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198 Rudolf Bohren: Der Heiden Heiland. Vom Hymnus über Luther zu Bach ADVENTSHYMNUS Musik & Gottesdienst 68. Jahrgang 2014 Rudolf Bohren Der Heiden Heiland Vom Hymnus über Luther zu Bach Der folgende Artikel geht von der Beobachtung aus, dass ein Missverhältnis besteht zwischen der Rezeption von Musik und Texten aus der Zeit des Barocks oder der Renaissance. Während sich die Barockmusik grosser Beliebtheit erfreut, werden die Texte oft als weit hinter der Mu- sik stehend aufgefasst. Dies betrifft vor allem Arientexte, aber auch Rezitative und Choräle in den Kantaten von Johann Sebastian Bach. Auch Texte von Martin Luther sind vor dieser Kritik nicht gefeit, besonders wenn es sich um Nachdichtungen lateinischer Vorlagen handelt. Zur Musik haben wir einen unmittelbaren nonverbalen Zugang. Wie kunstvoll ein Mu- sikstück gemacht ist, welche Bezüge zwischen den einzelnen Stimmen oder Motiven bestehen, erschliesst sich dem Rezipienten aber erst nach gründlichem Studium von Partitur oder Tonaufnahmen. Auch Texte sind komponiert und folgen gestalterischen Prinzipien, welche ohne Textanalyse unbeachtet bleiben. Der unmittelbare Zugang entfällt jedoch, da die Texte in einer anderen als der heutigen Sprache geschrieben sind. Um das Defizit des unmittelbaren Zugangs auszugleichen, werden im Folgenden die Strophen 1 und 6 des Adventslieds Nun komm, der Heiden Heiland analysiert, danach die Melodie und schliesslich verschiedene Bearbeitungen dieses Liedes im musikalischen Schaffen von Johann Sebastian Bach vorgestellt. Ein altkirchlicher Hymnus Veni redemptor gentium ist ein altkirchlicher Hymnus des Ambrosius von Mailand (339–397). Zur Zeit der Auseinandersetzung mit dem Arianismus geschrieben, nimmt Zugang zum vertonten Text.

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198 Rudolf Bohren: Der Heiden Heiland. Vom Hymnus über Luther zu BachADVENTSHYMNUS

Musik & Gottesdienst 68. Jahrgang 2014

Rudolf Bohren

Der Heiden HeilandVom Hymnus über Luther zu BachDer folgende Artikel geht von der Beobachtung aus, dass ein Missverhältnis besteht zwischen der Rezeption von Musik und Texten aus der Zeit des Barocks oder der Renaissance. Während sich die Barockmusik grosser Beliebtheit erfreut, werden die Texte oft als weit hinter der Mu-sik stehend aufgefasst. Dies betrifft vor allem Arientexte, aber auch Rezitative und Choräle in den Kantaten von Johann Sebastian Bach. Auch Texte von Martin Luther sind vor dieser Kritik nicht gefeit, besonders wenn es sich um Nachdichtungen lateinischer Vorlagen handelt.

Zur Musik haben wir einen unmittelbaren nonverbalen Zugang. Wie kunstvoll ein Mu-sikstück gemacht ist, welche Bezüge zwischen den einzelnen Stimmen oder Motiven bestehen, erschliesst sich dem Rezipienten aber erst nach gründlichem Studium von Partitur oder Tonaufnahmen. Auch Texte sind komponiert und folgen gestalterischen Prinzipien, welche ohne Textanalyse unbeachtet bleiben. Der unmittelbare Zugang entfällt jedoch, da die Texte in einer anderen als der heutigen Sprache geschrieben sind. Um das Defizit des unmittelbaren Zugangs auszugleichen, werden im Folgenden die Strophen 1 und 6 des Adventslieds Nun komm, der Heiden Heiland analysiert, danach die Melodie und schliesslich verschiedene Bearbeitungen dieses Liedes im musikalischen Schaffen von Johann Sebastian Bach vorgestellt.

Ein altkirchlicher HymnusVeni redemptor gentium ist ein altkirchlicher Hymnus des Ambrosius von Mailand (339–397). Zur Zeit der Auseinandersetzung mit dem Arianismus geschrieben, nimmt

Zugang zum vertonten Text.

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die Darstellung der doppelten Natur Christi (Mensch und Gott) in diesem Hymnus breiten Raum ein; denn die Arianer stellten die Gottheit Christi infrage. Der Hymnus hat acht Strophen. Auf eine zusätzliche, ursprünglich vorangestellte Strophe in An-lehnung an Psalm 79, 1 2 wird nicht weiter eingegangen. Martin Luther hat in seinem Adventslied alle acht Strophen des Hymnus übersetzt. Sie seien zunächst in Luthers Original-Orthografie1 wiedergegeben, weiter unten dann in heutiger Schreibweise.

Die Evangelischen Gesangbücher Deutschlands reduzieren das Lied auf die Stro-phen 1, 4, 5, 7, 8, im Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirchen der deutsch-sprachigen Schweiz ist zusätzlich Strophe 5 weggelassen. Grund für die Kürzungen ist der breite Raum, den die Jungfrauengeburt in den Strophen 2 und 3 beansprucht.

Hymnus über die zwei Naturen Christi.

Veni redemptor gentium in der Übersetzung von Martin Luther

1. Nu kom der Heyden heyland / Adventsstropheder yungfrawen kynd erkannd.Das sych wunnder alle welt /Gott solch gepurt yhm bestelt.

2. Nicht von Mans blut noch von fleisch / Zeilen 1 3 in Anlehnungallein von dem heyligen geyst / an Joh 1,13 14a; «blüht»Jst Gottes wort worden eyn mensch / ist transitiv gebrauchtvnd bluet eyn frucht weibs fleisch.

3. Der yungfraw leib schwanger ward / Wirkung des Heiligendoch bleib keuscheyt reyn beward Geistes; Zeile 4 imLeucht erfar manch tugend schon / Orginal: «in templo»Gott da war yn seynem thron.

4. Er gieng aus der kamer seyn / Psalm 19,6dem könglichen saal so reyn.Gott von art vnd mensch eyn hellt /seyn weg er zu lauffen eyllt.

5. Seyn laufft kam vom vatter her / Joh 16,28vnd keret wider zum vater. Fur hyn vndtern zu der hell / Apostolischesvnd wider zu Gottes stuel. Glaubensbekenntnis

6. Der du bist dem vater gleich / Apostolischesfur hynnaus den syeg ym fleisch / Glaubensbekenntnisdas dein ewig gots gewalt / Mt 9,12ynn vnns das kranck fleysch enthallt.

7. Dein kryppen glentzt hell vnd klar / Weihnachtsstrophe die nacht gybt eyn new liecht dar / (vgl. In dulci jubilo)tunckel muss nicht komen dreyn /der glaub bleib ymer ym scheyn.

8. Lob sey Gott dem vatter thon / Lobpreis (Doxologie)Lob sey got seym eyngen son.Lob sey got dem heyligen geyst /ymer vnnd ynn ewigkeyt.

1 Im sogenannten Erfurter Enchiridion, dem «Handbüchlein», gedruckt durch Johannes Loersfeld, Erfurt 1524, Blatt C2.

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Der Wortlaut der ebenfalls gestrichenen Strophe 6 ist altertümlich bis hin zur Unver-ständlichkeit. Von ihr soll weiter unten ausführlicher die Rede sein.

Bedeutung von Versmass und RhythmusDer Text des lateinischen Hymnus steht im antiken Versmass des vierfüssigen Jam-bus, das heisst, jeder betonten Silbe geht eine unbetonte voraus. Wird der Hymnus-text als Dichtung verstanden, ist der jambische Rhythmus zwingend, wäre es ein Pro-satext, liefen die natürlichen Wortbetonungen dem Jambus oft zuwider. In der vierten Zeile der ersten Strophe des Hymnus ist jede Silbe des Jambus entgegen dem Wort-akzent betont. Vielleicht ist das beabsichtigt; denn nach zwei rein jambischen Zeilen folgt plötzlich eine eigentlich trochäische, als solle das Staunen der ganzen Welt durch einen abrupten Rhythmuswechsel ausgedrückt werden. Bei Luther sind gut die Hälfte aller 32 Verszeilen trochäisch, die restlichen weichen vom strengen Rhythmus ab; denn das Adventslied Nun komm, der Heiden Heiland ist in der Melodie stark am Hymnus orientiert, wo es keine Takte gibt und wo beim Singen Wort- beziehungswei-se Versakzent eine untergeordnete Rolle spielen.

Fritz Enderlin hat die luthersche Fassung für das Schweizerische Kirchengesangbuch von 1952 rhythmisch vereinheitlicht, verständlicher gemacht und in Strophe 1, Zeile 4 wörtlicher übersetzt. Seine Bearbeitung wurde auch ins neue Gesangbuch der Evan-gelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz aufgenommen. Ender-lins Fassung ist zwar eingängig, mit ihr geht aber einiges an Authentizität und Poesie des Luther-Textes verloren. Dies soll im Folgenden ausführlich dargelegt werden.

Die meisten Übersetzungen des Hymnus haben einen nachvollziehbaren, klaren Aufbau. So zum Beispiel Markus Jenny (1971),2 der zugunsten des gebundenen Verses (Trochäus) auf den Reim verzichtet: «Komm, du Heiland aller Welt, / Sohn der Jung-frau, mach dich kund. / Darob staune, was da lebt: / Also will Gott werden Mensch.»3

Konflikt zwischen Wort- und

Versakzent.

Die RG-Fassung verzichtet auf

Authentizität und Poesie.

Die erste Strophe

Hymnus Wörtliche Martin Luther Fritz Enderlin(Jambus) Übersetzung (gesprochen) (CH-Gesangbuch)

Vení, redemptor Komm Erlöser Nú kóm I der Nun kómm, dergentiúm, fremder Völker, Heýden heýland Heiden Heiland,

Ostende partum Zeig‘ die der yúngfrawen áls der Jungfrauvirginís! Jungfrauengeburt! kynd I erkannd. Kind erkannt,

Miretur omne Wundern soll sich Dás sych wunnder I wundern soll sichsaeculúm: jede Weltenära: alle welt alle Welt

Talís decét Solch Geburt steht Gótt sólch gepúrt I Dáss Gótt solchpartús Deúm! Gott gut an ýhm bestelt Geburt gefällt

Unterstrichene Silben zeigen an, dass Wort- und Versakzent übereinstimmen. Bei Silben mit Akzent ist das Umgekehrte der Fall. Mit I sind mögliche Sprechpausen angezeigt.

2 Vgl. Gebhard Kurz: Intende, qui regis Israel. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 42. Bd. 2003, S. 151–161.

3 Katholisches Gesangbuch 307.

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Zwei Imperative, wie im Original, gefolgt von zwei Hauptsätzen, der erste durch einen Nebensatz erweitert, der jedoch sehr frei übersetzt ist.

Luther wählt einen anderen Weg: Er konstruiert die erste Strophe so, dass vieles in der Schwebe bleibt: Die erste Verbform kann, muss aber nicht ein Imperativ sein. Das Gesangbuch von Valentin Bapst, Leipzig 1545, hat jedenfalls kein Komma nach «komm»4. Eine Strassburger Liedersammlung von 1545 gibt sogar eine Variante wie-der, in welcher der Imperativ des Originals noch stärker in den Hintergrund tritt: «Nun komme der Heiden Heiland».5

In Zeile 2 ersetzt Luther den Imperativ (ostende) am Zeilenanfang durch die Parti-zipform erkannt am Zeilenende. Für Enderlin scheint in diesem Vers etwas zu fehlen, deshalb formuliert er: als der Jungfrau Kind erkannt. Nach dieser Lesart ist das Sub-jekt des Erkennens die singende Gemeinde oder die ganze Welt, wie es in Zeile 3 heisst. Bei Luther ist dies nicht unbedingt der Fall; denn der Parallelismus von der Heiden Heiland und der Jungfrauen Kind legt nahe, dass sich sowohl Heiland als auch Kind auf komm beziehen. Dann ist erkannt Adverb zu komm. Das Gegenteil zu dieser Lesart wäre «unerkannt entkommen», doch hier geht es um ein «erkanntes Kommen», also um eine besondere Art des Kommens und weniger um das Erkennen einer besonderen Art von Geburt. Bei Luther steht nach der zweiten Zeile ein Punkt. Die Textvariante von Zeile 3 bei Bach – «Des sich wundert alle Welt» – lässt es offen, ob diese das Fazit der beiden vorangehenden ist oder ob sie sich auf die nach-folgende bezieht. Bei Luther gehören die ersten und die letzten beiden Zeilen von Strophe 1 zusammen. Sie haben mit Heiland / erkannt und Welt / bestellt auch aus-drucksstarke Reimpaare.

Wer erkennt?

Die Anfangszeile von Hymnus und Adventslied lässt eine Fülle von Deutungsmöglichkeiten zu. Im Adventslied stehen die Heiden im Zentrum: Dass der Erlöser zu den Heiden kommt und nicht bloss zum Gottesvolk, ist bemerkenswert (vgl. auch BWV 659 ab Takt 4 in der Grafik «Rhythmi-sierungen»). Im Lateinischen wirkt red- emp- tor durch die Stellung im Vers beinahe wie ein Anagramm zu imperator.

4 A.a.O. S. 154.5 Markus Jenny (Bearb.): Luthers geistliche Lieder und Kirchengesänge. Böhlau, Köln 1985, S. 202.

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Doch kehren wir zurück zu Zeile 2. Luther vermeidet den Ausdruck «Jungfrauen-geburt», anders als Johann Leisentrit in seinem (katholischen) Gesangbuch von 1567: «der Jungfrau Geburt uns lehr».6

Das Wörtlein «erkannt»Luther verzichtet nicht nur auf Jungfrauengeburt, sondern auch auf den Imperativ «zeig!» – Der Jungfrauen Kind erkannt. Advent beginnt damit, dass Maria dem Engel Gabriel versichert, sie wisse von keinem Mann. Im griechischen Urtext steht hier ein Präsens (gignosko – ich erkenne). Die tschechische Kralitzer Bibelübersetzung von 1612 interpretiert dieses Erkennen gar als Iterativ (poznávám). Auf Deutsch heisst das sinngemäss: «Ich habe keine Männerbekanntschaften.» Etymologisch ist das deutsche Wort Kind darauf zurückzuführen, dass ein Mann sein Weib erkannt hat. Das Grimmsche Wörterbuch schreibt dementsprechend von einem uralten Zusam-menhang von Erkennen mit Zeugen und Gebären. Luther hatte spätestens als Bibel-übersetzer Sinn für solche etymologische Zusammenhänge.

Erkannt in der zweiten Zeile ist also mit Bedacht gewählt. Maria hat nicht erkannt (Lk 1,34 – virum non cognosco), auch Josef nicht, bevor Jesus geboren war (Mt 1,24 –

«Wie soll das zugehen?» Mariä Ver-kündigung nach Lk 1 26 38, dargestellt im Wurzel-Jesse-Fenster des Berner Münsters (Ausschnitt). Im Adventslied waren der Jungfrauengeburt zwei Strophen gewidmet, die in den neue-ren evangelischen Gesangbüchern nicht mehr enthalten sind.

Vielschichtige Bedeutung.

6 Gebhard Kurz, op.cit., S. 154.

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non cognoscebat eam), und dennoch kommt der Heiland «erkannt» auf die Welt. Die biologische Ebene des Erkennens wird transzendiert, und das Erkennen bezieht sich auf die Wahrnehmung des in die Welt gekommenen Lichts, wie es die Hirten als erste gesehen haben und deren Worte Maria in ihrem Herzen bewegte.

Die Zeilen 3 und 4 der ersten Strophe des lutherschen Adventsliedes bergen ein weiteres Rätsel, das durch den Sprachwandel in den Hintergrund getreten ist: Dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt. Zu Zeiten Luthers bis ins 19. Jahrhundert hinein kann ihm nämlich genauso gut auf Gott bezogen werden wie auch auf den geborenen Gottessohn. In der bereits erwähnten Strassburger Lieder-sammlung lautet dieser Vers: «Gott solch Geburt ihm selbs bestellt.» Die Möglichkeit, ihm reflexiv zu verstehen, ist hier naheliegend.

Bestellen meint in der Sprache der Bibel: Jemanden in ein Amt einsetzen oder etwas in Ordnung bringen, etwas einrichten. Zu fragen ist schliesslich, ob mit Geburt wirklich dasselbe gemeint ist wie im ambrosianischen Hymnus, also der konkrete Akt des Auf-die-Welt-Kommens. Eher meint Luther mit Geburt Herkunft, Abstammung. Dann würde sich das Staunen der Welt darauf beziehen, dass er, der zur Rechten Gottes sitzt, auf der untersten Gesellschaftsstufe ins Erdendasein tritt und nach Matthäus 1 einen Stammbaum hat, an dessen Ende Josef aus Nazareth steht, der nicht der leibliche Vater von Jesus war.

Luther übersetzt die vierte Zeile der ersten Strophe so, dass sich der Akzent weg von der Jungfrauengeburt hin zum Wunder von Advent und Weihnachten verschiebt: Gott selbst kommt in die Welt: «Er äussert sich all seiner Gwalt, wird niedrig und ge-ring und nimmt an sich eins Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding», heisst es in einem Kirchenlied7 von Nikolaus Herman (1560). Luther dichtet: Gott solch Geburt ihm bestellt. Im Unterschied zur lateinischen Vorlage und zu Enderlins Redaktion ist Gott bei Luther handelndes Subjekt. Weil der Sohn wesensgleich ist mit dem Vater, aus dem er geboren ward vor aller Zeit (Nicäno-konstantinopolitanisches Glaubensbe-kenntnis8), kann Gott auf die Welt kommen, indem er sich seine Geburt «selbst be-stellt».

Jungfrauengeburt und JohannesevangeliumStrophe 3 des Hymnus befasst sich eingehend mit der Jungfrauengeburt, während Strophe 2 den Prolog des Johannesevangeliums zitiert. Dort ist aber nicht von der Jungfrauengeburt Jesu die Rede, sondern davon, das alle Kinder Gottes, welche das Licht aufnehmen und an seinen Namen glauben, «nicht aus Blut noch aus Fleisches-willen noch aus Manneswillen, sondern aus Gott geboren bzw. gezeugt sind» (Joh 1,12 f). Das griechische gennao übersetzt Luther mit geboren, während die Zürcher Bibel sich für die Variante gezeugt entschieden hat. Wie bei gignosko (ich erkenne) liegt hier wieder ein griechisches Verb vor, das in der deutschen Übersetzung zwei Bedeutungen hat. Auch im Hebräischen bedeutet die Wurzel JäLäD sowohl gebären als auch zeugen.

Bedeutungen vor dem Sprach-wandel.

7 Nikolaus Herman: Lobt Gott, ihr Christen alle gleich. RG 395.8 RG 264.

Griechisches Wort mit zwei Bedeu-tungen.

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Sieg im Fleisch – die 6. StropheIm Folgenden soll Strophe 6 von Adventslied und Hymnus näher analysiert werden, obwohl sie in modernen deutschsprachigen Gesangbüchern fehlt. In der Advents-kantate BWV 36 ist sie jedoch als Cantus firmus und in Kantate BWV 62 als Arie ent-halten.

Luthers Übersetzung dieser Strophe ist für heutige Ohren kaum verständlich und es stellt sich die Frage, ob diese Unverständlichkeit nicht auch schon zu Bachs oder gar zu Luthers Zeiten gegeben war. Schliesslich hat Luther auch andere Lieder ge-dichtet (z. B. Vom Himmel hoch, da komm ich her) oder Psalmen übersetzt (Der Herr ist mein Hirte, Ps. 23), deren Sprache klar und verständlich ist.

In Luthers Adventslied wird der Heiden Heiland erst in Strophe 6 direkt mit «Du» angesprochen. Luther wiederholt, abweichend vom Original, das Wort Fleisch, Am-brosius setzt die Gegensätze infirma und firmans zueinander in Bezug. Die zweite Zei-

Höllenfahrt Christi. Russische Ikone aus dem 15. Jahrhundert. Die Vorstel-lung, Christus habe am Karsamstag die Seelen der Gerechten seit Adam in der Vorhölle erlöst, ist im apostolischen Glaubensbekenntnis und in der fünften Strophe von Luthers Adventslied ange-deutet.

Hymnus, 6 BWV 36, 6 (Choral) BWV 62, 4 (Arie)

Aequalis aeterno Patri, Der du bist dem Vater gleich, Streite, siege, starker Held!

carnis trophaeo cingere, führ hinaus den Sieg im Fleisch, Sei vor uns im Fleische kräftig!

infirma nostri corporis dass dein ewig Gotts Gewalt Sei geschäftig,

virtute firmans perpeti! in uns das krank Fleisch enthalt. das Vermögen in uns Schwachen stark zu machen.

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le bei Ambrosius lässt an das Ostergeschehen denken, weil in Strophe 5 das «nieder-gefahren zur Hölle» aus dem apostolischen Glaubensbekenntnis zitiert ist. «Gürte dich mit dem Siegeszeichen des Fleisches» (Zeile 2 – wörtlich) ist auch so verstanden worden, dass das Fleisch selber Siegeszeichen ist und nicht erst das Kreuz. Bei Hein-rich von Laufenberg (1418)9 heisst es: «Glich bistu vatters ewigkeit, nun gürt dich bald in libes cleit.»

Die Formulierung Sieg im Fleisch, die Luther wählt, lässt an die Auferstehung der Toten (des Fleisches) denken und an den Sieg Christi über den Tod, der im 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes als Auferstehungshoffnung der Christen ausgelegt ist. Aber es heisst «führ hinaus den Sieg im Fleisch» und nicht «führe aus». Möglicherweise entschied sich Luther für die Verdoppelung der Vorsilbe (hin-aus-führen), um damit anzudeuten, dass nicht nur Kreuz und Auferstehung, sondern bereits die Geburt Jesu ein «Sieg im Fleisch» ist.

Die schwer verständliche Zeile 4 erschliesst sich uns, wenn wir sie im Kontext des ganzen Adventliedes betrachten. Das krank Fleisch in uns steht im Gegensatz zu des Weibes Fleisch, das in der zweiten Strophe aufblüht und Frucht bringt. Durch den Sieg des Sohnes im Fleisch wird das in Verweslichkeit Gesäte dank der Allmacht Gottes in Unverweslichkeit auferstehen (vgl. 1. Kor 15,42). Im Pfingstlied Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist hat Martin Luther die gleichen Verse infirma nostri corporis virtute firmans perpeti in anderem Kontext ganz anders übersetzt. «Das schwach Fleisch in uns, dir bekannt, erhalt fest dein Kraft und Gunst.» Statt enthalt heisst es erhalt fest (lat: firmans), statt ewig Gotts Gewalt «Deine Kraft und Gunst». Die im Adventslied gewählte Formulierung kann ein kleiner Umweg erklären.

Lesen wir nämlich bei Gewalt das dahinter steckende Verb und bei enthalt das da-hinter steckende Nomen, so ergeben sich erstaunliche Interpretationshilfen. Beim Stichwort Enthaltung führt das grimmsche Wörterbuch zur Erklärung der ursprüng-lichen Bedeutung folgendes Luther-Zitat an: «Denn animale corpus, einen natürlichen Leib, heisst sie (die Schrift) einen solchen Leib, wie er auf Erden geboren wird, der da brauchet seiner natürlichen Enthaltung oder Nahrung, das ist Essen und Trinken.»10

Zum heute ungebräuchlichen Verb gewalten (= verstärktes Walten) gibt das grimmsche Wörterbuch folgende ursprüngliche Bedeutung an: «Macht, Fürsorge, Aufsicht ausüben über jemand.» Die ewig Gotts Gewalt beziehungsweise Gewalt (Allmacht) des ewigen Gottes in Zeile 3 ist also trotz der Nähe zum Sieg nichts, was die Gläubigen in Angst und Schrecken versetzt, sondern meint Fürsorge (Enthaltung im ursprünglichen Wortsinn), kraft derer unser krankes Fleisch das bekommt, woran es gesunden kann. Die Bedeutung abstinentia von Enthaltung war zu Luthers Zeiten ebenfalls geläufig, wir haben es (wie bei erkannt in der ersten Strophe) wieder mit einem doppelsinnigen Wort zu tun.

9 Gebhard Kurz, op.cit., S. 151.10 Martin Luther, Kaspar Cruciger, Das XV. Capitel der Ersten Epistel S. Pauli an die Corinther: Von der Auf-

erstehung der todten, Wittenberg 1534 (digitalisiert von Google).

Ein kleiner Umweg hilft zum Verständnis.

Anspielung auf das Oster-geschehen.

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Die ganze Strophe 6 des Adventsliedes ist im grimmschen Wörterbuch als Beleg für die Bedeutung «bewahren, schützen, erhalten» des Verbs «enthalten» zitiert, was beweist, dass auch zu Zeiten der Brüder Grimm diese Strophe nicht ohne Weiteres verständlich war.

Ableitung der Liedmelodie aus dem HymnusNach diesen philologischen Ausführungen gilt unser Augenmerk nun der Melodie, die direkt aus dem Hymnus abgeleitet ist.11 Sowohl Hymnus wie auch Liedmelodie bewe-gen sich innerhalb nur eines Hexachords. Dieses umfasst die Töne einer Quinte, er-weitert um einen Wechselton – eine Sekunde unterhalb des Grundtons. Dem Noten-beispiel ist der Anfang des Luther-Liedes Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort 12 bei- gefügt. Dessen Melodie stammt ebenfalls aus dem Hymnus Veni redemptor gentium, hat aber acht Silben pro Vers und wechselt in der 3. Zeile in das nächst höhere Hexa-chord. Mit dieser Ausweitung des Tonraums ist diese Melodie gegenüber dem Hym-nus eigenständiger als diejenige des Adventsliedes.

Nun komm, der Heiden Heiland hat vier Zählzeiten zu je einer halben Note. Auf diese vier Zählzeiten sind die sieben Textsilben so verteilt, dass die letzte Silbe dop-pelte Länge hat. Der Rhythmuswechsel vom Jambus des Hymnus (kurz-lang) zum Tro-chäus (lang-kurz) des Adventsliedes wird dadurch erreicht, dass der erste Hymnuston entfällt. In der zweiten Zeile beginnt die Liedmelodie schon mit der verlängerten Schlussnote der ersten. Diese Verschränkung ist im Choralvorspiel BWV 599 nach-empfunden, das keine Zwischenspiele kennt und den Eindruck entstehen lässt, das Ende eines Verses sei bereits der Anfang des nächsten.

11 Zum Verhältnis der abgeleiteten Melodien zur Vorlage vgl. den Kommentar von Andreas Marti zu «Veni redemptor gentium» im Ökumenischen Liederkommentar, Freiburg CH/Basel/Zürich 2003.

12 RG 255.

Melodisch ver-schränkte Zeilen.

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Die dritte Note der zweiten Zeile im Adventslied ist punktiert, weil sie drei gleiche Töne aus dem Hymnus zusammenfasst. Die vierte Zeile des Liedes ist die Wieder-holung der ersten, während sie im Hymnus dreiteilig nach dem Schema a-b-a kons-truiert ist, aufgrund des beschränkten Tonmaterials innerhalb des Hexachords aber Ähnlichkeiten mit der ersten Zeile hat.

Die Liedmelodie auf der Grundlage des Hymnus bietet eine Fülle rhythmischer In-terpretationsvarianten, wie folgende Zusammenstellung von Bearbeitungen des Lied-anfangs in Bachs Orgel- und Kantatenwerken zeigt.

Die ganze Melodie umfasst in BWV 62,1 und BWV 36,6 sieben Zählzeiten, in den Kantaten BWV 61,1 und BWV 36,2 deren acht. Die Begleitstimmen im Eingangssatz zu Kantate BWV 62, zum Beispiel die Tenorstimme in Takt 17, und im Orgeltrio BWV 659 in Takt 1 interpretieren die ersten drei Silben der Liedmelodie als Auftakt. Die rhythmische Vielfalt beruht auf dem Anfang des Adventsliedes, den man nicht anders als genial bezeichnen kann.

Luther hat nicht nur den Hymnus beim Übersetzen um eine Silbe pro Vers gekürzt, er hat der verkürzten Anfangszeile ein Nun vorangestellt.13 Wäre es allein um den

Zweistellige BWV-Nummern meinen Kantaten, dreistellige Orgelwerke. Grau unterlegte Zählenheiten markieren den Anfang eines Taktes. Unterstrichene Silben geben den nicht er-höhten Wechselton an im Unterschied zum Leitton, der erhöht, aber unbezeichnet ist. V. bezie-hungsweise Kursivschrift zeigen eine Verzierung an.

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Rhythmuswechsel gegangen, wäre dieses Nun entbehrlich und Luther hätte wie Johann Leisentrit (1567) schreiben können: «Komm der Heiden treuer Heiland»14. Die Zahl Acht symbolisiert Unendlichkeit, Sieben ist die heilige Zahl und am Schnittpunkt von Unendlichkeit und Fleischwerdung des Wortes heisst es: nun. Diese Anfangssilbe sollte ebenfalls betont werden, da sie anders als in Luthers Choral Nun freut euch, lieben Christen gmein weder als Auftakt noch als Verstärkung eines Imperativs zu verstehen ist. Die erste Zeile ist nicht streng rhythmisiert, ein strenger Rhythmus würde den Zeitablauf betonen. So aber richtet sich das Komm an jemanden, der kommen soll oder wird, gleichzeitig aber schon da ist.

Zwei Bach-Kantaten über Nun komm, der Heiden HeilandIm Folgenden soll das Augenmerk darauf liegen, was Johann Sebastian Bach in sei-nem musikalischen Schaffen aus diesem Lied gemacht hat. Zwei Bach-Kantaten haben als Choralkantate das Adventslied zum Thema. BWV 61 enthält nur Strophe 1, BWV 62 das ganze Lied, wobei die Strophen 2 und 3 zu einer Arie und die Strophen 4 und 5 zu einem Rezitativ zusammengefasst sind.

Kantate BWV 61 bietet im Eingangschor eine spezielle Choralbehandlung. Die Strophe ist in eine französische Ouvertüre eingebettet. Diese spielt auf den Einzug Jesu in Jerusalem an, welcher am 1. Adventssonntag Inhalt der Evangelienlesung im lutherischen Gottesdienst ist. Jede Chorstimme singt die erste Zeile allein, sodass sie mit Zwischenspielen viermal hintereinander wie ein Gesang aus ferner Zeit zu hö-ren ist. Die Zeilen 2 und 4 erklingen im schlichten Choralsatz. Im schnellen Mittelteil der Ouvertüre (des sich wundert alle Welt) fehlt der Cantus firmus, er ist jedoch zu einem Fugato-Thema umgearbeitet, das oft wiederholt und vom Chor vierstimmig über 52 Takte ausgeführt wird (s. Takt 33 im Notenbeispiel).

Wie ein Gesang aus ferner Zeit.

«Des sich wundert alle Welt» aus drei Kantaten:Oben: Kantate BWV 62, Takt 43 ff, Cantus firmus in langen Notenwerten. Dazu tragen Tenor, Alt, Bass, Alt, Tenor das Begleitmotiv mit dem Text von Zeile 3 vor.Takt 33 ff gibt den Sopran-Fugato-Einsatz im schnellen Mittelteil der Ouvertüre von BWV 61 wieder (Original in a-Moll). – Als Takt 22 ist einer der Sopran-Einsätze im Duett Nr. 2 aus Kantate 36 wiedergegeben.

Am Schnittpunkt von Unendlichkeit

und Fleisch-werdung.

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In Kantate BWV 62 fällt der ersten Zeile der ersten Strophe besonderes Gewicht zu. Bevor der Cantus firmus im Sopran einsetzt, erklingt sie in unterschiedlicher Rhythmisierung zweimal instrumental und dreimal in den Unterstimmen Alt, Tenor Bass. Insgesamt ist die erste Zeile siebenmal instrumental zu hören, auch ganz am Schluss des Satzes, da das instrumentale Vorspiel am Ende wiederholt wird.

Strophe 6 des Adventsliedes bildet die Grundlage zur Bassarie BWV 62,4. Diese greift die Bitte auf, der Erlöser möge immerzu uns Schwache stärken. Dagegen fehlt die erste Zeile von Strophe 6 über die Wesensgleichheit von Vater und Sohn, einzelne Wörter der Arie (Sieg, Fleisch) stammen aus dem Adventslied, andere (schwach, stark, kräftig) aus dem Hymnus. Die zweite Zeile der Arie ist im Lichte älteren Sprachgebrauchs doppeldeutig: Soll der starke Held unser Vorbild oder unser Stell-vertreter sein? Für älteres vor gebrauchen wir nämlich heute oft für (und umgekehrt). Bedauerlicherweise hinkt die historische Aufführungspraxis – was den Text anbetrifft – der Musik meist hinterher. Man kann die Texte mit gutem Gewissen in der Original-fassung wiedergeben, statt dort redigierend einzugreifen, wo man einen Sprachwan-del bemerkt oder der Text unverständlich scheint. Dies gilt erst recht für die Schweiz, wo die Dialekte – insbesondere das Berndeutsche – im Hochdeutschen veraltete Redewendungen oder grammatische Formen beibehalten haben.

Im B-Teil der Arie wandelt sich der Imperativ «streite, siege» zur Bitte «sei geschäftig!». Schon zu Luthers Zeiten meinte Vermögen nicht nur eine Fähigkeit, sondern auch Geld und Besitztum. Somit erweist sich geschäftig nicht bloss als Ver-legenheitsreim zu kräftig, sondern zielt auf Vermögen im doppelten Wortsinn.

Adventskantate Schwingt freudig euch empor!Ebenfalls auf Nun komm, der Heiden Heiland bezogen ist die Kantate Schwingt freu-dig euch empor, BWV 36; denn hier sind die Strophen 1, 6 und 8 des Adventsliedes direkt zitiert. Die Kantate hat ebenso wie das Adventslied acht Teile, nach dem Ein-gangschor fallen auf die ungeraden Nummern 3, 5, 7 Arien, auf die geraden 2, 4, 6, 8 Choralstrophen, wobei eine Strophe aus dem Lied Wie schön leuchtet der Morgen-stern als Nr. 4 den ersten Teil der Kantate BWV 36 abschliesst.

Die ersten beiden Arien handeln von Braut und Bräutigam, die stellvertretend für Jesus und die Seele stehen, wie sie in vielen Bachkantaten vorkommen. In Nr. 2 ist die erste Strophe von Nun komm, der Heiden Heiland als Duett für Sopran und Alt mit zwei begleitenden Oboi d’amore gesetzt. Die beiden Stimmen singen im Kanon. Jede der vier Zeilen beginnt mit einem Melodiezitat auf acht Zählzeiten,15 gefolgt von Variationen, Umspielungen und Wiederholungen der Melodie. So wird das Duett zur choralbearbeitenden Arie.

13 Vgl. Grafik Die Anfangszeile von Hymnus und Adventslied.14 Gebhard Kurz, op.cit., S. 155.15 Vgl. Notenbeispiel Des sich wundert alle Welt.

Vorbild oder Stell-vertreter?

Jesus und die Seele – Bräutigam und Braut.

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Musik & Gottesdienst 68. Jahrgang 2014

In Nr. 6 singt der Tenor die sechste Strophe des Adventsliedes, begleitet von zwei Oboi d’amore und Continuo. Die Begleitung hat etwas Kämpferisches, was an Psalm 110 denken lässt (dixit dominus), aber auch an die zweite Wiederkunft Christi am Ende aller Zeiten, die in der Liturgie des 2. Adventssonntags thematisiert wird. Einen ähnlichen Charakter hat das Choralvorspiel BWV 661 in organo pleno.

In der folgenden Arie Nr. 7 gibt es noch einmal Bezüge zur vorausgehenden Cho-ralstrophe. Der Arientext lautet: «Auch mit gedämpften, schwachen Stimmen wird Gottes Majestät verehrt, denn schallet nur der Geist darbei, so ist ihm solches ein Geschrei, das er im Himmel selber hört.» Schwache Stimmen und Gottes Majestät stehen in ähnlichem Gegensatz zueinander wie Gotts Gewalt und krank Fleisch im Adventslied. Zu fragen ist, wer im Himmel das Geschrei hört. Gemeint ist neben Gott wohl auch der eingeborene Sohn, der vom Thron des Vaters ausgeht und wieder dort-hin zurückkehrt, wie es in Hymnus und Adventslied in Strophe 5 eindrücklich geschil-dert ist, falls sie nicht gestrichen wurde. Anzumerken ist, dass Geschrei bei Luther noch nicht die vorwiegend negative Bedeutung hat wie heute: Wenn unser Gesang vom Geist gestärkt ist – so wie das kranke Fleisch durch Gottes Gewalt –, dann ist er im Himmel hörbar.

Vier Orgelwerke zu Nun komm, der Heiden HeilandAbschliessend soll dargestellt werden, wie das Adventslied Nun komm, der Heiden Heiland in den Orgelwerken BWV 599, 659, 660, 661 zum Ausdruck kommt.

BWV 599, das erste Stück im «Orgelbüchlein», ist 10 4/4-Takte lang und hat keine Zwischenspiele. Davon war weiter oben schon die Rede. Der Cantus firmus schreitet in Vierteln voran, die Anfangsnoten von Vers 1 und 4 sind zu Halben verdoppelt, so-dass die Textsilben Nun und Gott hervorgehoben werden. In Zeile 2 ist die Punktie-rung in der Melodie von der Silbe (Jung-)frau(-en) auf die Silbe der vorgerückt. Cha-rakteristisch für dieses ruhige Stück sind die bewegten Mittelstimmen.

In BWV 659 (wie 660 und 661 in Bachs «Leipziger Handschrift» enthalten), einem ebenfalls ruhigen Stück, ist der Cantus firmus im Sopran, wie in der Übersicht ange-deutet, stark verziert, und zwar in der Weise, dass je eine Silbe eines Verses sich über mehrere Takte erstreckt. Das Stück beginnt mit drei Takten Vorspiel, in welchem die Mittelstimmen die erste Zeile der modalen Choralmelodie als Kanon vortragen. Der Cantus firmus setzt im vierten Takt auf der Zählzeit 2 ein. Bis Takt 6 steigt die Melodie in verzierten Sekundschritten eine Quarte aufwärts (eine Sexte über den Grundton), um in Takt 7 den Grundton um eine Quarte zu unterschreiten. In Takt 8 en-det die erste Zeile mit einer Viertelnote ohne jede Verzierung. In der zweiten Zeile wird das Wort Kind über 5 ½ Takte und mit grossen Auf- und Abwärtsbewegungen verziert. In der dritten Zeile gilt die grosse Verzierung der Silbe al(-le), in der vierten der Silbe (Ge-)burt. Dieses Choralvorspiel wurde von Ferruccio Busoni für Klavier ge-setzt, wobei er die Basslinie in der linken Hand in Oktavparallelen führte.

Wer hört das «Geschrei» im

Himmel?

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BWV 660, ein Trio super Nun komm‘ der Heiden Heiland, a due bassi, zählt 42 Takte. Knapp zwei Drittel davon beanspruchen die Zwischenspiele der beiden Be-gleitstimmen. Jeder Cantus-firmus-Einsatz (ebenso das Nachspiel nach Zeile 4) wird durch ein eng geführtes, rhythmisch verfremdetes Zitat der ersten Zeile eingeleitet, gefolgt von Sechzehntelkoloraturen. Vor dem Vorspiel zur zweiten Zeile gibt es eine kleine Zäsur, die bei der dritten entfällt. Der verzierte Cantus firmus schreitet in halben Notenwerten voran. Die letzte Silbe jeder Zeile ist unverziert, auf ein Viertel verkürzt und wirkt wie abgerissen. Das Stück endet in Moll.

In BWV 661 konzertieren bewegte Achtelläufe in den Begleitstimmen mit dem Cantus firmus im Pedal. Zwei Drittel der Takte bleiben den Vorspielen vorbehalten, das Stück endet mit einem langen Orgelpunkt. In der ersten Zeile haben die Silben Nun und Hei(-land) doppelte Länge, sodass sie um einen Takt länger ist als die Zeilen 2 und 3. Dort beanspruchen die ersten sechs Silben drei Takte, die siebte Silbe eben-falls drei Takte. Zeile 4 ist gleich strukturiert wie Zeile 1, ausser dass die letzte Text-silbe nicht drei, sondern acht ganze Takte umfasst.

Von besonderem Reiz ist Takt 26 f mit den Textsilben Hei-den-Hei. In der zweit-obersten Stimme erscheint das verkürzte Anfangsmotiv, gleichzeitig intoniert die Oberstimme eine Aufwärtsbewegung, die zum Takt 27 hin stark an den Anfang des «Thema regium», des «Königlichen Themas» aus dem «Musikalischen Opfer» erinnert. Dieses wird bekanntlich über eine Oktave in Halbtonschritten abwärts weitergeführt. In BWV 661 kommt es in den Takten 73 ff (im Zwischenspiel zwischen den Zeilen 3 und 4) zu einer Abwärtsbewegung in Ganztonschritten über zwei Oktaven. In Takt 73 ist es eine Achtel-Tonleiter, die in Takt 74 mit Terzparallelen in Viertel übergeht, so-dass die langsamer gewordene Himmelabwärts-Tonleiter ganz deutlich zu hören ist und die Halbtonleiter des Preussenkönigs demgegenüber kleinkariert wirkt.

Martin Luther hat mit wenigen Eingriffen aus dem gregorianischen Hymnus des Ambrosius ein deutsches Adventslied geschaffen und dabei die ganze Palette seiner

In BWV 661 setzt in Takt 24 der Cantus firmus im Pedal 1 ein. In Takt 26 f spielt die mittlere Begleitstimme das verkürzte Anfangsmotiv des Stücks in Achteln, und die obere Stimme beschreibt eine Bewegung, die an das «Königliche Thema» erinnert.

Enggeführtes Melodiezitat.

Das «Thema Regium».

Der Beginn des Orgeltrios BWV 660.

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Übersetzungskunst durchschimmern lassen. Das hat Johann Sebastian Bach in sei-nem musikalischen Schaffen gebührend gewürdigt. Ein besseres Verständnis für die von Bach vertonten Texte steigert den Musikgenuss und das Bewusstsein dafür, dass alte Musik und alte Texte eine Einheit bilden und auch heute noch als Einheit ver-standen werden können, wenn man den Text gebührend würdigt.

Rudolf Bohren, geb. 1951, Slawist und Historiker, Fachjournalist, Übersetzer slawi-scher Lyrik, Protokollführer der Synode der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, Stadtführer bei Bern Tourismus, Mitglied des Berner Kammerchors, der die Kantate «Schwingt freudig euch empor!» am 3. Advent im Berner Münster zur Aufführung bringen wird.

Titelbild: Luthers Adventslied im Babstschen Gesangbuch, Leipzig 1545.

Die Einheit von Musik und Text

verstehen.