Sokrates

- Bildung als Bewegung von innen – Bedürfnisse und Sinn- Erklärung des Sokrates zum Wichtigsten seiner Hebammenkunst

- Sokratische Grundsätze

Universität Koblenz-Landau Institut für Pädagogik

Modul P4(4) 2: Aneignunsgprozesse im bio-psycho-sozialen Zusammenhang – Inklusion Dozentin: Frau Dr. Jutta Lütjen

Referenten: Anna Krasovskij, Daniel Richter, Simon Wolf

Bildung als Bewegung von innen –Bedürfnisse und Sinn

Bildung von innen?!

Sokrates zum Wichtigsten seiner Hebammenkunst

Dialog

▪ „Das Wichtigste an meiner Kunst ist jedoch die Fähigkeit mit allen Mitteln zu prüfen, ob die Überlegungen des jungen Mennes ein bloßes Trugbild und etwas Falsches herausgebracht hat oder etwas Lebenskräftiges und Wahres“– seine Unterscheidungsfähigkeit – das er alle Mittel kennt, die notwendig sind, sein Gegenüber einschätzen

zu können

▪ „Und dabei lernen sie offensichtlich nie auch nur irgendetwas bei mir“– Sokrates stülpt seinen Gesprächspartnern keine eigenen Gedanken über

Dialog

▪ „[…] sondern finden selber viele hervorragende Wahrheiten bei sich heraus und bringen sie hervor“– Sokrates traut seinen Gesprächspartnern zu, hervorragende Wahrheiten

selbst gebären zu können

▪ „Urheber […] jedoch sind der Gott und ich“– Verantwortlichkeit: Erkenntnisakte initiieren– Gibt Hilfestellung beim Geburtsprozess

▪ „Sie haben nämlich Wehen und bei Tag und Nacht lauter Beschwerden, weit mehr noch als die Frauen“– Nimmt Schmerzen nicht aus falschen Mitleid ab, wenn sie notwendig

sind

Dialog

▪ „Mit meiner Kunstfertigkeit nun kann ich ihre Wehen hervorrufen oder mildern“– Wehen sind unvermeidlich und notwendig

▪ „Für einige von ihnen jedoch, Theätet, die mir noch nicht schwanger zu sein scheinen und von denen ich merke, dass sie meine Dienste nicht benötigen, bin ich recht gerne Ehestifter und ich finde […] ziemlich gut heraus, wessen Umgang ihnen wohl nützen könnte“– Arrangiert Lernatmosphäre– Lernt Gegenüber kennen um herauszufinden, was er benötigt

Dialog

▪ „Vertraue dich also mir an“– Ermutigt Gesprächspartner zum Vertrauen durch eigenes

Selbstvertrauen

▪ „Und versuche, meine Fragen so gut es geht, zu beantworten“– Mäeutische Fragen statt Dogmen

Dialog

▪ „Wenn ich bei meiner Prüfung etwas von deinen Behauptungen für ein Trugbild und nicht für wahr halte und es daher ohne weiteres Aufsehen bei Seite schaffen und wegwerfe, dann werde nicht zornig wie erstgebärende Frauen wegen ihrer Geburten. Denn schon viele, mein Lieber, waren so wütend auf mich, dass sie mich am liebsten sogar gebissen hätten, wenn ich sie von irgendeinem Unsinn befreit hatte. […] vielmehr darf ich auf keinen Fall etwas falsches durchlassen.“– Radikale Trugbilder beseitigen

Dialog

▪ „Sie glauben nämlich nicht, dass ich sie so behandle, weil ich es gut mit ihnen meine; denn sie verkennen völlig […], dass auch ich derartiges nicht aus Böswilligkeit tue“– Sokrates handelt aus Sorgfalt

▪ „Vielmehr darf ich auf keinen Fall […] etwas wahres verwerfen“– Würdigt die Erkenntnisse des Gegenüber

▪ „Versuche also von neuem zu bestimmen, was Wissen ist, Theätet. Dass du es aber nicht kannst, solltest du niemals sagen. Denn mit Gottes Hilfe und wenn du nur mutig bist, wirst du dazu im Stande sein“– Prozesshaftigkeit und Änderungsbereitschaft als Bedingung für neue Erkenntnisse

Sokratische Grundsätze

Sokratische Grundsätze im Umgang mit Klienten

1. Einlassen auf den Schüler

▪ Schüler (Menon) möchte Wissen ob Tugend lehrbar oder durch Übung zu erlangen ist.

2. Gleichberechtigter Forschungsdialog mit dem Schüler

▪ „Ich aber weiß nicht nur nicht, ob sie lehrbar oder nicht lehrbar ist, sondern befinde mich selbst darüber in völliger Unwissenheit, was Tugend überhaupt ist“

– Sokrates fragt mehr, als dass er feststellt

– Schüler ist gleichwertiger Gesprächspartner, der genau wie er an der Lösung der Probleme arbeitet

3. Begleitung bei dem Prozess des Suchens von der Meinung zum Wissen

▪ „Wir stehen, mein Bester, tatsächlich inmitten einer äußerst schwierigen Untersuchung. Denn dies ,Sichdarstellen´ und ,Scheinen´, und doch nicht ,Sein´, und dies ,etwas sagen und damit doch nicht die Wahrheit sagen´, alles das birgt eine Fülle von Schwierigkeiten in sich“

– Rolle des Lehrers ist die Begleitung zu wahrem wissen um den Schüler vor Enttäuschungen und schlechten Erfahrungen zu schützen

4. Vorbereiten auf das Leben

▪ „Müssen wir nicht erwarten, dass es noch eine solche Kunst gibt, eine Kunst nämlich, durch welche es möglich ist, die jungen, mit ihrer Wirklichkeit der Dinge noch völlig unbekannten Leute […] durch Reden zu täuschen […] und dadurch den Schein erzeugen, als wäre das Gesagte wirkliche Wahrheit, und als wäre der Redende unbedingt der in jeder Beziehung allerweiseste Mann?“

– Werden Schüler getäuscht finden sie keine Lebenshilfe und stoßen später auf die harte Wirklichkeit, welche eine bitte Leidenszeit mit sich bringt

– Schüler bei seinen gemachten Erfahrungen abholen um Basiskompetenzen zu entwickeln

– Entdeckend lernen lassen statt Wissen einzutrichtern

5. Heranführen an das zu Lernende ohne Leiden

▪ „Daher wollen wir alle hier es versuchen und versuchen es jetzt schon, dich ohne jene Leidensschule an die Dinge heranzuführen“

6. Vertrauen in die Fähigkeit des Schülers durch Aufforderung zur Mitarbeit

▪ „Mein Gedächtnis ist nicht besonders stark, mein Menon; ich kann also im Augenblick nicht sagen, was ich damals für einen Eindruck hatte, aber vielleicht weiß nicht nur er, sondern auch du Bescheid über das, was er sagte. Frische also meine Erinnerung darüber auf, wie er sich äußerte. Oder, wenn es die recht ist, gib selbst Auskunft“

– Der Schüler kann nicht nur Fragen stellen, sondern kann im Lern-und Suchprozess auch eigene Denkweisen beisteuern

7. Anknüpfung an das, was der Schüler schon weiß

▪ Sokrates holt den Schüler da ab wo er steht

▪ Wirkliche Bildung meint die Persönlichkeit des Schülers und berührt die Seele – Lehrer bittet den Schüler zu sagen was er aus seiner Lebenswirklichkeit weiß und gesteht ein, dass er dieser bezüglich unwissend ist.

8. Dem Schüler Mut verleihen, eigene Gedanken zu äußern

▪ „Ein derartiges Verhalten verleiht dem Schüler Mut, um mitzuarbeiten, so dass er nicht nur Fragen stellt, sondern auch eigene neue Denkweisen beisteuern versucht“

– So kann der Schüler Erkenntnisse gewinnen

9. Wirklichkeitsdurchdringung durch Argumente, die begründet sind

▪ „Deshalb müssen wir jetzt den Mut haben gegen den väterlichen Satz anzukämpfen oder die Sache überhaupt aufzugeben, wenn eine gewisse Zaghaftigkeit von solchen Unternehmen abhält“

– Sokrates will, dass der Schüler die Wirklichkeit durchdringt, statt Scheinbilder für die Wirklichkeit zu halten

– Hierbei wird argumentatives Handeln als Widerlegungskunst erlernt

10.Authentizität des Lehrers statt Allwissenheit

▪ „Ich sagte doch kurz vorher, dass ich mich in Bezug auf eine derartige Widerlegung immer mutlos gefühlt hätte und dies auch jetzt der Fall sei“– Authentisch:

▪ Nicht so tun als sei man allwissend

▪ Kostet Mut, sich mit anderen Meinungen auseinanderzusetzten

11.Hilfestellung zur Überwindung von Angst

▪ „Das Gesagte macht mir Angst, ich könnte dir darob wie ein Verrückter vorkommen, wenn ich im Handumdrehen das Gegenteil von dem vorherigen behaupte. Denn dir zu Gefallen wollen wir die Widerlegung des Satzes in Angriff nehmen, wenn anders von einer solchen die Rede sein kann“

– Ermutigen Gefühle der Entmutigung zuzulassen aber nicht entmutigen lassen ,seine´ Wahrheit zu finden

12. Fundamente legen zum forschenden Lernen

▪ „Darüber kannst du ganz beruhigt sein. Also nur zu! Du wirst mir durchaus nicht als ein Faselhans vorkommen, wenn du dich an die Widerlegung und an den Beweis machst“

– 1. unbedingte Wahrheitsfindung

– 2. scheinbar widersprechende Wahrheiten

– 3. scheinbar feststehende Sache von verschiedenen Seiten beleuchten

– Schüler zum Dialog herausfordern nicht nur die Meinung des Lehrers anzunehmen, sondern selbst denken und begründen

13. Förderung selbstständigen Denkens

▪ „Dasjenige zunächst einer Prüfung zu unterwerfen, was anscheinend ganz selbstverständlich ist, damit wir nicht ohne weiteres hier einander bestimmen als wären wir vollständig darüber im Klaren, während wir tatsächlich darüber im unklaren sind“

– Zum selbstständigen Denken auffordern

14. Abbringen vom falschen Weg – durch Nachfragen in die Aporie bringen

▪ Durch sokratische Verwirrungskunst zeigen, dass der Schüler auf dem falschen Weg ist, bzw. zeigen, dass es nur seine bloße Meinung ist

15. Gelassener Umgang bei Beleidigungen durch Schüler

▪ „Menon. Und ich müsste mich sehr täuschen, wenn du jetzt mich nicht behext und bezauberst und völlig in deiner Gewalt bringst, so dass ich nicht mehr aus und ein weiß. […] Es kommt mir vor, als wärest du, was dein Antlitz und sonstiges Wesen anlangt, zum Verwechseln ähnlich jenem breiten Meerfisch, dem Marmelzitterrochen. Denn auch dieser macht jeden, der ihm nahekommt und ihn berührt erstarren. Etwas derart hast auch du denn, wie mich dünkt, jetzt mir angetan. Du hast mich erstarren gemacht. Denn tatsächlich bin ich starr an Seele und Mund und weiß nicht was ich antworten soll“– Gelassen reagieren– Belastungsfähig sein

16. Hinter die Kulissen schauen –Standfestigkeit zeigen

▪ „Du bist ein gerissener Schelm, mein Menon, und hättest mich beinahe übertölpelt.“

– Schüler wollte fertiges Wissen vom Lehrer erhalten, wird jedoch entlarvt

17. Lösungen finden lassen, statt Provokation nachzukommen

▪ Nicht die fertige Lösung geben, sondern Hilfe anbieten zur Lösungsfindung

18. Plateaus zum Verarbeiten des Gelernten einbauen – stufenweise Lernen

▪ „Erst lass uns denn ein wenig stehen bleiben, um gewissermaßen Atem zu schöpfen, und während der Pause uns zugleich selbst darüber Rechenschaft geben“

– Plateaus bilden eine gute Grundlage für den nächsten Lernschritt

19. Im Stoff erst weiter gehen, wenn der Schüler das Bisherige verstanden hat

▪ Grundlage für das Weiterforschen, was der Schüler auch wirklich verstanden hat

▪ Was würde die richtige Antwort in Form von Wissen nützen, wenn er sie nicht versteht?

▪ Ein Weitergehen im Stoff erst möglich wenn der Schüler ausreichende Kenntnisse erworben hat

20. Dem Schüler die Zeit geben, die er zum Lernen braucht

▪ „Wenn einer behauptet, er wisse alles und könne es einem anderen um geringen Lohn und in kurzer Zeit lehren, soll das etwa nicht ein Scherz sein?“

– Zeit nehmen, die der Schüler braucht

21. Berücksichtigung der Individualität

▪ „Du darfst dir ja unter den Anwesenden aussuchen, wen du willst; denn alle werden dir gern zu Willen sein“

– Immer den Einzelnen sehen

– Entwicklungsstufe berücksichtigen

– Heterogenität statt fiktive Homogenität

22. Rücksicht auf die seelische und körperliche Verfassung des Schülers

▪ „Wenn Du aber unter der ermüdenden Länge der Untersuchung zu leiden haben solltest, so schiebe nicht mir die Verantwortung dafür zu“

– Rücksichtnahme auf die Verfassung des Schülers (Müdigkeit, Erschöpfung)

23. Schüler Verantwortung für sich selbst übernehmen lassen

▪ Verantwortung übernehmen, um gut für sich zu sorgen

▪ Heterogenität nicht als Belastung, sondern als Chance

24. Kooperatives Lernen mit anderen Schülern ermöglichen

▪ Nicht nur das Individuum im Blick haben, sondern auch eine didaktische Grundlage für eine Kooperation der Schüler untereinander zu schaffen

25. Reflektierendes Team in der Schule

▪ „Du bist harmlos genug zu glauben, ich sei so etwas wie ein Sack, in den man nur hineingreifen brauche, um zu beweisen, dass sich die Sache nun wieder nicht so verhalte. Den wahren Sachverhalt aber verkennst du, dass nämlich keine der Reden von mir ausgeht, sondern stets von dem Mitunterredner, während ich mich nur auf Kleinigkeiten verstehe, die darin besteht, dass ich die Rede eines anderen weisen Mannes einer richtigen Behandlung und Prüfung unterwerfe. Auch jetzt will ich nun einen solchen Versuch mit unserem Theätet machen, ohne selbst mich auf Reden einzulassen“– Anwesenheit des Klienten bei einem Gespräch über ihn selbst ist von

Vorteil

26. Bei eigenen Grenzen Hilfe holen

▪ Professionelle Hilfe durch Supervision holen, wenn der Lehrer an seinen Grenzen angekommen ist

27. Ermutigung zum Weitergehen, wenn es nur langsam vorwärts geht

▪ „Nur den Mut nicht sinken lassen mein Theaitetos, solange man imstande ist, wenn auch noch so langsam, doch immer vorwärts zu kommen“

– Zeit im Lernprozess nehmen, auch wenn es nur langsam vorwärts geht

28. Lob im Rückblick und Ausblick auf das zu Schaffende

▪ „Jetzt aber, mein Bester, wo das von dir genannte Hindernis glücklich überwunden ist, ist doch wohl in der Tat das stärkste Bollwerk genommen, mit den anderen aber hat es weniger auf sich und wir werden damit leichter fertig werden“

– Rückmeldung über das Geschaffte

– „glückliches Überwinden“ - wirkt ermutigend

29. Zwischenschritte der Ergebnissicherung

▪ „So stellt sich denn als klares Ergebnis unserer Betrachtung heraus“

▪ „Zunächst lass uns also jede Art von Übermaß und Mangel betrachten, damit wir Lob und Tadel in jedem einzelnen Falle richtig verteilen“

30. Abschluss: Suche nach dem Regulären

▪ „Für solche aber, die in gemeinsamer Sache tätig sing, ist doch Übereinstimmung in Ihren Ansichten eine erwünschte Sache“

– Suche nach Übereinstimmung

31. Feiern und Würdigen des Sieges des Schülers über sich selbst

▪ „Der Sieg über sich selbst ist bekanntlich der erste und schönste, das ,Sichselbstunterliegen´ das Allerhässlichste und Allerschlimmste. Und das deutet doch auf einen Krieg in jedem Einzelnen hin, auf einen Krieg mit sich selbst“

– Sieg feiern, statt nur zu benoten

Quellen

▪ „Herstellung mäeutischer Kontexte“; „Bildung als Bewegung von innen – Bedürfnisse und Sinn“ (Lütjen, Jutta 2013, S.413-420)

▪ „Erklärung des Sokrates zum Wichtigsten seiner Hebammenkunst“ (Lütjen, Jutta 2013, S.384-386)

▪ „Sokratische Grundsätze“ (Lütjen, Jutta 2013, S.421-430); (Gibran, Khalin 2005 (1923), S.22 in Lütjen, Jutta 2013, S.517)