheiten nehmen bei Berufstätigen zu Anzahl chronisch Kranker
•Stadtflucht aufgrund günstigerer Mieten auf dem Land Urbanisierung
•Steigende Kosten aufgrund weniger Beitragszahler Kosten im Gesundheitswesen
•Anpassung des Fernbehandlungsverbotes lockert die Rahmenbedingungen
Rechtliche Rahmenbedingungen
•Qualität sinkt, weil ein Arzt mehr Patienten behandeln muss
Qualität der Behandlung
•Akzeptanz steigt ab einem bestimmten Zeitpunkt, wenn mehr Ärzte Telemedizin nutzen
Akzeptanz bei Patienten
14
Unter knappen Sprechstunden wird die Qualität der medizinischen Behandlung leiden, weil
geschilderte Symptome mit den erstbesten Therapien behandelt werden, aber die eingehende
Beschäftigung mit Komorbiditäten und ganzheitlicher Betrachtung des Krankheitsbildes eines
Patienten in unzureichendem Maße erfolgt. Um von einem Arzt zufriedenstellend behandelt zu
werden, ist es in der Stadt noch überwiegend möglich, den für sich besten Arzt auszuwählen. Die
Zentralisierung von Ärzten in Städten steht im Gegensatz zu einer einsetzenden Stadtflucht, die den
weniger werdenden Landärzten noch mehr Patienten beschert. Die stark gestiegenen städtischen
Mieten und stetig erhöhte Krankenkassenbeiträge, verursacht durch chronisch Kranke, lassen mit dem
ÖPNV vom Land in die Stadt mehr Berufspendler fahren, die das Warten an der Haltestelle schon aus
den Wartezimmern der Ärzte gewöhnt sind.
Trotz eines Anstiegs chronischer Patienten sowie eines Renteneintritts ab 70 Jahren werden die
Menschen in Deutschland älter und nehmen die Rentenauszahlung länger in Anspruch. Von dieser
gegenüber ihrem Arbeitslohn bzw. ihres Arbeitsgehalts deutlich reduzierten Rente zahlt die beständig
wachsende Bevölkerungsschicht der Rentner weniger Krankenkassenbeiträge. Darüber hinaus
erzeugen mehr und mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse eine kleiner werdende Menschengruppe,
die permanent und in relativ hohem Maße in die gesetzlichen Krankenkassen einzahlt. Die Bedeutung
der privaten Krankenversicherungen fällt kaum ins Gewicht, wenn sich das Ungleichgewicht zwischen
Einzahlungen in das Gesundheitswesen und Inanspruchnahme der Leistungen einstellt. – Das deutsche
Gesundheitssystem wackelt bedrohlich; es steht vor dem Kollaps.
Eine sich verteuernde und auf dem Land aus Kapazitätsgründen schlechter werdende medizinische
Versorgung zwingt die Politik, das Fernbehandlungsverbot für den Einsatz der „leisen und nicht
gehörten“ Telemedizin anzupassen, damit vor dem Kollaps des Gesundheitswesens die rettende
Telemedizin eingeführt wird. Das wird der Startschuss der bundesweiten flächendeckenden
Telemedizin sein, der weitere rechtliche Regelungen nach sich zieht, z. B. wenn es darum geht, die
neue Kompetenzverteilung beim Aufbau und Betrieb von Telemedizin-Zentren rechtlich abzusichern.
Der schlechte Zustand des Gesundheitssystems wird zur besten Empfehlung für die Telemedizin. Die
Kostenträger haben nur die Wahl gehabt, der Spirale des deutschen Gesundheitswesens nach unten,
weiter bergab zu folgen, oder die Telemedizin einzuführen.
Wohingegen die Wichtigsten im Gesundheitswesen, die Patienten, erst noch überzeugt werden wollen.
Ihre Akzeptanz ist der unter Zwang eingeführten Telemedizin nur dann sicher, wenn sie den
Nutzenzuwachs erkennen, ihre Daten sicher sind und die für sie Vertrauenswürdigsten im
Gesundheitswesen, die Ärzte, ihnen die Telemedizin mit gesammelten guten Erfahrungen empfehlen.
Weil mit der Zeit die Patienten zum einen ihren individuellen Nutzen erkennen und zum anderen
zudem merken, wie das deutsche Gesundheitssystem durch Kostenersparnis und wieder längere
Sprechstunden förmlich aufatmet, liegt am Ende des Weges des deutschen Gesundheitswesens nach
unten – gerade hier durch massiven Handlungsbedarf – das fast schon unverhoffte Geschäftspotential
der Telemedizin.
15
6.1.1 Handlungsempfehlungen
Mehr chronisch Kranke vergrößern die Bedarfslücke im deutschen Gesundheitswesen. Weniger
Beitragszahler, die mehr Kosten tragen müssen; Ärzte, die ihre Sprechstunden optimieren müssen, um
den Patientenzulauf zu bewältigen, und Stadtflucht, die zu einer Überlastung der ländlichen
medizinischen Infrastruktur führt, stellen Probleme dar, die einer Auseinandersetzung mit den
Gegebenheiten und Beteiligten bedürfen. Gespräche sollten eine Bestandsaufnahme der
Schwierigkeiten verursachenden Entwicklungen sowie Lösungsaussichten enthalten. Dass die
Telemedizin die gegebene Problemstellung auflösen kann, muss stärker vermittelt werden.
Ebenso sollte erst einmal in der breiten Öffentlichkeit über die Existenz der Telemedizin z. B. mittels
Werbung, Broschüren und Schwerpunktdiskussionen informiert werden. Künftig ergäbe sich ein
Bewusstsein, dass mit der Telemedizin eine Lösung für die Kapazitätsengpässe im Gesundheitswesen
bereitsteht. Bei der Einführung und dem Betrieb der Telemedizin muss dann weiterhin die
Kommunikation ein wichtiger Bestandteil sein, damit sich nicht wieder Probleme parallel aufbauen,
die gemeinsam von Politik, medizinischen Leistungserbringern, Kostenträgern und Unternehmen
bewältigt werden müssen.
Die Kooperation innerhalb der medizinischen Leistungserbringer bewirkt in der Folge einen Abbau
der Barrieren zwischen der ärztlichen Versorgung und dem Pflegebereich, um außerdem gestiegene
Patientenzahlen zu bewältigen. Die sogenannten Disease-Management-Programme, die strukturierte
Behandlungen chronischer Erkrankungen vorgeben, können als Brückenkopf benutzt werden, um die
Telemedizin in vorhandene Abläufe und Strukturen zu integrieren; sie beweisen schon jetzt, dass eine
erhöhte und behandlungsübergreifende Transparenz das Qualitätsmanagement sowie die Versorgung
der Patienten verbessert. Die angestrebte intensive Zusammenarbeit der medizinischen
Leistungserbringer erfordert den Austausch der Patientendaten – auch in Hinblick auf eine sinnvolle
Verwendung der Telemedizin. Dabei müssen die Kompatibilität der Datensysteme und ebenso – ganz
wichtig – ihre Sicherheit gewährleistet sein; von diesen Voraussetzungen wird überdies die Akzeptanz
der Telemedizin beeinflusst.
Als letzte wichtige Empfehlung ist die Anpassung des Fernbehandlungsverbots auszugeben. Um in
Deutschland eine flächendeckende Telemedizin mit telemedizinischen Zentren betreiben zu können,
sodass niedergelassene Ärzte entlastet werden, besteht die Notwendigkeit, das Fernbehandlungsverbot
rechtlich so zu gestalten, dass die telemedizinische Behandlung eines Patienten durch einen Arzt nicht
zuerst vis-à-vis erfolgen muss – was die Telemedizin, die „Behandlung aus der Ferne“, bisher unnötig
erscheinen lässt.
Die gegebenen Empfehlungen stehen relativ weit am Anfang des flächendeckenden Aufbaus der
Telemedizin in Deutschland. Zu späterer Zeit empfiehlt sich, der Datensicherheit mit wachsender
Wachsamkeit – erneut ausführlich wie bei der Einführung – zu begegnen, weil eine Datenbank, deren
Bestand der Datensätze in den Bereich von mehreren zehn Millionen vorstößt, für Hackerangriffe
zunehmend attraktiver wird.
16
6.2 Szenario 2: Telemedizin 2.0 – My Health, Our Business
Im folgenden Szenario wird die Telemedizin nicht aus einer vorangegangenen unausweichlichen
kapazitiven Not im Gesundheitswesen entspringen, sondern sich vielmehr über ein stärker gewordenes
Gesundheitsbedürfnis und dem damit einhergehendem Markt verbreiten. Dieses neuartige
Gesundheitsbedürfnis konzentriert sich in einem trendgewordenen Bewusstsein aktiv an der Erhaltung
der eigenen Gesundheit mitzuwirken, diese auf unkomplizierte Art und Weise mittels moderner IKT
eigenständig überwachen zu können und möglichen Krankheiten durch eine gesündere Lebensweise
schon präventiv vorzubeugen. Der wachsende Stellenwert der eigenen Gesundheit wird in der
Bevölkerung zu einer intensiveren Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung führen,
insbesondere in Bezug auf die Ernährung und den Konsum, der Freizeitgestaltung oder der Wohnort-
und Berufswahl. Dieses Phänomen bildet in Synergie mit weiteren Deskriptoren (Tabelle 3) das
Szenario Telemedizin 2.0, in dem sich sowohl Märkte innerhalb und außerhalb des Gesundheitswesens
als auch regionale und gesellschaftliche Strukturen verändert haben.
Tabelle 3: Die sechs enthaltenen Mikroszenarien des Szenarios 2 (Konsistenzwert nach EIDOS: 1,60).
Durch gesunde Ernährungsformen und die daraus resultierende gewachsene Nachfrage werden
Bioprodukte und Lebensmittel ohne künstliche Farb- und Konservierungsstoffe im Jahr 2020 den
größten Marktanteil eingenommen haben. Der hohe Zuckeranteil in vielen Lebensmitteln wird durch
den Einsatz des natürlichen und kalorienfreien Süßungsmittels Stevia zunehmend substituiert und so
die Verbreitung von Adipositas und Diabetes in der Gesellschaft nachhaltig reduziert. Neben dem
Bedürfnis gesunde Nahrungsmittel zu konsumieren und sich durch sportliche Ertüchtigung körperlich
fit zu halten, wird das starke Gesundheitsbewusstsein die Gesellschaft auch in der Wahl des
Wohnortes zunehmend beeinträchtigen. Im Vergleich zur Großstadt bieten ländlichere Regionen ein
attraktiveres Umfeld für den gesundheitsbewussten Bewohner, da die Schadstoff- und
Feinstaubelastungen oder auch stressfördernde Umweltfaktoren wie Lärm- und Lichtbelästigungen
dort in der Regel geringer sind. Die vermehrte funktionale Urbanisierung wird dazu führen, dass sich
•Steigendes Gesundheitsbewusstsein verringert die Anzahl chronisch Kranker
Anzahl chronisch Kranker
•Bei vermehrter funktionaler Urbanisierung sinkt die physische Urbanisierung
Urbanisierung
•Steigender Wettbewerbsdruck verringert die Kosten Kosten im Gesundheitswesen
•Anpassung des Fernbehandlungsverbotes lockert die Rahmenbedingungen
Rechtliche Rahmenbedingungen
•Qualität steigt durch neue Therapieansätze und alternative Behandlungsmethoden
Qualität der Behandlung
•Akzeptanz steigt durch mediale Omnipräsenz Akzeptanz bei Patienten
17
die Strukturen in ländlichen Gebieten und das Leben der Landbewohner nachhaltig verändern. Durch
die Verflechtung zwischen Stadt und Land wird sich die städtische Produktion ausbreiten und somit
zunehmend moderne Mobilitäts- als auch Kommunikations- und Informationsnetze schaffen. Anstatt
vom Land in die naheliegende Stadt zu ziehen, wird der Ausbau eines Stadt-Land-Kontinuums die
städtische Lebensweise in ländlichen – gesünderen – Regionen ermöglichen.
Die Trendentwicklung innerhalb dieses Szenarios wird von einer informativen als auch kommerziellen
medialen Omnipräsenz begleitet und das Interesse der Gesellschaft hinsichtlich des Themas
Gesundheit somit kontinuierlich geschärft. Werbung und Produktplatzierungen werden dazu führen,
dass die Aufmerksamkeit und Akzeptanz gegenüber modernen IKT enorm ansteigt, um mit deren
Hilfe die erstrebenswerte gesunde Lebensweise sowohl orts- und zeitunabhängig als auch
eigenständig organisieren und kontrollieren zu können. Insbesondere in der Ernährungsberatung bzw.
Gewichtskontrolle sowie im Fitnessbereich und professionellem Leistungssport wird bis 2020 das
Telemonitoring fest verankert sein. Auf dem Grundprinzip eines Schrittzählers könnten die in
Textilien eingebauten Sensoren kontinuierlich Vitalparameter wie beispielsweise den Puls, Blutdruck,
Wasser-, Fett- oder Muskelgehalt erfassen und dem Träger dieser Kleidung effektiv helfen seine
Energiebilanz zur Gewichtskontrolle oder zu Trainingszwecken zu optimieren (vgl. Härter (2012)).
Auch Hersteller von Spielkonsolen könnten schon bald durch optional erhältliches Zubehör die
Möglichkeit des Telemonitorings in diverse Sport-Videospiele implementieren. Ein QR-Code (vgl.
Yokota (2009)) auf allen Lebensmittelverpackungen und Speisekarten würde es zudem ermöglichen
die aufgenommenen Kalorien und Inhaltsstoffe einer Mahlzeit bequem über das Smartphone zu
erfassen (vgl. Fleischhauer (2011)), um diese in einem sogenannten Ernährungstagebuch überwachen
und gegebenenfalls Defizite oder auch mögliche Allergien vorzeitig signalisieren zu können.
Aufgrund der gesünderen Ernährung und Lebensweise wird die Häufigkeit chronischer Krankheiten
wie Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems oder Diabetes rückläufig sein. Zugleich werden sich
zukünftig in einem steigenden Wettbewerbsdruck um die Bedürfnisse der gesundheitsbewussten
Beitragszahler neue Dynamiken in Bezug auf die Kosten im Gesundheitswesen abzeichnen. Das
Auslaufen einiger Patente für Pharmazeutika (vgl. Reuters (2010)) wird den Markt für Hersteller
günstiger Generika öffnen und dazu führen, dass die Kosten der Krankenkassen für
verschreibungspflichtige Medikamente erheblich sinken. Die Krankenkassen werden ihre Leistungen
der großen Varianz bezüglich des Gesundheitsstatus ihrer Beitragszahler anpassen und mehr
Leistungen zu geringeren Preisen anbieten. Überdies wird eine transparentere Abrechnung durch das
Ausstellen individueller Kostenauflistungen für jeden Patienten das Bewusstsein für qualitative
medizinische Behandlungen schärfen, sodass Patienten selbst stärker darauf achten, welche
Untersuchungen sie durchführen lassen und abgerechnet werden. Dieses offene Preis-Leistungs-
Verhältnis bezüglich medizinischer Leistungen würde die Patienten in die Lage versetzen, gezielter die
für sie besten Behandlungen auszuwählen und folglich eine Bereitschaft erzeugen, für bessere Qualität
auch mehr zu zahlen. Während das Qualitätsmanagement innerhalb des Gesundheitswesens an
18
Bedeutung gewinnen wird, können bestimmte Märkte außerhalb des Gesundheitswesens mittels
telemedizinischer Prinzipien, wie dem Telemonitoring, wachsen, indem ihre primären
Anwendungsmöglichkeiten wie z. B. Ernährung, Fitness oder Unterhaltung nicht allzu strengen
rechtlichen Rahmenbedingungen unterliegen. Die Sicherheit personenbezogener Daten liegt nämlich
vorwiegend in der Eigenverantwortung des Nutzers der telemonitorischen Applikationen, zudem
beschränken sich etwaige Haftungsrichtlinien im Wesentlichen auf Garantie- und
Gewährleistungsansprüche hinsichtlich dieser Geräte, weniger auf womöglich schwerwiegende Folgen
einer daraus abgeleiteten medizinischen Behandlung. Im Paragraph 7 Absatz 3 der
Musterberufsordnung für Ärzte ist gefordert, dass Ärztinnen und Ärzte individuelle ärztliche
Behandlung, insbesondere auch Beratung nicht ausschließlich über Kommunikationsmedien oder
Computerkommunikationsnetze durchführen dürfen. Die Anpassung dieses sogenannten
Fernbehandlungsverbotes an die derweil fortgeschrittene Technologie, ihr Potential und auch ihr
Verbreitungsgrad wird letztendlich dazu führen, die orts- und zeitunabhängigen Diagnosemethoden
zur Behandlung chronisch kranker Patienten rechtlich zu legitimieren. Durch die kontinuierliche
Erfassung ihrer Vitalparameter wird chronisch kranken Patienten eine gewisse Sicherheit und
Unabhängigkeit im Umgang mit ihrer Krankheit zurückgegeben. Der Erfolg der neuen
telemedizinischen Therapieansätze wird sich nicht nur in der gesteigerten Lebensqualität, sondern
auch in einem gesunkenen Risiko, insbesondere bei Herzkranken, widerspiegeln (vgl. Heinen-
Kammerer et al. (2006)).
6.2.1 Handlungsempfehlungen
Aus den Charakteristika des Szenarios Telemedizin 2.0 lassen sich gewisse Folgen für das
Anwendungsfeld Telemedizin und mögliche Handlungsstrategien für bisherige und zukünftige
relevante Akteure ableiten. Da sich die Telemedizin durch einen Trend etabliert, der in erster Linie auf
einer gesunden Ernährung und Lebensweise aufbaut, sollten bereits vorhandene Technologien in ihren
Anwendungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden, um primär dieses Bedürfnis zu befriedigen.
Hersteller der benötigten Technologie sollten dementsprechend weniger F&E-intensive radikale
Innovationen und Spezifikationen auf einzelne Krankheiten verfolgen, sondern eine einfache
Produktpalette anbieten, die besonders für telemonitorische Anwendungen im Ernährungs- und
Fitnessbereich nützlich sind. Die qualitativen Eigenschaften der Geräte sollten sich besonders durch
ihr Design, ihre Bedienbarkeit und ihre Haltbarkeit auszeichnen, anstatt in Hinblick auf eventuelle
Haftungsansprüche durch ihre medizinische Anwendung. Solche Produkte würden somit weniger von
Unternehmen aus der sehr spezialisierten Medizintechnik stammen, sondern viel eher aus Märkten in
den Bereichen Fitness, Unterhaltung, Textilien oder Ernährung. Unternehmen aus diesen Märkten
sollten die Anwendungsmöglichkeiten und Chancen des Telemonitorings berücksichtigen, um sich
von ihrer Konkurrenz zu differenzieren und rechtzeitig Marktsegmente zu etablieren. Für die sehr
spezialisierten Unternehmen F&E-intensiver Medizintechniken ist es besonders wichtig
19
Kooperationsnetze zu anderen Branchen aufzubauen und Konvergenzen zu erkennen, damit einfache
Medizintechniken und telemedizinische Anwendungsprinzipien ihren Weg in alltägliche Produkte
finden. Neben dem Transfer von Wissen über Technologie, Design und vorstellbaren Applikationen
könnten die Synergieeffekte auch durch gemeinsame Fertigungsanlagen zustande kommen.
Nichtsdestotrotz sollten Medizintechnik Unternehmen aber ihre Kernkompetenzen nicht
vernachlässigen und sich auf der Suche nach innovativen Heilungs- und Behandlungsmethoden
weiterhin explorativ verhalten.
Die medizinischen Leistungserbringer und Krankenkassen könnten durch eine zunehmende
Transparenz das Bewusstsein ihrer Patienten und Beitragszahler hinsichtlich der Qualität
medizinischer Behandlung weiter schärfen. Ärzte sollten das Potential des Telemonitorings im Bereich
Sport und Ernährung frühzeitig erkennen, Erfahrungen sammeln und durch die Kommunikation mit
vorantreiben. Die Krankenkassen sollten ihr Qualitätsmanagement ausbauen und individuelle und sehr
qualitative Leistungen anbieten. Sie könnten zusätzliche Anreizsysteme für ihre Kunden schaffen,
indem sie beispielsweise Kunden, die nachweislich regelmäßig Sport treiben und gesünder leben, mit
Prämien belohnen oder ihre Beiträge entsprechend senken. Der Nachweis wäre hierbei durch das
Telemonitoring und/oder ein digitales Ernährungstagebuch denkbar.
20
6.3 Szenario 3: Grauer Star – Fehlt der Durchblick?
Die Entwicklung der Telemedizin in Deutschland wird in den kommenden Jahren maßgeblich davon
abhängen, welche Einflüsse die Gesellschaft prägen werden. Ein schon einsetzender demographischer
Strukturwandel ändert gerade im Gesundheitssektor die ohnehin schon strapazierte Balance zwischen
Einzahlern und Beanspruchenden. Eine weitere Herausforderung stellt der Trend der Urbanisierung
dar. Ländliche Gebiete sind zunehmend schwächer besiedelt, sodass sich auch die wirtschaftliche
Infrastruktur dort ausdünnt und vermehrt zentriert in städtischen Gebieten ansiedelt (Tabelle 4). Daher
ist es eine Gefahr aber auch eine Chance für die Medizin und die Menschen neue, effizientere
Möglichkeiten für sich zu entdecken.
Tabelle 4: Die sechs enthaltenen Mikroszenarien des Szenarios 3 (Konsistenzwert nach EIDOS: 1,33).
Bis 2020 wird sich die gesellschaftliche Struktur derart ändern, dass in unserer Leistungsgesellschaft
der Alltag vorwiegend unter Druck und starker nervlicher Belastung bewältigt werden muss. Für
Arbeitnehmer wird es dadurch immer schwieriger sich körperlich in Balance zu halten und auf eine
ausgewogene Ernährung zu achten. Die Zukunft wird durch eine ökonomisierte Nahrungsaufnahme
geprägt sein, bei der Mahlzeiten vermehrt als unproduktiver Zeitfaktor gesehen werden. Die
Lebensmittelindustrie und Großgastronomen werden dies mit einem weiter ausgebauten
Fastfoodangebot, was irreführend als „cheap-smart-food“ vermarktet wird, befeuern. Das Aufflackern
des heutigen Slowfoodtrends wird schnell wieder im Keim erstickt werden.
Diese berufliche Entwicklung in der Leistungsgesellschaft geht einher mit dem generellen Willen zur
Karriere und nicht mehr vorrangig zu privatem Glück mit einer Familie. Der Geburtenrückgang wird
anhalten und es werden noch weniger Menschen zukünftig versicherungspflichtig beschäftigt sein und
Krankenkassenbeiträge zahlen. Die Überalterung unserer Gesellschaft nimmt immer drastischere
Formen an. Das Rentner-Beitragszahler-Verhältnis wird von heute 1:3,25 weiter fallen. (vgl. Hanse
Merkur (2010))
•Diabetesfälle nehmen aufgrund schlechterer Ernährung zu
Anzahl chronisch Kranker
•Rentner zieht es in die Städte, da dort die medizinische Versorgung besser ist
Urbanisierung
•Steigende Kosten aufgrund weniger Beitragszahler Kosten im Gesundheitswesen
•Schwankend durch Legislaturperioden Rechtliche Rahmenbedingungen
•Qualität sinkt, weil ein Arzt mehr Patienten behandeln muss
Qualität der Behandlung
•Akzeptanz fällt aufgrund eines nicht wahr-genommenen Nutzenzuwachses
Akzeptanz bei Patienten
21
Für Rentner wird sich bis dahin noch mehr verändern und fordert aktiv Veränderungen in ihren
Lebensgewohnheiten. Die medizinische Versorgung auf dem Land wird sich ausdünnen und nur noch
auf Basisleistungen reduziert werden. Um sich im Alter eine gerechte Versorgung zu gewährleisten,
sind Ruheständler angewiesen in Städte zu ziehen. Entsprechende Wohnanlagen für altersgerechtes
und betreutes Wohnen werden mit einem erheblichen finanziellen Aufwand gebaut und zu
entsprechend hohen Preisen vermietet oder verkauft werden. Dies wird die finanziell ohnehin schon
angespannte Situation im Alter noch verstärken. Für die Telemedizin wäre dies ein fataler Trend.
Diese Entwicklungen geschehen im Kontext unklarer politischer Vorgaben. In Zukunft werden immer
mehr Splitterparteien im Parlament sitzen und es somit erschweren eine stabile politische Mehrheit zu
schaffen. Elementare Entscheidungen, die die Telemedizin nachhaltig auf den Weg bringen und
durchsetzen werden, sind auf Basis parteipolitischer Profilierungen nicht möglich. Mit den
Legislaturperioden wechselnde Regierungskoalitionen können keine über diese 4-Jahreszyklen
hinausgehenden Planungen im Bundestag mehrheitsfähig etablieren und versinken in schwammigen
Entscheidungen mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Dies ist aber Grundvoraussetzung für die
Medizin, diese radikale Innovation in der breiten Gesellschaft zu etablieren. Für Unternehmen wäre
dies ein wegweisendes Signal, sonst werden diese das Risiko unklarer Vorgaben scheuen und sich
vom Markt entfernen.
Auch für Patienten fehlt eine klare Richtungsvorgabe, da sie im Alltag mit zu geringen Kapazitäten
und damit einhergehender, qualitativ schlechter medizinischer Behandlung konfrontiert sind. Die
steigenden Patientenzahlen können von den Ärzten nicht ohne drastische Qualitätseinbußen
aufgefangen werden. Die Entwicklung der Gesamtanzahl der Ärzte ist in diesem Jahrzehnt stark
rückläufig, da die etablierten Ärzte zunehmend in Ruhestand gehen und von unten wenig nachkommt.
Vor allen Dingen auf dem Land haben die Kommunen schwer zu kämpfen einen niedergelassenen
Allgemeinmediziner zu halten, bei Fachärzten ist dies kaum mehr möglich.
Als Folge dieser Einflüsse wird sich die Telemedizin nur schwer etablieren können. Patienten
erkennen deren Nutzen nicht, da unklare Vorgaben, überforderte Ärzte und eine zu teure
telemedizinische Behandlung kein geschlossenes System bieten können.
Doch besteht aus heutiger Sicht in dieser Entwicklung auch eine Chance für die Telemedizin. Treiber
können hierbei sowohl die medizinischen Leistungserbringer als auch die Patienten sein.
Die jetzt nachkommende Ärztegeneration ist sich der Tatsache bewusst, dass Kapazitätsengpässe
entstehen werden. Aus dem eigenen Antrieb heraus qualitativ hochwertige Arbeit zu liefern kann sich
die junge Ärztegeneration mit den ihnen ohnehin schon vertrauten Möglichkeiten der modernen
Technik auch von Berufs wegen her auseinandersetzen und die Einführung und Durchsetzung der
Telemedizin aktiv vorantreiben, um für die Zukunft in diesem Sektor gerüstet zu sein.
Weiterhin besteht auch für Patienten die Chance diese Entwicklung aktiv zu fördern. Es ist heute
schon zu erkennen, dass die lange etablierten Strukturen der Medizin zu Einschränkungen in der
22
Lebensqualität der Patienten bedeuten. Lange Wartezeiten in den Arztpraxen und auch nur eine
eingeschränkte Freiheit bei der Arztwahl (Vorteil für Privatversicherte!) können in Zukunft durch die
Öffnung zu modernen Technologien vermindert und verhindert werden. Diese offene Einstellung ist in
der jungen Gesellschaft durchaus vorhanden, wie der Boom des unpersönlichen E-Commerce gezeigt
hat.
6.3.1 Handlungsempfehlungen
Als Handlungsempfehlung kann man der Organisation Deutsche Stiftung für chronisch Kranke als
Folgerung aus diesem Szenario geben, dass sie ihre Moderatorenrolle noch stärker wahrnimmt und
frühzeitig die Kommunikation zwischen den medizinischen Leistungserbringern, Patienten und Politik
herstellt und fördert. Dies ist nötig, um vorhandene Barrieren, die oftmals auf Informationsdefizite
zurückzuführen sind, abzubauen und allen Parteien die Möglichkeit zu geben einem gemeinsamen
Leitfaden zu folgen.
Angesichts aktueller Sparpläne sollten die handelnden Parteien im Bundestag trotz steigender Kosten
und Schulden davon überzeugt werden, staatliche Subventionen einzusetzen, um die einmalig zu
leistenden Eintrittskosten der Telemedizin zu senken und die derzeitige Aktionsstarre dahingehend zu
lösen. Ferner können von der Stiftung in Zusammenarbeit mit den Krankenkassen Kostenpläne erstellt
werden, die musterhaft zeigen, worauf es chronisch kranken Patienten ankommt und welche
Voraussetzungen die Krankenkassen benötigen, um dauerhaft und zufriedenstellend medizinische
Versorgung zu gewährleisten.
Ebenfalls sollte man schon jetzt präventiv im Bereich der Wohnstätten für Ältere tätig werden. Da
insbesondere Altersheime und Anlagen für betreutes Wohnen in der Stadt zukünftig stark ausgelastet
sind, sollte hier frühzeitig der Kontakt gesucht werden, um gemeinsam Möglichkeiten zu finden,
telemedizinische Prinzipien in die Architektur dieser Anlagen zu integrieren. Man könnte durch die
Installation von Video-Konferenz-Systemen beispielsweise zur Kommunikation mit ihren
Familienangehörigen die IKT der Telemedizin rechtzeitig an pflegebedürftige Senioren herantragen
und dadurch dem nicht wahrgenommenen Nutzenzuwachs einer späteren telemedizinischen
Diagnosemethode vorbeugen.
Eine weitere Folgerung dieses Szenarios ist die tragende Rolle der Ärzte bei der Durchsetzung und der
Akzeptanz für die Telemedizin. Ihnen sollte aktiv die Zukunftsentwicklung ihrer Branche erläutert
werden und sie sollten in den Entstehungsprozess mit einbezogen werden.
23
7 Zusammenfassung und Empfehlungen
Abschließend können aus dieser Szenarioanalyse für das Anwendungsfeld „Die Entwicklung der
Telemedizin bis 2020“ drei differente Szenarien identifiziert werden. Aus diesen gehen sowohl die
Gefahren und Risiken aber auch die Chancen für eine nachhaltig positive Entwicklung hervor.
Das radikal innovative Produkt der Telemedizin befindet sich derzeit noch in seiner Einführungsphase
und ist noch mit vielen Widerständen konfrontiert. Doch sind die Chancen und Möglichkeiten schon
deutlich erkennbar und können dazu beitragen, die im Gesundheitswesen involvierten Personen zu
entlasten, die medizinische Behandlung zu verbessern und Kosten zu reduzieren.
Dazu ist es aber nötig in naher wie in ferner Zukunft aktiv zu werden und nötige Weichen zu stellen.
Für die nachhaltige Durchsetzung sind vier relevante Akteure maßgeblich verantwortlich. Die Politik
ist für die rechtlichen Rahmenbedingungen zuständig. So ist es essentiell, dass in naher Zukunft das
Fernbehandlungsverbot gelockert und zeitgemäß angepasst wird. Um den Patienten aber auch den
Ärzten, Krankenkassen und Unternehmen das nötig Vertrauen geben zu können, ist es die Pflicht des
Gesundheitsministeriums Gesetze auf den Weg zu bringen, die dieser noch weitestgehend
unbekannten Neuerung innerhalb der Medizin die nötige rechtliche Stabilität gibt. Dabei soll auch
speziell das Augenmerk auf den Datenschutz gelegt werden.
Für Unternehmen, sowohl aus dem medizinischen Bereich als auch aus der Unterhaltungsbranche, gilt
es rechtzeitig die Verzahnung von Medizin und gesundem Lifestyle zu erkennen und mit Produkten zu
fördern. Dabei sollten ebenfalls der für Anwender wichtige Datenschutz und auch die Kompatibilität
derer Beachtung finden. Mit fortschreitender Etablierung der Produkte kann das Produktportfolio den
Kundenbedürfnissen angepasst und entsprechend erweitert werden.
Weiterhin müssen die Krankenkassen in den Entstehungsprozess eingebunden werden. Sie können in
Zukunft als Vermittler zwischen den Akteuren agieren und müssen vor allen Dingen gemeinsam mit
den medizinischen Leistungserbringern einen Kostenplan entwickeln, um für Patienten und sich selbst
eine Absicherung zu schaffen. Die Finanzierung soll so über die Einführungsphase hinweg in die
Zukunft transparent dargestellt werden.
Für die medizinischen Leistungserbringer ist es wichtig sich zu informieren und diese Informationen
untereinander zu verbreiten. Die Zukunft zeigt, dass Kapazitätsengpässe auf sie zukommen werden
und so ist es nötig sich frühzeitig mit neuen, unterstützenden und/oder substituierenden Technologien
vertraut zu machen. Ihre Meinung hat Gewicht in der Debatte rund um die Telemedizin und somit sind
sie angehalten die Kommunikation zwischen den Akteuren herzustellen und die Entwicklung positiv
zu unterstützen. Wenn von Ärzteseite ein deutliches Signal der Akzeptanz kommt, kann dies den Stein
endgültig ins Rollen bringen und als Initialzündung verstanden werden. Es ist zu empfehlen schon
frühzeitig Kooperationsnetzwerke zu frühen Innovatoren auf dem Gebiet der Telemedizin zu schaffen,
um die derzeitigen Kleinprojekte in den medizinischen Ablauf zu integrieren (Tabelle 5).
24
Tabelle 5: Handlungsempfehlungen für die aktiv involvierten Akteure bei der Durchsetzung der
Telemedizin.
Politik
Unternehmen
Krankenkassen
Medizinische
Leistungserbringer
Datenkompatibilität
Kooperationsnetzwerke
Ko
mm
un
ikat
ion
Dat
ensc
hu
tz
Mo
der
ato
r, z
entr
ale
Ste
lle
Rechtliche Rahmenplanung Fernbehandlung
Breite
Produkt-
palette
Kost
enp
lan
Aufklärung, Werbung
Kooperationsnetzwerke
Fernbehandlung
Heute 2020
IV
III Anhang
Abbildung 3: Die Short-List aus 20 Einflussfaktoren und ihren bewerteten Wechselwirkungen
untereinander. Blaue Felder illustrieren einen positiven und rote einen negativen Einfluss; mit der
Bewertungsskala: 0 = keine Wechselwirkung, 1 = schwache/indirekte Wechselwirkung, 2 = starke
Wechselwirkung.
V
Abbildung 4: Um eine ähnliche Ebene der 20 Einflussfaktoren zu demonstrieren, werden diese auf einem
Kreis angeordnet und ihre Wechselwirkungen durch blaue Pfeile (positiver Einfluss) oder rote Pfeile
(negativer Einfluss) dargestellt.
VI
Abbildung 5: Die Aktiv/Passiv-Matrix illustriert den Grad der Beeinflussung bzw. Beeinflussbarkeit der
bewerteten Einflussfaktoren.
Abbildung 6: Konsistenzmatrix mit Bewertungen der Konsistenzen zwischen den Mikroszenarien auf
einer Skala von -3 bis 3.
VII
Abbildung 7: Cluster-Ansicht der von EIDOS kombinierten Mikroszenarien. Die drei ausgewählten
Szenarien sind farblich markiert.
VIII
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Szenario 2: http://www.gesundheitsstadt-berlin.de/uploads/tx_news/hirntumor-informationstag-2.jpg
Szenario 3: http://www.clker.com/cliparts/T/k/J/h/1/T/outlined-star-grey-hi.png