strukturen und strukturveränderungen subjektiver theorien ... · „im referendariat kann ich erst...

93
Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien Studierender zum Praxisbezug Schriftliche Hausarbeit vorgelegt im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen im Fach Erziehungswissenschaft (Psychologie) Eingereicht von: Sabrina Wiescholek Bachstelzenweg 8 33335 Gütersloh Matrikelnummer: 6474370 [email protected] 05. März 2012 Gutachterin: Prof. Dr. Ingrid Scharlau Fakultät für Kulturwissenschaften Institut für Humanwissenschaften Fach Psychologie

Upload: vonga

Post on 28-Aug-2019

213 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

0

Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien Studierender zum

Praxisbezug

Schriftliche Hausarbeit vorgelegt im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen im Fach Erziehungswissenschaft

(Psychologie)

Eingereicht von:

Sabrina Wiescholek Bachstelzenweg 8 33335 Gütersloh

Matrikelnummer: 6474370 [email protected]

05. März 2012

Gutachterin:

Prof. Dr. Ingrid Scharlau Fakultät für Kulturwissenschaften Institut für Humanwissenschaften

Fach Psychologie

Page 2: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

1

Inhalt:

1. Einleitung 2

2. Forschungsüberblick – Praxisbezug im Studium 4

3. Theoretische Erklärungen – Subjektive Theorien 8

4. Methodisches Vorgehen 10

4.1 Sample 10 4.2 Interviewleitfaden 11 4.3 Auswertung 16

5. Einzelfalldarstellungen 17

5.1 Kathrin 18 5.2 Nils 20 5.3 Evelin 23 5.4 Sven 25

6. Kategoriensystem zu Formalen Aspekten Subjektiver Theorien 27

6.1 Kodierhandbuch zum Kategoriensystem der formalen Charakteristika von Subjektiven Theorien zum Praxisbezug 31

7. Ergebnisse 44

7.1 Kategorie 1 „Komplexität“ 44 7.2 Kategorie 2 „Differenziertheit“ 46 7.3 Kategorie 3 „Organisation“ 47 7.4 Kategorie 3.3 „Unstimmigkeiten/Ungereimtheiten“ 49

8. Kommunikative Validierung – Methodisches Vorgehen

und Ergebnisse 52

9. Diskussion 57

10. Literaturverzeichnis 62

Anhang 1: Teilnehmerliste 65 Anhang 2: Interviewleitfaden zum Thema Praxisbezug 66 Anhang 3: Einzelfalldarstellungen 72 Anhang 4: Auswertung der Kategorien „Komplexität“, „Differenziertheit“

und „Organisation“ 83 Anhang 5: Beispiel einer kommunikativen Validierung 87 Anhang 6: CD-Rom mit Transkribten der Interviews und

kommunikativen Validierungen 91 Eidesstattliche Erklärung 92

Page 3: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

2

1. Einleitung:

„Im Praktikum habe ich zehnmal mehr gelernt, als in vier Semestern Studium.“

„Was soll ich mit der Theorie anfangen, in der Schule brauche ich sie sowieso

nicht mehr.“

„Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was

ich bis jetzt hier an die Uni gelernt habe, zählt dann nicht mehr.“

„Hier an der Uni haben wir viel zu wenig Praxisbezug.“

Die meisten Lehramtsstudierenden und vermutlich auch Dozenten/innen sind mit

Meinungsäußerungen dieser Art aus dem universitären Alltag sehr vertraut. Diese

und vergleichbare Behauptungen scheinen im Laufe des Studiums zu einem allge-

genwärtigen Chor zu verschmelzen, dessen eintönige Melodie sich schließlich wie

ein Ohrwurm im Bewusstsein der Protagonisten der Lehrerbildung festsetzt. Der

durch diesen Chor unablässig geäußerten Forderung nach Praxisbezug im Studi-

um widmet sich die folgende Arbeit.

Die Literatur zum Thema Praxisbezug des Studiums gibt, so scheint es, diesen

einstimmig nach Praxisbezug verlangenden Chor wieder, als gäbe es keine Bass-

oder Sopranstimme; als gäbe es also keine anders gearteten Meinungen, Ansich-

ten oder Bewertungen in Hinsicht auf Praxisbezug im Studium. Auch hier ist aus-

schließlich nur der Ruf nach mehr Praxisbezug zu vernehmen. Das erste Kapitel

der vorliegenden Arbeit widmet sich dieser Thematik und bietet einen For-

schungsüberblick über Studien, die sich mit den Meinungen und Ansichten der

Studierenden zum Thema Praxisbezug im Studium beschäftigen.

In dieser Arbeit soll jedoch genau der Eindruck eines einstimmig und unreflektiert

nach Praxisbezug rufenden Chors von Studierenden vermieden werden. Deswe-

gen wurden, angelehnt an das Forschungsprogramm STEP1, Interviews mit zwölf

Studierenden des Lehramtsstudiengangs der Universität Paderborn zum Thema

Praxisbezug geführt und von diesen zwölf für diese Arbeit neun Interviews aus- 1 STEP steht für „Subjektive Theorien von Studierenden und Lehrenden zwischen Praxisbezug, Employability und Professionalisierung“. Es handelt sich hierbei um ein Verbundprojekt der Uni-versitäten Bielefeld und Paderborn unter der Leitung von Prof. Dr. Mechtild Oechsle und Prof. Dr. Ingrid Scharlau.

Page 4: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

3

gewertet. Im Zentrum dieser Arbeit steht dabei, die Heterogenität der Studieren-

den und ihrer verschiedenen Wahrnehmungen von Praxisbezug im Studium, ihre

Meinungen bezüglich des Verhältnisses von Theorie und Praxis sowie dem Ver-

hältnis von Studium und Beruf. Zentrale Fragen sind hierbei, wie die Lehramts-

studierenden sich selbst aber auch ihre eigene Situation zwischen Beruf und Stu-

dium und insbesondere den Praxisbezug im Studium wahrnehmen und welche

Subjektiven Theorien (vgl. Groeben et al 1988) die Studierenden gerade zum Pra-

xisbezug des Studiums entwickeln. Hier schließt die Arbeit an die Untersuchun-

gen eines ersten Samples des STEP-Projekts an, in dem an der Universität Pader-

born 27 Lehramtsstudierende zu verschiedenen Themen, wie Praxisbezug, Profes-

sionalisierung und Employability befragt wurden. Unter anderem wurden im Zuge

der Auswertung dieser Interviews zwei subjektive Praxiskonzepte entwickelt, die

inhaltlich versuchen, die subjektiven Theorien der Studierenden zu Praxisbezug

zu typisieren. (Vgl. Schüssler et al. 2012) Besonders zum Thema Praxisbezug im

Studium fällt schon in diesem ersten Sample auf, dass die Ansichten und Meinun-

gen der Studierenden tendenziell heterogen sind. Selbst ein einzelner Studierender

scheint sich in seiner Meinung nicht sicher zu sein. Ansichten der einzelnen Stu-

dierenden charakterisieren sich scheinbar anhand von Unstimmigkeiten. Aufgrund

dieses Eindrucks wurde mittels eines zweiten Samples im Rahmen der vorliegen-

den Arbeit das Thema Praxisbezug noch einmal genauer hinterfragt.

Eine inhaltliche Auswertung rückt jedoch in dieser Arbeit eher in den Hinter-

grund, da durch Schüssler et al. (2011) schon hinreichend differenziert wurde, wie

Subjektive Theorien zum Praxisbezug inhaltlich ausgeprägt sein können. Diese

Arbeit widmet sich im besonderen Maße der formalen Struktur Subjektiver Theo-

rien zum Praxisbezug im Studium. Es soll also die Argumentationsweise der in-

terviewten Lehramtsstudierenden bezüglich dieses Themas betrachtet und unter-

sucht werden. Als Basis dient dabei die formale Struktur von Subjektiven Theo-

rien, wie sie bei Dann et al. (1987) und Haag/Dann (2001) beschrieben wird. Fra-

gestellungen, die hierbei im Vordergrund stehen, lauten: Inwiefern handelt es sich

überhaupt bei den Meinungen und Ansichten zum Praxisbezug um Subjektive

Theorien? Wie sind diese Meinungen und Ansichten formal aufgebaut? In wel-

cher Beziehung steht die Argumentationsstruktur mit dem Inhalt?

Des Weiteren wird der Frage nachgegangen, wie sich die Subjektiven Theorien

vielleicht schon während des Interviews verändern und welche Veränderungs-

Page 5: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

4

möglichkeiten überhaupt existieren. Dem entsprechend vertritt Wahl (2005) die

Meinung, dass ein erster Lernschritt darin bestehe, „Subjektive Theorien durch

vielfältige Formen des Bewusstmachens, des Problematisierens und der Konfron-

tation bearbeitbar zu machen.“(ebd., 41) Der Interviewleitfaden dieser Arbeit soll

somit in Bezug auf die Struktur und die Strukturveränderung der Subjektiven

Theorien zum Praxisbezug abschließend als mögliches Self-

Assessmentinstrument im Rahmen der Lehrerbildung diskutiert werden.

2. Forschungsüberblick – Praxisbezug im Studium

Die Literatur zu Lehrerbildung und zu Praxisphasen und Praxisbezug des Studi-

ums stellt überraschender Weise ein Spiegelbild des oben beschriebenen, im

Lehramtsstudium allgegenwärtigen, einstimmigen Chores dar. Auch wird ein sehr

einheitliches Bild der Meinungen und Ansichten von Lehramtsstudierenden in

Hinsicht auf den Praxisbezug des Studiums betont.

So besprechen Boness et al. (2003) die „divergenten Erwartungshaltungen“ (ebd.,

224) der an der Lehrerbildung beteiligten Personen (Hochschullehrende, Studie-

rende und Mentoren/innen im Praktikum) bezüglich eines auf das Praktikum an

der Schule vorbereitenden Seminars. Die Studierenden verlangen hier, weitgehend

übereinstimmend mit den oben angeführten Aussagen, nach „konkreten Hand-

lungsanweisungen für die Planung und Organisation von Unterrichtsstunden.“

(ebd., 225) Sacher spricht hier von einem „Praxisfetischismus“ (Sacher 1988, 47),

wobei Praxisanteile im Studium von den Studierenden fast ausschließlich als ef-

fizient bewertet werden und als wichtig für das spätere Unterrichten. Der Praxi-

santeil erscheine den Studierenden in der ersten Phase der Lehramtsausbildung zu

gering. Die Studierenden erachten die berufspraktischen Anteile zum einen als am

wichtigsten in ihrer Ausbildung, zum anderen verlangen sie nach mehr erzie-

hungswissenschaftlichen Inhalten im Studium. (Vgl. Blömeke et al. 2006; Cramer

et al. 2009) Blömeke et al. bemerken hierzu jedoch, dass Erziehungswissenschaft

und Schulpraxis von den Lehramtsstudierenden nicht differenziert genug betrach-

tet werden. Die Studierenden erwarten von der Erziehungswissenschaft Fähigkei-

ten vermittelt zu bekommen, die ihnen das Unterrichten ermöglichen. (Vgl. Blö-

meke et al. 2006) Den theoretischen Inhalten der Lehramtsausbildung, insbeson-

dere denen der ersten Ausbildungsphase – hier unter anderem auch dem fachwis-

senschaftlichen Wissen – werde ein geringerer Wert für den späteren Berufsalltag

Page 6: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

5

zugesprochen. Die Veranstaltungen an der Universität werden als praxisfern und

nur wenig anschlussfähig bewertet und können nur schwer mit den Berufsanforde-

rungen verknüpft werden. (Vgl. Blömeke et al. 1999; Cramer et al. 2009; Sacher

1988) Nur vereinzelt werden Ergebnisse dargestellt, in denen die Studierenden die

wissenschaftliche Ausbildung und die Beschäftigung mit der Forschung als posi-

tiv und bedeutsam beurteilen. (Vgl. Blömeke et al. 2006)

Das Praktikum bzw. die schulpraktischen Studien erhalten, wenn sie die Möglich-

keit zum Unterrichten ermöglichen und einen Einblick in das Berufsfeld der

Lehrperson gewähren, ausschließlich positive Bewertungen. (Vgl. Hascher 2006;

Weyland/Wittman 2010) In der Literatur zur Bewertung des Praxisbezugs wird

ein weitgehend homogenes Bild der Lehramtsstudierenden gezeichnet, das durch

ein „[D]enken von der Praxis her“ (Cramer et al. 2009, 776) charakterisiert zu sein

scheint. Im Gegensatz zu der in der Literatur tendenziell einseitig dargestellten

Sichtweise der Studierenden, wird in der Theorie der Lehrerbildung davon ausge-

gangen, dass zwei Aufgaben zu bewältigen sind, um eine „professionelle Ent-

wicklung der Lehrerinnen und Lehrer anzuregen“ (Blömeke et al. 2006, 178).

Zum einen soll Theoriewissen, zum anderen aber auch praktisches Handlungswis-

sen vermittelt werden. Professionelles Lehrerhandeln besteht aus professionstheo-

retischer Sicht aus drei Komponenten. Eine Lehrkraft sollte angelehnt an die Aus-

führungen zur Lehrerbildung von Bayer et al. (1997) „über generalisierbares theo-

retisches Begründungswissen“ (Weyland/Wittman 2010, 19) verfügen, sie sollte

aber auch über praktisches Handlungswissen verfügen. Als dritte Komponente sei

die Aufmerksamkeit auf die Person, also auf die individuellen Lehramtsstudieren-

den zu richten, denn nach Weyland/Wittman (2010) erfordere „Professionalität

immer auch eine Selbstreflexionskompetenz“ (ebd. 19). In Bezug auf Praxispha-

sen in der Lehramtsausbildung gehen Weyland/Wittmann davon aus, dass eine

erkenntnisbezogene Perspektive, eine handelnd-pragmatische Perspektive und

eine selbstreflexions- und entwicklungsbezogene Perspektive durch die Praxis-

phasen im Studium angesprochen werden. (Vgl. ebd. 20) Um der oben dargestell-

ten Theoriefeindlichkeit entgegenzutreten, können die Praxisphasen im Studium

zugleich die Chance eröffnen, ein „In-Beziehung-Setzen der Bezugssysteme

‚Wissenschaft und Praxis‘“ (ebd. 21) zu ermöglichen. Durch diese Auseinander-

setzung mit Wissenschaft auf der einen und Praxis auf der anderen Seite, erhalten

die Studierenden die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild von „der gegebenen struk-

Page 7: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

6

turellen Differenz von theoretischem Reflexionswissen und praktischem Hand-

lungswissen“ (ebd., 21) zu machen. So soll nach Weyland/Wittmann eine „me-

takognitive Fähigkeit der Studierenden bzgl. des Umgangs mit Theoriewissen“

(ebd. 21) gefördert werden. Wenn die Studierenden die sich in diesem Spannungs-

feld zwischen Theorie und Praxis bewegen, in den Mittelpunkt gerückt werden,

drängt sich die Frage in den Vordergrund, wie sie individuell mit der Spannung

zwischen Theorie und Praxis umgehen. An dieser Stelle kann nach den Subjekti-

ven Theorien (vgl. Groeben et al. 1988) der Studierenden zum Thema Praxisbe-

zug gefragt werden. Wie bewegen sich die Lehramtsstudierenden in diesem Span-

nungsfeld, das durch das bei Weyland/Wittmann (2010) dargestellte und auf Bay-

er et al. (1997) aufbauende Dreieck versucht wird zu umreißen? Welche Strate-

gien bzw. Subjektive Theorien entwickeln die Studierenden, um sich in diesem

Spannungsfeld zurecht zu finden, besonders, wenn die durchaus positiven Ein-

schätzungen bezüglich der handelnd-pragmatischen Perspektive und die eher als

unbedeutend bewertete erkenntnisbezogene Perspektive außen vor gelassen wer-

den?

Tina Hascher (2006) charakterisiert die Subjektiven Theorien von Studierenden

zum Lernen im Praktikum folgendermaßen. Die Meinungen der Studierenden

seien von dem Wunsch geprägt, im Praktikum „vielseitige Erfahrungen sammeln“

(ebd. 133) zu können, wobei nach Hascher hier das Lernen fälschlicherweise mit

dem Sammeln von Erfahrungen gleichgesetzt werde. Die Studierenden verlangen,

wie in den oben zusammenfassend dargestellten Beurteilungen des Studiums,

nach „Tipps und konkreten Hinweisen, wie Unterricht gelingen kann.“ (ebd. 133)

Obwohl sie wissen, dass auch das Praktikum, genauso wie das Studium einen „ge-

schützte[n] Raum“ (ebd., 133) darstellt, werde darin trotzdem der reale Schulall-

tag gesehen. Im Gegensatz dazu werde den Theoretikern nur ein geringer Bezug

zur Schule zugesprochen. Unter den Studierenden herrsche das Vorurteil, dass

Theoretiker nur „wenig für die Schulpraxis liefern können, allein schon weil sie ja

nicht (mehr) an der Schule unterrichten“. (ebd. 134)

Das Forschungsprogramm STEP, widmet sich der näheren Betrachtung der Sub-

jektiven Theorien von Studierenden zum Praxisbezug. Es konnten hierbei zwei

subjektive Praxiskonzepte identifiziert werden, welche, weil sie eine Grundlage

dieser Arbeit darstellen, im Folgenden kurz wiedergegeben werden sollen. Bei

dem ersten Praxiskonzept (Praxiskonzept A) handelt es sich um ein Konzept, in

Page 8: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

7

dem der direkte Anwendungsbezug und somit, wie Weyland/Wittmann (2010) es

beschreiben, die handelnd-pragmatische Perspektive im Vordergrund steht:

VertreterInnen dieser Merkmalsausprägung […] wünschen sich den Erwerb von ‚Anwendungswissen‘ im Studium und sind stark fokussiert auf die direkte An-wendungspraxis. Bei einigen der Studierenden zeigt sich eine geringe Fähigkeit bzw. Breitschaft zum Transfer und die Nachfrage ‚rezeptologischen Wissens‘. (Schüssler et al. 2012, 5)

Das Praxiskonzept A deckt sich weitgehend mit den oben dargestellten Subjekti-

ven Theorien zum Lernen im Praktikum von Hascher (2006). Die Studierenden

fordern mehr Praxis, nehmen eher eine distanzierte Haltung zur Theorie ein, mes-

sen den Praxisphasen einen sehr hohen Stellenwert bei, sind dann aber eher von

der entsprechenden Umsetzung der Praxisphasen enttäuscht. Im Fokus ihres Ler-

nens stehen immer der Unterricht und das spätere eigene Unterrichten. (Vgl.

Schüssler et al. 2012)

In dem zweiten identifizierten Praxiskonzept (Praxiskonzept B) steht die Relatio-

nierung von Theorie und Praxis im Vordergrund:

Von VertreterInnen einer weiteren Gruppe von Studierenden […] wird in der Re-gel ebenfalls eine mangelnde Anwendungsrelevanz der Studieninhalte für Lehr-amtsstudierende bemängelt. Sie kritisieren, dass Bezüge zur schulischen Praxis in den Veranstaltungen teilweise gar nicht, teilweise nur oberflächlich hergestellt werden, und wünschen sich, dass die Perspektive von Lehramtsstudierenden im Studium stärker berücksichtigt wird. Ergo: Viele von ihnen sind interessiert an fachwissenschaftlichen Inhalten, wünschen sich aber gleichzeitig einen stärkeren Bezug zum Handlungsfeld Schule. Mehrere Studierende erläutern, dass es im Studium um wichtige Kompetenzen gehe, wie strukturiertes Denken, Problemlö-sen, Zeitmanagement, Lesetechniken, das eigenständige Erarbeiten von Fachin-halten, Recherchieren oder ein Grundverständnis der jeweiligen Materie. (Schüss-ler et al. 2012, 6 f.)

Der Fokus in dieser Gruppe liegt bei dem Wunsch einer Verknüpfung von Theorie

und Praxis. Praxisphasen stellen für sie dabei eine Möglichkeit unter vielen ande-

ren dar, Praxisbezug herzustellen. Wichtig ist ihnen dabei immer auch die wissen-

schaftliche Begleitung und Reflexion. (Vgl. Schüssler et al. 2012) Die Gruppe des

Praxiskonzeptes B setzt sich unter Rückbezug auf die von Weyland/Wittmann

(2010) dargestellte professionstheoretische Grundlage zum einen mit der erkennt-

nisbezogenen Perspektive, also der Wissenschaft, und zum anderen mit der han-

delnd-pragmatischen Perspektive, also der Praxis auseinander.

Page 9: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

8

3. Theoretische Erklärungen – Subjektive Theorien

Da diese Arbeit die Struktur Subjektiver Theorien untersuchen möchte, erscheint

es notwendig, im Vorhinein zu erläutern, was unter Subjektiven Theorien verstan-

den wird. Diese Untersuchung legt diesbezüglich die Auffassung des Forschungs-

programms Subjektive Theorien (Groeben et al. 1988) zu Grunde. Das FST2 legt

seinen Ausführungen zu Subjektiven Theorien eine ganz spezielle Menschenbild-

annahme zu Grunde, welcher sich diese Arbeit anschließt und die deshalb an die-

ser Stelle kurz erläutert werden soll. Laut dieser Menschenbildannahme wird das

Handeln des Menschen im Gegensatz zu seinem Verhalten beschrieben. Damit

grenzt sich das FST von behavioristischen Theorien, aber auch von darauf auf-

bauenden Ansätzen, wie dem Informationsverabeitungsansatz oder auch Theorien

zur Artificial Intelligence ab. Ein Bild des Menschen wird abgelehnt, das ihn als

mechanistisch ansieht. (Vgl. Groeben et al. 1988, 13)

Dem FST legt als Menschenbildannahme ein epistemologisches Subjektmodell zu

Grunde, in dem der „Mensch als handelndes Subjekt mit den Merkmalen der In-

tentionalität, Reflexivität, potentiellen Rationalität und sprachlichen Kommunika-

tionsfähigkeit“ (ebd., 16) gesehen wird. Des Weiteren schließt diese Menschen-

bildannahme ein, dass der Mensch parallel zum Selbstbild des Wissenschaftlers

konzipiert wird. So wird dem Erkenntnis-Objekt, der Mensch oder die Person, auf

die das Forschungsinteresse gerichtet ist, die Fähigkeit zugesprochen, zwar nicht

wissenschaftliche, aber Subjektive Theorien aufzustellen, diese zu prüfen und

anzuwenden. (Vgl. ebd., 17)

Unter dem Begriff Subjektive Theorien sind „komplexe Aggregate von Konzep-

ten“ (ebd., 18) zu verstehen, deren Struktur und Funktion parallel zu der Struktur

und Funktion von wissenschaftlichen Theorien gesehen werden kann. Dabei soll-

ten die kognitiven Konzepte „in Form von zumindest impliziten Argumentations-

strukturen verbunden“ (ebd., 18) sein, sie bilden relativ überdauernde kognitive

Strukturen ab. Diese argumentativ verbundenen kognitiven Konzepte werden un-

terschieden von Einzelkognitionen, wie zum Beispiel Aneinanderreihungen von

Begriffen. Wird die Struktur Subjektiver Theorien in den Vordergrund der Be-

trachtung gestellt, muss erläutert werden, dass es sich bei Subjektiven Theorien

zum Beispiel um generelle Sätze handelt, in denen eine Person aus „vorliegenden

2 Im Folgenden wird im fortlaufenden Text das Forschungsprogramm Subjektive Theorien mit FST abgekürzt.

Page 10: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

9

Prämissen Schlußfolgerungen“ (Groeben et al., 18) ableitet. Ein durch den hinein-

spielenden Theoriebegriff wichtiger Aspekt bezüglich der Struktur Subjektiver

Theorien ist, „daß die Kognitionen [wie oben schon angedeutet] in einem Ver-

hältnis zueinander stehen“ (ebd., 18) sollten, was wiederum bedeutet, dass

Schlussfolgerungen unbedingt ermöglicht werden sollten. An dieser Stelle gibt es

jedoch nach Groeben et al. (1988) keine weitere Festlegung der Form oder Struk-

tur Subjektiver Theorien mit der Begründung, „den Begriff der ‚Subjektiven The-

orie‘ bewusst offen […] halten“ (ebd., 18) zu wollen. Mit der Parallelität zu wis-

senschaftlichen Theorien werden den Subjektiven Theorien weitere Strukturas-

pekte zugesprochen. Sie dienen, wie wissenschaftliche Theorien, „der Erklärung,

Prognose und Technologie“. (ebd., 19) Teilinstanzen der Subjektiven Theorien

können in Parallelität zu wissenschaftlichen Theorien subjektive Problemstellun-

gen, Konstrukte, Definitionen, Explikationen, Daten, Erklärungen, Prognosen

oder Technologien sein. Im Vergleich zu wissenschaftlichen oder objektiven The-

orien bemerken Groeben et al jedoch, dass Subjektive Theorien „geringere Expli-

kations-, Präzisions-, etc. Anforderungen erfüllen“ (ebd., 48). Das FST weist des-

wegen darauf hin, dass die Strukturaspekte der Subjektiven Theorien weitaus libe-

raler aufgefasst werden können, als Strukturaspekte wissenschaftlicher Theorien

aufgefasst werden. (Vgl. ebd., 46)

Das FST unterscheidet eine weite von einer engen Begriffsvariante des Begriffs

Subjektive Theorien. In dieser Arbeit steht „[d]ie engere Begriffsexplikation von

Subjektiven Theorien“ (ebd., 22) im Vordergrund. Es wird versucht, mit dem me-

thodischen Vorgehen dieser Begriffsvariante zum Teil gerecht zu werden. Die

beiden Begriffsvarianten unterscheiden sich nur dadurch, dass die engere Be-

griffsvariante strenger an die Menschenbildannahmen des FST geknüpft ist als die

weite Begriffsvariante. So werden Subjektive Theorien in der weiten Begriffsex-

plikation beschrieben als:

- Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, - als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, - das auch die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen - der Erklärung, Prognose, Technologie erfüllt. (ebd., 19)

In der engen Variante kommen zwei Aspekte zu den genannten hinzu. Subjektive

Theorien müssen hier „im Dialog-Konsens aktualisier- und rekonstruierbar“ (ebd.,

22) sein und des Weiteren muss die Akzeptierbarkeit der Subjektiven Theorien

Page 11: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

10

„als ‚objektive‘-Erkenntnis zu prüfen“ (Groeben et al., 22) sein. Auf die enge Be-

griffsexplikation wird im Kapitel zur kommunikativen Validierung genauer ein-

gegangen.

Wahl (2005) unterscheidet neben der engen und weiten Begriffsexplikation von

Subjektiven Theorien weiterhin mehrere Arten dieser, indem er die Subjektiven

Theorien in Bezug zu ihrer Wirkung auf das tatsächliche Handeln betrachtet. Er

unterscheidet dabei Subjektive Theorien großer, mittlerer und geringer Reichwei-

te. (Vgl. Wahl 2005, 19) Subjektive Theorien großer und mittlerer Reichweite

sind „[a]ufgrund ihrer Binnenstruktur […] nicht direkt an der Steuerung mensch-

lichen Verhaltens beteiligt.“ (ebd., 20) Als komplexe Kognitionen der Selbst- und

Weltsicht können sie als elaboriertes Netzwerk angesehen werden, mit dem eigene

Handlungsweisen und Vorgänge in der Welt erklärt werden können. Subjektive

Theorien mittlerer Reichweite wurden zum Beispiel zu Themen wie Aggression,

didaktischen Vorstellungen oder Lernen erhoben. Es ist anzumerken, dass sich

Subjektive Theorien mittlerer und großer Reichweite eindeutig schneller verän-

dern lassen als Subjektive Theorien geringer Reichweite, welche bei raschem

Handeln unter Druck relevant sind. Verändert wurden die subjektiven Theorien

mittlerer Reichweite zum Beispiel dadurch, dass das Wissen der Befragten Perso-

nen mittels wissenschaftlicher Theorien erweitert wurde. Beobachtbares Handeln

wurde dadurch aber nicht verändert, weil sich das Handeln, wie gesagt, vor allem

in Drucksituationen an den Subjektiven Theorien geringer Reichweite orientiert.

(Vgl. Wahl 2005, 20)

Da in dieser Arbeit das Handeln unter Druck nicht erhoben wird und auch kein

Handeln beobachtet werden soll, sondern es um Meinungen; Ansichten und Wis-

sen zum Thema Praxisbezug geht, orientiert sich diese Arbeit an der Auffassung

von Subjektiven Theorien mittlerer Reichweite, welche nicht unmittelbar das

Handeln beeinflussen.

4. Methodisches Vorgehen

4.1 Sample

Im Rahmen der dieser Arbeit zu Grunde liegenden Befragung wurden zwölf Lehr-

amtsstudierende der Universität Paderborn interviewt. Neun dieser Interviews

gehen in die Auswertung ein. Das Sample setzt sich aus sieben weiblichen und

zwei männlichen Befragten zusammen. Da es sich um eine qualitative Analyse

Page 12: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

11

handelt und gendervergleichenden Fragestellungen keine Rolle spielen, wurde bei

der Rekrutierung nicht auf einen Ausgleich zwischen männlichen und weiblichen

Befragten geachtet. Alle Befragten befinden sich zur Zeit der Befragung in einem

Alter zwischen 22 und 26 Jahren. Drei der Befragten sind am Ende ihres Grund-

studiums, im vierten Semester, fünf der Befragten befinden sich zur Zeit der Be-

fragung in der Examensphase, also am Ende ihres Studiums. Im Sample finden

sich drei Studierende, die das Lehramt für Grundschulen studieren, zwei Studie-

rende, die das Lehramt für Haupt- und Realschulen belegen und vier Studierende,

die das Lehramt für Gymnasien und Gesamtschulen studieren. Drei der Befragten

belegen in ihrem Studium ein tendenziell praktisches Fach (Sport oder Hauswirt-

schaft). Vier der Befragten nahmen an dem Interview teil, weil sie sich aufgrund

des Themas ihrer schriftlichen Examensarbeiten ebenfalls für das Thema Praxis-

bezug des Studiums interessierten. Diese Befragten sollten das Interview vorberei-

tend für das Schreiben ihrer Examensarbeit durchführen. Wichtig ist dabei zu er-

wähnen, dass diese Befragten genauso wie die anderen fünf Teilnehmer/innen, die

sich freiwillig aufgrund von über diverse Universitätsverteiler verbreitete E-Mail-

Aufrufe zur Verfügung stellten, im Vorfeld des Interviews ausschließlich das

Thema des Interviews „Praxisbezug des Studiums“ mitgeteilt bekamen, keine

eigenen wissenschaftlichen Nachforschungen anstellten und sich im Vorhinein

auch nicht mit Kommilitonen/innen über dieses Thema austauschen sollten. Alle

Teilnehmer/innen wurden vor dem Interview über das Vorgehen bei der anschlie-

ßenden Auswertung informiert. Sie willigten ein, dass das Interview aufgenom-

men, transkribiert, anonymisiert und ausgewertet wird. Sie bekamen außerdem

vor dem Interview einen kurzen Fragebogen, mit dem harte biographische Fragen

erfasst wurden. Eine Tabelle, in der alle durch den Fragebogen erfassten Daten

zusammengefasst sind befindet sich in Anhang 1.

4.2 Interviewleitfaden

Das Interview behandelt ausschließlich Fragen zum Praxisbezug des Studiums.

Der Interviewleitfaden, welcher sich im Anhang 2 befindet, ist angelehnt an die in

Kapitel 2 dargestellte Auswertung des STEP-Projekts zu Praxiskonzepten. Der

den für diese Arbeit geführten Interviews zu Grunde liegende Interviewleitfaden

stellt eine Mischung aus Leitfadeninterview und Konstruktinterview (vlg. König

2005, Helfferich 2011) dar. Im Gegensatz zum ersten Sample, das im Rahmen des

Page 13: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

12

STEP-Projektes erhoben wurde, wurde bei diesem Interview jedoch auf lange

narrative Sprechanteile der Befragten verzichtet. Aufgrund des Vorwissens über

Aspekte des Themas Praxisbezug im Studium und des Wissens über mögliche

Problemfelder zum Thema Praxisbezug aus den Untersuchungen bezüglich des

ersten Samples des STEP-Projektes, verliefen diese Interviews deutlich interve-

nierender, es wurde mehr und gezielter nachgefragt. Im Mittelpunkt des Interesses

stand, ein Verständnis dafür zu entwickeln, was der Interviewte versuchte mitzu-

teilen. Hohe Aufmerksamkeit wurde Aspekten von Praxisbezug geschenkt, die im

ersten Sample als zentrale Charakteristika von Praxisbezug den beiden Praxiskon-

zepten zugeordnet wurden. (Vgl. Schüssler et al. 2012) Wenn solche Aspekte im

Interview zwar angesprochen, aber nicht weiter erläutert wurden, wurde explizit

an diesen Stellen nachgefragt (z.B.: „Was verstehst du darunter, dass die Schule

die Wirklichkeit ist?“). Aufgrund dieser Fragetechnik lassen sich deutlich weniger

lange eigenständige Redeanteile der Befragten finden. Des Weiteren wurde zum

Teil intervenierend nachgefragt, wenn sich die Interviewten wiedersprachen,

wenn Ungereimtheiten in den Aussagen der Befragten auftraten oder wenn mögli-

che Zusammenhänge zwischen verschiedenen Aussagen nicht deutlich genug

wurden. Versucht wird die Theorieförmigkeit der Studierendenaussagen angelehnt

an die Struktur Subjektiver Theorien (vgl. Groeben et al. 1988) mehr in den Vor-

dergrund zu rücken und zu unterstreichen.

Der Interviewleitfaden besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil steht das allgemei-

ne Verständnis vom Praxisbezug der Studierenden im Mittelpunkt. Die Leitfragen

erfragen allgemeine Assoziationen zum Thema Praxisbezug, zielen aber auch auf

konkrete Erfahrungen mit Praxisbezug im Studium ab. Durch eine Perspektiv-

wechselfrage, bei der die Studierenden den Praxisbezug des Studium aus der Sicht

eines/einer Dozenten/in reflektieren sollen, wird versucht den Studierenden eine

andere Sichtweise auf das Thema zu ermöglichen, um sie dazu zu bewegen, ihre

eigene Position besser darstellen zu können. Durch einen Perspektivwechsel er-

halten die Befragten die Möglichkeit, sich die „eigenen Gedanken, Gefühle und

Routinen“ (Wahl 2002, 16) bewusst zu machen und sich mit diesen zu beschäfti-

gen. Eine „egozentrische Sichtweise kann […] dazu führen, dass […] die Realität

nicht adäquat ein[ge]schätz[t] [wird], Situationen falsch interpretier[t] und folglich

ungeeignete Handlungsmöglichkeiten [ergriffen]“ (Wahl 2005, 56) werden. Des

Weiteren wird mittels weiterer Fragen der Begriff „Beruf“ in das Interview mit

Page 14: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

13

eingebracht. Hierbei werden die Studierenden aufgefordert, die Begriffe Studium,

Praxis und Beruf in Beziehung zu setzen, aber auch die ihnen durch das Studium

zuteilwerdende Berufsvorbereitung einzuschätzen.

Im zweiten Teil des Interviews werden die Studierenden zum einen mit Teilen

fremder Subjektiver Theorien konfrontiert. Sie erhalten aber auch die Möglich-

keit, ihre eigene Subjektive Theorie oder ihr bisher erdachtes Konzept in praxis-

nahen Fallbeispielen anzuwenden. Aus den Interviews des ersten Samples des

STEP-Projektes wurden, angelehnt an die Praxiskonzepte A und B (vgl. Schüssler

et al. 2012) die zum Thema Praxisbezug des Studiums formuliert werden konnte,

drei Zitate ausgewählt, die jeweils prototypisch Teilaspekte des Praxiskonzeptes

A (Direkter Anwendungsbezug und handelnd-pragmatische Perspektive), des Pra-

xiskonzeptes B (Relationierung von Theorie und Praxis) und eines Mischkonzep-

tes wiedergeben, das weder Praxiskonzept A noch zum Praxiskonzept B zugeord-

net werden kann. Den Studierenden wurden die verschiedenen Zitate mit besonde-

rer Betonung der für das Konzept typischen Textstellen vorgetragen und sie hatten

daraufhin selbst die Möglichkeit, sich die Zitate nochmals durchzulesen. Darauf-

hin wurden sie gebeten, sich einem der drei Zitate zuzuordnen oder falls dies nicht

möglich sei, Ansichten der Zitate, die auf jeden Fall nicht zu ihnen passen, auszu-

schließen. In einer Studie von Ludwig Haag und Christoph Mischo (2003) zur

Verbesserung des Gruppenunterrichts in Schulen durch die Auseinandersetzung

mit fremden Subjektiven Theorien wurde festgestellt, dass

die direkte Auseinandersetzung mit Subjektiven Theorien zu einem ‚Aufbrechen‘ eigener Wissensstrukturen und einem besseren handlungsbezogenen Umsetzen von Trainingsinhalten führen kann. (Haag/Mischo 2003, 37)

Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wird angenommen, dass die Studierenden

durch die Auseinandersetzung mit Teilen fremder Subjektiver Theorien besser in

der Lage sind, ihre eigenen Subjektiven Theorie zu explizieren oder aber auch ihr

Denken, ihre Ansichten und Meinungen zu erweitern. Ob eine Auseinanderset-

zung auch in dem Rahmen dieser kleinen Stichprobe zu einer Erweiterung des

jeweiligen Konzepts der Studierenden beiträgt, soll zum Abschluss diskutiert

werden.

In vier darauf folgenden Fallbeispielen bzw. Vignetten erhielten die Interviewten

die Möglichkeit, ihre Ansichten und Meinungen zu elaborieren. An dieser Stelle

muss jedoch bemerkt werden, dass es sich bei Vignetten um hypothetische Ge-

Page 15: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

14

schichten handelt und keinesfalls von dem hypothetischen oder erdachten Han-

deln der Studierenden in den Fallgeschichten auf das Handeln in realen Situatio-

nen geschlossen werden sollte, denn „we do not know enough about the relations-

hip between vignettes and real life responses to be able to draw parallels between

the two.“ (Hughes 1998, 384) Bei Vignetten handelt es sich um kurze Fallbeispie-

le oder Szenarien, welche charakterisiert werden können als „[s]tories about indi-

viuals, situations and structures which can make reference to important points in

the study of perceptions, beliefs and attitudes“ (Hughes 1998, 381). Diese Szena-

rien sollen bei den Befragten bestimmte kognitive Prozesse auslösen. Den Studie-

renden wird, wie im Fallbeispiel 1, 2 oder 3, eine bestimmte Ausgangssituation

oder einer Problemstellung vorgegeben, die in einer kurze Geschichte eingebun-

den ist. Den Interviewteilnehmern/innen wurden diese Fallbeispiele genauso wie

die Zitate jeweils einmal vorgelesen, sie erhielten aber danach die Möglichkeit

diese Fallbeispiele noch einmal in Ruhe nachzulesen. Dabei sollten die Vignetten

für die Studierenden „schnell erfassbar, dem Publikum angepasst, wahrscheinlich,

konkret aber nicht zu spezifisch“ (Atria et al 2006, 237) sein. Ein Kriterium, das

nach Atria et al. (2006) eine gute Vignette ausmache, nämlich, dass „beobachtba-

res Verhalten und keine Interpretationen“ (ebd., 238) dargestellt werden sollen,

wurde bewusst nur zum Teil umgesetzt, da im Zusammenhang dieser Arbeit be-

sonders die Interpretationen der in den Vignetten bewusst offen gelassenen Stellen

interessieren. Zum Beispiel wurde im Fall 1 und 2 offen gelassen, aus welchen

Gründen, die Schülerinnen und Schüler dem Unterricht nicht teilhaben oder gut

im Unterricht mitmachen. Desweiteren wurde bewusst nicht gesagt, was sich im

Fall 3 in dem Ordner „Hilfe für Alles!“ befindet, um den Studierenden gerade an

dieser Stelle Anlass zu geben, sich, ohne dass sie konkret aufgefordert werden,

persönliche Gedanken zu machen und zu spekulieren, was die Gründe für einen

guten/schlechten Unterrichtsverlauf oder welche Inhalte in einem solchen Ordner

enthalten sein könnten. Bei der Konstruktion des ersten und zweiten Fallbeispiels

wurde speziell darauf geachtet, dass der Interviewte nicht selbst die Person ist, die

während des Praktikums hypothetisch in eine problematische Lage gerät – wären

die Fallbeispiele so angelegt, würden sie zu sehr dem Praxiskonzept A entspre-

chen und die Befragten in diese bestimmte Richtung drängen. Die Interviewten

sollten in eine Expertenrolle bzw. Beraterrolle schlüpfen, die ihnen sowohl er-

möglicht, mit theoretischem Wissen aus dem Studium als auch mit Hilfe eigener

Page 16: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

15

oder fremder praktischer Schulerfahrungen zu beraten. Dies erscheint wichtig, um

die Anwendungsmöglichkeit der eigenen Subjektiven Theorie nicht schon durch

das Szenario, in das eine Person versetzt wird, einzuschränken. Im dritten Fall

sehen die Studierenden einen Ordner im Regal ihrer Freundin – auch hier geht es

bewusst um den Ordner eines Freundes, nicht den eigenen – und sollen sich nun

vorstellen, was in diesem Ordner enthalten sein könnte. Durch den sehr vagen

Titel des Ordners „Hilfe für alles“ werden sowohl der Inhalt, als auch die Situati-

onen, in denen dieser Inhalt eingesetzt werden kann, offengelassen. Durch den

Kontext, dass es sich bei der Freundin/dem Freund auch um eine/n Lehramtsstu-

dierende/n handelt und durch den zusätzlichen Kontext des Interviewthemas

„Praxisbezug“, sind die möglichen Situationen jedoch entweder auf den Universi-

täts- oder auf den Schulkontext beschränkt. Des Weiteren beschränken sich

dadurch auch die Inhalte auf Wissen aus dem Studium oder Wissen, das durch

eigene Erfahrungen erlangt wurde.

Das vierte Fallbeispiel führt die Studierenden zwar nicht in eine moralische, aber

dennoch in eine Dilemma-Situation. Sie werden durch das vorgegebene Szenario,

das ihnen durch ihren Universitätsalltag vertraut ist, gezwungen, sich für ein Se-

minar zu entscheiden. Dabei sind die Seminartitel, welche den Studierenden vor-

liegen, jeweils so konstruiert, dass sie sowohl einen Theorieanteil besitzen als

auch einen Praxisanteil. Bei dem ersten Seminartitel „Erziehung und Bildung –

ausgewählte Konzepte und Theorie“ handelt es sich um ein klassisches Seminar,

wie es im Modul B „Erziehung und Bildung“ des erziehungswissenschaftlichen

Studiums der Lehramtsstudiengänge vertreten ist. Der Seminartitel an sich soll

sich zunächst sehr theoretisch anhören. Ein Praxisanteil wird dem Seminar

dadurch hinzugefügt, dass hier Exkursionen zu verschiedenen Schulen geplant

sind, in denen versucht werden soll, die erlernten Konzepte zu erproben und an-

zuwenden. Der zweite Seminartitel „Schule als Lebensort gestalten – Über Schul-

reformen und Ganztagsschulen“ enthält schon im Titel einen direkten Bezug zur

Schule. Durch die weitere Beschreibung des Seminars wird aber dennoch hervor

gestellt, dass hier auch Konzepte und Reformen des Schulwesens, also Theorie

thematisiert wird. Durch dieses Fallbeispiel soll die Entscheidung, aber im Beson-

deren auch die Begründung der Entscheidung erfragt werden.

Page 17: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

16

4.3 Auswertung

Die Auswertung der Interviews ist in zwei Arbeitsschritte gegliedert. Zum einen

wird zu jedem Interview eine Einzelfalldarstellung verfasst, zum anderen wird

angelehnt an die Qualitative Inhaltsanalyse mittels der strukturierenden Inhaltsan-

alyse (vgl. Mayring 2010) ein Kategoriensystem erstellt, mit dem versucht wird,

die Struktur der Subjektiven Theorien zum Thema Praxisbezug zu erfassen und

darzustellen. Im Folgenden sollen beide Arbeitsschritte näher erläutert werden.

In einem ersten Schritt wird jedes Interview als Einzelfall analysiert. Der Zweck

dieser Analyse liegt darin, auf der einen Seite einen Überblick über das umfang-

reiche Interviewmaterial zu erlangen, indem jedes Interview in eine zusammenge-

fasste, kompakte Form gebracht wird. Zum anderen werden die Einzelfalldarstel-

lungen auch angefertigt, um sie den Interviewpartnern/innen in einer kommunika-

tiven Validierung als Rekonstruktion ihrer Subjektiven Theorien zur Prüfung vor-

zulegen. Das methodische Vorgehen bezüglich der Einzelfalldarstellungen wird in

Kapitel 5 noch näher erläutert werden, das der kommunikativen Validierung in

Kapitel 8.

In einem zweiten Arbeitsschritt wird die Struktur der Subjektiven Theorien zum

Thema Praxisbezug mit Hilfe eines teilweise deduktiv und teilweise induktiv ge-

wonnenen Kategoriensystems dargestellt. Dabei wird jedoch nicht der Frage

nachgegangen, welche inhaltlichen Aspekte zum Praxisbezug genannt werden.

Die Aufmerksamkeit gilt hier allein der Argumentationsstruktur und somit den

formalen Aspekten Subjektiver Theorien. Bereits bei der Analyse des ersten

Samples des STEP-Projektes fiel auf, dass die Subjektiven Theorien der Studie-

renden sowohl inhaltlich als auch formal eine große Vielfalt an Aspekten aufwei-

sen, aber auch oft unschlüssig und unzusammenhängend erscheinen. Um diese

vielfältigen Aspekte untersuchen zu können, wird ein deduktives Kategoriensys-

tem angelegt, dass sich anlehnt an den von Groeben et al. (1988) definierten Be-

griff der Subjektiven Theorien und an die formalen Aspekte von Subjektiven

Theorien, welche von Dann et al. (1987) und Haag/Dann (2001) im Rahmen von

Studien zu Subjektiven Theorien und ihrem Einfluss auf erfolgreiches Handeln

definiert werden. Auch auf die Erstellung des Kategoriensystems wird im entspre-

chenden Kapitel genauer eingegangen. Auf der Basis dieses Kategoriensystems

Page 18: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

17

wird eine strukturierende Inhaltsanalyse vorgenommen. (Vgl. Mayring 2010, S.

92 ff.)

5. Einzelfalldarstellungen:

Das methodische Vorgehen bei der Erstellung dieser Einzelfalldarstellungen ist

angelehnt an das Vorgehen der dokumentarischen Methode. (vgl. Bohnsack 2003)

Die dokumentarische Methode schlägt ein klar unterteiltes zweiphasiges Interpre-

tationsvorgehen vor, welches sich aus formulierender und reflektierender Interpre-

tation zusammensetzt. Im ersten Arbeitsschritt, der formulierenden Interpretation,

wird herausgestellt, „was (wörtlich) gesagt wird“ (Bohnsack 2003, 43). Es wird

also versucht, den wörtlichen Sinn des Textes, in unserem Fall des Interviewmate-

rials festzuhalten. Der zweite Arbeitsschritt, die reflektierende Interpretation, stellt

im Gegensatz zum ersten Arbeitsschritt die Frage in den Mittelpunkt, „wie ein

Thema, d.h. in welchem Rahmen es behandelt wird.“ (ebd., 43) Es beleuchtet ein

Wissen, das sich ein Individuum innerhalb eines bestimmten Erfahrungsraumes

wie zum Beispiel der Familie „milieuspezifisch oder auch individuell-

fallspezifisch“ (ebd., 43) aneignet. Dieses Wissen steht im Zusammenhang mit

den Subjektiven Theorien, die „aus Phänomenen der Selbst- und Weltsicht des

reflexiven Subjekts besteh[en]“ (Groeben et al. 1988, 19). So bieten uns die Ar-

beitsschritte der dokumentarischen Methode bei der Erstellung der Einzelfallana-

lysen und somit auch der Rekonstruktion der Subjektiven Theorien einen guten

Anhaltspunkt, indem sowohl dasjenige rekonstruiert wird, was der Befragte sagt,

als auch – besonders im Hinblick auf die Subjektiven Theorien – wie, also in wel-

chem Rahmen er oder sie bestimmte Aspekte von Praxisbezug behandelt. Hierbei

wird besonders die Argumentationsstruktur der Interviews berücksichtigt und,

angelehnt an die Struktur der Subjektiven Theorien, in besonderer Weise auf die

Theorieförmigkeit der Aussagen und den Verlauf oder die Entwicklung dieser im

Interview geachtet.

Bei der Erstellung der Einzelfalldarstellungen standen folgende Kriterien und

Fragestellungen im Vordergrund:

- Wie sieht die Subjektive Theorie der oder des Interviewten aus?

- Lässt sich überhaupt eine Subjektive Theorie rekonstruieren?

- Wie sieht die argumentative Struktur der Subjektiven Theorie aus?

Page 19: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

18

- Verändert sich die Subjektive Theorie im Verlauf des Interviews? Gibt es

eine Weiterentwicklung, Zurückentwicklung oder Überhaupt eine Ent-

wicklung?

An dieser Stelle sollen exemplarisch und zur Veranschaulichung die vier Einzel-

falldarstellungen angeführt werden, die jeweils in einem zweiten Schritt kommu-

nikativ validiert wurden. Die Einzelfalldarstellungen von Sara, Gisela, Mia, Leo-

nie und Viola befinden sich der Vollständigkeit halber im Anhang 3.

5.1 Kathrin

Kathrins Konzept von Praxisbezug beinhaltet zwei Hauptaspekte. Gleich zu An-

fang des Interviews stellt Kathrin heraus, dass sie im Studium Inhalte lernen

möchte, die sie in ihrem späteren Beruf anwenden kann. Im Interviewverlauf dif-

ferenziert sie dann zwischen „wirklicher“ Praxis, also Praxis, die sie im alltägli-

chen Beruf erwartet, und Praxis im Studium. Dem Studium an sich schreibt sie im

Laufe des Interviews eine bedeutende Rolle zu. Durch das im Studium erworbene

Wissen wird es ihr ermöglicht, sich von der Allgemeinheit abzugrenzen. Im Fol-

genden sollen die angesprochenen Aspekte erläutert werden. Es wird außerdem

dargestellt, wie Kathrin die Praxis im Studium und die Vorbereitung auf die Pra-

xis durch das Studium einschätzt. Als letztes wird ihre Position in Bezug auf die

ihr vorgelesenen Zitate erläutert.

Wie oben angedeutet, besagt der erste Gedanke, den Kathrin zum Thema Praxis-

bezug äußert, dass sie während des Studiums Seminare besuchen möchte, in de-

nen sie etwas lernt, dass sie in der Praxis, also in der Schule anwenden kann. In-

begriffen ist hier sowohl theoretisches als auch praktisches Wissen. Sie verlangt

nach einem Repertoire von Handlungsmöglichkeiten, das sie später in ihrem Be-

ruf anwenden kann. Dieses Repertoire beinhaltet zum Beispiel Wissen über Um-

gang mit Störungen im Unterricht. In Bezug auf Theorie beschreibt Kathrin, dass

sie in ihrem Praktikum ihr theoretisches Wissen über bestimmte Schreibweisen

von Grundschulkindern anwenden konnte. Sie erkennt dieses Wissen also als in

der Praxis anwendbar an. Interessant ist, dass sie in beiden Fällen von Wissen und

nicht von bestimmten Fähigkeiten spricht, die sie erlernen möchte. Kathrins Ver-

langen nach Anwendungswissen beschränkt sich jedoch nicht nur auf ihren späte-

ren Beruf als Lehrerin. Sie will außerdem Wissen erlangen, das sie im Berufsall-

tag anwenden kann, das ihr zum Beispiel hilft, theoretische Inhalte zu verstehen

Page 20: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

19

oder begründet Meinung zu beziehen. Kathrins Position, dass sie spezielles Wis-

sen in der Praxis anwenden möchte, steht jedoch der Meinung ihrer Eltern gegen-

über, die besagt, dass spezielles Wissen in der Schule nicht zu gebrauchen ist.

Kathrin kommt hier zu einer Übereinkunft bezüglich ihrer eigenen Meinung und

der ihrer Eltern: sie erwartet vom Studium, spezielles Wissen zu erlernen, dass sie

in der Schule anwenden kann und das ihr hilft, mit bestimmten Sachverhalten bes-

ser umgehen zu können.

Neben dem Verlangen nach Anwendungsbezug ist Kathrin bezüglich des Praxis-

bezuges die Nähe zur „Wirklichkeit“ wichtig. Seminare sind besonders gut, wenn

sie einen Seminarinhalt in der „wirklichen“ Praxis, die für sie aus täglichem Un-

terrichten, der Situation des vor-der-Klasse-stehens sowie Unterrichtsvorbereitun-

gen und dem Korrigieren von Klassenarbeiten besteht, wieder findet. Solche Se-

minare haben für Kathrin Wirklichkeitsbezug, wobei Wirklichkeitsbezug in ihrem

Fall gleichzusetzen ist mit Praxisbezug. Auch wenn Kathrin in der Lage ist, Studi-

eninhalte in der „Wirklichkeit“ wiederzufinden, betont sie, dass es im Studium

keine „wirkliche“ Praxis geben kann, was heißt, dass sie durch das Studium oder

im Studium abgeschottet ist von der „Wirklichkeit“. Die Kenntnis des „wirkli-

chen“ Schulalltags ersetzt hier plötzlich die Kenntnis von Theorien. Praktika die-

nen zwar als Überbrückung vom Studium zur „Wirklichkeit“, dennoch ist Kathrin

auch im Praktikum nicht „wirkliche“ Lehrerin, sondern Praktikantin und erreicht

somit auch hier keinen echten Wirklichkeitszustand. Sie bekommt als Praktikantin

somit ein beschönigtes Bild der Wirklichkeit gezeigt. Um der „Wirklichkeit“ im

Allgemeinen auch in der Universität näher zu sein, wählt Kathrin Seminare, die

von Dozenten/innen gegeben werden, die selbst Lehrer/innen sind, weil diese Er-

fahrungen aus der Schule mitbringen. Es zeigt sich in Bezug auf den hohen Stel-

lenwert, den sie der „Wirklichkeit“ zumisst, eine Diskrepanz in Bezug auf Ka-

thrins oben dargelegter Wertschätzung von theoriegebundenem Verstehen.

Der Wechsel zur Dozentinnenperspektive eröffnet Kathrin einen reflektierteren

Blickwinkel auf den Begriff des Praxisbezugs: Er erscheint ihr sehr „kniffelig“.

Dozentinnen sollten nach Kathrins Ansicht viel Fachwissen besitzen, welches sie

in ihrem Alltag anwenden können. Sie sollten in der Praxis möglichst gebildet

wirken. Das Wissen der Dozentinnen ist vor allem begründetes, also theoretisches

Wissen. Durch diesen theoretisch begründeten Wissensfundus grenzt sich die Do-

zentin als Expertin von Nicht-Experten ab. Zum Beispiel antwortet sie nicht allein

Page 21: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

20

meinungsbasierend, emotional oder intuitiv, sondern kann begründet in Bezug-

nahme auf Studien und wissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien argumentie-

ren. Kathrin übernimmt, wenn auch zunächst eher zögernd, diese Position und

überträgt sie auf ihren eigenen späteren Berufsalltag. So gibt es Gemeinsamkeiten

zwischen Kathrins Studentinnenperspektive und ihrer hypothetischen Dozentin-

nenperspektive. Kathrin möchte auf der einen Seite praxisnahe Kompetenzen er-

lernen, aber auf der anderen Seite auch theoretisches Fachwissen. Obwohl Kathrin

am Anfang des Interviews behauptet, sie besitze bereits das Wissen, das sie für

den Grundschulunterricht benötigt, kommt sie im Verlauf des Interviews durch

das Herausstellen der Funktion von Wissen als Abgrenzungskriterium in der Do-

zentinnenperspektive zu dem Schluss, dass es auch für sie sehr wichtig ist, theore-

tisches Wissen zu erlernen, um sich von ihren späteren Schülerinnen und Schülern

abgrenzen zu können.

Schließlich entdeckt Kathrin nicht nur in Praktika, dem von ihr gegebenem Nach-

hilfeunterricht oder der Hausaufgabenbetreuung Formen von Praxis, die ihr im

Studium begegnen. Vielmehr erkennt sie in allen Seminaren, die sie während ih-

res Studiums belegt, einen Praxisbezug. Eine intellektuelle Bereicherung ist für

sie gleichzeitig auch immer Praxisbezug. So schätzt Kathrin die berufliche Vorbe-

reitung des Studiums auf 70 % ein.

Auf die Frage, welchem der ihr vorgelesenen Zitate sie zustimmt, greift sie zu-

nächst aus allen Zitaten Aspekte heraus, denen sie beipflichten kann. Sie ent-

scheidet sich letztendlich für das Zitat von Sören. Dieser sagt, dass die Praktika

im Rahmen des Lehramtsstudiums verbesserungswürdig seien, das Studium je-

doch zunächst dem Erlernen der Fächer gewidmet sein sollte. Die Praxis ver-

schiebt Sören auf das Referendariat. Diese Einschätzung erscheint Kathrin am

optimistischsten.

5.2 Nils

Nils‘ Konzept von Praxisbezug besteht aus zwei Aspekten, die ihrerseits andere

Aspekte enthalten oder mit anderen Aspekten verbunden sind. Er betont zum ei-

nen die eigene Aktivität der Studierenden im Studium und sieht in dieser eigenen

Aktivität einen Bezug zum „wirklichen Leben“, das er im Praktikum verortet.

Zum anderen müssen Studieninhalte Anwendungsbezug haben, um praxisbezogen

zu sein. Als Inhalte, die einen Anwendungsbezug haben, erwähnt Nils vornehm-

Page 22: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

21

lich das Methodenwissen. Im Verlauf des Interviews betont Nils immer wieder,

dass Studium und späterer Beruf, genauso wie erste und zweite Ausbildungsphase

oder Theorie und Praxis zwei, verschiedene Welten sind. Dies steht teilweise im

Gegensatz zu positiven Erfahrungen, die er im Studium mit der Praxis macht und

soll im Folgenden an passenden Stellen erläutert werden.

Nils verbindet den Praxisbezug des Studiums unmittelbar mit dem eigenen Aktiv-

Werden. Praxisbezug bedeutet für ihn, selbst in der Rolle des aktiv Gestaltenden

zu sein. Er kritisiert die Rolle, die die Studierenden seiner Erfahrung nach im Stu-

dium einnehmen, nämlich die eines passiven Zuschauers. Eine aktive Rolle hin-

gegen beinhaltet das Planen, Durchspielen und Reflektieren von Unterrichtsse-

quenzen. Nils will diese Teilaspekte des Unterrichtens selbst ausprobieren. Er will

sich im Unterrichten erproben und dies dann analysieren, damit er das Gelernte in

der Praxis richtig anwenden kann. Versetzt Nils sich in die Dozentenperspektive,

würde er genau dies in seinen Seminaren umsetzen. Das heißt, er würde in erster

Linie vermeiden, dass die Studierenden in eine konsumierende Haltung geraten,

was bedeutet, dass er zum Beispiel keine Vorträge halten und eher als Moderator

agieren möchte. Er würde viel Gruppenarbeit mit seinen Studierenden durchfüh-

ren und sehr Methoden orientiert arbeiten. Er bezweifelt jedoch generell, dass

Universitätsdozenten, die nicht selbst an der Schule unterrichtet haben und das

Schulleben „erfahren“ haben, Lehramtsstudenten überhaupt für die Schule ausbil-

den können.

Nils versucht an dieser Stelle ein Kriterium zu finden, das klassifiziert, wann et-

was Praxisbezug ist und wann nicht. Die Kontrastbegriffe zur Praxis, etwa Theo-

rie, die er von der Praxis völlig abtrennt, bleiben bei Nils tendenziell vage und

unpräzise. Schule und Uni sind, wie er im Praktikum erfahren hat, zwei völlig

verschiedene Welten. Er betont, dass dies für ihn „einfach so ist“ und gibt an die-

ser Stelle keine weitere Begründung. Die universitäre Ausbildung ist eine theore-

tische Phase, mit der er sich abgefunden hat. Zwar hat er mittlerweile verstanden,

dass er über ein gewisses Grundwissen verfügen muss, scheint aber nicht sehr

überzeugt davon. Er schlägt „das Erleben“ an sich als Abgrenzungskriterium der

Praxis von der Theorie vor. Dieses Kriterium passt jedoch nicht zu seiner Be-

schreibung von Praxisbezug als eigenes Aktivwerden, denn hierin ist immer auch

die theoretische Reflexion oder Analyse der Aktivität mit inbegriffen. Weiterhin

bemerkt Nils selbst, dass das Kriterium des Erlebens nicht ausreicht, denn er er-

Page 23: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

22

kennt, dass er zusätzlich zu praktischen Tätigkeiten das Lesen theoretischer Texte

ebenfalls erlebt. Er muss sein Unterscheidungskriterium weiterentwickeln und

kommt zu dem Schluss, dass der Unterschied zwischen Theorie und Praxis darin

besteht, dass er sich die Theorie eigenständig aneignen kann, die Praxis jedoch

nicht. Zur Aneignung der Praxis sind bestimmte Situationen in bestimmten Insti-

tutionen, wie der Schule, erforderlich.

Neben dem eigenen Aktivwerden findet Nils, dass die Studieninhalte anwen-

dungsbezogener sein müssten als sie es derzeit sind. Hierbei betont er ausdrück-

lich den Transfer von Wissen. Nils will in der Lage sein, das Wissen, das er im

Studium erwirbt, in die Praxis umzusetzen. Er möchte zum Beispiel mit methodi-

schem Rüstzeug ausgestattet werden, womit er explizit Methoden anspricht, die

ihm helfen, Wissen an seine zukünftigen Schülerinnen und Schüler zu vermitteln.

Dieser Wunsch nach Methoden taucht im Interview mehrmals auf. Zum Beispiel

würde er Hannes im Fallbeispiel 1 raten, sich Methoden zu merken, die ihm beim

Gestalten von Unterricht helfen könnten. Nils selbst hat sich bereits einen Metho-

denordner angelegt, in dem er übergreifendes Wissen sammelt, das ihm im Alltag

mit den Schülerinnen und Schülern hilft. Der Anwendungsbezug der Studienin-

halte wird seiner Ansicht nach besonders gut in Seminaren vermittelt, die von

Dozenten/innen geleitet werden, die selbst Lehrer/innen waren oder es noch sind.

Nils schätzt die Vorbereitung auf den Beruf durch das Studium auf 55 bis 60 Pro-

zent ein. Er findet, dass sich die Institutionen Universität und Schule zu sehr un-

terscheiden, als dass die Universität wirklich auf den Beruf vorbereiten könnte.

Manche Aspekte der Berufsvorbereitung, die bei der Berufsvorbereitung von Be-

deutung sind, wie Unterrichtsstörungen, Migrationsproblematik oder Klassenlei-

tung, sind an die Schule gebunden. Außerhalb der Schule ist es laut Nils schwer,

mit diesen Problematiken in Berührung zu kommen. Hiermit spricht er die Zwei-

Welten-Problematik noch einmal an. Zu dieser Meinung steht jedoch seine eigene

Erfahrung in Sport-Praxis-Seminaren im Widerspruch. Obwohl er in diesen Semi-

naren nach eigener Aussage viel Praxisbezug erlebte, ist Nils der Meinung, dass in

der Universität überwiegend Theorie vermittelt wird. Hier deutet sich wiederum

das Zwei-Welten-Bild an. Nils ordnet der Universität und somit der ersten Aus-

bildungsphase die Theorievermittlung zu und der Schule, also der zweiten Aus-

bildungsphase, die „wirkliche“ Praxisvermittlung.

Page 24: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

23

So sieht Nils zum Beispiel das Praktikum auch als Überprüfungsinstanz an, wenn

es darum geht, den Praxisbezug aber auch die Effektivität des Studiums einzu-

schätzen und zu messen. Anhand von Erfahrungen aus dem Praktikum weiß Nils,

dass er viel Wissen, das er an der Universität erworben hat, nicht mehr benötigen

wird. Passend zu dieser Meinung stimmt Nils auch dem Zitat von Svenja zu, die

betont, dass sie in vier Wochen Praktikum mehr lernt als in einem Semester Stu-

dium.

5.3 Evelin

Evelin assoziiert am Anfang des Interviews Praxisbezug damit, dass sie etwas

Gelerntes anwenden möchte. Ihrer Meinung nach sind viele Situationen, speziell

Unterrichtssituationen jedoch nicht vorhersagbar. Dies erschwert die Anwendung

von Theorie in der Praxis. Es gibt zwei zentrale Aspekte, die Evelin als Praxisbe-

zug bezeichnet und auf die sie sich immer wieder im Interview bezieht: das Prak-

tikum und die didaktischen Veranstaltungen in der Universität. Erst im weiteren

Verlauf des Interviews wird erkennbar, dass nicht das Praktikum und die didakti-

schen Veranstaltungen an sich es sind, die ihr Praxisbezug ermöglichen, sondern

der Aspekt, dass sie hier selbst aktiv, also eigenständig Handeln und Erfahrungen

sammeln kann. Evelins Subjektive Theorie ist sehr homogen und stabil. Es lassen

sich während des Interviews keine gravierenden Wiedersprüche oder Ungereimt-

heiten erkennen.

Evelins Theorie zu Grunde liegt ein bestimmtes Theorie-Praxis-Verständnis. Ihrer

Meinung nach ist die Praxis nicht planbar. In der Praxis wird eine gewisse Spon-

taneität gefordert, von der Evelin vermutet, sie erst in der Praxis selbst, also im

Praktikum, Referendariat oder dann im Beruf erlernen zu können. Des Weiteren

unterscheiden sich Inhalte des Studiums, wie Lehr- und Lerntheorien, vom tägli-

chen Schulleben; sie bezweifelt die Anwend- und Umsetzbarkeit dieser Theorien.

Diese Zweifel äußern sich noch einmal in den Tipps und Erklärungen die Evelin

Hanna in der ersten Fallgeschichte gibt, in welcher der Lehrer während des Orien-

tierungspraktikums Hannas Stunde übernimmt. Evelin ist der Meinung, dass Un-

terrichtsplanung sich nie 1:1 umsetzen lässt. Praxisbezug erfährt Evelin demge-

mäß überwiegend in ihren Praktika. Hier lernt sie mit der Differenz von Theorie

und Praxis umzugehen. Außerdem kann sie von ihren Betreuungslehrern viel ler-

nen, ist aber vor allem selbst aktiv und sammelt eigene Erfahrungen. Genauso

Page 25: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

24

verhält es sich in den didaktischen Veranstaltungen des Studiums. Dem Fach

Sport spricht Evelin dabei eine Sonderstellung zu. Sie betont, dass sie sich in

Sportseminaren selbst ausprobieren kann, es ihr ermöglicht wird, in die Lehrer-

oder Schülerrolle zu schlüpfen und so Perspektivwechsel vorzunehmen. Beson-

ders wichtig daran ist ihr aber die eigene Aktivität, welche ihrer Meinung nach

ihre Transferleistung steigert. Dinge, die sie selbst erlebt, kann sie auch besser in

ihrem Unterricht anwenden und umsetzen. So bevorzugt sie des Weiteren didakti-

sche Seminare, in denen sie Unterrichtssituationen oder Handlungen einübt, die

sie im Schulalltag unmittelbar wird durchführen müssen. Dieser Ansicht entspre-

chend stimmt Evelin Svenjas Aussage zu, welche ihr Studium als zu wenig pra-

xisbezogen empfindet und das Praktikum als einzige Möglichkeit der Berufsvor-

bereitung darstellt. Auch wenn sich Evelin in dieser Ansicht wiederfindet, erwei-

tert sie hier ihre eigene Theorie, indem sie erkennt, dass Praxisbezug für sie Un-

terrichten bedeutet. Sie erkennt an dieser Stelle, dass sie sich in der Uni immer

noch in der Schülerrinnenrolle befindet und eben nicht in der Lehrerinnenrolle,

die sie gern bereits einnehmen würde. Dies geht über Svenjas Ansicht hinaus.

Sich in die Dozentinnenperspektive versetzend geht es ihr darum, den Sprung in

das kalte Wasser, den sie im Übergang vom Studium zum Referendariat erwartet,

zu verhindern. So würde sie als Dozentin entsprechend ihrer eigenen Ansicht von

Praxisbezug an die Erfahrungen der Studierenden anknüpfen sowie diesen Mög-

lichkeiten schaffen, im Studium, in Seminaren eigene Erfahrungen sammeln zu

können. Dies würde vor allem durch Projekt-Seminare und Schulkooperationen

erreicht.

Evelin fühlt sich zu 50 Prozent auf ihre berufliche Praxis vorbereitet. Hierbei be-

zieht sie sich nochmals auf die didaktischen Veranstaltungen und das Praktikum.

So ergibt sich für sie Lernerfolg überwiegend durch Übung. Eine 100 prozentige

Vorbereitung durch das Studium wäre für Evelin nur gegeben, wenn jede Veran-

staltung, die sie im Studium besucht, in der Schule zum Einsatz kommen würde.

Im Gegensatz zum Studium erscheint es Evelin so, dass sie von den Lehrern/innen

in der Schule viel mehr lernt. So würde sie ihren Ordner „Hilfe für alles“ vor al-

lem mit Tipps und Hinweisen aus der Praxis, also aus dem Schulalltag füllen. Be-

zogen auf ihr Theorie-Praxis-Verständnis würde aber auch Hinweise dafür ein-

ordnen, wie sie mit der Differenz zwischen theoretischer Planung von Unterricht

und der tatsächlichen Umsetzung umgehen könnte.

Page 26: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

25

Neben diesem sehr homogenen Konzept von Praxisbezug werden im Interview

immer wieder Aspekte angeschnitten, die Evelin zwar erwähnt, die jedoch im

weiteren Verlauf nicht noch einmal aufgegriffen werden oder keine größere Be-

deutung zu haben scheinen. So erkennt Evelin zum Beispiel, dass ein gewisses

fachwissenschaftliches Grundwissen hilfreich sein kann, um bestimmte Semina-

rinhalte zu verstehen und darauf aufbauend einen Praxisbezug herstellen zu kön-

nen. Diese Ansicht begründet sie jedoch lediglich anhand eines konkreten Bei-

spiels. Sie erkennt außerdem, dass es interessant sein kann, Literatur zu Hilfe zu

nehmen, diese helfe ihr im Schulalltag aber nicht weiter.

5.4 Sven

Svens Konzept von Praxisbezug erscheint sehr theorieförmig. Dem Konzept liegt

eine bestimmte, klar umrissene und begründete Grundauffassung von Studium

und Beruf sowie Theorie und Praxis zu Grunde. Mit Hilfe dieses Grundverständ-

nis begründet er sowohl seine eigene persönliche Auffassung, dass er im Studium

die theoretischen Grundlagen erlenen möchte als auch seine Ansichten zum The-

ma Praxisbezug des Studiums. Obwohl er diese theoretische Ausbildung im Stu-

dium verortet und die praktische Ausbildung in das Referendariat verlegt, kommt

er doch immer wieder im Interview zum dem Wunsch, sein theoretisches Wissen

ausprobieren und testen zu wollen.

Svens Theorie von Praxisbezug baut auf seiner Annahme einer bestimmten Struk-

tur des Studiums und des Berufs auf. Diese Annahme beruht auf einer strikten

Zweiteilung von Studium und Beruf. Nach Sven stehen im Studium die theoreti-

schen Grundlagen im Vordergrund, wobei mit diesen Grundlagen theoretisches

Wissen über allgemeine, abstrakte Modelle und die Fähigkeit, wissenschaftlich zu

denken und zu arbeiten gemeint ist. Die Praxis erfüllt hier eher die Funktion eines

Rahmens, der aber nur am Rande vorkommt. Im Beruf ist dieses Verhältnis genau

umgekehrt. Hier stehen konkrete Situationen im Vordergrund, wohingegen die

theoretischen Grundlagen eher die Rahmenfunktion übernehmen. Dieses zweige-

teilte Verhältnis wird von Sven grundsätzlich als positiv bewertet und im Laufe

des Interviews immer wieder hervorgehoben und als Begründung aufgeführt.

Demgemäß bewertet er die theoretische Ausbildung im Studium durchaus als po-

sitiv. Das Studium liefert ihm eine wissenschaftliche Grundlage, ein Fundament,

um später praktisch tätig zu sein. So stehen für ihn vor allem allgemeine Theorien

Page 27: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

26

zum Lehren und Lernen, wie zum Beispiel der Konstruktivismus, in praxisbezo-

genen Seminaren im Vordergrund. Seine Betonung liegt nicht darauf, diese Theo-

rien anzuwenden, er möchte den Ablauf von Lernprozessen „nachvollziehen“

können. Dieses „nachvollziehen“ kann zum Beispiel dadurch geschehen, dass er

anhand verschiedener Unterrichtsbeispiele versucht eine Theorie nachzuvollzie-

hen und zu verstehen. Das Verhältnis von Theorie und Praxis verläuft nur in eine

Richtung. Erst muss die Theorie gegeben sein und darauf folgend kann diese aus-

probiert werden. Diese theoretische Grundlage ist ihm wichtig, weil er sich

dadurch erhofft eine möglichst weiten „Horizont“ zu erlangen, er will einen glo-

baleren Blick für die Dinge, die um ihn herum geschehen, bekommen und durch

die theoretische Grundlage mehr Möglichkeiten eröffnen, mit bestimmten Situati-

onen umzugehen. So wählt Sven aus den drei ihm vorgelesenen Zitaten das von

Sören als dasjenige aus, das am besten zu ihm passt. Dabei betont er jedoch, dass

es ihm wichtig ist, sich nicht nur, wie Sören es sagt, auf die Fächer zu beschrän-

ken. Diese Sichtweise findet Sven eingeengt. Er bestärkt hier noch einmal seinen

Wunsch, im Studium einen Gesamtüberblick zu erhalten. Passend zu diesem

Wunsch schlägt er Hannes nach seiner missglückten Unterrichtsstunde vor, sich

noch einmal theoretische Hilfe aus der Literatur zu suchen und sein Wissen in

Bezug auf Interventionskonzepte zu erweitern. Wenn die erste Unterrichtsstunde

von Hannes positiv verläuft, sucht Sven die Gründe für das gute Gelingen der

Stunde in der Theorie, indem er sein theoretisches Wissen über den Aufbau guter

Unterrichtsstunden wiedergibt. Würde Sven einen Ordner „Hilfe für alles“ anle-

gen, würden sich darin, seinem Konzept entsprechend, Fachartikel und Zusam-

menfassungen über die Studieninhalte befinden. Desweiteren würde er, wenn er

sich für eines von zwei Seminaren entscheiden müsste, ebenfalls seinem Konzept

entsprechend, das Seminar „Schule als Lebensort gestalten, über Schulreformen

und Ganztagsschulen“ wählen. Sven begründet diese Entscheidung innerhalb sei-

ner subjektiven Theorie damit, dass er sich durch das Seminar den Blick für das

Ganze, den Blick über den Tellerrand hinaus eröffnen möchte.

Obwohl Sven immer wieder betont, dass ihm das theoretische Grundlagenwissen

im Studium sehr wichtig ist, kann er sich nicht gleichzeitig von dem Wunsch lö-

sen, diese Theorie auch schon im Studium ausprobieren und an konkreten Situati-

onen messen zu wollen. So findet er zum Beispiel die Arbeit mit Rollenspielen in

praxisbezogenen Seminaren sehr hilfreich oder betont seine Arbeit als Tutor, bei

Page 28: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

27

der er Erfahrungen und vor allem Routine im Unterrichten sammeln konnte. Auf-

fällig ist an dieser Stelle jedoch, dass diese Wünsche nach Umsetzung der Theorie

an konkreten Situationen schon in dem Moment, wenn Sven den Wunsch äußert,

von ihm gleichzeitig durch die Art, wie er den Wunsch äußert, abgeschwächt

werden; durch Redewendungen, wie „einfach mal“, „eigentlich schon recht“, „halt

als ein bisschen schade“, „mal so ein bisschen“ etc. Dieser Wunsch nach Anwen-

dung an konkreten Situationen schon im Studium gründet jedoch auf einer wis-

senschaftlich theoretischen Annahme. Anwendung schon im Studium zu auszu-

probieren ist für ihn wichtig, weil er sonst fürchtet, das Gelernte bis zum Referen-

dariat wieder zu vergessen. Zu diesem Aspekt passt desweiteren, dass er die Mei-

nungen der anderen Studierenden zum Praxisbezug im Studium sehr genau kennt

und wiedergibt. Die meisten Studierenden fragen sich, Svens Meinung nach, was

sie mit dem theoretischen Wissen des Studiums anfangen sollen und erachten die

wissenschaftliche Ausbildung als unnötig. Hier steht der Wunsch nach konkretem

Anwendungswissen (z.B. Unterrichtsreihen) im Vordergrund.

Neben den theoretischen Grundlagen, von denen Sven sich für seinen Beruf Si-

cherheit erwartet, findet er im Studium besonders durch freiwilliges Engagement

praxisbezogene Inhalte. Er betont diesbezüglich besonders die Persönlichkeit, die

seiner Meinung nach besonders im Studium reift. Eine stabile Persönlichkeit sieht

er als hilfreich für den späteren Lehrerberuf an. Nach Sven kann die Persönlich-

keit aber nur zum positiven hin entwickelt werden, wenn man sich über die Semi-

nare hinaus engagiert. Als Beispiele nennt er SHK- oder Tutorenarbeit, Mitarbeit

in universitären Gremien, wie dem Studierendenparlament, dem Senat oder dem

ASTA. Solches Engagement rät Sven auch Hannes, um sich auf Unterrichtssitua-

tionen vorzubereiten und flexibler auf Komplikationen reagieren zu können.

Zusammenfassend schätzt Sven den Praxisbezug des Studiums auf 40-50 Prozent

ein. Er begründet diese Einschätzung sehr objektiv und lässt hierbei seine eigene

Meinung außen vor. Den Praxisbezug des Studiums muss er so gering einschät-

zen, weil er im Rahmen des Studiums nicht sehr viele Möglichkeiten sieht, Theo-

rie anzuwenden und Erfahrungen zu sammeln. Um dies zu ändern, müsse man

sich zusätzlich engagieren. Er bewertet diese Einschätzung weder positiv noch

negativ. Im Vordergrund steht immer seine grundlegende Auffassung, dass er die

Zweiteilung der Ausbildung (Theorie im Studium, Praxis im Referendariat) für

gut hält.

Page 29: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

28

6. Kategoriensystem zu formalen Aspekten Subjektiver Theorien

Um die formale Struktur der Subjektiven Theorien von Studierenden zum Praxis-

bezug des Studiums zu untersuchen wurden die transkribierten Interviews mit

Hilfe der strukturierenden Inhaltsanalyse, ins besondere mit Hilfe der formalen

Strukturierung (vgl. Mayring 2010, 92ff.) analysiert. Zuerst wurde dem zufolge

ein auf der Theorie zu Subjektiven Theorien basierendes Kategoriensystem er-

stellt und ein entsprechendes Kodierhandbuch angefertigt, das im folgenden Kapi-

tel im einzelnen dargestellt wird. Dieses Kategoriensystem wurde daraufhin in

einem ersten Durchlauf anhand von vier der neun Interviews erprobt und in einem

zweiten Schritt durch Kategorien zweiter Ordnung ergänzt, die jeweils durch De-

finitionen und mehrere Ankerbeispiele beschrieben werden.

Aus Studien zu Subjektiven Theorien zum erfolgreichen Lehrerinnen- und Leh-

rerhandeln in Bezug auf Gruppenunterricht (vgl. Haag/Dann 2001) und in Bezug

auf erfolgreiches Handeln bei Unterrichtskonflikten (vgl. Dann et al 1987) sind

bereits formale Merkmale von Subjektiven Theorien bekannt. In beiden Studien

wird neben den inhaltlichen Aspekten auch der formale Aufbau von Subjektiven

Theorien untersucht und als ein auf das erfolgreiche Handeln Einfluss nehmender

Aspekt in Erwägung gezogen. Dann et al. (1987) stellen folgende Aspekte als

formale Merkmale von Subjektiven Theorien fest. Zum einen nennen sie den

„Grad der Konsistenz“ (ebd., 316) als Maßstab dafür, inwiefern die Subjektiven

Theorien mit dem tatsächlichen Handeln der Lehrerinnen und Lehrer überein-

stimmen. Zum anderen nennen sie „die Komplexität“ (ebd., 316) – die Anzahl der

genannten Reaktionsmöglichkeiten unter bestimmten Bedingungen – und die

„Organisation der Subjektiven Theorien“ (ebd., 316), womit die Art der Zusam-

menhänge von beschriebenen „Situationsbedingungen und davon abhängigen

Maßnahmen“ (ebd., 316) gemeint ist. Haag/Dann (2001) greifen die formalen

Aspekte der Komplexität und der Organisation der Subjektiven Theorien auf. Sie

verstehen unter dem formalen Aspekt der Komplexität des Wissens die „Anzahl

der Bedingungs- und Handlungskonzepte“ (ebd., 12), welche eine befragte Person

nennt. Je höher die Anzahl dieser Konzepte sei, schließen Haag/Dann (2001),

„desto mehr Bedingungs- und Handlungskonzepte hat die Lehrkraft insgesamt für

ihr Handeln zur Verfügung.“ (ebd., 12) Den formalen Aspekt der Organisation der

Gesamtstruktur einer Subjektiven Theorie beschreiben Haag/Dann (2001) als die

Page 30: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

29

„durchschnittliche Anzahl der parallelen Pfade, relativiert an der Länge der Struk-

tur.“ (ebd., 12) Sie beschreiben hier einen Zusammenhang: Je höher der in dieser

Kategorie erzielte Wert sei, „desto kürzer und gleichzeitig parallel verzweigter ist

die Subjektive Theorie, d.h. desto mehr alternative Varianten des Verlaufs werden

gleichzeitig gesehen.“ (ebd., 12) Als dritten Aspekt nennen sie die Differenziert-

heit der Subjektiven Theorien, welche sie als „durchschnittliche Anzahl der Ent-

scheidungsbedingungen in Reihe vor einer Handlung, relativiert an der Länge der

Struktur“ (ebd., 12) definieren. In beiden Studien wurde nachgewiesen, dass die

Struktur der Subjektiven Theorien neben dem Inhaltsaspekt einen Einfluss auf das

erfolgreiche Lehrerinnen- und Lehrerhandeln nimmt. (Vgl. Dann et al. 1987, 316;

Haag & Dann 2001, 9) Die Subjektiven Theorien von Lehrerinnen und Lehrern,

„die erfolgreichen Gruppenunterricht durchführen, sind sowohl formal hinrei-

chend entfaltet als auch inhaltlich von besonderer Qualität.“ (Haag & Dann 2001,

9) Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wird auch für ein erfolgreiches Studie-

renden-Handeln im Spannungsfeld zwischen Studium, Beruf und Praxis ein Ein-

fluss der formalen Struktur der Subjektiven Theorien zum Praxisbezug des Studi-

ums angenommen und der Struktur Subjektiver Theorien zum Praxisbezug dem-

entsprechend einige Relevanz beigemessen.

Für das Kategoriensystem werden die oben besprochenen formalen Merkmale der

Komplexität, der Differenziertheit und der Organisation ausgewählt und auf das

Thema Praxisbezug des Studiums, den Handlungsrahmen der Subjektiven Theo-

rien zum Praxisbezug angepasst. Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle,

dass es sich im Gegensatz zu den Studien von Dann et al. (1987) und Haag/Dann

(2001) bei den Subjektiven Theorien zum Praxisbezug um Subjektive Theorie

mittlerer Reichweite handelt, die in dieser Arbeit anfangs schon erläutert wurden.

(Vgl. Wahl 2005, 19 ff.) In den Studien von Dann et al. (1987) und Haag/Dann

(2001) stehen die Untersuchung Subjektiver Theorien in Bezug auf das Handeln

in Druck- bzw. Stresssituationen sowie Subjektive Theorien geringer Reichweite

im Mittelpunkt. In dieser Arbeit werden Subjektive Theorien mittlerer bis weiter

Reichweite betrachtet. Die befragten Studierenden handeln zum einen im Studium

bei der Wahl von Veranstaltungen oder Praktikumsplätzen- bzw. -zeiträumen

nicht unter Zeitdruck und zum anderen lassen auch die hypothetischen Fallbei-

spiele, obwohl wie in Fall 4 eine Drucksituation beschrieben wird, genug Raum

für Überlegungen. Auf Grund dieser Differenz besteht die Notwendigkeit einer

Page 31: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

30

Anpassung der formalen Aspekte. Die drei Merkmale – Komplexität, Differen-

ziertheit und Organisation – dienen im Kategoriensystem als Kategorien erster

Ordnung und werden durch Kategorien zweiter Ordnung ergänzt, die teilweise

deduktiv auf der Basis theoretischer Argumentationsmerkmale der Syntax und der

Textlinguistik und teilweise induktiv aus dem Interviewmaterial selbst gewonnen

werden.

Die Kategorie „Komplexität“ ist bezogen auf Subjektive Theorien zum Praxisbe-

zug so zu verstehen, dass hier die Anzahl der genannten Aspekte zum einen von

Praxisbezug relevant sind. Zum anderen ist aber auch die Anzahl der Handlungs-

möglichkeiten, die die Interviewten nennen, um selbst Praxisbezug herzustellen

relevant. Genauere Erklärungen zu diesen Teilpunkten finden sich im Kodier-

handbuch, welches im folgenden Kapitel dargestellt wird. Eine Subjektive Theo-

rie zum Praxisbezug ist umso komplexer, je mehr Aspekte von Praxisbezug und

Handlungsmöglichkeiten genannt werden.

Angepasst an die Subjektiven Theorien zum Praxisbezug, steht hinter der Katego-

rie „Differenziertheit“ die Frage, wie differenziert die Interviewten die einzelnen

von ihnen genannten Aspekte von Praxisbezug im Interview diskutieren. Hier

wird die Anzahl der Argumentationsbestandteile gemessen, die im Interview nach

der Nennung eines Aspektes von Praxisbezug, einer Handlungsmöglichkeit oder

einer bestimmten Ansicht oder Meinung folgen. Welche Möglichkeiten von Ar-

gumentationsverläufen auf eine differenzierte Argumentation oder auch auf eine

undifferenzierte Argumentation hinweisen, wird durch die Kategorien zweiter

Ordnung dargestellt und wird näher im Kodierleitfaden erläutert.

Bezüglich der dritten Kategorie erster Ordnung, „Organisation“, ist zu bemerken,

dass hier die Verknüpfung des Wissens oder der genannten Aspekte zum Thema

Praxisbezug relevant sind. Gemessen wird dies an der Anzahl der Rückbezüge

und Querverweise, aber auch an der Anzahl der Anwendungen einer Theorie. Un-

gereimtheiten und Unstimmigkeiten werden in dieser Kategorie ebenfalls erfasst,

weil diese auf eine geringere Organisation der Subjektiven Theorie zum Praxisbe-

zug hinweisen. Im Folgenden werden alle Kategorien im Kodierhandbuch genau

beschrieben und anhand von Ankerbeispielen veranschaulicht, auf welche Art und

Weise die Kodierung erfolgen soll.

Page 32: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

31

6.1 Kodierhandbuch zum Kategoriensystem der formalen Charakteristika von Subjektiven Theorien zum Praxisbezug Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel 1. Komplexität: Die Komplexität einer Subjektiven Theorie zum Praxisbezug setzt sich aus der Anzahl der genannten Aspekte von Praxisbezug und der genannten Möglichkeiten, selbst Praxisbezug herzustellen, zusam-men. Eine Subjektive Theorie zum Praxisbezug ist umso komplexer, je mehr Aspekte von Praxisbezug des Studiums und je mehr Hand-lungsmöglichkeiten genannt wer-den. Die Häufigkeit der genannten As-pekte errechnet sich aus der Sum-me aller genannten Aspekte und Handlungsmöglichkeiten.

1.1 Aspekte von Praxisbezug Als Aspekte von Praxisbezug werden Aus-sagen angesehen, die die Interviewten von sich geben, wenn sie versuchen Praxisbezug zu beschreiben, wenn sie praxisbezogene Situationen schildern und Beispiele für Pra-xisbezug geben. Des Weiteren finden sich Aspekte von Praxisbezug, wenn die Proble-me bezüglich des Praxisbezugs näher defi-niert werden. Unter diese Kategorie fallen alle Textstellen, die sich mit der Definition oder Annäherung an den Praxisbezug des Studiums beschäfti-gen. Wiederholt sich ein schon genannter Aspekt, wird dieser im Folgenden nicht mehr ko-diert.

F: Und zwar will ich einfach ganz spontan von dir wissen, was dir zum Thema Praxisbezug des Studiums einfällt? A: Ja, also, mir fällt dazu ein, dass ich Gelerntes einfach aus Seminaren irgendwie anwenden kann3, also speziell in der Schule und dass halt einmal so Theorien, dass ich die anwenden kann […], wie ich zum Beispiel mit Störungen im Un-terricht umgehe oder wie ich besser Schüler beim Lernen fördere. (P_2_Kathrin, Abs. 2) Einfach, dass halt so zum Beispiel diese Schrei-bungen halt wirklich in der Schule auftauchen oder dass halt ein Lehrer wirklich halt diese Kompetenzen haben muss, die wir halt durchge-sprochen haben. Ja und das war so ein bisschen halt der Praxisbezug. (P_2_Kathrin, Abs. 12) Den Praxisbezug […] der Praxisbezug war viel-leicht insofern darin, als dass man ja auch durchaus mal (..) mittlerweile (..) mit anderen

3 Bei den farbig markierten Stellen handelt es sich um die kodierten Stellen. Diese Textstellen fallen in die jeweils entsprechende Kategorie. Rote Markierungen fallen in die Kategorie „Komplexität“, grüne Markierungen fallen in die Kategorie „Differenziertheit“ und blaue Markierungen fallen in die Kategorie „Organisation“.

Page 33: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

32

Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel Lehrern beispielsweise im Team zusammen ar-beiten muss und da [im Seminar bei der Grup-penarbeit] eben Erfahrungen sammeln konnte. […] Also nicht direkt diese praktische Arbeit hatte, sondern ja auch in Form von Videoauf-zeichnungen, von Unterricht und so weiter, diese Theorien eben nachvollziehen konnte. (P_10_Sven, Abs. 15)

1.2 Handlungsmöglichkeiten bzw. -strategien, Praxisbezug herzustellen

Unter Handlungsmöglichkeiten, Praxisbezug herzustellen, sind Handlungen zu verstehen, die die Befragten ausführen oder hypothe-tisch in Erwägung ziehen, um Bezug zur Praxis herzustellen. Darunter fallen auch Handlungen oder Aspekte, die die Studie-renden unternehmen, um sich auf die beruf-liche Praxis vorzubereiten.

Man muss sich halt bestimmte Dozenten raussu-chen oder bestimmte Veranstaltungen, die gut klingen und mir ging es halt ganz oft so, dass ich halt es gut fand, dass ich halt Dozenten hatte, die vorher selber Grundschullehrer waren oder all-gemein Lehrer, weil die dann wirklich berichten können […] (P_2_Kathrin, Abs. 58) Wenn man dann beispielsweise auch noch Erfah-rung sammelt, (..) es gibt ja beispielsweise als SHK in Tutorien, dann (..) *oder* in anderen Bereichen, irgendwelchen Gremien hier in der Universität. Das ist alles dann für die Persön-lichkeit sehr hilfreich, um dann später auch im Beruf zurechtzukommen. (P_10_Sven, Abs. 51) […]dass ich mir auch schon im ersten Semester

Page 34: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

33

Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel „Einführung in die Sprachwissenschaft“/mir immer irgendwie gesucht habe oder versucht habe rauszufinden, inwiefern es für meinen Beruf von Relevanz ist und das IST es ja wirklich. (P_1_Sara, Abs. 22)

2. Differenziertheit: Diese Kategorie beschäftigt sich mit der Frage, wie differenziert Meinungen oder Ansichten zu Praxisbezug, aber auch Aspekte von Praxisbezug diskutiert wer-den. In dieser Kategorie wird be-sonders die Argumentationsstruk-tur der nach einem genannten As-pekt oder nach einer An-sicht/Meinung folgenden Diskus-sion in den Mittelpunkt der Be-trachtung gestellt. Weitere Hinweise auf Differen-ziertheit können der Einbezug von Gegenargumenten, von eigenen Erfahrungen oder Erfahrungen anderer sein. Auch die Übernahme einer anderen Perspektive ermög-licht einen differenzierteren Blick.

2.1 Abwägende Argumentation Zwei oder mehrere Ansichten, Meinungen oder Aspekte werden gegeneinander abge-wogen. Dazu zählt auch die Aufnahme von Meinungen und Argumenten anderer Perso-nen in den Diskussionsverlauf. Diese Argu-mentation ist oft geprägt von folgenden Satzkonstruktionen und Junktoren:

- einerseits-andererseits - zum Einen-Zum Anderen - für-und-Wieder - wenn-und-aber - entgegen - wobei - aber

Diese Satzkonstruktionen und Junktoren können explizit im Text vorliegen, aber auch auf Grund der Differenz zwischen gespro-chener und geschriebener Sprach implizit im Interviewtranskript vorhanden sein.

Ich denke mir halt. Ok ich bin erst im dritten Semester, aber ich weiß zum Beispiel auch, dass ich in der Schule war und wie das funktioniert hat und wie ich dort Sachen anwenden konnte, die ich schon gelernt habe. Und die KONNTE ich definitiv anwenden, aber es fehlen natürlich auch viele Sachen. Aber ich denke auch immer, dass/ dass die Uni da hinterher ist. Also ich musste ja auch in meinen Praktikumsbericht schreiben, wo ich mich noch unsicher fühle, WAS ich noch vertiefend lernen will und ich den-ke mir immer, aber vielleicht bin ich auch naiv, aber ich hoffe immer, dass die das fragen, damit sie es optimieren können, die Seminare oder was weiß ich, den/ die Sachen, um den Leuten noch bessere/ oder mehr an die Hand zu geben ein-fach für die Berufspraxis. (P_1_Sara, Abs. 44) Ja natürlich es gibt immer Situationen, wenn ich

Page 35: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

34

Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel Wenig differenziert sind floskel-hafte Ausdrücke, oder Meinungen, die nicht begründet werden. Auch die Häufigkeit solcher Aspekte lässt sich zählen.

zum Beispiel denke, jetzt irgendwas mit einer Lautschrift sag ich mal. Ich hatte jetzt ganz in-tensiv in Englisch halt Phon/Phon/ Phonologie also Phonology und dass einem halt dann zu hause einfällt, ja man kann es ja wirklich nutzen oder wenn ich irgendwie im Wörterbuch gucke, dann kann ich es halt jetzt besser aussprechen. Also man hat halt schon so einige Sachen gelernt in der Uni, die man halt zu Hause einfach wieder entdeckt, aber speziell muss ich halt schon sa-gen, also man lernt halt oft SO spezielle Sachen und wenn ich dann zu hause irgendwie meinen Eltern erzähle, ja ich schreibe jetzt eine Klausur über das und das, dann lachen die und sagen, ach Name der/ des Interviewpartners/rin wann genau willst du das denn anwenden und manch-mal scherzel ich halt rum und das ist das und das. (P_2_Kathrin, Abs. 14) *Und äh* also [2sec] ja, also der Art Praxisbe-zug, *denn* die meisten Dozenten sehen das, glaub' ich, eher abstrakter, während viele Stu-denten eher wirklich (.) sich was Konkretes viel-leicht wünschen oder sich was Konkretes vorstel-len. Und, ja, das is' eben auch dieser Zweitei-lung, glaub' ich, auch dieser Zweiteilung ge-

Page 36: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

35

Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel schuldet, dieser Ausbildung. Ich glaub', die Do-zenten, die sehen das wirklich eher noch als wis-senschaftliche Ausbildung. Und dann (..) da steht dann eher die theoretische Reflexion 'n bisschen im Vordergrund, denk' ich mal. (P_10_Sven, Abs. 23)

2.2 Begründete und kausale Argumenta-tion Kausale oder begründete Argumentation liegt dann vor, wenn Meinungen oder As-pekte von Praxisbezug nicht einfach nur aufgelistet dargestellt, sondern begründet werden oder wenn eine Grund-Folge-Relation aufgestellt wird. Zu beachten sind hier besonders Aussagen mit weil-Konstruktion, Dabei werden wiederholende Begründungen in einer Argumentationsfol-ge, also zu einem Aspekt, als eine Begrün-dung gezählt. Des Weiteren sind Grund-Folge-Relationen zum Teil an wenn-dann-Konstruktionen zu erkennen. Diese Satzkonstruktionen können explizit im Text vorliegend, aber auch aufgrund der Differenz zwischen gesprochener und ge-schriebener Sprach implizit im Inter-viewtranskript vorhanden sein.

[…] was ich halt 'n als 'n (.) bisschen schade empfinde, dass *man* dann zwar diese Grund-lage hat, aber wenig, sehr wenig Möglichkeiten hat, die auch mal so'n bisschen *äh ähm* ja an der Praxis quasi zu messen. [2sec] Das/ das is' so'n bisschen zu wenig, find' ich, *weil* vieles (..), wenn man mal ehrlich is', was man im Stu-dium lernt, das hat man dann zum Beispiel bis zum Referendariat schon wieder vergessen. Nur dann hat man gar nich' mehr die Möglichkeit, dass *äh*, dass dann wirklich praktisch auch noch umsetzen. (P_10_Sven, Abs. 29) Wenn man sich in solchen Gremien engagiert, [dann] hat man eben viel auch mit/ mit den ver-schiedensten (lacht leicht) Persönlichkeiten+ zu tun, auch nich' immer mit einfachen. Und eben man *muss* [dann], ja, man muss sich auch (..) 'n bisschen durchsetzen können in solchen Gre-mien und vor größeren äh (..) *ähm*, ja, vor

Page 37: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

36

Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel größeren *ähm* Menschenmassen, (lacht leicht) sollen wir es so sagen+, reden können. Und dass das eben auch noch 'ne (..) Möglichkeit, möglich ähm [1sec], Erfahrungen zu sammeln. Man kann ja gut die Stunde Planen, aber letzt-endlich läuft sie doch irgendwie anders, weil irgendwelche Unterrichtsstörungen da sind. (Holt Luft) Oder weil die Kinder sich anders verhalten, als man das sich ursprünglich so überlegt hätte. (P_9_Evelin, Abs. 15)

2.3 Auf Erfahrungen bezogene Argumen-tation Beruht eine Meinung oder ein Aspekt auf bestimmten Erfahrungen – dies können ei-gene Erfahrungen oder auch fremde Erfah-rungen sein – wird in dieser Kategorie ko-diert. Des Weiteren wird diese Kategorie kodiert, wenn die Argumentation durch Bei-spiele veranschaulicht wird. Dabei ist zu beachten, dass diese Erfahrungen zentraler Aspekt des Argumentationsstrangs sein müssen.

Ja, auf jeden Fall. Ich meine ich hatte ja schon viele Seminare, wo dann Bachelor, Komparatis-tik Bachelor, Linguistik, Lehramt drin saßen und dann ist natürlich klar, dass jeder Kommilitone mit einer anderen Auffassung da sitzt und auch der Dozent irgendwie verschiedene Blickwinkel hat. Naja/ ja er hat wahrscheinlich auch seinen Hauptbereich, auf den er sich spezialisiert aus seiner Fachwissenschaft und damit kann man halt verschiedene Dinge machen. So/ also weiß ich nicht jetzt ganz konkret. Ich hatte zum Bei-spiel ein Seminar von Dozent/in. So dann hat er/sie halt/ dann macht sie ein Seminar „Phone-tik und Phonologie“ und damit kann jeder dieser drei Studiengänge, die ich genannt habe, was

Page 38: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

37

Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel anderes damit anfangen. Und aber/ bei IHR ist es zum Beispiel wirklich so, dass sie sich auch auf alle drei bezieht. Also sie/ sie macht es zum Beispiel, aber es gibt auch genug, denen das dann halt irgendwie. Ja egal würde ich jetzt nicht sagen, aber wo es einfach SCHWER fällt auch einen Praxisbezug herzustellen. (P_1_Sara, Abs. 28) Also man hat halt schon so einige Sachen gelernt in der Uni, die man halt zu Hause einfach wieder entdeckt, aber speziell muss ich halt schon sa-gen, also man lernt halt oft SO spezielle Sachen und wenn ich dann zu hause irgendwie meinen Eltern erzähle, ja ich schreibe jetzt eine Klausur über das und das, dann lachen die und sagen, ach Name der/ des Interviewpartners/rin wann genau willst du das denn anwenden und manch-mal scherzel ich halt rum und das ist das und das. Oder zum Beispiel habe ich jetzt Werbe-kommunikation und das ist so detailliert gewe-sen. Dann stand ich vor einer Werbung und habe erzählt, was das für eine Technik ist und dann lachen die halt […]. (P_2_Kathrin, Abs. 14)

Page 39: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

38

Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel 2.4 Perspektivwechsel Wechseln die Interviewten in andere Per-spektiven, um ihre Meinung oder ihren an-gesprochen Aspekt weiter zu verdeutlichen oder näher zu beschreiben, wird ein Perspek-tivwechsel kodiert. Die Befragten müssen sich hier in andere Person oder Personen-gruppen hinein fühlen. Dies ist nicht zu verwechseln mit der Kate-gorie 2.1, die beschreibt, dass auch Meinun-gen anderer Personen in die Argumentation mit einbezogen werden. Des Weiteren werden die Perspektivwech-sel, die auf Grund der Perspektivwechselfra-ge des Interviewleitfadens vollzogen werden nicht in diese Kategorie kodiert.

[…] dass ich dann einfach wissen will, was Pra-xisbezug ist oder dann sollen sie [die Dozenten] mir einfach sagen, warum es halt ok ist, wenn irgendwo ein Praxisbezug nicht da ist. […] Ge-nauso wie man Schülern irgendwie beibringt oder näher bringt, warum sie irgendetwas in irgendeiner Art und Weise gebrauchen könnten oder brauchen. (P_1_Sara, Abs. 107ff.)

2.5 Floskelhafte Argumentation Hierbei handelt es sich um eine Argumenta-tionsweise, die äußerst unbegründet, stark verallgemeinernd und normierend ist. Meist wird eine Meinung oder ein Aspekt nur sehr kurz, innerhalb eines Satz besprochen. Die Anzahl der Kodierungen in dieser Kate-gorie werden von der Summe der Kodierung der Kategorien 2.1 bis 2.4 subtrahiert.

A: Dass ich dann halt denke, ok, das war jetzt mal Wissen für eine Klausur, aber ob ich es jetzt WIRKLICH in der SchUle brauche, ob ich es wirklich in Alltagsgesprächen brauche, weiß ich dann halt nicht. F: Hast du irgendwie eine Ahnung, warum man sich das vielleicht nicht merken kann? A: Ja ich glaube, weil einfach zu viel aufeinan-der ist. (P_2_Kathrin)

Page 40: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

39

Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel Damit man nicht so ins kalte Wasser geschmis-sen wird […] (P_9_Evelin, Abs. 27) Und es ist schon wichtig, dass man mal weiß, wie die deutsche Sprache aufgebaut ist […] (P_9_Evelin, Abs. 41)

3. Organisation: Das Wissen, die Ansichten, Mei-nungen und Aspekte von Praxis-bezug werden angemessen, in aus-reichender Weise verknüpft darge-stellt. Eine verknüpfte Darstellung bein-haltet, dass die Befragten sich auf schon Gesagtes zurückbeziehen und Querverweise zu schon Ge-sagtem erstellen. Außerdem soll-ten die Aussagen stimmig sein, keine Wiedersprüche oder Unge-reimtheiten enthalten. Hier gilt: je weniger Ungereimtheiten, desto organisierter ist eine Subjektive Theorie zum Praxisbezug. Bei Dann et al (1987) wird der Grad der Konsistenz der Subjektiven Theorien, also inwieweit die Sub-

3.1 Rückbezüge und Querverweise In dieser Kategorie wird beachtet, in wie weit die Befragten, sich darüber bewusst sind, was sie im Interview schon gesagt ha-ben. Es wird der Frage nachgegangen, ob sie sich auf Stellen des Interviews zurückbezie-hen. Sie können sich dabei sowohl auf Mei-nungen, Aspekte, aber auch auf bestimmte Beispiele oder Erfahrungen zurückbeziehen.

Anhand von Beispielen, die ich jetzt schon ge-nannt habe, […] (P_9_Evelin, Abs. 32) […] wie ich gerade schon alles beschrieben ha-be […] (P_9_Evelin, Abs. 49) […] wie ich schon eingangs erwähnte […] (P_10_Sven, Abs. 63) Es gibt eben auch abseits des Studiums die er-wähnten Möglichkeiten. (P_10_Sven, Abs. 77)

3.2 Anwendung Diese Kategorie beschäftigt sich mit dem Aspekt, ob Meinungen oder Subjektive The-orien zum Praxisbezug im zweiten Teil des Interviews, in dem die Möglichkeit zur Ela-boration ihrer Subjektiven Theorien besteht,

Da diese Kategorie nicht an einzelnen bestimm-ten Textstellen codiert werden kann, sondern sich über den gesamten Text hinweg erstreckt, soll an dieser Stelle ein Beispiel erläutert wer-den, indem eine Theorie besonders oft angewen-det wird und ein Beispiel, bei dem eine Meinung

Page 41: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

40

Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel jektiven Theorien der Lehrerinnen und Lehrer ihrem tatsächlichen Handeln entsprechen, untersucht. Dies fällt unter diese Kategorie, weil die Befragten nicht wirklich Handeln, sondern nur hypotheti-sche Handlungen in hypotheti-schen Fallbeispielen erdenken. Hier gilt es zu untersuchen, in wie weit die Befragten ihre Subjektive Theorie zum Praxisbezug in den hypothetischen Geschichten an-wenden.

angewendet werden. Hierbei wird der Frage nachgegangen, inwiefern die Fallbeispiele entsprechend der zuvor gelieferten Argu-mentation bearbeitet werden. Diese Katego-rie ist nicht an bestimmten Textstellen fest zu machen. Es ist notwendig zuerst die zent-ralen Aspekte einer möglichen Theorie aus dem ersten Teil des Interview herauszustel-len – wie es in der Einzelfalldarstellung ge-schehen ist – und dann über den gesamten Interviewtext, insbesondere im zweiten Teil des Interviews zu überprüfen, inwiefern mit der Subjektiven Theorie oder einzelnen As-pekten einer Subjektiven Theorie gearbeitet und argumentiert wird.

Ansicht oder Theorie besonders selten angewen-det wird. Sven wendet seine Subjektive Theorie zum Pra-xisbezug zum Beispiel sehr häufig an. Seine Subjektive Theorie ist geprägt von der positiven Bewertung, die er dem ersten Teil der Lehramts-ausbildung zuschreibt. Er begrüßt diese theoreti-sche Ausbildung und will auf Grundlage dessen Praxiserfahrungen sammeln, die er versucht, mit der Theorie zu verknüpfen. Im Anwendungsteil des Interviews schlägt er so zum Beispiel Han-nes vor, nach seiner missglückten Unterrichts-stunde, Hilfe und Erklärungen für den schlechten Verlauf in der Theorie zu suchen. Desweiteren enthält sein Ordner „Hilfe für alles“ seiner Sub-jektiven Theorie zum Praxisbezug entsprechende Inhalte, wie Fachzeitschriftenartikel und Zu-sammenfassungen von Studieninhalten. Außer-dem wählt Sven im letzten Fallbeispiel passend zu seinem Wunsch ein umfangreiches Wissen erlangen zu wollen das Seminar „Schule als Le-bensort gestalten“ mit der Begründung, dass dadurch sein „Blick für das Ganze“ erweiter werde. Ein Beispiel, bei dem die Subjektive Theorie tendenziell wenig angewendet wird, stellen Vio-

Page 42: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

41

Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel las Äußerungen dar. Violas Subjektive Theorie zum Praxisbezug ist geprägt von der negativen Praktikumserfahrung, dass Unterricht generell immer sehr chaotisch abläuft. Viola macht mehrmals auf die Differenz zwischen dem Praxisbezug im Studium und die, wie sie es nennt, „wirkliche Schulsituation“ aufmerksam. In Seminaren der Universität werde die Schulsituation geschönt dargestellt, weswe-gen Viola das Praktikum besonders bezüglich des Praxisbezuges schätzt. Im Studium sollte ihrer Meinung nach mehr auf die Probleme, die sie im Beruf erwarten, eingegangen werden. Diese Aspekte der Subjektiven Theorie von Vio-la werden nur teilweise im zweiten Teil des In-terviews angewendet. So rät sie im Fallbeispiel 1 der Protagonistin Hanna nicht etwa, Seminare zu belegen, die sich mit Störungen im Unterricht beschäftigen oder noch ein Praktikum zu absol-vieren, um zu lernen mit der „wirklichen Schul-situation“ zurechtzukommen. Viola führt die missglückte Unterrichtsstunde eher auf fehlende allgemeine Fähigkeiten Hannas, wie zum Bei-spiel Spontanität, Feingefühl oder fehlenden Respekt der Schülerinnen und Schüler zurück.

3.3 Ungereimtheiten/Unstimmigkeiten Mit Ungereimtheiten sind leicht wider-

Da es sich hier, ähnlich wie bei Kategorie 3.3 um sehr lange Ankerbeispiele handeln würde, sollen

Page 43: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

42

Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel sprüchliche Argumentationen gemeint. Da-runter sind Textpassagen zu kodieren, die sich nicht mit vorher Gesagtem oder der gesamten Subjektiven Theorie vereinbaren lassen. Ganz allgemein besteht eine Unge-reimtheit, wenn eine Argumentation nicht stimmig ist.

- Wenn die Befragten zum Beispiel in einem Teil des Interviews einen As-pekt behaupten, an einer anderen Stelle, aber eine gegenteilige Mei-nung vertreten.

- Wenn Erfahrungen des Interviewten zum Beispiel nicht mit einer Ein-schätzung oder Meinung überein-stimmen.

Ungereimtheiten oder Unstimmigkeit in ei-ner Subjektiven Theorie lassen sich genauso wie in Kategorie 3.3 nicht an einer bestimm-ten Textstelle festlegen. Diese Kategorie erstreckt sich über den gesamten Interview-text und die gesamte Argumentation hinweg. Die Anzahl der Kodierungen in dieser Kate-gorie werden von der Summe der Kodierung der Kategorien 3.1 und 3.2 subtrahiert.

an dieser Stelle zwei Beispiele für Ungereimthei-ten oder Unstimmigkeiten im Argumentations-verlauf gegeben werden. In Kapitel 7.4 wird zu-sätzlich speziell auf die Ungereimtheiten einge-gangen. Beispiel Nils: Nils betont gleich zu Anfang des Interviews den besonders positiven Praxisbezug, den er in sei-nen Sportpraxisseminaren entdeckt. Hier kann er seiner Meinung nach selbst besonders aktiv wer-den. Die eigene Aktivität ist für Nils ein zentra-ler Aspekt des Praxisbezuges im Studium. Er bezieht sich auf diesen Aspekt immer wieder zurück. Obwohl Nils mehrmals im Interview Sportpraxisseminare mit dem Aspekt der eigenen Aktivität in den Vordergrund stellt, ist er grund-sätzlich der Meinung, dass die Seminare an der Universität nur theoretisch sind. Erst auf Grund der Aufforderung der Interviewerin und der Fra-ge, wie er diese Meinung mit seinen Erfahrungen aus den Sport-Praxisseminaren verbindet, geht er darauf ein und differenziert seine Ansicht zu Seminaren an der Universität. Eine weitere Un-stimmigkeit liegt darauf aufbauend darin, dass, obwohl er die Sportpraxisseminare eindeutig als positive Erfahrung mit Praxisbezug im Studium aufführt, trotzdem immer wieder die floskelarti-

Page 44: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

43

Kategorie 1.Ordnung Kategorie 2. Ordnung Ankerbeispiel ge Meinung durchschlägt, dass der Praxisbezug im Studium grundsätzlich zu kurz kommt. Beispiel Sara: Eine Studienstrategie in Bezug auf Praxisbezug von Sara ist es, sich durch Eigeninitiative Pra-xisbezug selbst zu erarbeiten Sara habe schon ab dem ersten Semester versucht, die Studieninhalte immer auf den Lehramtsberuf zu beziehen. Diese Theorie oder viel mehr Strategie kommt in vie-len Interviewsituationen zum Vorschein. Doch was passiert mit ihr, wenn sie diese auf eine Fra-ge nicht mehr anwenden kann? So versucht Sara auch bei einem äußerst theoretischen Beispiel irgendeinen Praxisbezug herauszufiltern und scheitert mehr oder weniger. Sie kommt aber zu der Einsicht, dass obwohl sie immer versucht, die Inhalte auf ihren Beruf zu beziehen, man einfach grundlegendes Wissen brauche, um als Lehrer die Perspektive wechseln zu können. Dies leiste, nach Sara, die Wissenschaft. Diesen Ge-danken verfolgt sie aber nicht weiter. An der Stelle, an der sie ihre eigentliche Theorie nur schwer anwenden kann, entwirft sie eine neue, die aber nicht sehr komplex zu sein scheint.

Page 45: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

44

7. Ergebnisse

Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse basieren auf der Auswertung, also den

Kodierungen der mittels des Kodierhandbuchs erstellten Interviewtranskripte. Die

Anzahl der jeweiligen Kodierungen in den entsprechenden Kategorien ist in einer

Tabelle im Anhang 4 im Einzelnen dargestellt. Die folgenden Ergebnisse bezüg-

lich der Kategorien erster Ordnung (Komplexität, Differenziertheit und Organisa-

tion) beziehen sich auf die in dieser Tabelle enthaltenen Auszählungen.

7.1 Kategorie 1 „Komplexität“

Vier der Befragten – Sara, Kathrin, Mia und Sven – stechen in dieser Kategorie

besonders hervor, weil sie sehr viele Aspekte von Praxisbezug kennen und im

Interview nennen. Interessant ist, dass diejenigen Befragten, die besonders viele

Aspekte von Praxisbezug nennen, auch einige Möglichkeiten aufzählen, Praxisbe-

zug selbst zu entdecken. Zum Beispiel finden sich in Saras Interview 17 Kodie-

rungen der Kategorie 1.1 „Aspekte von Praxisbezug“ und nennt im gesamten In-

terview zwei Möglichkeiten, selbst Praxisbezug herzustellen. Kathrins Interview

weist in dieser Kategorie 13 Kodierungen auf und enthält vier Möglichkeiten,

Praxisbezug selbst herzustellen. Sven nennt drei Möglichkeiten, Praxisbezug zu

entdecken und elf Aspekte von Praxisbezug. Dahingegen nennt Nils zwar auch 11

Aspekte von Praxisbezug, aber keine Möglichkeiten, diesen selbst herzustellen.

Mia ist mit fünf Kodierungen in der Kategorie 1.2 „Handlungsmöglichkeiten“,

diejenige mit den meisten Nennungen, kennt aber nur neun Aspekte von Praxisbe-

zug.

Im Allgemeinen ist festzustellen, dass die Befragten, auch wenn explizit die Frage

nach Handlungsmöglichkeiten gestellt wurde, insgesamt tendenziell wenige Mög-

lichkeiten nennen, wie sie selbst Bezug zur Praxis herstellen oder entdecken kön-

nen. In der Regel bleiben ihre Ausführungen auf der Ebene der Aspekte von Pra-

xisbezug, das heißt, die Handlungsmöglichkeiten bleiben quantitativ hinter diesen

zurück.4 So antwortet Evelin auf die Frage, wie sie persönlich Praxisbezug her-

stellen würde, mit einem Hinweis auf die Praktika. Da sie sich gerade im Prakti-

kum befindet, ist dieses im Moment ein zentraler ihres Denkens. Doch sie be-

schreibt nur die Praktika, die durch das Studium ohnehin vorgegeben sind, also

4 Die Frage lautet: Was machst du persönlich, um Praxisbezug herzustellen?

Page 46: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

45

keine Möglichkeit darstellen, Praxisbezug selbstständig aus den Studieninhalten

heraus abzuleiten. Wie eben schon angedeutet, ist Mia mit fünf Kodierungen die-

jenige, die die meisten Nennungen in Kategorie 1.2 aufweist. Nils, Gisela, Viola

und Evelin nennen gar keine Möglichkeiten, selbstständig Praxisbezug herzustel-

len. Ein weiterer interessanter Punkt ist, dass Möglichkeiten, selbst Praxisbezug

zu entdecken immer erst relativ spät im Interview entwickelt und genannt werden,

obwohl eine Frage zu konkreten eigenen Handlungsoptionen schon am Anfang

des ersten Teils des Interviewleitfadens vorhanden ist. Zum Beispiel nennt Mia

erst dann mögliche Strategien, wie sie selbst Praxisbezug herstellt, als sie die Fra-

ge beantwortet, wie das Verhältnis zwischen Studium, Beruf und Praxis aussieht,

welche zum Abschluss des ersten Teils des Interviews gestellt wurde. Mia schlägt

hier die Möglichkeit, sich ehrenamtlich zu engagieren vor, um schon im Studium

eine Vorstellung von der Praxis zu erlangen. Im zweiten Teil des Interviews

schlägt Mia weitere Strategien vor in Bezug auf die Frage, wie sie Hannah im

Fallbeispiel 1 helfen könnte. Auf die Frage, wo sie sich das Handwerkzeug, das

sie Hannah empfiehlt, aneignet, erwidert sie, dass sie sich dieses vor allem von

Lehrerinnen und Lehrern im Praktikum abschaut oder aber auch bewusst Gleich-

gesinnte aufsucht, mit denen sie über Probleme reden kann und die ihr Tipps ge-

ben könnten.

Befragte, die wenige Aspekte von Praxisbezug nennen, generieren oder nennen

auch keine oder sehr wenige Möglichkeiten, Praxisbezug selbst herzustellen. Zu

dieser Gruppe gehören Gisela, Viola und Evelin. Alle nennen sieben bis neun As-

pekte von Praxisbezug, aber keine Handlungsstrategien. Leonie nennt zwar auch

weniger Aspekte von Praxisbezug (elf Kodierungen), aber auch zwei Möglichkei-

ten, sich selbst Praxisbezug herzustellen.

Wird das Ausmaß der Komplexität mit dem Grad an Differenziertheit zusammen

betrachtet fällt auf, dass diejenigen Befragten, deren Subjektive Theorien ein ho-

hes Ausmaß an Komplexität aufweisen auch sehr differenziert argumentieren.

Dies ist bei Sara, Kathrin und Sven der Fall. Nils und Leonie stellen in dieser Be-

ziehung eine Ausnahme dar. Beide nennen insgesamt nur elf Aspekte von Praxis-

bezug, ihre Argumentation ist aber mit 27 Kodierungen insgesamt in der Katego-

rie „Differenziertheit“ eine der differenziertesten.

Page 47: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

46

7.2 Kategorie 2 „Differenziertheit“

Auffällig ist an der Differenziertheit der Argumentation in Bezug auf die Verwen-

dung von Floskeln, dass nur zwei der Befragten, Gisela und Sven keine Floskeln

in ihrer Argumentationsweise benutzen. Interessant ist hierbei, dass genau diese

Befragten im Interview mehrfach ihr Interesse und ihren Spaß am Studium und

den Studieninhalten betonen. Bei Sven steht der theoretische Teil der Ausbildung

eindeutig im Vordergrund. Er betont mehrfach im Interview, dass er die Zweitei-

lung der Lehramtsausbildung und den ersten theoretischen Teil der Ausbildung

nicht schlecht findet. Zwölf entsprechende Kodierungen deuten darauf hin, dass

Nils die meisten Floskeln in seiner Argumentation verwendet. Obwohl er viele

Floskeln benutzt, ist seine Argumentationsweise nicht undifferenziert. Er gehört

mit insgesamt 27 Kodierungen in der Kategorie „Differenziertheit“, wie im vorhe-

rigen Kapitel schon angedeutet, sogar zu denjenigen, die sehr differenziert argu-

mentieren.

Erfahrungen zum Thema Praxisbezug des Studiums werden sehr selten in die Ar-

gumentation eingebaut. Gisela, Evelin und Sven, deren Interviews in dieser Kate-

gorie keine Kodierungen aufweisen, bauen ihre Argumentation nicht oder nur sehr

wenig (ein bis zwei Kodierungen) auf Erfahrungen auf. In den Interviews von

Sara, Kathrin, Nils, Gisela, Mia, Leonie und Viola lassen sich drei bis vier Argu-

mentationen kodieren, die direkt auf einer Erfahrung aufbauen oder mit einer sol-

chen begründet werden. Es ist zu vermuten, dass dieses geringe Maß an auf Erfah-

rung beruhender Argumentation damit zu begründen ist, dass die Studierenden

noch nicht viele Erfahrungen in dem erfragten Spannungsfeld zwischen Theorie,

Praxisbezug und Praxis gesammelt haben. Tina Hascher (2006) stellt in ihrer Dar-

stellung der Subjektiven Theorien von Studierenden zum Lernen im Praktikum

heraus, dass die Studierenden den Wunsch vertreten, „vielseitige Erfahrungen [zu]

sammeln.“ (Hascher 2006, 133) Nach Hascher biete „jede Form von Praxiserfah-

rung […] den zentralen Lernkontext“ (ebd., 133). Hier scheint ein Gegensatz oder

eine Unstimmigkeit zwischen dem inhaltlichen Wunsch nach Erfahrung und –

zumindest auf formaler Ebene – der tatsächlichen Auseinandersetzung mit der

gemachten Erfahrung zum Praxisbezug zu bestehen. Interessant wäre es, hier noch

einmal in die Interviewtexte zu schauen und zu untersuchen, welche Erfahrungen

es sind, die in die Argumentation mit eingebaut werden. Handelt es sich dabei

eher um sehr persönliche Erfahrungen oder sind es bei den betroffenen Befragten

Page 48: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

47

immer dieselben Erfahrungen, auf denen sie ihre Argumentationen aufbauen?

Dies soll an dieser Stelle kurz an einigen Beispielen veranschaulicht werden. Die

meisten Erfahrungen, die in die Argumentationen eingeflochten werden, beruhen

auf Erlebnissen aus dem Praktikum und hier insbesondere auf Erfahrungen aus

der Hospitation sowie dem eigenen Unterricht. Nils und Viola berichten beide

einmal von einer persönlichen Erfahrungen, über das Zusammentragen von pra-

xisrelevanten Informationen für den späteren Beruf. Nils ist der einzige der Be-

fragten, der eine Erfahrung aus dem Studium in seine Argumentation einbaut.

Viola begründet eine Ansicht mit einer Erfahrung aus der eigenen Schulzeit.

Allgemein sind die Argumentationsweisen der einzelnen Interviewten sehr unter-

schiedlich differenziert. Für alle Befragten kann jedoch festgestellt werden, dass

sie nur sehr selten Perspektivwechsel vornehmen. Je vier Kodierungen in dieser

Kategorie zeigen, dass Nils und Kathrin am häufigsten die Perspektive wechseln.

Die Häufigkeit der abwägenden oder begründenden Argumentationsweise ent-

scheidet nicht über die Anzahl der Floskeln, die die Interviewten in ihre Argu-

mentation einbauen. Mit zwölf Kodierungen finden sich in Nils‘ Argumentation

mit Abstand am meisten Floskeln. Violas und Evelins Argumentationen liegen

mit sechs Kodierungen dahinter. Werden alle Kodierungen der Kategorie „Diffe-

renziertheit“ zusammen betrachtet, weisen Violas und Evelins Argumentationen

das geringste Ausmaß an Differenziertheit auf (mit je insgesamt 14 und acht Ko-

dierungen). Zusätzlich sind die subjektiven Theorien von Viola und Evelin mit

acht und neun Kodierungen in der Kategorie „Komplexität“ auch tendenziell we-

niger komplex. Sven, Leonie und Nils weisen mit insgesamt 28 und 27 Kodierun-

gen in der Kategorie „Differenziertheit“, die differenziertesten Argumentations-

weisen von allen Interviewpartnern auf.

7.3 Kategorie 3 „Organisation“

Nils‘ und Evelins Subjektive Theorien zum Praxisbezug sind mit insgesamt 26

und 22 Kodierungen in der Kategorie 3 die am stärksten organisierten Subjektiven

Theorien. Im Gegensatz zu Nils, dessen Subjektive Theorie zum Praxisbezug vier

Ungereimtheiten enthält, weist Evelins Subjektive Theorie zum Praxisbezug nur

zwei Ungereimtheiten auf. Schon in der Einzelfalldarstellung zu Evelins Subjekti-

ver Theorie wurde die Stimmigkeit und Organisation ihrer Theorie hervorgeho-

ben, welche sich in der Zahl der Rückbezüge und Anwendungen ihrer subjektiven

Page 49: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

48

Theorie noch einmal bestätigt. Nils bezieht sich genauso wie Evelin ebenfalls sehr

oft auf eigene Aussagen im Interview zurück (19 Kodierungen) und wendet seine

subjektive Theorie besonders im zweiten Teil des Interviews sehr oft an (elf Ko-

dierungen). Gut organisiert ist des Weiteren mit insgesamt 16 Kodierungen in der

Kategorie „Organisation“ Svens Subjektive Theorie zum Praxisbezug. Die Sub-

jektiven Theorien zum Praxisbezug von Sara, Kathrin, Leonie und Viola sind mit

zehn bis elf Kodierungen tendenziell weniger gut organisiert. Besonders Saras

Subjektive Theorie zum Praxisbezug, welche zwar sehr komplex und differenziert

ist, ist jedoch mit insgesamt fünf Kodierungen in der Kategorie 3 nur sehr gering-

fügig verknüpft. Bei ihr ließen sich zusätzlich nur vier Rückbezüge kodieren. Vio-

la bezieht sich zwar oft auf von ihr im Interview schon Gesagtes zurück (sieben

Kodierungen), wendet ihre Subjektive Theorie zum Praxisbezug jedoch tendenzi-

ell sehr selten im zweiten Teil des Interviews an. Ihre Subjektive Theorie zum

Praxisbezug ist geprägt von der negativen Praktikumserfahrung, dass Unterricht

generell immer sehr chaotisch abläuft. Viola, deren Aussagen auch im Kodier-

handbuch als Ankerbeispiele wiederzufinden sind, macht mehrmals auf die Diffe-

renz zwischen dem Praxisbezug im Studium und die, wie sie es nennt, „wirkliche

Schulsituation“ aufmerksam. In Seminaren der Universität werde die Schulsitua-

tion geschönt dargestellt, weswegen Viola das Praktikum besonders bezüglich des

Praxisbezuges schätzt. Im Studium sollte ihrer Meinung nach mehr auf die Prob-

leme, die sie im Beruf erwarten, eingegangen werden. Diese Aspekte der Subjek-

tiven Theorie von Viola werden nur teilweise im zweiten Teil des Interviews an-

gewendet. So rät sie im Fallbeispiel 1 der Protagonistin Hanna nicht etwa, Semi-

nare zu belegen, die sich mit Störungen im Unterricht beschäftigen oder noch ein

Praktikum zu absolvieren, um zu lernen mit der „wirklichen Schulsituation“ zu-

rechtzukommen. Viola führt die missglückte Unterrichtsstunde eher auf fehlende

allgemeine Fähigkeiten Hannas, wie zum Beispiel Spontanität, Feingefühl oder

fehlenden Respekt der Schülerinnen und Schüler zurück. Des Weiteren würde sie

den Ordner den Ordner „Hilfe für alles“ nur in einem Fall mit Material füllen, der

ihrer Subjektiven Theorie entspricht, nämlich mit Fallbeispielen von Unterrichts-

situationen. Andere Inhalte des Ordners spiegeln ihre Subjektive Theorie tenden-

ziell wenig wieder, wie zum Beispiel inhaltliche Unterrichtsmaterialien aus Ta-

ges- oder Wochenzeitungen. Die Entscheidung für das Seminar „Schule als Le-

bensort gestalten“ begründet sie mit einer Erfahrung aus ihrer eignen Schulzeit,

Page 50: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

49

nicht etwa auf Grund der von ihr selbst genannten Erfahrungen oder des ihrer

Meinung nach herrschenden Differenz zwischen Praxis und Studium. Viola wen-

det somit ihre Subjektive Theorie nur in einigen Punkten an, findet oder generiert

aber gleichzeitig neue Aspekte, Meinungen oder Begründungen.

Auffällig ist, dass obwohl die Subjektiven Theorien teilweise sehr gut organisiert

sind, trotzdem Unstimmigkeiten und Ungereimtheiten in den Aussagen der Be-

fragten herrschen. Den Unstimmigkeiten soll an dieser Stelle ein einiges Kapitel

gewidmet werden.

7.4 Kategorie 3.3 „Unstimmigkeiten/Ungereimtheiten“

Unstimmigkeiten im Interview erstrecken sich, wie auch im Kodierhandbuch

schon definiert, über die gesamte Argumentation des Interviews. Sie sind nicht an

einzelnen Textstellen identifizierbar. Anhand der in den Interviews identifizierten

Unstimmigkeiten könnte ein eigenes induktives Kategoriensystem erstellt werden,

das sich ausschließlich mit der Klassifizierung und Kategorisierung der Unstim-

migkeiten, Ungereimtheiten oder Stolpersteine der Befragten beschäftigt. Dies

soll an dieser Stelle aber nicht geschehen, eine mögliche Klassifizierung soll an-

hand einiger Beispiele aus den Interviews nur angedacht werden.

Die meisten Unstimmigkeiten finden sich mit sieben Kodierungen in Giselas In-

terview. Sie weist zusätzlich die am geringfügigst komplexe Subjektive Theorie

auf (ebenfalls sieben Kodierungen) und bezieht sich selten (fünf Kodierungen) auf

ihre eigenen Aussagen im Interview zurück. Ein Grund dafür könnte das Übermaß

an Unstimmigkeiten sein. Mia und Leonie weisen mit je drei Kodierungen in Ka-

tegorie 3.3 die stimmigsten Subjektiven Theorien der Stichprobe auf.

Auffällig ist, dass einige Subjektive Theorien alles andere als stimmig erscheinen.

Obwohl sich die Interviewten an einigen Stellen zwar, wie oben dargestellt, auf

schon Gesagtes zurück beziehen oder ihre Ansichten auf die Fallbeispiele anwen-

den, sind ihre Aussagen teilweise widersprüchlich, unstimmig oder untereinander

nicht verbunden. Eine Frage, die sich an dieser Stelle stellt, ist, inwiefern in sol-

chen Fällen noch von Subjektiven Theorien im Sinne des Forschungsprogramms

Subjektive Theorien gesprochen werden kann. Das FST gibt uns auf die Frage

nach widersprüchlichen Aussagen in einem Interview leider keine Antwort. Die

Diskussion dieser Frage soll jedoch auf die Diskussion am Ende dieser Arbeit

Page 51: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

50

verschoben werden. Im Folgenden werden zunächst einige Unstimmigkeiten bei-

spielhaft dargestellt.

Als erstes stellt sich die Frage, inwieweit sich eine auf einer bestimmten Erfah-

rung oder Meinung gründende Subjektive Theorie oder der Versuch einer solchen

Theorie auf andere Erfahrungen, Situationen oder Probleme anwenden lässt. In

den Interviews lassen sich Ungereimtheiten feststellen gerade an den Stellen, an

denen eine Subjektive Theorie in ihrer Anwendung scheitert. Eine Studienstrate-

gie von Sara ist es zum Beispiel, sich durch Eigeninitiative den Praxisbezug selbst

zu erarbeiten oder zu erklären. Sara versucht seit dem ersten Semester, die Studi-

eninhalte immer auf den Lehramtsberuf zu beziehen. Diese Strategie lässt sich

anhand ihres Interviews mehrfach beobachten. Doch führt sie immer zum Erfolg?

Kann Sara diese Strategie in allen Seminaren anwenden? Bei dem Versuch, den

Praxisbezug eines theoretischen Beispiels herauszufiltern, scheitert sie. Sie kommt

aber zu der Einsicht, dass man grundlegendes Wissen brauche, um als Lehrerin,

die Perspektive wechseln zu können. Die Grundlage für diese Fähigkeit legt laut

Sara die Wissenschaft. Dieser Bestandteil der Theorie, Praxisbezug durch Eigen-

initiative herzustellen, scheitert also in der Anwendung. An dieser Stelle entwi-

ckelt Sarah stattdessen die neue Behauptung, dass grundlegendes Wissen aus den

Wissenschaften nötig für den Perspektivwechsel im Beruf sei. Jedoch wird diese

neue Ansicht nicht weiter von Sarah verfolgt oder angewendet.

Ein weiteres Beispiel einer Unstimmigkeit findet sich, wenn eine fremde Subjek-

tive Theorie oder eine andere Ansicht verändert wird. Wenn Kathrin ihren Eltern

zu Hause spezielles, auf einen eng umrissenen, bestimmten Aspekt bezogenes

Wissen präsentiert, lachen diese sie aus und bezweifeln den Anwendungsbezug

dieses Wissens. Kathrin findet jedoch auch für derart spezifisches Wissen An-

wendung in der Praxis. Indem sie versucht die fremde mit ihre eigene Meinung in

Einklang zu bringen, entsteht die Ansicht, dass sie etwas spezielles Lernen will,

was sie in der Schule Anwenden kann. Weiterhin könnte es in Bezug auf Unge-

reimtheiten von Interesse sein, die in die Argumentationen eingeflochtenen Flos-

keln genauer zu untersuchen. Werden diese betrachtet, kann festgestellt werden,

dass sich floskelhafte oder stereotype Meinungen oft gegen differenzierte Mei-

nungen und Ansichten durchsetzen, das heißt, sie beenden und somit Resultat ei-

nes Gedankengangs sind. Nils erkennt so zum Beispiel die Schwierigkeiten, ei-

Page 52: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

51

nen Praxisbezug für Studierende in Bezug auf die Beschäftigung mit Texten von

Goethe oder Schiller sichtbar zu machen.

Besonders auffällig ist, dass sich die Meinung, der Praxisbezug im Lehramtsstu-

dium komme grundsätzlich zu kurz, in beinahe allen Interviews durchsetzt. Bei-

spielsweise betont Gisela im Interview mehrmals, dass sie Interesse an den Studi-

eninhalten hat. Trotzdem vertritt sie die stereotype Meinung anderer Referendare,

welche sie im Praktikum kennenlernte, dass sie das im Studium erlangte Wissen

im Beruf nicht anwenden kann.

Wenn es den Befragten im Interview gelingt, neue Ansichten oder Meinungen

gegenüber alten Ansichten zu entwickeln, ist dennoch oft festzustellen, dass diese

neuen Meinungen nur angedacht werden, also eigentlich nicht zur Subjektiven

Theorie der Befragten gehören. Kathrin erkennt zum Beispiel, dass Seminare aus

der Soziologie, in denen sie etwas über Theorien des sozialen Zusammenlebens

und über Gender-Studien lernt, wichtig für ihren späteren Beruf als Grundschul-

lehrerin sind, weil sie in der Grundschule mit vielen verschiedenen Menschen

zusammenarbeiten muss. Trotzdem scheint es Kathrin wichtiger zu sein, die Über-

flüssigkeit solcher Seminare zu betonen.

Es kommt nicht nur innerhalb der Meinungen und Ansichten der Befragten an

sich zu Unstimmigkeiten, sondern auch zwischen Meinungen und Erfahrungen

oder anders ausgedrückt zwischen einer Subjektiven Theorie und deren Anwen-

dung. Dies zeigt sich jeweils im zweiten Teil des Interviews. Nils und Sara be-

richten im ersten Teil beispielsweise mehrmals von durchaus positiven Erfahrun-

gen mit Praxisbezug im Studium, vertreten aber trotzdem immer wieder die Mei-

nung, dass die Seminare an der Uni zu theoretisch sind. Auch Gisela bewertet ein

Interesse geleitetes Studium als positiv, sieht aber in der Anwendung hier keinen

Bezug zu dem Zitat von Sören, der das Interessenstudium in den Vordergrund

seiner Argumentation stellt.

Widersprüche oder Unstimmigkeiten müssen nicht unbedingt negativ gesehen

werden. Das Beispiel von Kathrin zeigt, dass Stolpersteine innerhalb eines Inter-

views durchaus dazu anregen können, eine neue Theorie, neue Ansichten zu ent-

wickeln oder die eigene Subjektive Theorie zu erweitern. Kathrin ist zu Anfang

des Interviews der Meinung, sie könne auch ohne Studium in die Schule gehen

und unterrichten, weil sie über das Wissen, was sie in der Grundschule benötigt,

bereits verfügt. Nachdem Kathrin jedoch die Perspektive eines/er DozentenIn an-

Page 53: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

52

nimmt und dort die Ansicht über den Praxisbezug des/der DozentenIn entwickelt,

sie könnte sich in der Praxis durch ihr fundiertes und begründetes Wissen von der

Allgemeinheit abgrenzen, übernimmt sie diese Ansicht, welche im weiteren Ver-

lauf des Interviews zu ihrer eigenen Theorie wird:

Ja weil ich möchte ja/ also ich möchte ja einmal auch so Kompetenzen ler-nen, aber natürlich auch so in dem Sinne Fachwissen, weil ja also ich/ man sagt ja auch manchmal/ manchmal wird ja auch besonders der Grund-schulberuf so angesehen, ja warum braucht man überhaupt eine universitä-re Ausbildung, das kann ich doch auch oder das können auch Hausmütter irgendwie, die Betreuung machen. Aber dass man halt wirklich dann halt sagen kann, so ihr Kind hat/ zeigt das und das Verhalten, daraus lässt sich schließen das und das. (P_2_Kathrin, Abs. 36)

Gerade der Verlauf dieses Interviews ist ein Beweis dafür, dass es lohnenswert

erscheint, sich mit den Ungereimtheiten der Subjektiven Theorien von Studieren

zu beschäftigen. Interessant könnte dies besonders in Bezug auf das Self-

Assessment-Instrument sein. Denn es ist zu vermuten, dass genau an Stellen, an

denen sie nicht glatt, also stimmig argumentieren, an denen die Studierenden sich

unsicher sind, andere Meinungen oder Erfahrungen nicht mit der eigenen Subjek-

tiven Theorie übereinstimmen oder Subjektive Theorien in der Anwendung schei-

tern, die Studierenden offen sind, neue Subjektive Theorien zu konstruieren und

ihre alten zu modifizieren.

8. Kommunikative Validierung – Methodisches Vorgehen und Ergebnisse

Kommunikativ validiert werden in dieser Arbeit zum einen die Einzelfalldarstel-

lungen, also die Rekonstruktionen der Subjektiven Theorien, zum anderen die

Zuordnungen der Interviewteilnehmer/innen zu den zwei Praxiskonzepten A und

B und damit die Typenbeschreibungen an sich. Des Weiteren soll das nochmalige

Gespräch mit den Befragten eventuelle Hinweise darauf geben, ob das Interview

Veränderungen in Bezug auf ihre Ansichten, Meinungen oder auch Subjektiven

Theorien zur Folge hatte, ob die Befragten in Bezug auf das Thema Praxisbezug

im Anschluss weitere Erfahrungen sammelten oder sich sogar bewusst mit dem

Thema auseinander setzten. Des Weiteren ist interessant, ob sie dem Interview an

sich immer noch eine derart positive Bewertung zuschreiben, wie direkt nach dem

Interview. Bezüglich dieser Aspekte wurden jedoch keine expliziten Fragen wäh-

Page 54: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

53

rend der kommunikativen Validierung gestellt, sie werden jedoch in die Auswer-

tung aufgenommen, da alle Teilnehmer/innen der kommunikativen Validierung

diese Themen von sich aus ansprachen.

Aufgrund der dem Forschungsprogramm Subjektive Theorien zugrunde liegenden

Menschenbildannahmen wird, wie oben dargestellt, eine weite Begriffsdefinition

des Begriffs ‚Subjektive Theorien‘ von einer engen Begriffsdefinition unterschie-

den. Auf die Merkmale der weiten sowie der engen Begriffsvariante wurde be-

reits im Kapitel über die Struktur Subjektiver Theorien eingegangen. Wird die

enge Begriffsbestimmung des FST angelegt, schließt dies ein, dass „die zugrunde-

liegenden Menschenbildannahmen noch ernster [genommen] und sie radikaler in

das Konzept der ‚Subjektiven Theorien‘ ein[ge]führt bzw. mit auf[ge]nommen“

(Groeben et al. 1998, 21) werden. Wird in dieser Arbeit der engen Begriffsvarian-

te gefolgt, ergibt sich daraus das hier zu beschreibende weitere methodische Vor-

gehen. Die zugrunde liegende Menschenbildannahme des FST schreibt vor, dass

der Forscher, im FST als „Erkenntnis-‚Subjekt‘“ beschrieben, mit dem/der Be-

fragten, dem „Erkenntnis-‚Objekt‘“, gemeinsam die Rekonstruktion seiner Sub-

jektiven Theorie vornimmt oder „zumindest die Angemessenheit der Rekonstruk-

tion der ‚Subjektiven Theorie‘ im Dialog mit dem Erkenntnis-‚Objekt‘ feststellen

können sollte.“ (ebd., 22) Damit soll hervorgehoben werden, dass der/die Befrag-

te, genauso wie der/die Forscher/in zu reflexivem und rationalem Denken fähig

ist. Methodologisch wird diese engere Begriffsvariante vom FST „als die stärkere

angesehen.“ (ebd., 22) Das FST schlägt einige Methoden vor, die eine dialog-

konsensuale Überprüfung der Subjektiven Theorien mit dem Erkenntnis-Objekt

zusammen ermöglichen. Hier sind zum Beispiel die Heidelberger Struktur-Lege-

Technik von B. Scheele/N. Groeben (1984) oder die Interview- und Legetechnik

zur Rekonstruktion kognitiver Handlungsstrukturen ILKHA von D.-H. Dann

(1992) aufzuführen. Aufgrund der hohen zeitlichen Beanspruchung der Befragten,

welche diese Methoden mit sich bringen, wurde für diese Arbeit eine zeitlich we-

niger aufwändige Variante ausgewählt. Für die kommunikative Validierung wur-

den die oben beschriebenen Einzelfalldarstellungen bzw. die Rekonstruktionen

der Subjektiven Theorien angefertigt. Diese wurden den Interviewpartnern/innen

im Rahmen eines zweiten Termins ca. ein halbes Jahr nach dem ersten Interview

vorgelegt. Die Interviewpartner/innen, also die Erkenntnis-‚Objekte‘, bekamen

damit die Möglichkeit mit dem/der Forscher/in zwar nicht in einem direkten Dia-

Page 55: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

54

log, dennoch aber in einen Dialog mit dem wissenschaftlichen Text zu ihrer eige-

nen Subjektiven Theorie zu treten und als Experten/innen ihrer Selbst die Ange-

messenheit dieser Darstellung zu überprüfen. Der Konsens mit dem/der For-

scher/in in Bezug auf die Rekonstruktion ist hier bewusst nicht Ziel der kommu-

nikativen Validierung. Es soll zwar überprüft werden, ob der Forscher, die Aussa-

gen der Interviewten richtig versteht und rekonstruiert, aber das Erkenntnis-

Objekt soll auf keinen Fall dazu gezwungen werden, Aspekte, die nicht seiner

Auffassung entsprechen, anzunehmen. Dies ist in der Beschaffenheit der Struktur

der Subjektiven Theorien zum Thema Praxisbezug begründet und wird später in

der Arbeit aufgegriffen und erläutert.

Vier der neun ausgewerteten Interviews wurden gemeinsam mit den Befragten

validiert. Den Befragten wurde dabei die Rekonstruktion ihrer Subjektiven Theo-

rie in Form eines ausformulierten, zusammenhängenden Textes vorgelegt. Sie

wurden gebeten, sich den Text durchzulesen und daraufhin die Frage zu beant-

worten, ob sie sich selbst in der ihnen vorliegenden Darstellung wiedererkennen.

Für den Fall, dass sie sich nicht wiedererkennen, wurden die Befragten dazu auf-

gefordert, diejenigen Textpassagen der Rekonstruktion zu kommentieren, von

denen sie meinen, dass sie ihre Meinung nicht korrekt wiedergeben und gebeten,

diese Passagen gegebenenfalls zu ergänzen. Ein Beispiel einer für die Validierung

ausformulierten Rekonstruktion ist im Anhang beigefügt. Während des Lesens

standen den Interviewteilnehmern/innen Stifte zur Verfügung und sie wurden da-

zu ermuntert, sich im Text Notizen zu machen oder Stellen zu markieren, die

ihnen nicht angemessen erschienen.

Des Weiteren dient die Kommunikative Validierung auch als Evaluationsinstru-

ment in Bezug auf die Frage, ob das Interview als Methode eine Möglichkeit dar-

stellt, die Subjektiven Theorien von Studierenden, in neue Kontexte zu rücken,

um eine intensivere oder eine um bisher unbeachtet gelassene Aspekte erweiterte

Auseinandersetzung mit Praxisbezug zu ermöglichen

Die Ergebnisse der Kommunikativen Validierung sollen im Hinblick auf drei Fra-

gen kurz dargestellt und erläutert werden. Zum einen besteht die Frage, angelehnt

das oben dargestellte Kriterium des Dialog-Konsens‘ im Zusammenhang mit dem

Forschungsprogramm Subjektive Theorien, inwiefern die Befragten den ausfor-

mulierten Darstellungen ihrer Subjektiven Theorie zustimmen, sie korrigieren

oder sogar ablehnen. Zum anderen soll der Frage nachgegangen werden, ob die

Page 56: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

55

Befragten, der vorgenommenen Typenzuordnung zustimmen oder diese ablehnen.

Als dritter Punkt soll untersucht werden, auf welche Art und Weise sich die Be-

fragten mit dem Thema oder dem geführten Interview zum Thema Praxisbezug in

der Zeit zwischen Interview und kommunikativer Validierung beschäftigt haben.

Zu diesem letzten Punkt ist zu bemerken, dass er nicht explizit erfragt wurde und

nur berücksichtigt wird, wenn die Interviewten von selbst etwas zu dem Thema

sagten.

Im Allgemeinen stimmen alle vier Teilnehmer/innen der Rekonstruktion ihrer

Subjektiven Theorie zum Praxisbezug zu. Gestützt wird diese Schlussfolgerung

durch die Tatsache, dass alle Befragten ihre eigene Rekonstruktion ihrer Subjekti-

ven Theorie zum Praxisbezug nach dem zweiten Gespräch gerne mit nach Hause

nehmen wollten. Nils fühlt sich „sehr bestätig“ in der ihm vorliegenden Darstel-

lung, Kathrin erkennt sich „schon deutlich in der Darstellung wieder“, Sven be-

merkt, dass er sich in der Rekonstruktion „im Großen und Ganzen […] schon

ziemlich genau getroffen“ sieht und Evelin ist „grundsätzlich schon“ einverstan-

den mit der Rekonstruktion ihrer Subjektiven Theorie. Nils, Kathrin und Evelin

greifen daraufhin jeweils noch einmal die Aspekte aus den Darstellungen heraus,

die ihnen am wichtigsten und zentralsten erscheinen. So betont Evelin zum Bei-

spiel noch einmal eindringlich den Praxisbezug, den sie in den Sportseminaren

und Didaktikveranstaltungen entdeckt. Nils greift den Aspekt der „Zwei-Welten-

Problematik“ noch einmal heraus und ist erstaunt darüber, dass dieser Begriff im

Interview von ihm selbst eingeführt wurde. Obwohl in allen Einzelfalldarstellun-

gen, wenn vorhanden, Widersprüche oder Unstimmigkeiten in den Argumentatio-

nen der Befragten veranschaulicht werden, greift keine/r der Befragten diese Un-

stimmigkeiten in der kommunikativen Validierung auf, um näher darauf einzuge-

hen oder diese Unstimmigkeit zu beseitigen. Nils nimmt, wie eben dargestellt,

sofort den Begriff der „Zwei-Welt-Problematik“ aus dem Text heraus, der kurz

danach in der Rekonstruktion dargestellte Widerspruch bezüglich seiner Praxiser-

fahrungen mit den Sport-Praxisseminaren im Studium bleibt jedoch unangetastet

bzw. wird nicht angesprochen.

Bezüglich der Zuordnung zu den Praxiskonzepten A und B fällt die Validierung

nicht so eindeutig aus, wie bei den Rekonstruktionen der Subjektiven Theorien.

Sven ist der einzige, der ohne differenzierteren Kommentar zustimmt und sich

selbst ebenfalls Praxiskonzept B zuordnet. Nils sieht sich selbst dem Praxiskon-

Page 57: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

56

zept A zwar auch richtig zugeordnet, bemerkt aber, dass er die Beschreibung des

Praxiskonzeptes B als positiver empfindet und bemängelt die Trennschärfe der

beiden Typen. Er fühlt sich besonders in Bezug auf die Darstellung seiner Argu-

mentationsweise gezwungen, eine Erklärung dafür abzugeben, warum er eher dem

Praxiskonzept A zuzuordnen ist. Dies liege seiner Meinung nach an seinem mini-

malen Vorwissen zum Thema Praxisbezug im Studium und der auf wenigen Er-

fahrungen basierenden Argumentation. Kathrin ordnet sich interessanterweise

selbst zunächst tendenziell Praxiskonzept A zu, obwohl sie im Rahmen der Inter-

viewauswertung Praxiskonzept B zugeordnet wurde. Erst als sie beide Konzepte

für sich noch einmal rekapituliert, stimmt sie mit der Zuordnung überein. Evelin

betont bezüglich der Zuordnung zu Praxiskonzept A, mit der sie anhand ihres In-

terviews einverstanden ist, dass sich ihre Einstellung seit dem Interview deutlich

geändert habe, in Richtung einer Verzahnung von Theorie und Praxis und dem-

entsprechend auch hin zu Praxiskonzept B.

Dieser Aspekt leitet direkt zur dritten Fragestellung über: Haben sich die Inter-

viewteilnehmer/innen mit dem Thema Praxisbezug des Studiums selbst weiterge-

hend beschäftigt oder haben sich ihre Subjektiven Theorien weiterentwickelt? Wie

eben angedeutet, betont Evelin besonders, dass ihr der Aspekt des Theoretischen

seit dem Interview viel wichtiger erscheint. Die Bedeutung der Theorie zu erken-

nen falle ihr leichter, wenn sie das „Verhältnis Theorie-Praxis sieht oder erkennt,

als wenn [sie] jetzt strikt zwei verschiedene Paar Schuhe sieht.“ (kV_9_Evelin,

Abs. 4) Nils berichtet bezüglich der Frage nach Weiterentwicklung, dass er sich

nach dem Interview noch einmal in ein Gespräch mit zwei Dozenten/innen zu

dem Thema Praxisbezug des Studiums begeben hat, was bei ihm zu einer ge-

schichtlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Lehrerausbildung führte. Der

nächste Schritt bestehe für Nils darin, sich noch intensiver mit dem Thema Pra-

xisbezug im Studium auseinanderzusetzen. Kathrin sieht jetzt vor allem viel deut-

licher, wie undifferenziert sie die Begriffe „Wissen“, „Theoriewissen“ und „Kom-

petenzen“ verwendet. In der Validierung geht sie besonders auf ihre Entwicklung

oder Veränderung der Sichtweise, welche schon im Verlauf des Interviews festzu-

stellen war, ein. Ihre Meinung wird in der Validierung sogar noch radikaler, in-

dem sie nun Praxiserfahrungen und die Verzahnung von Theorie und Praxis voll-

ständig in das Referendariat verschiebt. Ihre entwickelte Subjektive Theorie, in

der das Fachwissen im Studium einen größeren Stellenwert erhält als es vor dem

Page 58: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

57

Interview der Fall war, steht hier im Vordergrund. Unstimmig bleibt ihre Subjek-

tive Theorie zum Praxisbezug dennoch, was sich darin zeigt, dass sie sich zuerst

dem Praxiskonzept A zuordnet. Sven ist der einzige Befragte, der von selbst nicht

von einer Entwicklung und einer Weiterbeschäftigung mit dem Thema Praxisbe-

zug berichtet.

9. Diskussion

Zusammenfassend lässt sich bezogen auf die Auswertung der Subjektiven Theo-

rien zum Praxisbezug anhand des erstellten Kategoriensystems zu formalen

Merkmalen von Subjektiven Theorien feststellen, dass mit Blick auf die formale

Struktur keine der erhobenen Subjektiven Theorien zum Praxisbezug alle drei

formalen Merkmale – Komplexität, Differenziertheit und Organisation – gleich-

ermaßen ausgewogen erfüllt. Die Subjektive Theorie von Sven ist diejenige, wel-

che dieser formalen Forderung am nächsten kommt. Seine Theorie erscheint mit

14 Kodierungen in der Kategorie „Komplexität“ mittelmäßig, ist aber mit 28 Ko-

dierungen in der Kategorie „Differenziertheit“ und mit 16 Kodierungen in der

Kategorie „Organisation“ sehr differenziert und gut verknüpft. Bemerkenswert ist,

dass Svens Subjektive Theorie die einzige ist, die keine Widersprüche oder Unge-

reimtheiten enthält. Als weiteres Beispiel ist Nils Subjektive Theorie zum Praxis-

bezug tendenziell weniger komplex, aber dafür sehr differenziert und sehr gut

organisiert, obwohl sie einige Unstimmigkeiten enthält.

Auf Grund der Annahme, dass Subjektive Theorien, die in dem hier entwickelten

Kategoriensystem enthaltenen formalen Merkmale in hinreichender Form erfüllen

müssen, um zwar nicht erfolgreiches Handeln zu begünstigen (Vgl. Dann et al.

1987; Haag/Dann 2001), aber jedoch ein umfassendes Bild und hinreichend be-

gründete Meinungen zum Praxisbezug im Studium zu ermöglichen, kann für die

vorliegende Stichprobe festgestellt werden, dass keine schlüssigen Subjektiven

Theorien zum Praxisbezug in entsprechender Form vorliegen. Was jedoch festge-

halten werden muss und gegen die Tendenz eines ständigen Verlangens nach

mehr und besserem Praxisbezug spricht, die durch den Diskurs zu Praxisbezug im

Studium erweckt wird, ist, dass die in dieser Arbeit befragten Studierenden selbst

nicht wirklich wissen, was sie vom Praxisbezug im Studium erwarten und wie

ihre eigene Einstellung oder Position zum Praxisbezug, aber auch zum Verhältnis

von Theorie und Praxis und zum Verhältnis von Studium und Beruf aussieht.

Page 59: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

58

Es handelt sich, wie die formale Analyse der Interviews zeigt, bei den Ansichten

und Meinungen der Studierenden zum Praxisbezug viel mehr um Versuche von

Subjektiven Theorien als um Subjektive Theorien zum Praxisbezug. Die inter-

viewten Lehramtsstudierenden versuchen eigene Subjektive Theorien zu entwi-

ckeln, um sich sowohl bezüglich des Verhältnisses von Studium und Beruf als

auch des Verhältnisses von Theorie und Praxis einen festen Standpunkt aufzubau-

en, finden aber diesen Standpunkt nicht. Sie versuchen des Weiteren diese Ver-

hältnisse zu verstehen und miteinander in Verbindung zu setzen, scheitern aber

dennoch an der Komplexität dieses Diskurses um Praxisbezug in der Lehrerbil-

dung, vor dem selbst die Lehrerbildungsforschung teilweise zurückschreckt. (Vgl.

Cramer et al. 2009)

Die Versuche Subjektiver Theorien zum Praxisbezug der interviewten Studieren-

den können dadurch charakterisiert werden, dass Überlegungen abgebrochen oder

Gedankengänge nicht weiter verfolgt werden. Ansichten innerhalb einer Subjekti-

ven Theorie widersprechen sich und sogar explizite Wünsche, wie der Wunsch,

möglichst viele Erfahrungen sammeln zu können (Vgl. Hascher 2006) werden

zwar geäußert, aber scheinen auf einer anderen Ebene dann doch keine Relevanz

für die Argumentation zu besitzen. Es reicht demnach nicht aus, nur das Verlan-

gen nach Praxis, den „Praxisfetischismus“ (Sacher 1988, 47) oder ein „denken

von der Praxis her“ (Cramer et al. 2009, 776) als Ergebnisse der Meinungen von

Studierenden zum Praxisbezug des Studiums in den Vordergrund zu stellen, denn

dieses Verlangen ist, wie in der Einleitung veranschaulicht, kein eintöniger Chor.

Der Umgang mit Praxisbezug im Studium kann charakterisiert werden als ein

Versuch, sich zurechtzufinden innerhalb, wie Nils es formuliert, von „zwei Wel-

ten“ und ist geprägt von Unstimmigkeit. Unstimmigkeit tritt dabei nicht nur in den

einzelnen Versuchen von Subjektiven Theorien zum Praxisbezug auf, was in die-

ser Arbeit ausreichend dargestellt wurde. Unklarheiten über Zielsetzungen bezüg-

lich des Praxisbezugs im Lehramtsstudium treten auch in der Lehrerausbildungs-

debatte auf. Es handele sich zum Beispiel selbst bei den Begriffen „Praxisbezug“

oder „Berufsbezug“ „um unscharfe Begriffe“ (Hedtke 2000, 3 und vgl. Wey-

land/Wittmann 2010)

Studien, welche die Meinungen und Ansichten der Studierenden als unstimmig

oder als Versuch, sich in den „zwei Welten“ Theorie und Praxis zurechtzufinden

darstellen, lassen sich in der Literatur zur Lehrerbildungsforschung kaum finden.

Page 60: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

59

Es liegt bis jetzt nur ein Ergebnis von Blömeke et al. (2006) vor, welches einen zu

den Erkenntnissen dieser Arbeit passenden Widerspruch der Studierendenaussa-

gen aufdeckt. So wird in der betreffenden Studie, welche die Meinungen von Stu-

dierenden und Referendaren zu der Zweiteilung des Lehramtsstudiums erfasst,

herausgestellt, dass die Studierenden abwertenden Aussagen zur Forschung nicht

wirklich ablehnend, aber auch nicht wirklich zustimmend gegenüberstehen. Nach

Blömeke et al. würde eine zustimmende Haltung gegenüber diesen Aussagen, den

weiteren Ergebnissen ihrer Studie entsprechen, welche sich dem Verlangen nach

mehr Praxis anschließen und demnach konsistent seien. Es ergeben sich bezüglich

der Studierendenbewertungen zur Forschung jedoch mittlere Werte für Zustim-

mung und Ablehnung. (Vgl. Blömeke et al. 2006, 158 f.)

Es kann des Weiteren festgestellt werden, dass eine Entwicklung der Subjektiven

Theorien zum Praxisbezug zum Teil schon während des Interviews stattfindet.

Die kommunikative Validierung zeigt zusätzlich, dass das Interview zu einer in-

tensiveren Auseinandersetzung mit und auch Veränderung von Subjektiven Theo-

rien zum Praxisbezug führt. In Bezug auf die Struktur Subjektiver Theorien zum

Praxisbezug können, wie oben veranschaulicht, Unstimmigkeiten und Widersprü-

che, welche zum Beispiel auf Grund eines Perspektivwechsels oder auf Basis ei-

ner Auseinandersetzung mit Aspekten fremder Subjektiver Theorien zum Praxis-

bezug auftreten oder erkennbar werden, zu Veränderungen oder Erweiterungen

der eigenen Subjektiven Theorie führen. Das oben dargestellte Beispiel Kathrins,

welche ihre Theorie, nachdem sie in die Perspektive einer Dozentin wechselte, um

einen zentralen Aspekt erweitert, veranschaulicht eine solche Veränderung sehr

gut. So werde nach Wahl (2005) die „Gültigkeit [der] eigenen Sichtweise in Frage

gestellt“ (ebd., 56) und die „Relativität der eignen Wirklichkeits-Konstruktionen“

(ebd., 57) bewusst gemacht. Das Ausmaß dieser Erfahrung mit dem Perspektiv-

wechsel und der daraus entstandenen Entwicklung wird in der kommunikativen

Validierung mit Kathrin noch deutlicher. Sie geht hier auf den Entwicklungsas-

pekt noch einmal ein. Ein begründetes und fundiertes Wissen scheint ihr zum

Zeitpunkt der kommunikativen Validierung immer noch wichtig, wenn nicht so-

gar noch wichtiger geworden zu sein. Auch in der Auseinandersetzung mit Aspek-

ten fremder Subjektiver Theorien können auf der Basis von Unstimmigkeiten oder

Widersprüchen bezüglich dieser Aspekte, Entwicklungen festgestellt werden.

Zum Beispiel hinterfragt Sara ihre eigene Studienstrategie, in jeder Hinsicht selbst

Page 61: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

60

Praxisbezug herstellen zu wollen, nachdem sie mit der fremden Meinung konfron-

tiert wird, dass dies in einigen Situationen einfach nicht möglich sei. Es soll

nochmals betont werden, dass gerade Textstellen, welche Unstimmigkeiten dar-

stellen, einen möglichen Spielraum eröffnen, Subjektive Theorien zu verändern

oder zu erweitern und dies nicht nur inhaltlich, sondern auch formal.

In der kommunikativen Validierung zeigt sich darüber hinaus, dass allein die

Auseinandersetzung mit dem Thema Praxisbezug durch ein auf einem Leitfaden

basierendes Gespräch sowohl zu dem Verlangen führen kann, sich weiterhin mit

dem Thema beschäftigen zu wollen als auch zu Entwicklungen oder Änderungen

der Subjektiven Theorien oder Meinungen führen kann. Zum Beispiel betont Nils

schon nach dem Interview mit ihm die positive Bedeutung, die dieses für ihn ein-

nimmt:

Also ich kann nur sagen, dass mir das Interview sehr viel genützt hat, weil man sich natürlich ganz bewusst/ Also weil man natürlich sich über sowas gar nicht austauscht. Also man macht sich natürlich selbst jetzt Gedanken drüber und findet vielleicht hier und da mal einen Anknüpfungspunkt oder es kommt halt im Gespräch irgendwie zur Bedeutung, aber so stichhaltig habe ich mir da noch gar keine […] Gedanken ge-macht. Und das war super spannend und interessant […]. (P_3_Nils, Abs. 108)

Selbst in der kommunikativen Validierung geht Nils nochmals auf den Einfluss

ein, den das Interview auf ihn ausübt:

Also, ich habe mich jetzt, wie gesagt, wir haben ja gesprochen und dann hatte ich die-ses eine Gespräch geführt. Das fand ich auch ganz interessant. Und ich habe ja auch gesagt, dass ich auch unser Gespräch total spannend fand. Und hatte ja auch/ hat sich ganz schön lang gezogen, erst mal alles zu rekapitulieren. Und ich glaube der nächste Schritt wäre, sich halt mehr mit dem Thema auseinanderzusetzen. (kV_3_Nils, Abs. 40)

Evelin betont in der kommunikativen Validierung, wie sehr sich ihre Meinung

zum Praxisbezug nach dem Interview geändert hat:

Auf jeden Fall würde ich jetzt so im Nachhinein sagen, dass ich auf jeden Fall die Theorie, also das Studium und damit so den Theorieanteil dieser Ausbildung schon wesentlich wichtiger finde, glaube ich als ich es zur Zeit des Interviews empfunden habe. Weil ich einfach denke, dass hier einfach Grundwissen vermittelt wird, was letztendlich wichtig ist für das Berufsleben, für das Referendariat, für die Praktika jetzt, für das spätere Berufsleben. Man muss da irgendwie eine Verknüpfung sehen. (kV_9_Evelin, Abs. 4)

Der hohe Stellenwert, den das Interview für die Befragten einzunehmen scheint,

wird auch daran deutlich, dass alle Teilnehmer/innen der kommunikativen Vali-

Page 62: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

61

dierung die schriftliche Rekonstruktion ihrer Subjektiven Theorie zum Praxisbe-

zug mit nach Hause nehmen wollen.

Abschließend kann herausgestellt werden, dass besonders einige Aspekte oder

Teile des Interviewleitfadens für ein in der Lehrerbildung eingesetztes Self-

Assessmentinstrument besonders in Frage kommen könnten. Dabei handelt es sich

im speziellen um den ersten Teil des Interviews, welcher den Studierenden einen

Spielraum eröffnet, sich konkrete Gedanken zum Thema Praxisbezug im Studium

zu machen und eine eigene Ansicht zu diesem Themenkomplex entwickeln zu

können. Zum anderen erscheinen aber auch die Teile des Interviewleitfadens von

besonderer Relevanz, die den Interviewten, wie oben veranschaulicht, ihre eige-

nen Ansichten bewusst machen, sie irritieren, zu Widersprüchen führen oder Un-

stimmigkeiten hervorrufen. Hiermit werden die Auseinandersetzung mit den

fremden Subjektiven Theorien und die Perspektivwechselfrage angesprochen. So

ist, wie in der Einleitung dieser Arbeit schon angedacht, mit Wahl (2005) gerade

die Bewusstmachung, die Problematisierung und die grundsätzliche Konfrontation

mit Subjektiven Theorien auch in Hinsicht auf Subjektive Theorien zum Praxisbe-

zug als erster Lernschritt zu betrachten.

Page 63: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

62

10. Literaturverzeichnis

Atria, M.; Strohmeier, D.; Spiel, Ch. (2006): Der Einsatz von Vignetten in der

Programmevaluation – Beispiele aus dem Anwendungsfeld „Gewalt in der Schu-

le“. In: U. Flick (Hrsg.): Qualitative Evaluationsforschung. Konzepte – Methoden

– Umsetzung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. S. 233-249.

Bayer, M.; Carle, U.; Wildt, J. (1997): Editorial. In: M. Bayer; U. Carle; J. Wildt

(Hrsg.): Brennpunkt: Lehrerbildung. Strukturwandel und Innovationen im europä-

ischen Kontext. (Schriften der DGfE; Beiträge zum 15. Kongreß der DGfE an der

Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg 1996). Opladen. S. 7-16.

Blömeke, S.; Müller, Ch.; Felbrich, A. (2006): Forschung – Theorie – Praxis. Ein-

stellungen von Studierenden und Referendaren zur Lehrerausbildung. In: Die

Deutsche Schule. 98. Jg., Heft 2. S.178-189.

Boness, Ch.; Hoffmann, A.; Koch, K. (2003): Das Team-Ombuds-Modell. Eine

Antwort auf fehlende Standards und divergente Erwartungen bei schulpraktischen

Studien. In: Die Deutsche Schule. 95. Jg., Heft 2. S. 220-231.

Bohnsack, R. (2003): Dokumentarsiche Methode. In: R. Bohnsack (Hrsg.):

Hauptbegriffe qualitative Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich. S. 40-44.

Cramer, C.; Horn, K.-P.; Schweitzer, F. (2009): Zur Bedeutsamkeit von Ausbil-

dungskomponenten des Lehramtsstudiums im Urteil von Erstsemestern. Erste

Ergebnisse der Studie „Entwicklung Lehramtsstudierender im Kontext institutio-

neller Rahmenbedingungen“ (ELKiR). In: Zeitschrift für Pädagogik. 55. Jg., Heft

5. S.761-780.

Dann, H.-D.; Tennstädt, K.-Ch.; Humpert, W.; Krause, F. (1987): Subjektive

Theorien und erfolgreiches Handeln von Lerhern/-innen bei Unterrichtskonflikten.

In: Unterrichtswissenschaft. 15. Jg. S. 306-320.

Page 64: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

63

Dann, H.-D. (1992). Interview- und Legetechnik zur Rekonstruktion kognitiver

Handlungsstrukturen ILKHA. Köln: DIMDI.

Groeben, N.; Scheele, B. (1984): Die Heidelberger Struktur-Lege-Technik (SLT).

Weinheim: Beltz.

Groeben, N.; Wahl, D.; Schlee, J.; Scheele B. (1988): Das Forschungsprogramm

Subjektive Theorie. Eine Einführung in das reflexive Subjekt. Tübingen: Francke.

Haag, L.; Dann, H.-D. (2001): Lehrerhandeln und Lehrerwissen als Bedingung

erfolgreichen Gruppenunterrichts. In: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie.

15. Jg., Heft 1. S. 5-15.

Haag, L.; Mischo, Ch. (2003): Besser unterrichten durch die Auseinandersetzung

mit fremden Subjektiven Theorien? Effekte einer Trainingsstudie zum Thema

Gruppenunterricht. In: Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische

Psychologie. 35. Jg., Heft 1. S. 37-48.

Hascher, T. (2006): Veränderung im Praktikum – Veränderung durch das Prakti-

kum. Eine empirische Untersuchung zur Wirkung von schulpraktischen Studien in

der Lehrerbildung. In: C. Allemann-Ghionda; E. Terhart (Hrsg.): Kompetenzen

und Kompetenzentwicklung von Lehrerinnen und Lehrern: Ausbildung und Be-

ruf. Zeitschrift für Pädagogik. 51. Beiheft. S. 130-148.

Hedtke, R. (2000): Das unstillbare Verlangen nach Praxisbezug. Zum Theorie-

Praxis-Problem der Lehrerbildung am Exempel Schulpraktischer Studien. Online

unter: http://www.jsse.org/2000/2000-0/pdf/hedtke.pdf (zuletzt aufgerufen am

02.03.2012)

Helfferich, C. (2011): Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchfüh-

rung qualitativer Interviews. 4. Aufl. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaf-

ten.

Page 65: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

64

Hughes, R. (1998): Considering the Vignette Technique and its Application to a

Study of Drug Injecting and HIV Risk and Safer behavior. In: Sociology of Health

and Illness. 20. Jg., Heft 3. S. 381-400.

König, E. (2005): Das Konstruktinterview: Grundlagen, Forschungsmethodik,

Anwendung. In: E. König; G. Volmer (Hrsg.): Systemisch Denken und Handeln.

Weinheim: Beltz. S. 83-115.

Sacher, W. (1988): Praktika und Praxisbezogenheit im Studium. In: H.S. Rosen-

busch; W. Sacher; H. Schenk (Hrsg.): Schulrei? Die neue bayrische Lehrerbildung

im Urteil ihrer Absolventen. Frankfurt a.M.: Lang. S. 121-176.

Schüssler, R.; Keuffer, J.; Günnewig, K.; Scharlau, I. (2012): „Praxis nach Re-

zept?“ – Praxisbezug und Professionalität in den subjektiven Theorien von Lehr-

amtsstudierenden. In: Schulpädagogik-heute. 3. Jg., Heft 5. Im Druck.

Mayring, Ph. (2010): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 11.

aktual. u. überarb. Aufl. Weinheim: Beltz Verlag.

Wahl, D. (2002): Veränderung Subjektiver Theorien durch Tele-Learning? In: W.

Mutzek; J. Schlee; D. Wahl (Hrsg.): Psychologie der Veränderung. Subjektive

Theorien als Zentrum nachhaltiger Modifikationsprozesse. Weinheim: Beltz Ver-

lag. S. 10-21.

Wahl, D. (2005): Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Vom trägen Wissen zum

kompetenten Handeln. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

Weyland, U.; Wittman, E. (2010): Expertise. Praxissemester im Rahmen der

Lehrerbildung. 1. Phase an hessischen Hochschulen. Berlin: DIPF.

Weyland, U. (2010): Zur Intentionalität Schulpraktischer Studien im Kontext uni-

versitärer Lehrerausbildung. Paderborn: Eusl-Verlagsgesellschaft mbH.

Page 66: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

65

Anhang 1: Teilnehmerliste Name Alter Geschlecht Semester Studiengang/Fach P_1_Sara 22 weiblich 4 LA GS

Deutsch/Englisch P_2_Kathrin 21 weiblich 4 LA GS

Deutsch/Englisch kath. Religion

P_3_Nils 23 männlich LA GymGes Deutsch/Sport

P_4_Gisela 22 weiblich 6 LA GymGes Deutsch/Philosophie

P_5_Mia 23 weiblich 8 LA HRGe Deutsch/kath. Religi-on/Hauswirtschaft

P_6_Leonie 22 weiblich 4 LA GymGes Pädagogik/ Spanisch

P_8_Viola 24 weiblich 10 LA HRGe Deutsch/kath. Religion

P_9_Evelin 23 weiblich 8 LA GS Deutsch/kath. Religi-on/Sport

P_10_Sven 26 männlich 10 LA GymGes Deutsch/Geschichte

Page 67: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

66

I. Was fällt dir spontan zum Thema „Praxisbezug des Studiums“ ein?

II. Kannst du mir eine Situation aus dem Studium beschreiben, die du als besonders praxisbezogen empfunden hast?

Informationen zum Interview und zum Ablauf des Gesprächs.

Anhang 2: Interviewleitfaden zum Thema Praxisbezug

Ich bedanke mich noch einmal sehr dafür, dass Sie sich dazu bereit erklärt haben, an diesem Interview zum Thema Praxisbezug im Studium teilzunehmen. Das Interview wird im Rahmen des Projektes STEP: Studium und Beruf. Subjek-tive Theorien von Studierenden und Lehrenden zwischen Praxisbezug, Employa-bility und Professionalisierung durchgeführt. Das Interview besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil geht es darum, sich Gedan-ken über den Begriff „Praxisbezug“ zu machen. Im zweiten Teil des Interviews werde ich Ihnen Fallbeispiele, also kleine Geschichten zum Thema Praxisbezug im Studium vorlesen, zu denen es mehrere Fragen geben wird. Wie mit Ihnen besprochen, möchte ich das Interview mit Ihnen aufzeichnen. Das Interview erhält einen Codenamen; außerdem werden alle biographischen Hin-weise so verändert, dass kein Rückschluss auf Ihre Person mehr möglich ist.

In erster Linie interessieren mich Ihre eigenen Meinungen und Ansichten zum Thema Praxisbezug. Deswegen möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass es in diesem Interview keine falschen Antworten gibt und für mich ihre persönliche Meinung im Vordergrund steht. TEIL A: Die Begrifflichkeit, das Thema „Praxis“ ausloten

Mögliche Zusatzfragen, um den Praxisbezug in der vom Befragten geschilderten Situation näher zu erfassen:

• Was genau war der Praxisbezug? • Was genau war der Situation bedeutsam für die Praxis? • Was machst du persönlich, um Praxisbezug herzustellen?

Page 68: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

67

IV. Wie würdest du den Unterschied beschreiben zwischen Praxis, wie sie dir im Studium begegnet und wie du sie dir später im Beruf vorstellst?

Sind die Unterschiede Deiner Ansicht nach gravierend/ wesentlich?

Mögliche Zusatzfragen:

• Welchen Sinn macht es, dass Dozenten/innen so (so wie du es be-schrieben hast) über Praxisbezug denken?

• Warum denken Dozenten/innen so? • Wenn es Unterschiede zwischen II. und III. gibt: Welchen Sinn

macht es, dass Du Praxisbezug so definierst, wie Du es eben be-schrieben hast?

• Wenn es Unterschiede gibt: Kannst Du Dir diese Unterschiede er-klären?

Weitere Fragen, die in Teil A gestellt werden könnten (auch andere Formulierun-gen):

• Wie würdest du für dich Praxis beschreiben/ definieren? • Was macht für dich Praxis aus.

III. Stell dir vor, du bist eine Dozentin oder ein Dozent an der Universität. Was bedeutet für sie oder ihn Praxisbezug?

Page 69: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

68

TEIL B: Das Verhältnis von Studium und Praxis/ Praxis und Beruf: Mögliche Zusatzfragen:

• Gibt es auch gute Lehrveranstaltungen, die wenig Praxisbezug aufweisen?

• Warum gibt es solche Lehrveranstaltungen? • Fühlst Du Dich durch das Studium gut auf die berufliche Praxis

vorbereitet? • Schätze bitte den Praxisbezug des Studiums auf einer Skala zwi-

schen 0 (kein Praxisbezug) und 100 (könnte nicht besser sein) ein!

• Wie würdest du das Verhältnis von Studium, Beruf und Praxis be-schreiben?

Zitat 1 (Sören, Abs. 5): „Ich empfinde das so. Es heißt oft, das Lehramtsstudium wär nicht praxisbezogen. Ich sehe das so: Es kann schon gut sein, dass es nicht sehr praxisbezogen ist, aber ich finde das auch nicht schlecht. Ich habe dann hinterher, spätestens im Referen-dariat, noch Zeit, diesen Praxisbezug zu erfahren. Vielleicht könnte man da in Sachen Praktika noch etwas verbessern. Aber ansonsten finde ich es wichtig, dass ich vor allem in meinen Fächern – und ich habe den Studiengang überhaupt erst wegen den Fächern gewählt – vorbereitet werde.“ Zitat 2 (Svenja, Abs. 43): „Und ich glaube, das ist einfach die allgemeine Ansicht, dass das Studium zu we-nig praxisbezogen ist. Man macht seine drei Praktika, plus das außerschulische Praktikum. Und das ist die einzige Phase, wo man sich wirklich mal ausprobieren kann, wirklich auch mal unterrichten kann. Und was ich von anderen Studieren-den gehört habe, was dann auch meine eigene Meinung irgendwie wiederspiegelt, ist, dass man dann aber dennoch recht wenig von dem angewandt hat, was man in der Universität gelernt hat, sondern eher von den Erfahrungen der anderen Lehrer profitiert.“

I. Kannst du mir eine Lehrveranstaltung beschreiben, in der du deiner Meinung nach besonders viel Praxisbezug erfahren hast und eine Ver-anstaltung, die besonders wenig praxisbezogen war?

II. Lies dir diese drei Zitate in Ruhe durch. Welches passt am besten zu dir? Warum?

Wenn keines der Zitate zu dir passt, wie würdest du deine Meinung zu den Textstellen abgrenzen?

Page 70: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

69

• Stell dir vor Hannes oder Hannah wäre dein Freund/deine Freundin und kämen am Nachmittag völlig aufgelöst zu dir. Was, glaubst Du, wäre wichtig zu besprechen?

• Womit sollte sich Hannes/Hannah in dieser Situation beschäftigen, um sich weiter zu entwickeln?

Zitat 3 (Laura): „Das ist ja auch nicht schlecht, man lernt in der Universität ja die Techniken und alles und diese Techniken haben auch immer wirklich einen hohen Anspruch. Also es ist nicht so, dass die Dozenten/innen sagen, ja wir bringen euch jetzt mal malen bei oder so, man kriegt hier schon wirklich etwas an die Hand geliefert. Und ich weiß nicht, ob es überhaupt leistbar ist bei jeder Sache, die man da lernt, ob man da wirklich auch gleich den Bogen zur Schule spannen kann, keine Ah-nung. Also Praxis bekomme ich eine Menge, aber wie ich diese Praxis in der Schule anwende jetzt eigentlich nicht.“

Fallbeispiel 1 – Schlechte Unterrichtsstunde Hannes/Hannah macht gerade sein/ihr Orientierungspraktikum. In den letzten zwei Wochen ist er/sie immer sehr interessiert mit den Lehrerinnen und Lehrern mitgegangen und hat deren Unterricht beobachtet. Nun ist Hannes/Hannah selbst an der Reihe. Er/Sie soll seine/ihre erste eigene Unterrichtsstunde in der 6. Klasse seines/ihres Betreuungslehrers halten. Wie in dem Seminar „Planung und Durch-führung von Unterricht“ gelernt, plant Hannes/Hannah seine/ihre Stunde und ent-wirft dafür ein Verlaufsprotokoll. Das macht er/sie genauso, wie im Seminar, denn dort hat es ihm/ihr bei der Simulation seiner/ihrer Unterrichtstunde sehr gut geholfen. Mit der Planung und dem Verlaufsprotokoll in der Hand fühlt Han-nes/Hannah sich gut vorbereitet und geht zuversichtlich in die Stunde. Nach ca. 5 Minuten merkt er/sie aber, dass seine/ihre Planung überhaupt nicht aufgeht, denn die Klasse ist total unruhig. Die Schülerinnen und Schüler haben anscheinend überhaupt keine Lust auf Unterricht, sie wollen viel lieber die in ei-ner Woche anstehende Klassenfahrt besprechen. Zu guter letzt springt sein/ihr Betreuungslehrer auf und übernimmt den Unterricht für ihn/sie.

Fallbeispiel 2 - Gute Unterrichtsstunde Hannes/Hannah macht gerade sein Orientierungspraktikum. In den letzten zwei Wochen ist er/sie immer sehr interessiert mit den Lehrerinnen und Lehrern mitge-gangen und hat deren Unterricht beobachtet. Nun ist Hannes/Hannah selbst an der Reihe. Er/Sie soll seine/ihre erste eigene Unterrichtsstunde in der 6. Klasse sei-nes/ihres Betreuungslehrers halten. Wie in dem Seminar „Planung und Durchfüh-rung von Unterricht“ gelernt, plant Hannes/Hannah seine/ihre Stunde und entwirft dafür ein Verlaufsprotokoll. Das macht er/sie genauso, wie im Seminar, denn dort hat es ihm/ihr bei der Simulation seiner/ihrer Unterrichtstunde sehr gut geholfen.

Page 71: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

70

• Hannes/Hannah erzählt dir am Telefon begeistert von der Unter-richtsstunde. Du willst unbedingt mehr erfahren und ihr trefft euch am Nachmittag zum Kaffeetrinken. Auf welche Aspekte würdet ihr den Erfolg zurückführen?

• Frage ohne Bewertung: Auf welche Aspekte der Unterrichtsstunde würdet ihr den positiven Verlauf zurückführen?

• Was glaubst Du, befindet sich in diesem Ordner? • Ab wann würdest du es in deiner Laufbahn für sinnvoll halten, einen

solchen Ordner zu erstellen und auf welche Art und Weise würdest du das machen?

Mit der Planung und dem Verlaufsprotokoll in der Hand fühlt Hannes/Hannah sich gut vorbereitet und geht zuversichtlich in die Stunde. Hannes/Hannah fühlt sich vor der Klasse richtig wohl, die Schülerinnen und Schüler machen gut mit und es gibt nur wenige Komplikationen. Am Schluss der Stunde bekommt er/sie sogar noch ein Lob von seinem/r/ihrem/r Betreuungsleh-rer/in: „Du hast das heute richtig gut gemeistert. Wenn du so weiter machst, wirst du keine Probleme im Referendariat bekommen.“

Fallbeispiel 3 – Ordner „Hilfe für Alles“ Stell dir vor, du besuchst eine Freundin/einen Freund, den du sehr lange nicht mehr gesehen hast. Diese/r Freund/in studiert auch Lehramt. Ihr beiden macht es euch in seinem Zimmer gemütlich und fangt an über euer Studium zu reden. Plötzlich entdeckst du in seinem Regal einen Ordner auf dem steht „Hilfe für al-les!“. Auf deine Nachfrage erzählt dir dein/e Freund/in, dass sich in diesem Ord-ner eigentlich alles befindet, was er/sie in seinem/ihrem Berufsalltag zur Bewälti-gung von jeglichen Situationen und Problemen brauchen könnte. Der Ordner habe ihm/ihr eigentlich bis jetzt immer weitergeholfen. Irgendwann fing er/sie an, sich diesen Ordner anzulegen. Er wachse auch immer noch weiter.

Fallbeispiel 4 – Die Seminarentscheidung Heute Morgen wurde das PAUL-Vorlesungsverzeichnis freigeschaltet. Du musst nun deine erziehungswissenschaftlichen Kurse wählen und hast dafür nicht viel Zeit, denn wie jedes Jahr sind natürlich die besten Kurse innerhalb von 10 Minu-ten belegt. Nun musst du dich zwischen zwei Kursen, die dich interessieren entscheiden. Der Titel des ersten Seminars lautet „Erziehung und Bildung – ausgewählte Konzepte und Theorien“. In diesem Seminar sind mehrere Exkursionen zu verschiedenen Schulen geplant. Der Titel des zweiten Seminars lautet „Schule als Lebensort ge-stalten – Über die Schulreformen und Ganztagsschulen“. Hier wird die reformbe-

Page 72: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

71

• Für welches der beiden Seminare würdest du dich entscheiden? Wa-rum?

• Was für Erwartung wecken die Seminartitel in dir? • Warum hast du dich nicht für das andere Seminar entschieden?

dingte Umgestaltung des Schulwesens thematisiert und es werden Konzepte un-tersucht und entwickelt, wie Schule als Lebensort gestaltet werden kann. Ein weiterer Titel für das zweite Seminar könnte sein: „Unterschiedliche Schü-ler/innen – Unterschiedliche Leistungen? Individuelle Förderung in der Schule.“ In diesem Seminar werden neue Ansätze zur individuellen Förderung von Schüle-rinnen und Schülern thematisiert.

Abschlussfragen:

In unserem Projekt untersuchen wir, was sich Studierende und Lehrende unter dem Praxisbezug des Studiums vorstellen. Wir haben festgestellt, daß es große Unter-schiede zwischen diesen beiden Gruppen gibt, daß sich aber auch die Studierenden untereinander sehr unterscheiden. Das ist ja vielleicht durch die Zitate schon deutlich geworden. Gibt es noch etwas, was Du zu diesem Punkt sagen oder fragen möch-test?

Letzte Abschlußfragen

Möchtest du noch irgendetwas ergänzen, was deiner Meinung noch wichtig wäre?

Welche Fragen fandest du besonders interessant?

Welche waren schwierig zu beantworten?

Bei welchen Fragen hast du das Gefühl, das sie dir selber nützen?

Page 73: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

72

Anhang 3: Einzelfalldarstellungen Sara:

Saras Konzept von Praxisbezug im Studium besteht aus verschiedenen Aspekten.

Die inhaltlich-thematische Ausdifferenzierung des Konzepts nimmt im Laufe des

Interviews an Komplexität zu. Eng sind mit ihrem Konzept aber auch Studienstra-

tegien verbunden, um Praxisbezug herzustellen. Sara unterscheidet zwischen

„wirklichem“ Praxisbezug, den sie im Praktikum bzw. in der Schule erfährt, und

Praxisbezug, bei dem sie auf theoretischer Ebene lernt, schulische Prozesse zu

verstehen. Als Praxisbezug des Studiums fordert sie einerseits explizit Wissen,

das sie später in der Schule bzw. Praxis direkt anwenden kann. Andererseits ver-

folgt sie auch die Studienstrategie, sich den Bezug zur Schule eigeninitiativ herzu-

stellen. Sie sucht aktiv einen praxisbezogenen Sinn hinter den Studieninhalten.

Praxisbezug hat für sie zudem die Funktion, den Studierenden dabei zu helfen,

ihre Berufswahl, Lehrer oder Lehrerin, überdenken und überprüfen zu können.

Diese verschiedenen, von Sara thematisierten Aspekte von Praxisbezug stehen im

Interview nebeneinander und sind, wie im Folgenden veranschaulicht wird, nicht

ganz ohne innere Widersprüche. Zuerst wird das Konzept von Praxisbezug im

Studium inhaltlich ausdifferenziert.

Neben dem von mir im Interview vorgegebenen Begriff „Praxisbezug“ verwendet

Sara außerdem die Begriffe „Praxisnähe“, „Praxis“, „wirklicher Praxisbezug“

sowie „Bezug zur Schule“ und „mit Unterricht in Berührung kommen“. „Wirkli-

che“ Praxisnähe kann auf zwei Weisen entstehen. Wenn ein Seminar, in dem Sara

beispielsweise Wissen über das Unterrichten oder über Unterrichtsstörungen er-

langt, das Gefühl hervorruft, sie könnte morgen in die Schule gehen und dort tätig

werden, ist es sehr praxisnah. Das Praktikum ist den Wirklichkeitsbezug betref-

fend von größter Bedeutung. Sie würde ihren Ordner „Hilfe für alles“ beispiels-

weise erst dann anlegen, wenn sie das erste Mal im Praktikum war, zum ersten

Mal Unterricht konzipieren musste und das erste Mal Praxis erlebt hat. Sie er-

kennt aber auch Schattenseiten des Praktikums: So fehlt im Praktikum der Berufs-

alltag. Dieser Unterschied ist aber nicht entscheidend.

Nähe zur Praxis wird auch dadurch erzeugt, dass Lehrer/innen als Dozent/innen

an die Universität kommen und Unterrichtsmaterialien, Beispiele, Erfahrungen

sowie aktuelles Wissen über Schüler/innen aus der Schule mitbringen. Sie bringen

Page 74: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

73

ein Stück Wirklichkeit aus der Schule in die Universität. Sara ist von dieser Art

des Praxisbezugs sehr überzeugt. Sie hat in Seminaren, die von Lehrer/innen ge-

leitet wurden, neben dem Praktikum, den größten Praxisbezug erfahren, und sie

äußert sich sehr zufrieden über den hohen Praxisbezug derartiger Lehrveranstal-

tungen.

Dadurch, dass Sara das Praktikum als ersten Kontakt mit dem „wirklichen“ Pra-

xisbezug klassifiziert, differenziert sie den Begriff oder das Thema Praxisbezug

weiter aus. Sie unterscheidet an dieser Stelle die Begriffe Praxisbezug und Praxis

voneinander. Wenn sie vor der Klasse steht und unterrichtet, ist das Praxis, weil es

den Beruf, die Arbeit in der Schule, die Arbeit mit Kindern beinhaltet. Praxisbe-

zug entsteht schon dann, wenn sie theoretisch lernt, diese Prozesse und Situatio-

nen des Unterrichts zu verstehen. Dieser Praxisbezug beginnt früher als die Pra-

xis. Ein von Sara prägnant beschriebenes Beispiel ist, im Studium mit Unterricht

in Berührung zu kommen, wenn sie sich in Seminaren Videomitschnitte von Un-

terrichtssequenzen anschaut, diese analysiert oder im Unterricht hospitiert und

diesen kriteriengeleitet reflektiert. Ein anderes Beispiel sind Referate in der Uni-

versität, denn diese ähneln dem Unterrichten in der Schule.

Wie oben bereits erwähnt, wendet Sara aktiv die Studienstrategie an, Praxisbezug

eigeninitiativ herstellzustellen, wenn dieser nicht direkt thematisiert wird. Sie

sucht dabei in Seminaren nach relevanten Aspekten für ihren Beruf und tut das

auch dann, wenn diese sehr wenig offensichtlich sind, wie aus ihrer Sicht bei der

Analyse von Hamlet. Es ist ihr persönlich sehr wichtig, in jedem Seminar den

Bogen zur Schule zu spannen und es in den Kontext der Schule einbetten zu kön-

nen. So irritiert sie die Meinung von Laura, die eher sagt, es sei nicht möglich, in

jedem Seminar einen Bezug zur Schule herzustellen. Saras eigene Strategie

kommt angesichts dieser fremden Meinung über Praxisbezug ins Wanken. Dies

regt sie an, über ihre eigene Sichtweise nachzudenken.

Wenn Sara selbst Praxisbezug herstellt, sucht sie gleichzeitig auch nach einem

Sinn hinter den Studieninhalten. Bei Seminaren, die ihr völlig aus dem Zusam-

menhang gerissen zu sein scheinen, findet Sara keine Motivation zur aktiven Teil-

nahme. Sara erwartet, dass genauso wie ein/e Lehrer/innen Schülern/innen den

Sinn von Unterrichtsinhalten erklären muss, Dozent/innen in der Lage sind, den

Studierenden ihre Perspektive näher zu bringen, damit diesen der Nutzen der Stu-

Page 75: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

74

dieninhalte deutlich wird. Diese Ansicht ergänzt die Strategie, überall eigeninitia-

tiv Praxisbezug herstellen können zu müssen.

Es fällt Sara schwer, sich in die Perspektive einer Dozentin hineinzuversetzen. Sie

bemerkt selbst, dass sie bei ihrem ersten Versuch in die Dozentinnenperspektive

zu schlüpfen, unabsichtlich wieder in die Studierendenperspektive zurück wech-

selt. Auch später äußert sie Wünsche (Lehrer/innen als Dozent/innen an die Uni-

versität) anstelle die Perspektive der Lehrenden einzunehmen, hier allerdings ohne

dies selbst zu bemerken. Sie vertritt hier die Meinung, dass Lehrende, um Praxis-

bezug in ihren Veranstaltungen herstellen zu können, diesen Praxisbezug selber

erfahren haben müssen. An dieser Stelle äußert sie auch ihre Überzeugung bezüg-

lich den Fachwissenschaften. Sara kann sich die Studieninhalte nicht getrennt von

der Schule vorstellen; die Fächer interessieren sie nur in Bezug auf die Schule.

Reiner Theorie kann sie gar nichts abgewinnen.

Sara verlangt von Seminaren Anwendungsbezug. Sie will Dinge lernen, die sie in

der Schule anwenden kann, beispielsweise von Lehrplänen vorgegebene Unter-

richtsthemen, -materialien oder der Umgang mit Störungen im Unterricht. Sie

überprüft das Gelernte anhand der Erfahrungen, die sie im Praktikum sammelt.

Das steht in leichtem Widerspruch zu ihrer Strategie, Praxisbezug selbständig

herzustellen.

Sara konnte in der Schule bzw. im Praktikum Inhalte anwenden, die sie im Studi-

um gelernt hat. Trotzdem erzeugte das Praktikum einen Wunsch nach mehr

Handwerkszeug, von dem sie sich erhofft, es noch im Studium zu erhalten. Sie

bewertet die Vorbereitung auf den Lehrerberuf durch das Studium mit 75%

durchaus hoch, äußert aber trotzdem Unzufriedenheit mit der ihr zu geringen

Menge an vermitteltem Anwendungswissen. Sie geht nicht weiter darauf ein, was

sie im Praktikum anwenden konnte, sondern beschreibt eine Situation, in der ihr

Wissen im Praktikum fehlte.

Praxisbezug in Form von Praktika erfüllt auch die Funktion, die Entscheidung für

das Lehramt zu überprüfen. Dies beschreibt sie aber nicht an sich selbst, sondern

an Personen, die für den Lehrerberuf nicht geeignet sind oder keine Motivation

dazu haben. So lehnt sie die Meinung von Sören, der nur wegen seiner Fächer

studiert, klar ab. In Seminaren, in denen man sich als Lehrer/in ausprobieren kann,

kann eine solche Überprüfung ebenfalls stattfinden.

Page 76: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

75

Sara verändert ihr Verständnis von Praxisbezug über das Interview und ihre Mei-

nung erreicht einen höheren Grad von Differenziertheit. Am Anfang des Inter-

views assoziiert sie mit dem Praxisbezug im Unterricht anwendbares Wissen.

Dies bleibt über längere Passagen der dominante Gesichtspunkt. Später betont sie,

dass das Praktikum den wirklichen Praxisbezug herstellt, gefolgt von dem Selbst-

einwand, daß Praxisbezug auch dadurch entsteht, dass man theoretisch lernt, wie

Unterrichten und Arbeit in der Schule funktioniert. Gegen Ende des Interviews

setzt sich ausgelöst durch die Frage, was die Lehrenden unter Praxisbezug ihrer

Lehrveranstaltungen verstehen, Unsicherheit durch, und schließlich äußert sie das

Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen Definition von Praxisbezug.

Dass sie sich nicht vorstellen kann, was Dozenten unter Praxisbezug verstehen,

erstaunt und verunsichert sie so, dass sie trotz einer anfänglich recht sicheren De-

finition von Praxisbezug am Ende ihr Nichtwissen eingesteht.

Gisela:

Im Interview von Gisela stehen sich zwei Aspekte, die mit dem Thema Praxisbe-

zug zu tun haben, gegenüber. Auf der einen Seite der unmittelbare Wunsch nach

mehr Praxisbezug, auf der anderen Seite ein Studium, das sich nach Interessen

richtet. In einem solchen Studium ist Praxisbezug laut Gisela jedoch ausgeschlos-

sen. Aspekte, die Gisela im Zusammenhang mit dieser Splittung anspricht, sind

das Wissen, das sie in der Schule anwenden will und die eigene Initiative, die sie

zusätzlich aufbringen muss, um Praxisbezug herzustellen oder sich auf die Praxis

vorzubereiten. Außerdem beschreibt sie Differenzen zwischen dem Studium und

dem Beruf in Bezug auf die Realitätsnähe.

Gisela wünscht sich schon in der Antwort auf die erste Frage des Interviews mehr

Praxisbezug. Sie kritisiert deutlich, dass das Studium zu wenig praxisbezogen ist.

Praxisbezug erwartet Gisela jedoch nur in fachdidaktischen Seminaren. Sie

wünscht sich hierbei mehr Anwendungsbezug der Studieninhalte. Sie möchte also

Wissen erwerben, dass sie unmittelbar in der Schule anwenden kann. Dieses Wis-

sen besteht zum Beispiel aus Mustervorlagen für Unterrichtsreihen oder Arbeits-

blätter. Materialien dieser Art würde Gisela in ihrem Ordner „Hilfe für alles“

sammeln. Gisela legt die Vorbereitung auf den Beruf jedoch nicht nur in die Hän-

de der Universität. Sie betont genauso die Eigeninitiative, die von Nöten ist, um

nach dem Studium vorbereitet in den Lehramtsberuf zu gehen. Giselas Eigenver-

Page 77: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

76

antwortung besteht darin, Veranstaltungen entsprechend der Anforderungen ihres

zukünftigen Berufes und entsprechend ihrer persönlichen Schwächen auszuwäh-

len. Dem zufolge schätzt Gisela die Berufsvorbereitung durch das Studium auf 40

bis 50 Prozent ein. Begründet wird diese Einschätzung von Gisela dadurch, dass

es im Studium immer die Möglichkeit gibt, Seminare zu wählen, die nicht auf den

Beruf vorbereiten.

Nicht auf die Praxis vorbereitet wird Gisela auch, wenn sie nur gemäß ihrer Inte-

ressen studieren würde. Obwohl sie es eigentlich gut findet, den eigenen Interes-

sen zu folgen, betont sie immer wieder die Unvereinbarkeit eines Interessenstudi-

ums mit dem Praxisbezug bzw. der Berufsvorbereitung. Sie findet es wichtig, ei-

nen Einblick in verschiedene Gebiete zu bekommen und ihr Wissen zu erweitern,

sieht aber keine Möglichkeit, dieses Wissen in der Schule anzuwenden. Für Gisela

besteht ein großer Bruch zwischen dem Studium und dem Beruf. Obwohl das

Praktikum den größten Realitätsbezug bietet, unterscheidet Gisela zwischen einer

Universitätsrealität und einer Schulrealität. Im Studium geht es mehr darum, Wis-

sen anzuhäufen, wogegen im Lehrerberuf der Schwerpunkt auf Wissensvermitt-

lung liegt. Auch wenn Gisela dies im Studium bei Unterrichtssimulationen schon

einmal üben und sich ausprobieren kann, sieht sie dennoch das Problem, dass im

Studium keine Schülerinnen und Schüler, sondern Studierende vor ihr sitzen. Ihre

interessenbedingten Studieninhalte erscheinen ihr zu abstrakt und in der Realität

nicht anwendbar, weil sie aus Erfahrungsberichten anderer weiß, dass Referendare

durchaus das im Studium erlernte Wissen nicht anwenden können und sich zu-

sätzliche Inhalte, die im Schullehrplan enthalten sind, erarbeiten müssen. Auch

unterscheidet sich die Position, die sie im Studium einnimmt und die sie in der

Praxis einnehmen muss deutlich. Im Studium beschäftigt sie sich viel mit sich

selbst, sie kann Personen, mit denen sie nicht zurechtkommt meiden. Im Beruf ist

dies jedoch anders, hier muss sie mit jedem Schüler/jeder Schülerin, ob sie sie nun

mag oder nicht, zusammenarbeiten.

Mia:

Mia unterscheidet in ihrem Konzept von Praxisbezug die theoretische Praxis, wel-

che sie im Studium erfährt, von der praktischen Praxis, der sie später im Beruf

erwartet zu begegnen. Diese Unterscheidung soll im Folgenden weiter erläutert

werden.

Page 78: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

77

Theoretische Praxis beschreibt den Praxisbezug in der Universität, der von einer

gewissen Form von Idealität geprägt ist. Theoretisch ist Praxis genau dann, wenn

in Seminaren versucht wird, auf Praxis einzugehen; wenn also theoretische Texte

gelesen oder Theorien zur Unterrichtsgestaltung thematisiert werden. Mia emp-

findet selbst die Arbeit mit Erfahrungsberichten von Lehrpersonen als theoretisch.

Obwohl sie die Arbeit mit Fallbeispielen schon als relativ praxisnah betrachtet, ist

dies immer noch nur die theoretische Beschäftigung mit Praxis. Theoretisch sind

für Mia zusätzlich auch Simulationen von Unterrichtsstunden in Seminaren. Sie

kann sich hier zwar praktisch ausprobieren, jedoch stimmen diese Situationen

nicht mit der „Wirklichkeit“ überein. Obwohl sich Mia im Verlauf des Studiums

im Unterrichten versucht, den Ablauf von Unterrichtsstunden plant oder Frage-

stellungen für den Unterricht erarbeitet, kritisiert sie, dass alles, was sie im Studi-

um macht, ideal und somit im Schulalltag, im „wahren Leben“ nicht wirklich um-

setzbar ist. Mia kann sich ihrer Meinung nach im Studium nur ein bisschen theo-

retisches Wissen bezüglich Praxis aneignen. Die „wirkliche“ Praxis oder prakti-

sche Praxis beginnt erst mit dem alltäglichen Berufsleben in der Realität. Mia

sieht die Studieninhalte als theoretische Basis an, welche ihr wichtig ist. Bestärkt

wird diese Meinung durch Vergleiche ihrer Erfahrungen mit den Erfahrungen

anderer Personen, aber auch durch die Erfahrung, dass sich ohne ein bestimmtes

Thema, also ohne Inhalt, keine vernünftige Unterrichtsstunde planen lässt. Dem

gegenüber steht die Meinung ihrer Tante, die schon 25 Jahre lang im Lehrerberuf

tätig ist. Diese meint, Mia solle die Studieninhalte nicht so wichtig nehmen, denn

später im Beruf seien andere Kompetenzen nötig. Auf Grund dieser Einschätzung

freue Mia sich auf das Ende ihres Studiums, da es ihr nichts bringe und das Stu-

dieren ihr außerdem keinen Spaß mache. Es ist für sie ausschließlich der Weg zu

ihrem Beruf.

Nimmt sie die Dozentinnenperspektive ein, stellt Mia sich vor, dass sich Dozie-

rende in der Praxis mit Theorien beschäftigen. In Seminaren bereiten Dozen-

ten/innen Praxisbeispiele immer in Bezug auf Theorieansätze vor. Es geht dabei

nicht um konkrete Problemstellungen oder Unterrichtssituationen. Sie versteht,

dass die Dozenten/innen dadurch Grundlagen vermitteln wollen, die ihr später im

Beruf Orientierung bieten.

Einen Einblick in die „wirkliche“ Praxis oder praktische Praxis, die im Gegensatz

zur theoretischen Praxis steht, bekommt Mia durch das Praktikum. Hier kann sie

Page 79: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

78

sich besser als Lehrerin ausprobieren als in Unterrichtssimulationen im Studium,

denn in der Schule erlebt sie Realität. Diese Ansicht unterstützend zieht Mia die

Meinung ihres Onkels heran, der, mittlerweile in Rente, sich in seinem Lehramts-

studium insbesondere Praktika gewünscht hätte, um einen besseren Einblick in

das Berufsfeld des Lehrers zu bekommen. Letztendlich sieht sie nur den Beruf als

Praxis an, weil sie hier mit „wirklichen“ Situationen, mit dem „wahren“ Leben

konfrontiert wird. Auf der einen Seite vertritt Mia zwar die Meinung, dass es

schwierig ist, im theoretischen Rahmen der Uni praxisnah zu arbeiten, weil die

äußeren Bedingungen (z.B. Studierende verkörpern Schülerinnen und Schüler)

sich zu sehr von der tatsächlichen Situation in der Schule unterscheiden. Sie kriti-

siert hier insbesondere, dass Simulationen in der Universität nicht das „wahre“

Leben wieder geben. Trotzdem ist sie aber froh darüber, dass derartige Simulatio-

nen überhaupt angeboten werden und dass sie sich so ausprobieren kann. Sie

möchte Seminare solcher Art trotz aller Kritikpunkte nicht missen. Bezüglich des

Fallbeispiels über Hannahs erste Unterrichtsstunde stellt Mia dieselbe Problematik

hervor. Wenn die Betreuungslehrerin, wie im Fallbeispiel beschrieben, die Unter-

richtsstunde von Hannah wegen Unterrichtsstörungen unterbricht, kann Hannah

sich nicht „wirklich“ testen. Mia fände es besser, im Praktikum auch mit Proble-

men konfrontiert zu werden und diese bewältigen zu müssen; denn sie geht davon

aus, dass genau dies später im Beruf auf sie zukommt.

Weil Mia der Kontakt mit der „wirklichen“ Praxis so wichtig ist, wählt, sie, wenn

sie sich im letzten Fallbeispiel für ein Seminar entscheiden muss, das Seminar

„Erziehung und Bildung – Konzepte und Theorien“. Sie erhofft sich durch die

Exkursionen zu verschiedenen Schulen, dass die abstrakten Theorien konkretisiert

und in der Schule angewendet werden.

Mia fühlt sich durch das Studium nicht auf die berufliche Praxis vorbereitet, denn

„wirkliche“ Probleme aus der Schule werden im Studium weniger thematisiert. So

schätzt Mia den Anteil der praktischen Berufsvorbereitung im Rahmen des Studi-

ums auf einer Skala von 0 bis 100 Prozent bei 20 bis 30 Prozent ein. Einen Grund

hierfür sieht sie darin, dass Studierende und Dozierende verschiedene Ansichten

bezüglich des Praxisbezugs im Studium verträten. Die Dozierenden gingen zu

wissenschaftlich vor, um ihrem Wunsch nach Praxis gerecht zu werden. Auch

wenn Mia sich nicht gut auf ihren späteren Beruf vorbereitet fühlt, würde sie

trotzdem einige Inhalte aus ihrem Studium in den Ordner „Hilfe für alles“ packen.

Page 80: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

79

Darin enthalten wäre demnach sowohl Wissen, das Mia unmittelbar anwenden

kann, wie zum Beispiel spezielle Unterrichtsstunden oder Unterrichtsreihen, als

auch konkrete Tipps für den Umgang mit Unterrichtsstörungen und allgemeineres

Wissen. Hiermit meint sie allgemeine Richtlinien zur Unterrichtsplanung oder

Kontaktadressen, die sie befragen kann, wenn sie vor Problemen steht.

Sörens Meinung, der nur seiner Fächer wegen studiert, lehnt Mia vollkommen ab.

Sie hat ihr Studium insbesondere aufgrund ihres Berufswunsches, Lehrerin wer-

den zu wollen, begonnen. Dies sollte, wenn man sich für ein Lehramtsstudium

entscheidet auch immer an erster Stelle stehen. Ihr ist in erster Linie ihr späterer

Beruf an sich wichtig, danach kommt das Interesse an ihren Fächern.

Leonie:

Der zentrale Bezugspunkt von Leonies Konzept in Hinsicht auf Praxisbezug im

Studium ist das Praktikum. Dieses ist für sie die sinnvollste und wichtigste Quelle,

vor dem Einstieg in den Beruf Praxiserfahrungen zu sammeln. Das Praktikum

ermöglicht es Leonie gleichzeitig, einen Bezug zur „Wirklichkeit“, also dem Un-

terrichten in der Schule herzustellen. Theoretisches Wissen steht eher am Rande

von Leonies Subjektiver Theorie und ist in diese nicht wirklich integriert.

Das Praktikum dient Leonie zum einen, wie oben schon kurz angesprochen, dazu,

Bezug zur Praxis zu erlangen, zum anderen aber auch als Prüfinstanz für die In-

halte, die ihr im Studium vermittelt werden. Zentrale Aspekte des Praktikums an

sich sind, dass Leonie vor Ort, also in der Schule hospitieren, dass sie sich selbst

ausprobieren, aber auch dass sie den Lehrerberuf, so wie er sich tatsächlich dar-

stellt, kennen lernen kann. Anhand der Erfahrungen, die Leonie im Praktikum

sammelt, ist es ihr möglich, ihr Studium besser auf ihre berufsbezogenen Bedürf-

nisse auszurichten. So ist das Praktikum für Leonie zum Beispiel die einzige

Möglichkeit, ihre Vorannahmen, die sie aus ihrer eigenen Schulzeit über den Leh-

rer/innenberuf mitbringt, noch einmal zu überprüfen und zu revidieren. Leonie

will sich selbst als Person in Bezug auf ihre Berufseignung testen. Das Praktikum

ist so zu sagen ihr Draht zu der Berufswirklichkeit. Dabei bedeutet für sie „wirkli-

che“ Praxis, eigenständig und aktiv zu unterrichten. Die Vermittlung von Inhalten,

die Auseinandersetzung mit Schülerinnen und Schülern und ein ruhiges Verhalten

im Unterricht stellen für sie wichtige Bestandteile des eigenständigen Unterrich-

tens dar. Die „wirkliche“ Praxis findet, Leonies Meinung nach, in der Schule statt.

Page 81: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

80

So spricht sie mehrmals im Interview die Differenz zwischen Lehrinhalten und-

methoden des Studiums und der Übertragbarkeit auf die Praxis an. Im Studium

könnten so viele Unterrichtsstunden wie möglich geplant werden; diese wären

nicht hundertprozentig in der „wirklichen“ Praxis durchführbar. Interessant ist an

dieser Stelle, dass Leonie diese Ansicht nicht berücksichtigt, wenn sie Hanna nach

ihrer missglückten Unterrichtsstunde Tipps gibt. Hier erwähnt Leonie nur kurz,

dass Hanna lernen sollte, ein wenig flexibler zu sein.

Leonie erwartet also, den Lehrer/innenberuf erst zu erlernen, wenn sie „wirklich“

in der Schule tätig sein wird. Sie kritisiert den Umstand, dass sie sich im Studium

immer noch in der Schülerinnenrolle befindet, wohingegen sie im Unterricht die

Lehrerinnenrolle einnehmen muss. Sie sieht das Verhältnis zwischen Dozent/in

und Studiereden eher als ein Schüler-Lehrer-Verhältnis und wünscht sich, um

dem entgegen zu wirken, im Studium mehr Raum für eigene Aktivität, in Form

von Rollenspielen, Referaten, Moderationen und Simulationen. Leonie fühlt sich

nur zu 40 bis 50 Prozent durch das Studium auf den Beruf vorbereitet, was in ers-

ter Linie an dem beschriebenen Mangel an Unterrichtspraxis liegt. Folglich

wünscht sie sich längere und durch die Universität besser betreute Praktika.

Inhalte, die Leonie im Studium vermittelt werden, sollten in der „Wirklichkeit“,

also in der Schule Anwendung finden können. Doch die Seminare der Universität

weisen Leonies Meinung nach teilweise keinen Unterrichtsbezug bzw. Anwen-

dungsbezug auf. So sind auf der einen Seite Veranstaltungen im Rahmen des

Lehramtsstudiums zu abstrakt und nehmen einen zu allgemeinen Standpunkt ein.

Auf der anderen Seite enthalten diese Veranstaltungen jedoch auch theoretische

Aspekte, die Leonie als sehr relevant für ihren späteren Beruf einstuft und im

Praktikum anwenden konnte. Didaktische Theorien, wie zum Beispiel Wissen

über Unterrichtsplanung und –gestaltung oder Wissen über Störungen im Unter-

richt gelten für Leonie als vorbereitend für die Praxis. Daneben benötigt sie zu-

dem Fachwissen, um dieses dann später in der Praxis einsetzen zu können. Folg-

lich kritisiert sie zum einen Svenjas Aussage, in der diese behauptet, dass Studien-

inhalte in der Praxis nicht anwendbar sind. Aufgrund Leonies eigener Erfahrung

im Praktikum ist sie diesbezüglich anderer Meinung. Zum anderen wählt sie bei

der Seminarentscheidungsfrage das Seminar „Erziehung und Bildung“, weil sie

sich davon sowohl erhofft, Theorien kennenzulernen, die sie später im Beruf ein-

setzen kann, als auch durch die Exkursionen den direkten Bezug zur „Wirklich-

Page 82: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

81

keit“ zu erhalten. Zudem finden Theorien zur Unterrichtsgestaltung einen Platz in

Leonies Ordner „Hilfe für alles“.

Bis auf ihre Einschätzung des Praktikums scheint Leonie sich nicht wirklich si-

cher zu sein, welche Veranstaltungen oder Aspekte des Studiums für sie praxisbe-

zogen sind und welche nicht. Theoretische Seminare oder Vorlesungen, die sie in

einem Kontext als zu abstrakt bewertet, werden in anderen Kontexten als relevant

für die Berufspraxis bezeichnet.

Viola:

Erste Assoziationen, die Viola zum Thema Praxisbezug nennt, sind die Praxispha-

sen im Studium, Simulation und Seminare, welche ihrer Meinung nach nicht die

Schulsituation wiederspiegeln.

Viola äußert einen starken Wunsch nach mehr Praxisbezug, obwohl ihre Meinung

gleichzeitig stark geprägt ist von eher negativen Praxiserfahrungen in der Schule.

So steht im Hintergrund ihrer Theorie eine auf Grund von Praktika geprägte Er-

fahrung, dass es in der Schule bzw. im Unterricht sehr chaotisch zugeht und somit

eine regelgerechte Furcht vor dem Chaos, das sie ihrer Meinung nach später im

Beruf erwartet. Sie berichtet, dass im Praktikum Lehrer sowie Mitpraktikantinnen

nicht mit Schülerinnen und Schülern im Unterricht umgehen konnten. Obwohl sie

so ein Chaos auch im Referendariat erwartet, kann Viola sich trotzdem keinen

anderen Beruf für sich vorstellen.

Um jedoch im Referendariat, wie Viola mehrmals zum Thema Praktikum be-

merkt, nicht in kaltes Wasser geworfen zu werden, entwickelt sie ein großes Ver-

langen nach Praxisbezug. Dieser besteht zum einen aus Praxisphasen, die ihrer

Meinung nach zwar zu kurz sind, aber trotzdem die einzige Lösung darstellen, sie

ausreichend auf das spätere Berufsleben vorzubereiten. Vom Studium erwartet

sie, didaktisches Grundlagenwissen zu erhalten, bemängelt aber gleichzeitig, dass

zum Beispiel Unterrichtssimulationen in Seminaren nicht der Wirklichkeit ent-

sprechen und somit für sie an Wert verlieren. Viola wünscht sich auch im Studium

mit konkreten Situationen zu arbeiten, wobei es ihr, passend zu ihren Erfahrungen

aus dem Praktikum, besonders darum geht, wie sie mit Störungen im Unterricht

umgehen kann. Passend dazu lenkt Viola das Gespräch bezüglich der Situation, in

der Hannah sich im Fallbeispiel befindet sofort auf die Probleme und Störungen,

mit denen Hannah konfrontiert ist. Die äußeren Bedingungen stehen für Viola hier

Page 83: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

82

im Vordergrund der Betrachtung nicht die eigenen Fähigkeiten. So sollte das Stu-

dium ihrer Meinung nach eigentlich die Praxis widerspiegeln, was aber nicht der

Fall ist. Je mehr Praxis sie schon im Studium erfährt, umso mehr erwartet sie, bes-

ser auf den Beruf vorbereitet zu sein.

Vor dem Hintergrund, dass ausschließlich Praktika und didaktische Veranstaltun-

gen, die konkrete Praxissituationen zum Inhalt haben, als praxisbezogen einge-

schätzt werden, fühlt sich Viola durch das Studium nur zu 30% auf den Beruf

vorbereitet. Insgesamt bewertet sie die einzelnen Praxisbezüge, die ihr angeboten

werden, schlecht. Viele Seminare, die eigentlich praxisbezogen sein sollten ver-

fehlen ihr Ziel.

In einem extra Block, unverbunden mit ihrer restlichen Argumentation, erwähnt

Viola, dass ihr Fachwissen auch wichtig sei. So bringt sie Interesse für ihre beiden

Fächer mit, was ihre Motivation für das Studium und für rein fachwissenschaftli-

che Inhalte steigert. Dabei betont sie sehr, dass für ihren späteren Beruf ein

„Schulbuchwissen“ nicht ausreicht, sondern Grundlagenwissen und die Fähigkeit,

über dieses Wissen hinaus eigenständig weiterdenken zu können, ausschlagge-

bend sind. Obwohl sich Viola mehrmals auf diesen Gedankengang zurückbezieht,

wird dieser doch nicht weiter im Interview ausgebaut. Aus der Sicht einer Dozen-

tin besteht, passend zu dieser Meinung, eine optimale Ausbildung eines/r Leh-

rers/in bezogen auf ihre spätere Tätigkeit aus der Vermittlung von Grundlagen-

wissen und der Vermittlung von pädagogischem und didaktischem Wissen. Hier-

zu passend regt Lauras Meinung, nicht immer alles auf die Schule beziehen zu

können, einen Rückbezug zum Grundlagenwissen an. Obwohl sie den Nutzen von

Theorie erkennt, wird diese trotzdem im Vergleich zu praktischem Handlungswis-

sen abgewertet. Viola werde im Studium mit Theorie „zugemüllt“. Dies gelte be-

sonders für Seminare mit fachdidaktischem Anteil, die von Dozenten/innen gelei-

tet werden, die selbst keine Unterrichtserfahrung haben. Theorie habe für sie

nichts mit konkreten Unterrichtssituationen zu tun. So erhält im Interview allge-

mein das didaktische und das konkret an Schulsituationen gebundene Handlungs-

wissen mehr Bedeutung. Viola lehnt zum Beispiel Sörens Meinung bezüglich der

Furcht vor dem Druck, welcher sie im Referendariat erwarte, sofort ab. Mit Sven-

jas Meinung, die ebenfalls die Kürze der Praktika bemängelt und diesen eine zent-

rale Rolle im Studium zuschreibt, identifiziert sich Viola passend zu ihrer Subjek-

tiven Theorie am stärksten.

Page 84: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

83

Anhang 4: Auswertung der Kategorien „Komplexität“, „Differenziertheit“

und „Organisation“

Kategorie 1. Organisation:

Kategorie/ Interview

1.1 Aspekte von Praxisbezug

1.2 Handlungsmöglichkeiten Insgesamt

P_1_Sara 17 2 19 P_2_Kathrin 13 4 17 P_3_Nils 11 0 11 P_4_Gisela 7 0 7 P_5_Mia 9 5 14 P_6_Leonie 9 2 11 P_8_Viola 8 0 8 P_9_Evelin 9 0 9 P_10_Sven 11 3 14 Summe der unterschiedlichen Aspekte, die in allen Interviews ge-nannt werden

29

Liste aller genannten Aspekte von Praxisbezug: - Praktika. - Unterrichtssimulation in Seminaren. - Planung von Unterricht bzw. Unterrichtsreihen in Seminaren. - Problem Schulrealität bzw. -wirklichkeit in der Universität zu erzeugen. - Projekte und Übungen der Universität in Schulen. - Erziehungswissenschaft. - Didaktik. - Unterrichtsmethoden. - Über eigene Erfahrungen aus der Praxis in Seminaren sprechen. - Lehrer, die als Dozenten/innen an der Universität arbeiten und aus dem Be-

rufsalltag berichten. - Seminarinhalte sollen Anwendungsbezug in der Schule finden. - Videomitschnitte von Unterricht analysieren. - Hospitation im Unterricht. - Auseinandersetzung mit Lehrplänen. - Vorträge und Referate. - Überprüfung der Eignung für den Lehrerberuf. - Rollenspiele. - Theoretisch lernen, wie Unterricht funktioniert. - Eigene Aktivität, etwas selbst ausprobieren können. - Bezug zu Schülerinnen und Schülern in Seminaren herstellen. - SHK- und Tutorentätigkeit. - Arbeitsmaterialien aus der Schule besprechen. - Praktikumsberichte anfertigen.

Liste aller genannten Handlungsmöglichkeiten, Praxisbezug selbst herzustel-len: - Teamteaching in Seminaren durchführen, statt Referate vorzubereiten.

Page 85: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

84

- Selbst versuchen für die Praxis relevante Inhalte aus Seminaren herauszufil-tern.

- Ehrenamtliches Engagement. - Universitätsexterne Weiterbildungskurse belegen. - Hausarbeiten schreiben als Übung für das Verfassen von Unterrichtsentwür-

fen.

Page 86: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

85

Kategorie 2. Differenziertheit: Kategorie/ Interview

2.1 Abwägende Argumentation

2.2 begründete/ kausale Argumentation

2.3 Auf Erfahrung bezogene Argumen-tation

2.4 Perspektivwechsel 2.5 Floskeln Insgesamt

P_1_Sara 10 14 2 3 -5 24 P_2_Kathrin 8 9 3 4 -3 21 P_3_Nils 17 15 3 4 -12 27 P_4_Gisela 5 9 0 2 0 16 P_5_Mia 16 6 4 2 -3 25 P_6_Leonie 12 13 3 2 -3 27 P_8_Viola 12 3 4 1 -6 14 P_9_Evelin 6 5 2 1 -6 8 P_10_Sven 15 10 1 2 0 28

Page 87: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

86

Kategorie 3. Organisation: Kategorie/ Interview

3.1 Rückbezüge 3.2 Anwendung 3.3 Ungereimtheiten Insgesamt

P_1_Sara 4 6 -5 5 P_2_Kathrin 7 4 -6 5 P_3_Nils 19 11 -4 26 P_4_Gisela 5 9 -7 7 P_5_Mia 3 12 -3 12 P_6_Leonie 3 8 -3 8 P_8_Viola 7 3 -1 9 P_9_Evelin 12 12 -2 22 P_10_Sven 7 9 0 16

Page 88: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

87

Anhang 5: Beispiel einer kommunikativen Validierung

Teil 1 –Rekonstruktion der Subjektiven Theorie von Nils

Nils‘ Konzept von Praxisbezug besteht aus zwei Aspekten, die ihrerseits andere

Aspekte enthalten oder mit anderen Aspekten verbunden sind. Er betont zum ei-

nen die eigene Aktivität der Studierenden im Studium und sieht in dieser eigenen

Aktivität einen Bezug zum „wirklichen Leben“, das er im Praktikum verortet.

Zum anderen müssen Studieninhalte Anwendungsbezug haben, um praxisbezogen

zu sein. Als Inhalte, die einen Anwendungsbezug haben, erwähnt Nils vornehm-

lich das Methodenwissen. Im Verlauf des Interviews betont Nils immer wieder,

dass Studium und späterer Beruf, genauso wie erste und zweite Ausbildungsphase

oder Theorie und Praxis zwei, verschiedene Welten sind. Dies steht teilweise im

Gegensatz zu positiven Erfahrungen, die er im Studium mit der Praxis macht und

soll im Folgenden an passenden Stellen erläutert werden.

Nils verbindet den Praxisbezug des Studiums unmittelbar mit dem eigenen Aktiv-

Werden. Praxisbezug bedeutet für ihn, selbst in der Rolle des aktiv Gestaltenden

zu sein. Er kritisiert die Rolle, die die Studierenden seiner Erfahrung nach im Stu-

dium einnehmen, nämlich die eines passiven Zuschauers. Eine aktive Rolle hin-

gegen beinhaltet das Planen, Durchspielen und Reflektieren von Unterrichtsse-

quenzen. Nils will diese Teilaspekte des Unterrichtens selbst ausprobieren. Er will

sich im Unterrichten erproben und dies dann analysieren, damit er das Gelernte in

der Praxis richtig anwenden kann. Versetzt Nils sich in die Dozentenperspektive,

würde er genau dies in seinen Seminaren umsetzen. Das heißt, er würde in erster

Linie vermeiden, dass die Studierenden in eine konsumierende Haltung geraten,

was bedeutet, dass er zum Beispiel keine Vorträge halten und eher als Moderator

agieren würde. Er würde viel Gruppenarbeit mit seinen Studierenden durchführen

und sehr Methoden orientiert arbeiten. Er bezweifelt jedoch generell, dass Univer-

sitätsdozenten, die nicht selbst an der Schule unterrichtet haben und das Schulle-

ben „erfahren“ haben, Lehramtsstudenten überhaupt für die Schule ausbilden

können.

Nils versucht an dieser Stelle ein Kriterium zu finden, das klassifiziert, wann et-

was Praxisbezug ist und wann nicht. Die Kontrastbegriffe zur Praxis, etwa Theo-

rie, die er von der Praxis völlig abtrennt, bleiben bei Nils eher vage und unpräzise.

Schule und Uni sind, wie er im Praktikum gelernt hat, einfach zwei völlig ver-

Page 89: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

88

schiedene Welten. Er betont, dass dies für ihn einfach so ist und gibt an dieser

Stelle keine weitere Begründung. Die universitäre Ausbildung ist eine theoreti-

sche Phase, mit der er sich abgefunden hat. Zwar habe er mittlerweile verstanden,

dass er über ein gewisses Grundwissen verfügen muss, scheint aber nicht sehr

überzeugt davon. Er schlägt „das Erleben“ an sich als Abgrenzungskriterium der

Praxis von der Theorie vor. Dieses Kriterium passt jedoch nicht zu seiner Be-

schreibung von Praxisbezug als eigenes Aktivwerden, denn hierin ist immer auch

die theoretische Reflexion oder Analyse der Aktivität mit inbegriffen. Weiterhin

bemerkt Nils selbst, dass das Kriterium des Erlebens nicht ausreicht, denn er er-

kennt, dass er zusätzlich zu praktischen Tätigkeiten theoretische Texte ebenfalls

erlebt. Er muss nun sein Unterscheidungskriterium weiterentwickeln und kommt

zu dem Schluss, dass der Unterschied zwischen Theorie und Praxis darin besteht,

dass er sich die Theorie eigenständig aneignen kann, die Praxis jedoch nicht. Zur

Aneignung der Praxis sind bestimmte Situationen in bestimmten Institutionen, wie

der Schule, erforderlich.

Neben dem eigenen Aktivwerden findet Nils, dass die Studieninhalte anwen-

dungsbezogener sein müssten als sie es derzeit seien. Hierbei betont er ausdrück-

lich den Transfer von Wissen. Nils will in der Lage sein, das Wissen, das er im

Studium erhält, in die Praxis umzusetzen. Er möchte zum Beispiel methodisches

Rüstzeug an die Hand geliefert bekommen, womit er explizit Methoden anspricht,

die ihm helfen, Wissen an seine zukünftigen Schülerinnen und Schüler zu vermit-

teln. Dieser Wunsch nach Methoden taucht mehrmals im Interview auf. Zum Bei-

spiel würde er Hannes im Fallbeispiel raten, sich Methoden zu merken, die ihm

beim Gestalten von Unterricht helfen könnten. Nils selbst hat sich bereits einen

Methodenordner angelegt, in dem er übergreifendes Wissen, sammelt das ihm im

Alltag mit den Schülerinnen und Schülern hilft. Der Anwendungsbezug der Studi-

eninhalte wird seiner Ansicht nach besonders gut in Seminaren vermittelt, die von

Dozenten/innen geleitet werden, die selbst Lehrer/innen waren oder es noch sind.

Nils schätzt die Vorbereitung auf den Beruf durch das Studium auf 55 bis 60 Pro-

zent ein. Er findet, dass sich die Institutionen Universität und Schule zu sehr un-

terscheiden, als dass die Universität wirklich auf den Beruf vorbereiten könnte.

Manche Aspekte der Berufsvorbereitung, die dabei von Bedeutung sind, wie Un-

terrichtsstörungen, Migrationsproblematik oder Klassenleitung, sind an den Ort

„Schule“ gebunden. Außerhalb der Schule ist es laut Nils schwer, mit diesen

Page 90: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

89

Problematiken in Berührung zu kommen. Hiermit spricht er die Zwei-Welten-

Problematik noch einmal an. Zu dieser Meinung steht jedoch seine eigene Erfah-

rung in Sport-Praxis-Seminaren im Widerspruch. Obwohl er in diesen Seminaren

nach eigener Aussage viel Praxisbezug erlebte, ist Nils der Meinung, dass in der

Universität überwiegend Theorie vermittelt wird. Hier deutet sich wiederum das

Zwei-Welten-Bild an. Nils ordnet der Universität und somit der ersten Ausbil-

dungsphase die Theorievermittlung zu und der Schule, also der zweiten Ausbil-

dungsphase, die „wirkliche“ Praxisvermittlung.

So sieht Nils zum Beispiel das Praktikum auch als Überprüfungsinstanz an, wenn

es darum geht, den Praxisbezug aber auch die Effektivität des Studiums einzu-

schätzen und zu messen. Anhand von Erfahrungen aus dem Praktikum weiß Nils,

dass er viel Wissen aus der Universität nicht mehr benötigen wird. Passend zu

dieser Meinung stimmt Nils auch dem Zitat von Svenja zu, die betont, dass sie in

vier Wochen Praktikum mehr lernt als in einem Semester Studium.

• Erkennen Sie sich selbst in dieser Darstellung wieder?

• Wenn nicht, kommentieren Sie bitte die Stellen, von denen Sie mei-

nen, sie passen nicht zu ihrer Meinung und ergänzen Sie gegebenen-

falls.

Page 91: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

90

Teil 2 - Typenzuordnung

Praxisbezug durch den Erwerb direkten Anwendungswissens

Die ideale Praxisvorbereitung besteht für die Vertreter dieser Gruppe darin, daß

direkt anwendbares Wissen erlernt wird und Erfahrungen mit konkreten berufs-

praktischen Tätigkeiten (z. B. Erstellen von Unterrichtsverlaufsplänen, Umgang

mit Unter-richtsstörungen) ermöglicht werden. Fachinhalte interessieren meist nur

insoweit, als sie in den Lehrplänen vorkommen, weswegen das fachliche Studium

als viel zu weit kritisiert wird. Die Studierenden schätzen sowohl Praktika als

auch Seminare abgeordneter Lehrer sehr und bewerten sie oft als die einzigen

Möglichkeiten, sich auf den Lehrerberuf vorzubereiten. Bei einigen Vertretern

überwiegen kurze, oft floskelhafte Argumente, und Kritik wird geübt, ohne ver-

schiedene Faktoren miteinander abzuwägen oder verschiedene Sichtweisen einzu-

nehmen.

Praktisches Handeln auf der Basis fachwissenschaftlicher und praxisbezoge-

ner Ausbildung

Für diese Gruppe ist die ideale Praxisvorbereitung im Studium, zu lernen, (fach-)

wissenschaftliche Erkenntnisse auf die Praxis zu beziehen, das heißt auf der Basis

wissenschaftlicher Erkenntnis handeln zu können. Eine Stärkung der praxisbezo-

genen Komponenten im Studium wird gewünscht, dies aber nicht losgelöst von

ihren theoretischen Fundamenten. Die vorhandenen Bezüge zur Praxis kritisieren

sie als nicht hinreichend und oft oberflächlich. Einige von ihnen zeigen großes

fachwissenschaftliches Interesse. Viele Vertreter dieser Gruppe argumentieren

inhaltlich und formal differenziert, neigen zu einem vorsichtigen und abwägenden

Begründungsstil, beziehen verschiedene Perspektiven ein und reflektieren stärker.

• Sie haben wir der ersten Gruppe zugeordnet

• Stimmt die Gruppenzuordnung für Sie? Haben wir etwas übersehen?

Möchten Sie etwas ergänzen?

Page 92: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

91

Anhang 6: CD-Rom mit Transkribten der Interviews und kommunikativen

Validierungen

Page 93: Strukturen und Strukturveränderungen Subjektiver Theorien ... · „Im Referendariat kann ich erst einmal den Reset-Knopf drücken, denn das, was ich bis jetzt hier an die Uni gelernt

92

Eidesstattliche Erklärung:

Ich versichere, dass ich diese Arbeit in der vom Landesprüfungsamt festgesetzten

Bearbeitungszeit selbstständig verfasst und keine anderen Quellen und Hilfsmittel

als die angegebenen benutzt habe. Die Stellen der Arbeit, die anderen Werken

dem Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen sind, habe ich in jedem einzelnen

Fall unter Angabe der Quelle als Entlehnung kenntlich gemacht. Das Gleiche gilt

auch für Zeichnungen, Kartenskizzen und Darstellungen.

Datum Unterschrift