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1 „Streuselschnecke“ von Julia Franck (2000) Die Kurzgeschichte „Streuselschnecke“ von Julia Franck aus dem Jahr 2000 schildert den bewegenden Verlauf einer Vater-Tochter-Beziehung aus der Sicht eines Trennungskindes, deren Thematik insbesondere im Hinblick auf die kontinuierlich steigenden Scheidungsraten und die Zunahme Alleinerziehender sowie sogenannter „Patchworkfamilien“ als moderne Familienformen der heutigen Gesellschaft hohen Aktualitätsgehalt aufweist. Sie handelt von einem jungen Mädchen, das seit ihrem dreizehnten Lebensjahr nicht mehr zuhause –bei ihrer Mutter und ihren Schwestern–, „sondern bei Freunden in Berlin“ (Z.2) lebt und bereits früh lernen musste, eigenständig zurechtzukommen und „für [sich] selbst [zu] sorgen“ (Z.16-17): Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie nach der Schule durch Putzen und „als Kindermädchen“ (Z.17-18). Im Alter von 14 Jahren erreicht sie plötzlich ein Anruf eines Mannes mit einer „fremde[n] Stimme (Z.2-3), der sie kennenlernen und sich mit ihr verabreden möchte. Daraufhin folgen mehrere Treffen zwischen den beiden in einem Café, im Kino sowie in einem Restaurant, wo er sie seinen Freunden vorstellt. Außerdem darf sie ihm „einige Male“ [...] „bei seiner Arbeit“ (Z.12) als Drehbuchautor und Filmregisseur zusehen. „Zwei Jahre später“ (Z.19-20), als sie sich trotz alledem „noch immer etwas fremd“ (Z.20) waren, teilt der Mann ihr mit, dass er „krank“ (Z.21) ist. Während des folgenden Jahres verschlechtert sich sein gesundheitlicher Zustand stark und sie besucht ihn regelmäßig im Krankenhaus. In seiner Verzweiflung gesteht er ihr seine Todesangst und bittet sie, „ihm Morphium [zu] besorgen“ (Z.23). Obwohl sie anfangs darüber nachdenkt, ob einer ihrer Drogen konsumierender Freunde ihr das Morphium beschaffen könnte, geht sie auch auf seine wiederholte Nachfrage nicht auf seine Bitte ein und backt ihm stattdessen „zwei Bleche voll[er]“ Streuselschnecken (Z.31). Kurze Zeit vor seinem Tod offenbart der Mann ihr, dass er gerne mit ihr zusammen gelebt hätte, doch dass er diese Gelegenheit, in der Annahme, dafür wäre „eines Tages“ (Z.33) noch Zeit, nun verpasst hat. Drei Jahre nachdem die beiden sich kennengelernt haben –„kurz nach [ihrem] siebzehnten Geburtstag“ (Z.34)–, stirbt er schließlich. Auf der Beerdigung des Mannes, der sich erst am Ende der Geschichte als der Vater des Mädchens herausstellt, erscheint außer ihr noch ihre „kleine Schwester“ (Z.35), während die Mutter dieser fernbleibt. Sowohl an der Kürze und dem überwiegend kurzen, parataktischen Satzbau, der einen einfachen, umgangssprachlichen Sprachstil verkörpert und sich auf das Wesentliche beschränkt, als auch an dem unvermittelten Beginn –eingeläutet durch den Anruf des fremden Mannes, wodurch der Leser sofort in das Geschehen einbezogen wird– ist zu erkennen, dass es sich bei der „Streuselschnecke“ um die Textgattung der Kurzgeschichte handelt. Des Weiteren wurde das Handlungsgeschehen mit dem Zeitraum, in dem das Mädchen nach 14 Jahren erstmals auf ihren leiblichen Vater trifft und ihn bereits drei Jahre später auf tragische Weise wieder verliert, auf einen Augenblick verdichtet, der für die beiden dargestellten Figuren von besonderer Bedeutung ist, wobei das Mädchen und ihr Vater als die beiden Hauptfiguren der Geschichte durch den wiederholten Einsatz der Personalpronomen „ich“ und „er“ –insbesondere in der Verwendung als Anapher– hervorgehoben werden.

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Page 1: „Streuselschnecke“ von Julia Franck ( î ì ì ì) · 1 „Streuselschnecke“ von Julia Franck ( î ì ì ì) Die Kurzgeschichte „Streuselschnecke“ von Julia Franck aus dem

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„Streuselschnecke“ von Julia Franck (2000) Die Kurzgeschichte „Streuselschnecke“ von Julia Franck aus dem Jahr 2000 schildert den bewegenden Verlauf einer Vater-Tochter-Beziehung aus der Sicht eines Trennungskindes, deren Thematik insbesondere im Hinblick auf die kontinuierlich steigenden Scheidungsraten und die Zunahme Alleinerziehender sowie sogenannter „Patchworkfamilien“ als moderne Familienformen der heutigen Gesellschaft hohen Aktualitätsgehalt aufweist. Sie handelt von einem jungen Mädchen, das seit ihrem dreizehnten Lebensjahr nicht mehr zuhause –bei ihrer Mutter und ihren Schwestern–, „sondern bei Freunden in Berlin“ (Z.2) lebt und bereits früh lernen musste, eigenständig zurechtzukommen und „für [sich] selbst [zu] sorgen“ (Z.16-17): Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie nach der Schule durch Putzen und „als Kindermädchen“ (Z.17-18). Im Alter von 14 Jahren erreicht sie plötzlich ein Anruf eines Mannes mit einer „fremde[n] Stimme (Z.2-3), der sie kennenlernen und sich mit ihr verabreden möchte. Daraufhin folgen mehrere Treffen zwischen den beiden in einem Café, im Kino sowie in einem Restaurant, wo er sie seinen Freunden vorstellt. Außerdem darf sie ihm „einige Male“ [...] „bei seiner Arbeit“ (Z.12) als Drehbuchautor und Filmregisseur zusehen. „Zwei Jahre später“ (Z.19-20), als sie sich trotz alledem „noch immer etwas fremd“ (Z.20) waren, teilt der Mann ihr mit, dass er „krank“ (Z.21) ist. Während des folgenden Jahres verschlechtert sich sein gesundheitlicher Zustand stark und sie besucht ihn regelmäßig im Krankenhaus. In seiner Verzweiflung gesteht er ihr seine Todesangst und bittet sie, „ihm Morphium [zu] besorgen“ (Z.23). Obwohl sie anfangs darüber nachdenkt, ob einer ihrer Drogen konsumierender Freunde ihr das Morphium beschaffen könnte, geht sie auch auf seine wiederholte Nachfrage nicht auf seine Bitte ein und backt ihm stattdessen „zwei Bleche voll[er]“ Streuselschnecken (Z.31). Kurze Zeit vor seinem Tod offenbart der Mann ihr, dass er gerne mit ihr zusammen gelebt hätte, doch dass er diese Gelegenheit, in der Annahme, dafür wäre „eines Tages“ (Z.33) noch Zeit, nun verpasst hat. Drei Jahre nachdem die beiden sich kennengelernt haben –„kurz nach [ihrem] siebzehnten Geburtstag“ (Z.34)–, stirbt er schließlich. Auf der Beerdigung des Mannes, der sich erst am Ende der Geschichte als der Vater des Mädchens herausstellt, erscheint außer ihr noch ihre „kleine Schwester“ (Z.35), während die Mutter dieser fernbleibt. Sowohl an der Kürze und dem überwiegend kurzen, parataktischen Satzbau, der einen einfachen, umgangssprachlichen Sprachstil verkörpert und sich auf das Wesentliche beschränkt, als auch an dem unvermittelten Beginn –eingeläutet durch den Anruf des fremden Mannes, wodurch der Leser sofort in das Geschehen einbezogen wird– ist zu erkennen, dass es sich bei der „Streuselschnecke“ um die Textgattung der Kurzgeschichte handelt. Des Weiteren wurde das Handlungsgeschehen mit dem Zeitraum, in dem das Mädchen nach 14 Jahren erstmals auf ihren leiblichen Vater trifft und ihn bereits drei Jahre später auf tragische Weise wieder verliert, auf einen Augenblick verdichtet, der für die beiden dargestellten Figuren von besonderer Bedeutung ist, wobei das Mädchen und ihr Vater als die beiden Hauptfiguren der Geschichte durch den wiederholten Einsatz der Personalpronomen „ich“ und „er“ –insbesondere in der Verwendung als Anapher– hervorgehoben werden.

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Die Alltäglichkeit der Thematik mit der Trennung der Eltern und der Schwierigkeit, trotzdem weiter zu zweit für die Kinder da zu sein, stellt außerdem ein weiteres charakteristisches Merkmal dar. Allerdings besitzt die „Streuselschnecke“ kein offenes Ende –wie es für eine Kurzgeschichte typisch wäre–, sondert schließt mit dem Tod des Mannes und der Aufklärung seiner Identität als Vater der Tochter mit einem überraschenden, aber geschlossenen Ende ab. Die gleichermaßen für eine Kurzgeschichte charakteristische Wiedergabe des inneren Geschehens der Figuren, beispielsweise durch erlebte Rede oder innere Monologe, fehlt ebenso. Hiermit sowie durch die Verwendung der indirekten Rede und das Mittel der Zeitraffung, wobei die Erzählzeit deutlich kürzer als die insgesamt drei Jahre umfassende erzählte Zeit ist, schafft Julia Franck seitens des Lesers Distanz zur dargestellten Handlung. Inhaltlich bleiben unter anderem die Gründe für den Auszug des Mädchens sowie die Ursache, weshalb ihr Vater sich in den ersten 14 Jahren ihres Lebens nicht um sie gekümmert hat und welche Beweggründe ihn letztendlich doch dazu bewogen haben, Kontakt zu ihr aufzunehmen, offen. –Möglicherweise wusste er bereits von seiner schweren Erkrankung und wollte die letzte Gelegenheit nutzen, seine Tochter kennenzulernen. Des Weiteren ist ungewiss, ob der Vater Kontakt zu ihren beiden Schwestern hatte, wobei zu vermuten ist, dass auch zur jüngeren Schwester, die ebenfalls auf der Beerdigung des Vaters erschien, Kontakt bestand. Abgesehen von wenigen Details, wie der Ortsangabe des „Café Richter am Hindemithplatz“ (Z.8) in Berlin, in das der Vater sie einlädt sowie die Angabe über den Kinofilm, der „von Rohmer“ (Z.8-9) stammt, ist die Kurzgeschichte durchgehend sehr allgemein gehalten. Da die Handlungsfiguren allesamt keine Namen erhalten und anonym bleiben, liegt nahe, dass die Autorin Julia Franck mit ihrer Geschichte die Betonung hierbei nicht nur auf ein Einzelschicksal legen möchte, sondern auch eine allgemeingültige Intention an die Leser aussprechen möchte. Die Kurzgeschichte wird durchgängig in der Ich-Form und der personalen Erzählperspektive aus der Sicht des jungen Mädchens wiedergegeben, wodurch der Leser die Geschehnisse ausschließlich durch den subjektiv begrenzten Blickwinkel des jungen Mädchens wahrnimmt. Die Handlung wird dabei in einer chronologischen Rückschau im Präteritum geschildert, wobei es sich jedoch um einen nüchternen, sachlichen Erzählstil handelt, der keinerlei Einblick in das Innenleben des Mädchens gewährt. Durch die neutrale, scheinbar teilnahmslose Erzählhaltung ist der Leser frei in seinen Gefühlen und darin, die Geschichte auf sich wirken zu lassen. So scheint er oftmals die eigentlich in der jeweiligen Situation angebrachten, jedoch unterdrückten bzw. verschwiegenen Gefühle des Mädchens in Form von Befremden und gleichzeitiger Empörung bei sich selbst zu spüren: Beispielsweise an der Stelle, als das Mädchen erläutert, dass sie sich nicht traut, ihren Vater nach Geld zu fragen und den ihr nicht nur rechtlich, sondern auch moralisch zustehenden Anspruch auf Unterstützung und Unterhalt damit abtut, dass sie ihn kaum kennt –gipfelnd in der rhetorischen Frage: „Was sollte ich da schon verlangen?“ (Z.16). Auch als der Vater sie in seiner Verzweiflung darum bittet, Morphium zu besorgen, um ihm einen schnellen Tod zu ermöglichen, was bei einem sechzehnjährigen Mädchen in der Regel ein Gefühlschaos aus Angst, Mitgefühl und Verzweiflung zugleich hervorrufen müsste, stellt sie eine nüchterne Überlegung der Konsequenzen an, die den Leser zur Fassungslosigkeit treibt. Darüber hinaus

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wird ihren Gedanken durch die Verwendung der Anapher „Ich“ und den hieran gekoppelten Parallelismus „Ich dachte nach, ich hatte einige Freunde, die Drogen nahmen“ (Z.24-25) sowie die darauf folgende Inversion „Auch war ich mir nicht sicher, ob die im Krankenhaus herausfinden wollten und würden, woher es kam.“ (Z.25-26) zusätzlich Nachdruck verliehen. Ihre Äußerung, sie habe die Bitte ihres Vaters vergessen und darauf wiederum folgend die trockene, völlig gefühllose Aufzählung „Er fragte nach dem Morphium und ich fragte ihn, ob er sich Kuchen wünsche“ (Z.27-28), als Reaktion auf die wiederholte Bitte des Vaters, erwecken seitens des Lesers zusätzliches Unverständnis sowie Zweifel an der Glaubwürdigkeit ihrer Aussagen. Es ist zu vermuten, dass hierin in Wirklichkeit das Verdrängen der Todesangst des Vaters und der Tatsache, dass er bald sterben wird, zu erkennen ist. Auch das Backen der Streuselschnecken ist zusätzlich zum Liebesbeweis als Geste der Wiedergutmachung und zur eventuellen Beruhigung ihres schlechten Gewissens zu deuten, da sie ihrem Vater die „Angst vor dem Tod“ (Z.22) nicht ersparen kann und die Bitte nach Morphium verweigern muss. In ihrer Schilderung erweckt die Kurzgeschichte zuerst den Eindruck einer dubiosen Liebesgeschichte zwischen einem jungen Mädchen und einem älteren Mann. Dieser Anschein wird neben der Verabredung mit einem Fremden, über den der Leser bis zum Schluss völlig im Unklaren gelassen wird, scheinbar durch die Äußerung des Mädchens, „schon viel über solche Treffen gehört“ (Z.5) zu haben sowie durch ihr „Unbehagen“ (Z.6) bekräftigt. Außerdem schminkt sie sich für ihre Verabredung und die Treffen finden in einem Café, im Kino sowie im Restaurant statt, wodurch sich der Leser zudem in seinem Bild bestätigt sieht. Des Weiteren wird der Eindruck weiter untermauert, als das Mädchen davon spricht, für die Treffen Geld zu erwarten. An dieser Stelle keimt sogar kurzzeitig der Verdacht auf, der Mann habe schlechte Absichten oder es handle sich um einen Freier. Nachdem er ihr jedoch „eher schüchtern“ (Z.9) entgegentritt, sie auch nicht bedrängt und sie außerdem kein Geld von ihm erhält sowie im Folgenden erläutert, dass sie finanziell bereits für sich selbst sorgen kann, schwinden diese Befürchtungen wieder. Das Trugbild wird erst durch die Pointe ganz am Ende in der letzten Zeile –und auch hier nur in einem indirekten Hinweis– revidiert, aus der erstmals hervorgeht, dass es sich bei dem älteren Mann nicht etwa um einen Liebhaber, sondern um den Vater des Mädchens handelt. Durch diese völlig überraschende Wendung erscheint die Geschichte plötzlich in einem völlig anderen Blickwinkel und der eigentliche Handlungszusammenhang erschließt sich dem Leser erst ganz zum Schluss: Anstelle einer obskuren Liebesbeziehung offenbart sich nun das Bild einer dramatischen Vater-Tochter-Beziehung mit einem erschütternden Ende. Das anfängliche Unbehagen des Mädchens stellt sich hierdurch als Unsicherheit vor dem erstmaligen Aufeinandertreffen mit ihrem Vater heraus, da sie bereits von anderen –möglicherweise von Freunden, deren Eltern ebenfalls getrennt leben– Erzählungen gehört hat, dass „solche Treffen“ (Z.5) vermutlich oftmals unbeholfen und schweigsam ablaufen. Das Schminken, wodurch der Leser zunächst auf eine falsche Fährte gelockt wird, lässt sich nun nicht mehr als Zurechtmachen für den Geliebten deuten, sondern als Zeichen der Bemühung und der Sorge, einen guten Eindruck bei ihrem Vater zu hinterlassen, wobei sich

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ihr anfängliches „Unbehagen“ (Z.6) als unbegründet herausstellt, da der Vater ihr sympathisch ist und ganz leger in „Jeans“ (Z.7) erscheint. Auch die Verabredungen im Café, Kino und Restaurant erscheinen nun in einem völlig anderen Licht. Außerdem scheint sich das ironische, zunächst suspekt erscheinende Lächeln des Vaters vor seinen Freunden während ihres Treffens im Café, das durch eine Inversion (Z.10-11) zusätzlich verstärkt wird, aufzuklären, da die Freunde vermeintlich in der Annahme gelassen werden, bei dem jungen Mädchen handle es sich nicht um die Tochter, sondern um seine jüngere Freundin. Durch das von Julia Franck bewusst gewählte neutrale Erzählverhalten wirkt das Mädchen insbesondere zu Beginn der Geschichte emotional abgestumpft und sie scheint sowohl zur Mutter, als auch zu ihren Schwestern und ihren Freunden nur oberflächliche, distanzierte Beziehungen eingehen zu können. Hierfür spricht außerdem, dass ihr Vater ihr nach zwei Jahren regelmäßiger Treffen noch immer fremd erscheint und auch der Vater ihr gegenüber nicht erwähnt, woran er erkrankt ist. Die Fähigkeit einer tiefer gehenden Beziehung zu ihrem Vater entwickelt sich nur sehr langsam und sie kommt ihm erst näher, als sie erkennt, dass ihre gemeinsame Zeit bald enden wird. Ihr grundlegendes Misstrauen und die damit einhergehende, zu ihrem Eigenschutz errichtete, emotionale Distanz zu ihren Kontakten könnte möglicherweise als eine Reaktion auf die Enttäuschung über die lange Abwesenheit ihres Vaters sowie aufgrund des ebenfalls eher gefühlskalt erscheinenden Charakters ihrer Mutter entstanden sein, die vermutlich oftmals viel beschäftigt war, sodass ihre Töchter weitestgehend auf sich alleine gestellt waren. Dies wird besonders darin ersichtlich, dass die Mutter des Mädchens weder am Tod des Vaters, noch an der Trauer der Töchter Anteilnahme zeigt. Während sich aufseiten des Lesers an dieser Stelle Empörung und Wut breitmacht, scheint das Mädchen sich bereits mit dem Verhalten ihrer Mutter abgefunden zu haben und versucht ihr Fernbleiben von der Beerdigung dadurch zu entschuldigen, dass sie wohl „mit anderem beschäftigt“ (Z.36) war und ihren Vater zudem „zu wenig gekannt und nicht geliebt“ (Z.37) hatte. Im Umkehrschluss gibt das Mädchen an dieser Stelle durch ihr Erscheinen an der Beerdigung preis, dass sie hingegen ihren Vater kennen- und durchaus auch lieben gelernt hat. Das Symbol der „Streuselschnecke“ (Z.30), das als zentrales Motiv der Kurzgeschichte bereits zu Beginn im Titel erscheint, kann unter dem Gesichtspunkt der gemächlichen Fortbewegungsweise einer Schnecke für die gleichermaßen im Schneckentempo voranschreitende Entwicklung der Vater-Tochter-Beziehung stehen: Nachdem der Vater ihr bei ihrer ersten Begegnung zunächst zwar nicht „unsympathisch“ (Z.9), sondern „eher schüchtern“ (Z.9) erschien und auch nach zwei Jahren „noch immer etwas fremd“ (Z.20) war, lernten sie sich erst näher kennen, als das Mädchen von seiner schweren Krankheit erfuhr, sodass sich aus der anfänglichen Fremdheit gegen Ende eine zunehmende Vertrautheit entwickelte und sie in scheinbar selbstverständlichem Ton anmerkt: „Schließlich wusste ich, wie gern er Torte aß.“ (Z.28-29). Auch aufseiten des Vaters scheint sich ein Verbundenheitsgefühl entwickelt zu haben, da er ihr kurz vor seinem Tod anvertraut, dass er „gerne versucht“ (Z.32-33) hätte, mit ihr zusammenzuleben und bereut, es so lange aufgeschoben zu haben, sie kennenzulernen. Sein Bedauern und der damit indirekt einhergehende Wunsch, dass seine Tochter ihm verzeiht, wird durch den mit einer Anapher verknüpften Parallelismus „Er sagte, er hätte gerne mit mir gelebt, [...], er habe immer gedacht, dafür sei noch Zeit [...]“ (Z.32-33) zusätzlich verdeutlicht.

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Des Weiteren kann die „Streuselschnecke“ auch als Zeichen für die zum Ende hin entstandene Zuneigung und Liebe aufseiten der Tochter gegenüber ihrem im Sterben liegenden Vater verstanden werden, die sowohl dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie ihn in einer für ihn sehr schweren, von Schmerzen und Todesangst geprägten Zeit nicht alleine lässt, als auch durch das Backen „zwei[er] Bleche voll[er]“ „Streuselschnecken“ (Z.31). Diese waren sogar noch warm, „als [sie] sie ins Krankenhaus brachte“ (Z.31-32) –ein Zeichen dafür, dass sie ihn nicht lange warten lassen möchte und wie viel ihr Vater ihr mittlerweile bedeutete. Zudem könnte die in sich gewundene Schnecke symbolisch die Geborgenheit verkörpern, nach der sich das Mädchen tief in ihrem Inneren sehnt. Gleichzeitig drückt sie jedoch auch ihre Schneckenhaushaltung aus, da sie sich emotional wie eine Schnecke in ihr Haus, das als Panzer vor Verletzungen und eventuellen Enttäuschungen schützen soll, zurückgezogen zu haben scheint. Ein weiterer möglicher Aspekt, den die „Streuselschnecken“ darstellen, sind „die einfachen Dinge“ (Z.29) des Lebens, die der Vater in diesem Augenblick der Torte, seines bis dahin bevorzugten Lieblingsgebäcks –möglicherweise stellvertretend für die materiellen und eindrucksvolleren Dinge des Lebens –, vorzieht. Julia Franck spricht mit ihrer Geschichte den Appell aus, jeden Tag so zu leben, als wenn es der letzte wäre und wichtige Dinge nicht aufzuschieben, da es eines Tages zu spät sein könnte und sich auf die einfachen, im Rahmen des Alltagstrott vielleicht selbstverständlich erscheinenden Dinge des Lebens –wie eine Familie zu haben, die einem Halt und Liebe schenken kann–, zu besinnen. In Bezug auf die dargestellte Vater-Tochter-Beziehung möchte Julia Franck möglicherwiese auch auf den Umstand anspielen, dass immer mehr Kinder ohne ihren leiblichen Vater aufwachsen oder ihn nur selten sehen können: In Deutschland geht etwa jede dritte Ehe in die Brüche und jedes fünfte Kind wächst bei nur einem Elternteil auf, was besonders für die Kinder weitreichende Folgen haben kann. Sie bleiben oftmals auf der Strecke und tragen nicht selten seelische Schäden davon, da sie nicht nur die Trennung der Eltern an sich verkraften müssen, sondern sich auch in der Folgezeit oftmals mit den neuen Partnern ihrer Eltern arrangieren müssen. Nach: http://www.lernzentrum-killesberg.de/wp-content/uploads/2014/03/InterpretationeinerKurzprosa.doc