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Aufklrung und Kritik 1/2008 188 Dr. Wilma-Ruth Albrecht (Bad Mnstereifel) Rechtsstaat als Ideologie Rekonstruktion von Auseinandersetzungen um die Entnazifizierung im ersten deutschen Bundestag* 1. Einleitung „Das Rechtsstaatsprinzip fordert von modernen Demokratien im allgemeinen eine geschriebene Verfassung, in der die Staatsgewalten an das Recht gebunden sind, wie es vom Volk (Volkssouvernitt) bzw. dessen Vertretern gesetzt wurde. Fr das Rechtsstaatsprinzip sind damit die Gewaltenteilung und die Vorrangstellung der Verfassung sowie eine kontrollieren- de, unabhngige (Verfassungs-) Gerichts- barkeit charakteristisch, ferner der Vorrang von Recht und Gesetz, die garantierte Rechtssicherheit (insbesondere der Grund- satz, dass Recht nicht rckwirkend gelten darf) und der Rechtsschutz und die Ga- rantie rechtliches Gehrs vor unabhngi- gen Richtern zu bekommen“ (Martina Klein & Klaus Schubert, Das Politik-Le- xikon; Bonn: J.H.W. Dietz Nachf., aktua- lisierte Auflage 2003, S. 241) Beschftigt man sich mit der Entnazifizie- rung in der Bundesrepublik Deutschland (BRD) und mit der Auseinandersetzung um ihre rechtliche Gestaltung so wird schnell deutlich, dass dem Begriff „Rechtsstaat“ eine zentrale Rolle in der Argumentation br- gerlicher, rechtskonservativer und rechts- extremistischer Parteien zukam und dass er faktisch als politischer Kampfbegriff benutzt wurde, um die Politik der Entna- zifizierung zu schwchen und die Renazifi- zierung zu frdern. In diesem Beitrag wird das methodische und propagandistische Vorgehen am Beispiel der Auseinander- setzung um die Entnazifizierung auf Bun- desebene dargestellt; analog liee es sich auch auf Lnderebene der westlichen Be- satzungszonen veranschaulichen. 2. Der Begriff Rechtsstaat „Der Begriff Rechtsstaat“ – so Gerhard W. Wittkmper – „will die Rechtsbindung des Staates an verfassungsmig erlasse- ne Gesetze und die Machtbegrenzung des Staates durch Verfassung, anderes Geset- zesrecht und die sittliche Idee der Gerech- tigkeit zum Ausdruck bringen.“ 1 Er verfolgt dabei mehrere Hauptzielset- zungen: 1) „Freiheitssicherung des Einzelmenschen und der Vereinigungen von Menschen ge- genber dem Staat“ 2) Rechtsgleichheit aller Brger vor dem Gesetz 3) Rechtssicherheit beim und gegenber staatlichem Handeln 4) Gewaltentrennung (zumeist verkrzt als „Gewaltenteilung“ bezeichnet). Das Schlagwort „Rechtsstaat“ sagt zu- nchst nichts ber die Staatsform aus. Diese kann sowohl monarchisch, aristo- kratisch, diktatorisch, autokratisch, auto- ritr oder demokratisch sein. Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird der „Rechtsstaat“ in Deutschland in Zu- sammenhang mit Volkssouvernitt und Demokratie gebracht. Im Nationalsozialismus wurde der mit der brgerlichen Aufklrung verknpfte Begriff „Rechtsstaat“ verkehrt und die Verknp- fung mit deren Ethik aufgelst:

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Page 1: Rechtsstaat als Ideologie - gkpn.de · 188 Aufkl•rung und Kritik 1/2008 Dr. Wilma-Ruth Albrecht (Bad M†nstereifel) Rechtsstaat als Ideologie Rekonstruktion von Auseinandersetzungen

Aufkl�rung und Kritik 1/2008188

Dr. Wilma-Ruth Albrecht (Bad M�nstereifel)Rechtsstaat als Ideologie

Rekonstruktion von Auseinandersetzungen um dieEntnazifizierung im ersten deutschen Bundestag*

1. Einleitung„Das Rechtsstaatsprinzip fordert vonmodernen Demokratien im allgemeineneine geschriebene Verfassung, in der dieStaatsgewalten an das Recht gebundensind, wie es vom Volk (Volkssouver�nit�t)bzw. dessen Vertretern gesetzt wurde. F�rdas Rechtsstaatsprinzip sind damit dieGewaltenteilung und die Vorrangstellungder Verfassung sowie eine kontrollieren-de, unabh�ngige (Verfassungs-) Gerichts-barkeit charakteristisch, ferner der Vorrangvon Recht und Gesetz, die garantierteRechtssicherheit (insbesondere der Grund-satz, dass Recht nicht r�ckwirkend geltendarf) und der Rechtsschutz und die Ga-rantie rechtliches Geh�rs vor unabh�ngi-gen Richtern zu bekommen“ (MartinaKlein & Klaus Schubert, Das Politik-Le-xikon; Bonn: J.H.W. Dietz Nachf., aktua-lisierte Auflage 2003�, S. 241)

Besch�ftigt man sich mit der Entnazifizie-rung in der Bundesrepublik Deutschland(BRD) und mit der Auseinandersetzung umihre rechtliche Gestaltung so wird schnelldeutlich, dass dem Begriff „Rechtsstaat“ einezentrale Rolle in der Argumentation b�r-gerlicher, rechtskonservativer und rechts-extremistischer Parteien zukam und dasser faktisch als politischer Kampfbegriffbenutzt wurde, um die Politik der Entna-zifizierung zu schw�chen und die Renazifi-zierung zu f�rdern. In diesem Beitrag wirddas methodische und propagandistischeVorgehen am Beispiel der Auseinander-setzung um die Entnazifizierung auf Bun-

desebene dargestellt; analog lie�e es sichauch auf L�nderebene der westlichen Be-satzungszonen veranschaulichen.

2. Der Begriff Rechtsstaat„Der Begriff Rechtsstaat“ – so GerhardW. Wittk�mper – „will die Rechtsbindungdes Staates an verfassungsm��ig erlasse-ne Gesetze und die Machtbegrenzung desStaates durch Verfassung, anderes Geset-zesrecht und die sittliche Idee der Gerech-tigkeit zum Ausdruck bringen.“1

Er verfolgt dabei mehrere Hauptzielset-zungen:1) „Freiheitssicherung des Einzelmenschenund der Vereinigungen von Menschen ge-gen�ber dem Staat“2) Rechtsgleichheit aller B�rger vor demGesetz3) Rechtssicherheit beim und gegen�berstaatlichem Handeln4) Gewaltentrennung (zumeist verk�rzt als„Gewaltenteilung“ bezeichnet).

Das Schlagwort „Rechtsstaat“ sagt zu-n�chst nichts �ber die Staatsform aus.Diese kann sowohl monarchisch, aristo-kratisch, diktatorisch, autokratisch, auto-rit�r oder demokratisch sein.Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts wirdder „Rechtsstaat“ in Deutschland in Zu-sammenhang mit Volkssouver�nit�t undDemokratie gebracht.Im Nationalsozialismus wurde der mit derb�rgerlichen Aufkl�rung verkn�pfte Begriff„Rechtsstaat“ verkehrt und die Verkn�p-fung mit deren Ethik aufgel�st:

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„Zum tiefsten Verfall [...] kam es im Na-tionalsozialismus mit seiner „Idee des ras-sischen Rechts“ (Alfred Rosenberg) undeiner letztlich im F�hrerwillen und natio-nalsozialistischer Ideologie verankerten‘Rechtsordnung’, die mit dem R[echts-staat] in einem sittlich-philosophischenSinne nur noch die H�lle gemein hatte,n�mlich das geschriebene Recht.“2

Wird nun das Rechtsstaatsverst�ndnis vonseiner ethischen und gesellschaftlichenGrundlage abgel�st und nur noch (wie im„Politiklexikon“) im formellen (Verfas-sungs- und Gesetzesstaat) sowie techni-schen (Institutionengef�ge und rechts-technische Kunstgriffe) Sinne vorgestellt,dann kann jeder (Unrechts-)Staat, somitauch der nationalsozialistische Staat, als„Rechtsstaat“ verstanden werden.

Jedes von materiellem Gehalt und egalit�-rem Gerechtigkeitssinn abstrahierte Rechts-staatsverst�ndnis wird nihilistisch und in-sofern auch als demagogische Waffe an-wendbar. In dieser Form wurde auch dasSchlagwort „Rechtsstaat“ in Deutschlandnach 1945 besonders in der Auseinander-setzung um die Entnazifizierung benutzt.

3. Die Antr�ge zur Beendigung derEntnazifizierungMit der Wahl zum ersten deutschen Bun-destag im August 1949 konnte sich einerechtsb�rgerliche Regierung aus Christ-lich-demokratischer Union (CDU), Christ-lich-sozialer Union (CSU), Deutscher Par-tei (DP) und Freier Demokratischer Par-tei (FDP) etablieren mit Konrad Adenau-er [1876-1967] (CDU) als Kanzler, FranzBl�cher [1896-1959] (FDP), zust�ndig f�rAngelegenheiten des Marshallplans alsVizekanzler, Thomas Dehler [1897-1967]

(FDP) als Justizminister und Gustav Hei-nemann [1899-1976] (CDU) als Innenmi-nister.Sowohl die Bundesregierung als auch dieKoalitionsparteien ergriffen sofort die In-itiative zur Beendigung der Entnazifizie-rung, wobei sie von der regional orien-tierten Bayernpartei (BP), der Wirtschaft-lichen Aufbau Vereinigung (WAV) und derpolitisch rechtsextremen Deutschen Reichs-partei (DRP) unterst�tzt wurden.

Am 8. September 1949 legte die Bundes-tagsfraktion der DP einen „Dringlichkeits-Antrag“ vor (Drucksache 13)3, in dem siedie Bundesregierung ersuchte, „Gesetzezum sofortigen Abschlu� der Entnazifizie-rung und einer Amnestie aller von denFolgen der bisherigen Entnazifizierung Be-troffenen der Gruppe 3 und 4 oder gleich-gestellter Gruppen vorzulegen“.Die WAV folgte mit einem Antrag vom21.9.1949 (Drucksache 27) auf „Erla� ei-ner Generalamnestie f�r Mitl�ufer undMinderbelastete“ und Aufhebung der „Be-schr�nkung ihrer W�hlbarkeit.“4

Einen Tag zuvor, am 20. September 1949,gab Konrad Adenauer als deutscher Bun-deskanzler in Form einer „Erkl�rung derBundesregierung“ vor dem Bundestag Zielund Strategie der offiziellen Regierungs-politik hinsichtlich der Entnazifizierung an.Ausgehend von der vermeintlichen Fest-stellung, dass die „Denazifizierung [...] vielUngl�ck und Unheil angerichtet“ habe,k�ndigte Adenauer an:„Es wird daher die Frage einer Amnestievon der Bundesregierung gepr�ft werden(Bravo!) und es wird weiter die Frage ge-pr�ft werden, auch bei den Hohen Kom-missaren dahin vorstellig zu werden, dassentsprechend f�r von alliierten Milit�rge-richten verh�ngte Strafen Amnestie ge-

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w�hrt wird. (Beifall rechts und in der Mit-te)“5

Damit lenkte der deutsche BundeskanzlerAdenauer das Augenmerk auch auf einem�gliche Amnestie der in den N�rnber-ger Prozessen (am 30. September 1946)verurteilten Kriegs- und Menschheits-verbrecher.Ermutigt durch diese Erkl�rung brachte dieFDP-Fraktion am 28.9.1949 ihren Antragzur „Wiederherstellung der staatsb�rger-lichen Gleichberechtigung“ (Drucksache97) ein, in dem sie unter Bezug auf Artikel3.3 des Grundgesetzes forderte, dass die„Entnazifizierung im Bundesgebiet mitsofortiger Wirkung beendet wird“, dassdie Personen, die in Gruppe III, IV undV eingestuft worden waren, ihre Staatsb�r-gerrechte wieder erhalten sollten und dassdie in Gruppe I und II Eingestuften „dasRecht erhalten sollten, von den ordentli-chen Gerichten den Abschlu� ihrer Ver-fahren zu beantragen.“6

In Kenntnis der Tatsache, dass in der�berwiegenden Mehrheit der deutschenGerichte schon wieder (Berufs-)Richtersa�en, die auch unter dem Nationalsozia-lismus t�tig waren7, und dass mit der Indi-vidualisierung der F�lle durch ein Gerichts-verfahren die Entlastung der Beschuldig-ten erreicht werden kann, ging es der FDPim wesentlichen darum, die Hauptbeschul-digten zu rehabilitieren.

So weit ging der Antrag der BP vom 14.Oktober 1949 (Drucksache 99) nicht. Die-se Partei wollte haupts�chlich, dass dieNachteile der ehemaligen Mitarbeiter des�ffentlichen Dienstes, die unter die Grup-pe IV gefallen waren, in rechtlicher undsozialer Sicht wieder aufgehoben werdensollten.8

Am 8. November 1949 nun mahnte dieFDP-Fraktion in einer Interpellation (Druck-sache 172) die Bundesregierung, endlichein Gesetz zum Abschluss der Entnazifi-zierung zu erlassen, um dann am 31. Ja-nuar 1950 in einem Antrag (Drucksache482) einen Entwurf eines Gesetzes zurBeendigung der Entnazifizierung vorzule-gen, in dem sie die Hauptforderungen desSeptemberantrages wieder aufgriff undzus�tzlich forderte, dass keine neuen Ver-fahren zur Entnazifizierung eingeleitet undlaufende Verfahren eingestellt sowie ver-h�ngte S�hnema�nahmen �berpr�ft wer-den sollten.9

Sekundiert wurde der FDP-Antrag vondem Antrag der DRP (Drucksache 561)vom 15.2.1950; dieser forderte, alle in dendrei Kategorien: III [Minderbelastete], IV[Mitl�ufer] und V [Unbelastete] eingestuf-ten Personen sofort zu entlasten und de-nen der Kategorie I [Hauptschuldige] undII [Belastete] die M�glichkeit gerichtlicher�berpr�fung zu erm�glichen.

Entsprechend dem Potsdamer Abkommen(August 1945) und dem „Gesetz zur Be-freiung von Nationalsozialismus und Mi-litarismus“ (M�rz 1946) nahmen die er-sten Spruchkammern Mitte Mai 1946 ihreT�tigkeit auf. Bis 31.12.1949 sollen sieetwa 6.08 Millionen Menschen als „F�lle“(in der US-amerikanischen Zone 3.62, inder britischen 2.04 und in der franz�si-schen 0.42 Mio.) bewertet haben. Von die-sen gut sechs Millionen wurden (I) 1.700als Hauptschuldige, (II) 23.000 als Bela-stete, (III) 150.400 als Minderbelastete und(IV) 1.006.000 als Mitl�ufer eingestuft (Entna-zifizierung [...] Kurz-Dokumentation vonChaim Frank bei: http://www. juedisches-archiv-chfrank.de/zgs/denazificat/adenazi.

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htm [1.10.2006]) – was den Zeitgeschicht-ler Lutz Niethammer sp�ter veranlasste,die Spruchkammern „Mitl�uferfabrik“ zunennen. Die Spruchkammern urteilten inden etwa 2,5 Millionen Verfahren, die siebis Ende 1949 entschieden hatten: 34,6Prozent der eingeleiteten Verfahren wur-den eingestellt, 0,6 Prozent der „F�lle“wurden als NS-Gegner anerkannt, 54 Pro-zent wurden als Mitl�ufer (Kategorie IV),9,4 Prozent als Minderbebelastete (Kate-gorie III) und 1,4 Prozent als Belasteteund Hauptschuldige (Kategorien II und I)bewertet. Von den Hauptschuldigen (Ka-tegorie I) sollen 5.025 verurteilt wordensein, davon 806 zu Tode, wobei davonwiederum 486 Todesurteile vollstrecktsein sollen (http://de.wikipedia.org/wiki/Entnazifizierung [1.10.2006])

4. Die Debatte der Antr�ge im Bun-destag�ber beide Antr�ge, den der FDP undden der DRP, fand am 23. Februar 1950die erste Debatte im Bundestag statt. Indieser begr�ndeten August-Martin Euler[1908-1960] (FDP) und Dr. Franz Rich-ter [1912-1987; i.e. Fritz R�sler] (DRP)in gleicher Weise – n�mlich mit dem Hin-weis, dass die Entnazifizierung rechts-staatlichen Grunds�tzen widerspreche –die Antr�ge.10

W�hrend Euler (FDP) meinte, dass „ent-gegen dem grundlegenden Prinzip desRechtsstaats nicht Taten bestraft werden,sondern dass Gesinnung unter Strafe ge-stellt wurde, dies obendrein nachteilig aufGrund eines Gesetzes, das nicht bestand,als diese Gesinnung zum Tr�ger einesGewaltsystems wurde“11, und es nun dar-um gehen m�sse, �berhaupt die Kontroll-ratsgesetzgebung zu beseitigen, um denrechtsstaatlichen Charakter der jungen

Bundesrepublik Deutschland zum Tragenzu bringen, berief sich Dr. Richter (DRP)auf Artikel 43 der Haager Landkriegs-ordnung, um die Entnazifizierung als v�l-kerrechtswidrig zu kennzeichnen. Logi-sche Folge dieser Argumentation: Das na-tionalsozialistische Recht war als positi-ves Recht rechtsstaatlich und gilt auchweiterhin.

Auch der Theologe Dr. Eugen Gersten-meier [1906-1986] (CDU)12 forderte inseinem Debattenbeitrag „den Abschlu� derEntnazifizierung mit ihrer Vermischung vonpolitischer Gesinnung und kriminellemTatbestand“, empfahl den Erlass einerAmnestie und „eine korrekte Strafverfol-gung dort, wo Verbrechen zur Rechen-schaft gezogen werden m�ssen“. Insofernbezog sich Gerstenmaier auf die Gruppeder „Hauptschuldigen“.Damit geriet der systemische Charakternationalsozialistischer Verbrechen und gro-�er und kleiner Untaten aus dem Blick:sie wurden individualisiert, zu pers�nlichenStraftaten umgebogen und damit nivelliert.Das schien deshalb notwendig, weil dieRegierung vorhatte, ein Staatsschutzgesetzzu erlassen, in dem die Beendigung derEntnazifizierung eingebettet werden soll-te.W�hrend die Vorredner scheinbar neu-

tral mit der Rechtsstaatsargumentation um-gingen, verwies Dr. Hans-Joachim v. Mer-katz [1905-1982] (DP) offen auf die poli-tische Implikation dieser Argumentationund behauptete, dass sich die Entnazifi-zierung als eine „Mi�geburt aus totalit�-rem Denken und klassenk�mpferischerZielsetzung“ [...] entpuppt“ habe.13

Damit war der ideologische Br�cken-schlag zwischen „rechtem“ und „linkem“Totalitarismus, der durch das geplante

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Staatsschutzgesetz bek�mpft werden soll-te, vorgenommen.Dem geplanten und zu erarbeiteten Staats-schutzgesetz widmete sich haupts�chlichder Debattenbeitrag des Innenministers Dr.Heinemann (CDU), der die Initiativen vonJustiz- und Innenministerium zur Ausge-staltung der BRD im Sinne einer parteien-politisch instrumentalisierten, (gesamt)ge-sellschaftlich autorit�r und repressiv wir-kenden Demokratie vorstellte. Demnachseien Gesetzesinitiativen vorgesehen zurErrichtung eines Bundesamtes f�r Verfas-sungsschutz, zur Versammlungsverord-nung, zur Etablierung eines Bundesver-fassungsgerichtshofs, um Vereine und po-litische Parteien mit verfassungswidrigenZielen verbieten zu k�nnen, und zu einerStrafrechtsnovelle, bei der es nicht nur da-rum gehe, „Bestimmungen �ber Hoch-und Landesverrat zu erarbeiten und denTatbestand des Friedensverrates einzu-schlie�en, sondern vor allen Dingen dar-um, die Ver�chtlichmachung von Staats-organen, Staatsymbolen und verantwort-lichen Amtstr�gern und f�r politische L�ge,f�r Volksverhetzung und St�rung verfas-sungsm��iger Ordnung“ zu normieren.Dar�ber hinaus sollte auch das Pressege-setz �berarbeitet werden, um „versch�rf-te Bestimmungen �ber die Berichtigungfalscher Nachrichten“, die „Wahrheits-pflicht der Presse“ und den Ausschlussvon Strohm�nnern als verantwortliche Re-dakteure, z.B. immuner (Bundes- undLandtags-) Abgeordneter, aufnehmen zuk�nnen.14

Insofern war der Zwischenruf des Abge-ordneten Friedrich Rische [genannt Fritz,geb. 1914] (KPD) folgerichtig:„Was bleibt denn dann eigentlich von derDemokratie noch �brig ?“15

Die Polemiken gegen vorangegangeneMa�nahmen der politischen S�uberungnach dem Krieg wurde immer offener unddemagogischer. So pl�dierte Adolf v.Thadden [1921-1996] (DRP)16 f�r eineAmnestie, weil die Entnazifizierung dieLegalisierung von Racheakten gewesensei, die im Sinne des Strafrechts in Dieb-stahl m�ndeten; Dr. Hermann Etzel [1882-1978] (BP) sprach von politischer Ver-geltung und einem „politischen Tumor amdeutschen Volksk�rper“.Der Versuch des bayrischen Abgeordne-ten Alfred Loritz [1902-1979] (WAV), ei-nem ehemaligen Entnazifizierungsminister,dieser Demagogie entgegen zu treten wirk-te dagegen hilflos. Loritz warf nicht nurden b�rgerlichen Parteien vor, 1946/47durch ihre Ausweitung der Entnazifizie-rung auf „kleine NSDAP-Mitglieder“ die„wirklich Hauptschuldigen“, darunter auchdie „Bef�rworter des Erm�chtigungsgeset-zes“, gesch�tzt zu haben, sondern sprachauch aus, dass der FDP-Antrag mit derEinzelfallbehandlung der Hauptschuldigen(Kategorie I und II) nach strafrechtlichenGesichtspunkten, „es diesen Leuten [...]erm�glichen will, nicht mehr vor die Ent-nazifizierungsbeh�rden zitiert zu werden.“17

Stattdessen pl�dierte Loritz f�r die Beibe-haltung der gesetzlichen Schuldvermutunggegen�ber den Hauptschuldigen, die er inden Kreis- und Gauleitern der NSDAP so-wie in den Gestapochefs sah.Auch Fritz Erler [1913-1967] (SPD) wiesdie vermeintliche Rechtsstaatsargumen-tation der rechtsb�rgerlichen und -extre-mistischen Parteien zur�ck. Er betonte,dass die SPD sich auf allen Ebenen dage-gen widersetze, „den S�uberungsgesetzeneinen strafrechtlichen Charakter zu ge-ben“18, da es sich um politische Mitver-antwortung f�r Millionen Tote des Zwei-

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ten Weltkrieges, f�r sieben Millionen ver-triebene Deutsche und zahlreiche zerst�r-te deutsche St�dte handele. Die politischeS�uberung „sollte nationalsozialistischeEinfl�sse auf Politik, Kultur und Wirt-schaft ausschalten und die Verantwortli-chen je nach dem Grad ihrer Verantwor-tung mit einer gewissen S�hne zum Aus-gleich f�r den angerichteten Schaden be-legen. Au�erdem war daran gedacht durchdie Ausnutzung von Beziehungen zumvergangenen Regime erlangte Verm�gens-vorteile und Sonderprofite den so beg�n-stigten wieder zu entziehen“. Diesem An-liegen, so Erler, h�tten zuvor auch FDP,CDU und DP zugestimmt. Der entschei-dende politische Fehler nach dem Zwei-ten Weltkrieg aber sei gewesen, nicht„durch eine Art revolution�ren Zupackensdie Partei ihrer H�upter zu berauben“19;statt dessen habe die Art der Durchf�h-rung der politischen S�uberung den Mit-gliedern der atomisierten NSDAP „einMa� von Zusammengeh�rigkeits- undSolidarit�tsgef�hl“ vermittelt.Ein weiterer Fehler sei auch gewesen, dassmit Aufhebung der Artikel 80-94 des deut-schen Strafrechts durch die Kontrollrats-direktive (KRD) 11 vom 30.1.1946, denDeutschen die M�glichkeit genommenworden war, „alle jene M�nner vor einemdeutschen Gericht zur Verantwortung zuziehen, die an der hochverr�terschen Fes-tigung der Macht Hitlers im Fr�hjahr 1933aktiv teilgenommen haben.“20 Weiter w�rees notwendig gewesen, den „Nutznie�erndes Dritten Reiches ihre Beute wieder ab-zujagen.21 Statt dessen seien haupts�ch-lich „Mitl�ufer“ geahndet worden. Ab-schlie�end warnte Erler davor, „dass derSchlu�strich unter die politische S�ube-rung nicht gleichzeitig der Beginn der Re-nazifizierung wird“ und die Wiedergutma-

chung an den „Opfern“ der Entnazifizie-rung nicht eher vorgenommen werde, „alsdie Wiedergutmachung an echten Opfernder nationalsozialistischen Verfolgung“abgeschlossen sei.22

Nach dem SPD-Sprecher �u�erte sich derZentrumspolitiker Dr. Bernhard Reismann(1903-1982), deckte zuerst den Etiketten-schwindel des FDP-Antrags auf und be-merkte, dass es sich dabei faktisch umein „Gesetz zur Amnestierung aller Na-zis“23 handele, zumal in der britischenBesatzungszone in Gruppe III ehemaligeNazis mindestens im Rang eines Kreis-oder Ortsgruppenleiters eingestuft w�rden.Dann ging der Jurist Dr. Reismann als er-fahrener Anwalt darauf ein, dass ein Ge-setz entsprechend dem FDP-EntwurfSchadensersatzanspr�che mit sich brin-gen werde, damit Auswirkungen auf dieFinanzlage des Bundes habe und arbeite-te heraus, dass die gro�en Nazis, die sichlange verborgen halten konnten, amnestiertwerden sollten und „jetzt im Schatten derAmnestie aus den Mausel�chern kommen,die ihnen das erm�glicht, sollen jetzt gro�-z�gig von den Schwierigkeiten befreitwerden, die sie sich redlich verdient ha-ben !“ In diesem Zusammenhang kritisierteDr. Reismann auch die nazifreundlicheGerichtspraxis mit ihrer verdeckten Rena-zifizierung und verwies darauf, dass derBund f�r die Gesetzgebung der Entnazifi-zierung keine Zust�ndigkeit besitze:24

„Ich bin Anwalt und stehe nicht blo� alsAbgeordneter, sondern auch als Verteidi-ger im �ffentlichen Leben. Wenn es einBelastungszeuge wagt, gegen einen Nazietwas zu sagen, findet sich morgen derzweite Nazi, der ihn belastet, und �ber-morgen sieht sich der Belastungszeugeeinem Meineidsverfahren gegen�ber.“

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Der Redner beschloss seine engagiertenAusf�hrungen mit der politisch eindeuti-gen Aussage:„Ich bin f�r eine totale Ablehnung beiderAntr�ge, nicht f�r Verweisung an einenAusschu�.“25

Der KPD-Abgeordneter Hugo Paul [1905-1962] kritisierte namens der kommunisti-schen Bundestagsfraktion ebenfalls dengrundfalschen Ansatz der Entnazifizie-rungspolitik, der gerade nicht diejenigen,die Hitler an die Macht gebracht h�tten,n�mlich die Gro�grundbesitzer und Mo-nopolkapitalisten, verfolge. Dabei verwieser auch auf die Nazianh�nger in der CDU.Auch Paul sprach sich f�r die Beendigungder Entnazifizierung aus, und mahnte,dass die von Bundesjustizminister Heine-mann (CDU) angek�ndigten Gesetze vorallem gegen Kommunisten und friedlicheKr�fte gerichtet seien. Der KDP-Sprechererkannte aber nicht, wie der vor ihm spre-chende Zentrumsabgeordnete Dr. Reis-mann, die taktisch-politischen Finessendieser Entnazifizierungsantr�ge.Kurz vor Ende der Debatte verweis Dr.Heinrich v. Brentano [1904-1964] nochdarauf, dass die Beendigung der Entnazi-fizierung nicht mit einem Vergessen des-sen, was in den Jahren 1933-1945 gesche-hen war, einhergehen d�rfe. In einem Kurz-beitrag von Euler (FDP) kritisierte diesernoch einmal den strafrechtlichen Charak-ter der Entnazifizierung ebenso wie dieSPD und die L�ndergesetze zur Entnazi-fizierung der von ihr gef�hrten Landesre-gierungen; deshalb betonte er ausdr�ck-lich die Bundesgesetzgebungszust�ndig-keit. Auch Dr. Richter (DRP) versuchtenoch einmal mit moderateren Worten f�rdie Zustimmung beider Gesetzesvorlagenzu werben.

In der Abstimmung wurde der FDP-An-trag zur weiteren Beratung an den Aus-schuss verwiesen. Der DRP-Antrag wur-de abgelehnt.

In der Debatte selbst zeigte sich, wie zi-tiert, zweierlei: Einmal wurde die Rechts-staatsargumentation strategisch bewusstvon allen Rednern der Rechtsparteien be-nutzt, um die politische S�uberung zu dis-kreditieren. Zum anderen konnten die Ver-treter der Linksparteien SPD und KPD –sowie auch des katholischen Zentrum –politisch den demagogischen Charakterdieser Argumentation durchschauen – siekonnten aber parlamentarisch nichts da-gegen setzen.

Nach dieser Bundestagsdebatte �ber denFDP- und den DRP-Antrag zur Beendi-gung der Entnazifizierung legte auch dieDP als Rahmengesetz, deren Ausf�hrungs-bestimmungen die L�nder zu erlassen h�t-ten, ihren „Entwurf eines Gesetzes zurBeendigung der Entnazifizierung“ (Druck-sache 609 vom 22.2.1950) vor26, in demsie mit gleichem Wortlaut wie die FDP dieEinstellung laufender Verfahren forderte,dar�ber hinaus die R�ckgabe der Staats-b�rgerrechte auch f�r die in den Geset-zen der US-amerikanischen und franz�si-schen Zone als Hauptschuldige und Bela-stete definierte Personen (� 2).Ausgenommen werden sollten dabei die-jenigen, „die sich w�hrend der Dauer dernationalsozialistischen Herrschaft einesKriegsverbrechens, eines ‘Verbrechensgegen die Menschlichkeit’ nach Kontroll-Gesetz 10 oder einer aus Eifer f�r den Na-tionalsozialismus begangenen, nach demReichsstrafgesetzbuch strafbaren Hand-lung schuldig gemacht haben, wenn siedeshalb rechtskr�ftig verurteilt wurden

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oder gegen sie ein strafrechtliches Verfah-ren anh�ngig ist, das mit einer Verurtei-lung wegen einer der vorgenannten Straf-taten endet“ (� 3). Ausgenommen werdensollten auch diejenigen Personen, die nachder Kapitulation wegen einer „gegen dieDemokratie gerichtete Handlung strafrecht-lich verurteilt wurden, oder gegen die einsolches Verfahren anh�ngig ist, das mit ei-ner Verurteilung endet“, wobei der Staats-anwaltschaft ein �berpr�fungsrecht zu-komme. Ferner war in dem Gesetzesent-wurf der Erlass von noch nicht vollzoge-nen S�hnema�nahmen vorgesehen und dieHaftverschonung. Ausgenommen wurdenjedoch die Verurteilten durch das N�rnber-ger Milit�rgericht. Die Entnazifizierungs-beh�rden sollten aufgel�st und ihre Auf-gaben Gerichten �bertragen werden.

In der Bundestagssitzung vom 27. M�rz1950 begr�ndete Dr. v. Merkatz (DP) dasZiel dieses Antrags mit der „Beendigungder Entnazifizierung und politische Am-nestie f�r die Folgen eines politischen Irr-tums“, der strafrechtlichen Erfassung vonechten strafrechtlichen Tatbest�nde(n) undder Verbindung der Entnazifizierung mitneuen Schutzbestimmungen f�r die De-mokratie der Bundesrepublik.27

Dieser Antrag wurde ohne Debatte an denzwischenzeitlich gebildeten „Ausschu� f�rRechtswesen und Verfassungsrecht“ �ber-wiesen.Die ‘Gunst der Stunde’ nutzend, fordertenun auch die DRP in einem Antrag vom16. Juni 1950 (Drucksache 1057) die Bun-desregierung auf, die Landesregierungenanzuweisen, laufende Entnazifizierungs-verfahren sofort einzustellen.

5. Der „Ausschuss f�r Rechtswesen undVerfassungsrecht“ und der Ausschuss-berichtMit den Antr�gen zur Beendigung der Ent-nazifizierung (Drucksache 13: DP, Druck-sache 27: WAV, Drucksache 97: FDP,Drucksache 99: BP, Drucksache 482: FDP,Drucksache 609; DP [und] Drucksache1.057 DRP) wurde der „Ausschu� f�rRechtswesen und Verfassungsrecht“ (23.Ausschu�)28, der sich am 13. Oktober1949 konstituierte, betraut. Ihm geh�rtensieben Mitglieder der CDU/CSU-Frakti-on (Hoogen, Dr. Schatz, Dr. Kateher, Dr.Kopf, Dr. Jaeger, Dr. Weber, Karl; Prof.Laforet), f�nf Mitglieder der SPD-Frakti-on (Zinn, Eichler, Arndt, Brill, Nadig), vierMitglieder der FDP-Fraktion (Neumayer,Onnen [stellvertretend Pfleiderer], Schnei-der [stellvertretend Trischler], Oellers) undjeweils ein Mitglied der Fraktionen von DP(v. Merkatz), BP (Etzel) und KPD (Leib-rand) an.Auf seiner konstituierenden Sitzung wur-den Bundesjustiz- und Bundesinnenmini-sterium gebeten, in Stellungnahmen zupr�fen, ob Bundeszust�ndigkeit hinsicht-lich der Aufhebung von Strafen und S�h-nema�nahmen im Zusammenhang mit derEntnazifizierung bestehe; au�erdem soll-ten sie eine Zusammenstellung aller Vor-schriften zur Entnazifizierung vorlegen.29

Im Schreiben des Justizministers Dehler(FDP) vom 15. November 1949 wurdedie Zust�ndigkeit des Bundes f�r die An-tr�ge verneint: Die Entnazifizierung seinicht Gegenstand der konkurrierenden Ge-setzgebung nach Artikel 74 GG.Was eine �bersicht �ber die Vorschriftenzur Befreiung des Volkes vom National-sozialismus betraf, musste Dehler beken-nen: „Ich bin zu meinem Bedauern sach-lich nicht in der Lage“. Dazu sei auch viel

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Zeit n�tig. Im �brigen sei durch Kabinetts-beschluss vom 11. November 1949 zwi-schenzeitlich das Bundesministerium desInnern f�r Fragen der Entnazifierung, so-fern sie in die Kompetenz des Bundes fal-le, f�r „federf�hrend“ erkl�rt worden.30

Auf der 7. Sitzung des Ausschusses f�rRechtswesen und Verfassungsrecht am13. Dezember 1949 erstattete der Sozial-demokrat Dr. Hermann Brill [1895-1959]Bericht zu den Gesetzesantr�gen.Brill ging zun�chst vom Artikel 139 GGaus: „Die zur ‘Befreiung des deutschenVolkes vom Nationalsozialismus und Mi-litarismus’ erlassenen Rechtsvorschriftenwerden von den Bestimmungen diesesGrundgesetzes nicht ber�hrt“ und folger-te daraus:a) „Artikel 139 enth�lt eine �bergangsvor-schrift, die den Zweck hat, das verfas-sungsm��ige Recht in einen verfassungs-m��igen Zustand �berzuleiten. Verfas-sungsm��iges Recht im Sinne des Arti-kels ist das Entnazifizierungsrecht der L�n-der, das ohne R�cksicht auf andere Vor-schriften des Grundgesetzes im vollemUmfang in Kraft bleibt.“b) Hinsichtlich der Frage, ob die Grund-rechte den Artikel 139 GG einschr�nken,meinte er: „Eine Beziehung auf Artikel 2und 3 zur �nderung des Artikels 139 oderder von ihm gest�tzten Bereiche desRechts ist also nicht m�glich, also kanndaraus auch keine besondere Zust�ndig-keit des Bundes zur Gesetzgebung abge-leitet werden.“c) Was die Beziehung von Artikel 139 GGzu Artikel 74 GG betreffe, k�nne mit Arti-kel 125 GG gesagt werden, dass nur f�rdie Britische Zone eine Bundesamnestievorgenommen werden k�nne, Artikel 131GG sei nicht anwendbar.

Der zweite Teil des Brill-Berichts gibt eine�bersicht �ber das Landesrecht und denUmfang zur Entnazifizierung, kann sichdabei freilich nur auf Statistiken der US-Zone st�tzen.31

Diesen Ausf�hrungen Brills folgten die desDP-Abgeordneten Dr. v. Merkatz, der ar-gumentierte, dass sich in der Frage derEntnazifizierung „zwei ganz verschiedeneMethoden, ideologisch-soziologische Aus-schaltungsmethoden, wie [...] im bolsche-wistischen Russland angewandt und alsrechtlich zul�ssig erkannt, und eine alteangels�chsische Rechtsvorstellung, wieman mit politisch schuldig befundenenElementen verfahren kann“32, verbindenw�rden.Diese Verbindung habe zur Einigung aufdie Kontrollratsgesetze (KRG) 24 und 38gef�hrt. Doch insgesamt habe es sich umfremdes Recht gehandelt, das mittels desBesatzungsstatus aufgel�st werden k�n-ne, weil dieses nichts zur Entnazifizierungbestimme.Hinsichtlich des Widerspruchs Artikel 139GG zu den Grundrechten f�hrte er dannaus:„Ich halte es also wegen der systemati-schen Stellung der Grundrechte und derUnab�nderlichkeit des Artikels 1, aus demsich diese Menschenrechte entwickelt ha-ben, und wegen ihrer Bindung an dasV�lkerrecht, d.h. an die Rechts�berzeu-gung der gesamten zivilisierten Welt, f�rausgeschlossen, dass eine so widerspr�ch-liche Vorschrift wie Art. 139 tieferen Be-stand haben kann [...] Artikel 139 pa�tabsolut nicht zu dem ganzen �brigenGrundgesetz. Es ist ein Fremdk�rper, einPfeil, der, von Jalta aus abgeschossen,noch mitten im Fleisch unseres Rechts-systems steckt, wenn ich mich so aus-

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dr�cken darf. Hinter dem Artikel 139steckt so etwas wie ein Befehl der Interven-tionsbesetzung, eine vorausgesetzte Auf-lage, die nach dem Erla� des Besatzungs-statuts jetzt der �berpr�fung bedarf undso nicht aufrecht zu erhalten ist.“Obwohl er mit dieser Einsch�tzung Unru-he unter den Anwesenden ausl�ste, argu-mentierte v. Merkatz unbeirrt weiter:„Es steckt hier ein guter Teil Klassenkampfmit drin. Und das ist ein Rechtsmi�-brauch.“Der DP-Bundestagsabgeordnete betontenochmals, dass man allein mit dem Straf-recht auskomme:„Von der Bestrafung reiner Gesinnungs-delikte m�ssen wir wegkommen, und zwarso schnell wie m�glich.“

Am 21.7.1950 �berwies der Ausschuss f�rRechtswesen und Verfassungsrecht we-gen Arbeits�berlastung die Behandlungdes FDP-Gesetzesentwurfs zur Beendi-gung der Entnazifizierung dem Ausschusszum Schutze der Verfassung, dem f�nf-ten Ausschuss, der auch alle anderen ge-stellten Antr�ge an sich zog, um sich mitihnen in verschiedenen Sitzungen im Sep-tember und Oktober zu besch�ftigen.In diesem Ausschuss waren es vor allemv. Merkatz (DP) und Euler (FDP), die sichf�r bundeseinheitliche Regelung, schnelleBeendigung der Entnazifizierung bis 1951und Einbeziehung auch derer, die in Kate-gorie I und II [Hauptschuldige und Bela-stete] fielen, aussprachen. Diese politischePosition begr�ndete Euler so:„Angesichts des sehr schnellen Wandelsder gesamtgesellschaftlichen Verh�ltnissekomme es nun heute darauf an, die Ver-gangenheit begraben sein zu lassen, zu-mal in den f�nf hinter uns liegenden Jah-ren genug geschehen sei, was zur S�hne

vergangener Taten und Handlungen erfor-derlich gewesen sei, und unser Volk zufestigen, damit es den Gefahren aus demOsten gewachsen sei.“33

Der DP-Redner v. Merkatz pflichtete Eulerbei und bem�ht das Totalitarismusdogma,um Opfer und T�ter gleichzusetzen, in-dem er erkl�rte:„Bolschewismus definiere er immer als dietotalit�re Zusammenfassung der �u�erstenRechten und der �u�ersten Linken“.34

Nachdem die Frage der Bundeszust�n-digkeit der Entnazifizierung mit der Mehr-heit von neun gegen vier Stimmen bei ei-ner Enthaltung abgelehnt worden war, er-arbeitete man als Empfehlung, „die Bun-desregierung zu ersuchen, bei den L�n-derregierungen dahin vorstellig zu werden,dass diese alsbald durch eine �bereinstim-mende landesgesetzliche Regelung dieDenazifizierung unter Ber�cksichtigungfolgender Gesichtspunkte zum Abschlu�zu bringen“35 haben.Ein Unterausschuss sollte die erw�hnten„Gesichtspunkte“ ausarbeiten. DiesemUnterausschuss geh�rten v. Merkatz (DP),Jaeger (CDU/CSU), Euler (FDP) undGleisner an. Auf der 15. Sitzung des Aus-schusses am 27.9.1950 wurden die Vor-schl�ge des Unterausschusses von Eulerdargelegt:„Mit dem 30. Juni 1951 alle Beschr�nkun-gen f�r alle Gruppen wegfallen zu lassen,n�mlich a) Beschr�nkungen der Freiz�gig-keit, b) Verm�gensbeschr�nkungen mitAusnahme bereits ausgesprochener Ver-m�genseinziehungen, c) Berufs- und T�tig-keitsverbote, d) Beschr�nkung des akti-ven Wahlrechts. Der Referent tritt pers�n-lich auch f�r die Aufhebung der Beschr�n-kung des passiven Wahlrechts ein.“36

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Der FDP-Sprecher Euler stellte sogar denweitergehenden Antrag,„dass Beschr�nkungen des passiven Wahl-rechts f�r Angeh�rige der Gruppe 1 und2 nach dem 30. Juni 1951 nicht mehr gel-ten“37 sollen.Dieser Antrag jedoch wurde mit acht ge-gen f�nf Stimmen abgelehnt.

Auf der Sitzung am 5. Oktober 1950 ginges haupts�chlich um die Behandlung derEntnazifizierungsf�lle der unter KategorieI und II fallenden Personen, der Haupt-schuldigen und Belasteten.W�hrend die SDP f�r eine Zehn-Jahres-frist pl�dierte und dabei als Datum zurBeendigung der Entnazifizierung dieserPersonen den 31.12.1955 festlegen woll-te, war es erneut der FDP-Vertreter Euler,der sich nachdr�cklich f�r die Interessendieser Gruppe einsetzte, ihre Taten ver-harmloste und ihre Bedeutung herunter-spielte. Letztendlich aber wurde auch die-ser Antrag Eulers (mit zehn zu drei Stim-men) abgelehnt.38

Der Ausschuss erstellte zwei Berichte anden Bundestag: Der erste datiert 6. Okto-ber 1950 (Drucksache 1440), und zweite24. November 1950 (Drucksache 1658).

6. Die Debatte um den Ausschussbe-richtDie Empfehlungen des Ausschusses folg-ten weitgehend den Absichten der Antr�-ge von FDP- und DP-Fraktionen.In seinem m�ndlichen Bericht (Drucksa-che 1440)39 empfahl Berichterstatter Dr.Walter Menzel [1901-1963] (SPD), derBundestag m�ge beschlie�en, dass dieBundesregierung auf die L�nder einwir-ken solle, die Entnazifizierung unter Be-r�cksichtigung folgender Punkte, zu be-enden, dass n�mlich

1) ab dem 1.1.1951 Entnazifizierungs-verfahren f�r Betroffene der KategorienIII, IV und V nicht mehr zul�ssig seien,f�r Betroffene der Kategorien I und II sol-len die L�nder von den Besatzungsbe-h�rden die Zust�ndigkeit auf deutscheBeh�rden erwirken;2) bis zum 31.3.1951 Betroffene der Ka-tegorien I und II beantragen k�nnen, ineine g�nstigere Kategorie eingestuft zuwerden;3) ab dem 31.7.1951 f�r alle Kategoriendie Freiz�gigkeitseinschr�nkungen entfal-len sollen;4) ab 31.12.1950 alle T�tigkeitsbeschr�n-kungen – ausgenommen der f�r Katego-rie I und II als Lehrer, Prediger, Redak-teur, Rundfunkkommentator sowie f�r h�-here �mter im �ffentlichen Leben – auf-gehoben werden;5) ab 1.7.1951 alle Beschr�nkungen desaktiven und passiven Wahlrechts beendetwerden mit Ausnahme des passiven Wahl-recht f�r Betroffene der Kategorien I undII;6) ab 1.7.1951 alle Verm�genssperren auf-gehoben und ab 1.1.1951 S�hnegelder undVerfahrenskosten f�r die Betroffenen derKategorien III, IV und V nicht mehr ein-gezogen werden;7) die zu Arbeitslager Verurteilten amnes-tiert werden.

In der 92. Bundestagssitzung am 18. Ok-tober 195040 erl�uterte Menzel dem Ple-num den Inhalt des Ausschussantrages.Er f�hrte dabei aus, dass die Mehrheit desAusschusses zum einen „das Recht �berdie Entnazifizierung nicht als Strafrecht,sondern als ein Recht besonderer Art, ge-boren aus der politischen Situation, ange-sehen“41 und zugleich den strafrechtlichenCharakter der Entnazifizierung abgelehnt

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habe, dass die Ausschu�mehrheit zumanderen die Beendigung der Entnazifizie-rung als Angelegenheit der L�nder ange-sehen habe und dass die Richtlinien drit-tens mit elf Ja- gegen drei Nein-Stimmenangenommen worden seien.Menzel betonte abschlie�end, dass dieStaatsanwaltschaften aufgerufen seien, dieVerfolgung von Personen, die unter Ver-dacht von „Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit“ st�nden, nachdr�cklich zu ver-folgen.In der sich anschlie�enden Debatte spra-chen vier Redner:F�r die FDP wollte Dr. Ludwig Schnei-der [1898-1978] eine wichtige �nderung„in einem entscheidenden Punkt erg�nztwissen, n�mlich in dem Punkt, da� wirder Meinung sind, da� man endlich mitdieser ungl�ckseligen Entnazifizierung [...]Schlu� machen soll, und zwar endg�ltigund radikal, auch f�r die Gruppen I undII (Beifall in der Mitte).“42

Als weitere �nderung forderte Schneidereine einheitliche zeitliche Festlegung f�r dieBeendigung der Entnazifizierung, n�mlichals Datum den 1. Januar 1951; ferner emp-fahl der Redner, dass zus�tzlich zur Am-nestie den Ministerpr�sidenten der L�n-der das Begnadigungsrecht zuerkanntwerden sollte.Als zweiter Redner trat Adolf v. Thadden(DRP) auf, um den �nderungsantrag sei-ner Partei vorzutragen und zu begr�nden.Hier lauteten die wichtigsten Forderungen:„1. Entnazifizierungsverfahren mit dem Zielder Einstufung in eine Gruppe (Katego-rie) sind nach dem 1.Januar 1951 nichtmehr zul�ssig. Anh�ngige Verfahren sindeinzustellen. Die Besatzungsbeh�rdensind aufzufordern, keine Entnazifizierungs-verfahren mehr durchzuf�hren [...] 3. Ver-fahren gegen ehemalige Mitglieder der

NSDAP oder einer ihrer Gliederungen sindin Zukunft nur noch nach Ma�gabe straf-barer Handlungen gem�� der Bestimmun-gen des Strafgesetzbuches durchzuf�h-ren.“43 Dar�ber hinaus habe die Aufhe-bung ausgesprochener Sanktionen bis31.12.1950 bzw. 1.1.1951 zu erfolgen.

Die hinter diesen Antr�gen stehende poli-tische Strategie in der Tat verkennend,beantragte Wilhelm Mellies [1899-1958]von der SPD, angesichts der eingebrach-ten �nderungsvorschl�ge, die Angelegen-heit noch einmal an den „Ausschu� zumSchutze der Verfassung“ zur�ckzuverwei-sen.

Dr. v. Merkatz (DP) als vierter Rednerbetonte, dass seine Fraktion vor allem des-halb den vorliegenden Ausschussempfeh-lungen nicht zustimmen k�nne, weil „dieBeendigung der Entnazifizierung sich auchauf die Gruppen I und II zu erstreckenhat“44 und die Frage der Beamtenbez�gef�r die Gema�regelten nicht gekl�rt sei.

In der Abstimmung wurde der Antrag derSPD auf „R�ckweisung“ der �nderungs-antr�ge in den Ausschuss mehrheitlich mitwenigen Gegenstimmen angenommen.45

Der neue Antrag des Ausschusses (Druck-sache 1658) vom 24. November 195046

kam den Antragsstellern dahingehend ent-gegen, dass die Termine vorgezogen wur-den: Die Aufhebung der Freiz�gigkeits-beschr�nkungen wurde auf den 1. April1951 und die der Berufs- und T�tigkeits-beschr�nkungen auf den 31.3.1951 gelegt;am 1. April 1951 sollten auch die Be-schr�nkungen des aktiven und passivenWahlrechts enden und die Aufhebung derVerm�gensbeschr�nkungen erfolgen.

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Erg�nzt wurde der Antrag durch vier Er-suche: Einmal sollte das Bundesministeri-um der Justiz „eine �bersicht �ber die imBundesgebiet durch Gesetze der Nazidik-tatur, aus politischen Gr�nden verurteil-ten Personen vorlegen“ und darin ange-ben, „welche Strafen aus diesen politi-schen Ursachen vollstreckt worden sind“.Zum anderen sollte das Bundesministeri-um des Innern „eine �bersicht �ber dieim Bundesgebiet in Konzentrationslagernund sonstigen Lagern gestorbenen Perso-nen“ vorlegen. Drittens sollte die Bundes-regierung einen Bericht �ber begangeneNaziverbrechen im Bundesgebiet und imAusland erarbeiten. Viertens sollte die Bun-desregierung den „Entwurf eines Wieder-gutmachungsgesetzes f�r alle im Bundes-gebiet wohnenden politisch, rassisch oderreligi�s verfolgten Personen“ erstellen.

Damit wurde nun das Anliegen derer, diedie T�ter verschonen und rehabilitierenwollten, mit dem der Opfer verquickt, unddies dazu noch parlamentarisch ineffektivin Form von Ersuchen an die Bundesre-gierung anstelle von eigenen Antr�gen derParlamentarier.

Obwohl FPD und DP mit dem zweitenAusschussantrag kleine �nderungen inihrem Sinne durchsetzen konnten, war ihrHauptanliegen, die Befreiung der Entnazi-fizierung auf die Personen der Gruppe Iund II, der Hauptschuldigen und Belaste-ten am Naziregime, nicht erreicht worden.

Deshalb versuchten sie es erneut auf der108. Bundestagssitzung47 am 15. Dezem-ber 1950, auf der der Ausschussantragbeschlossen werden sollte. Beide Partei-en legten n�mlich wiederum �nderungs-vorschl�ge vor und erreichten damit eine

erneute Debatte �ber die Entnazifizierung,die zuvor vom �ltestenrat abgelehnt wor-den war.Dr. Richard Hammer (FDP) forderte dieHauptaussage des Ausschussantragespauschal zu fassen:„Entnazifizierungsverfahren sind nachdem 1. Januar 1951 nicht mehr zul�ssig.Anh�ngige Verfahren sind einzustellen.“48

Damit einher gingen weitere redaktionelle�nderungen, die mit der Terminsetzungzusammenhingen.Die Begr�ndung des DRP-�nderungsan-trages verband Dr. Hammer mit der Dif-famierung und Verspottung der alliiertenS�uberungspolitik und der Opfer des Na-tionalsozialismus: W�hrend die �berleben-den – gemeint waren die Opfer – nachdem Krieg Rache, Vergeltung und S�hneverlangt h�tten, wollten die Alliierten alsQuasi-Polizeitruppe die eigentlich unver-meidliche Revolution verhindern und h�t-ten „deshalb den merkw�rdigen Versuchgemacht, jene Nacht der langen Messerdurch ein gerichts�hnliches Vorgehen zuersetzen. Man hat geglaubt, man k�nneein ausgefallenes Naturereignis mit derJustitia nachahmen [...] Ich bin �berzeugt,noch jahrhundertelang werden in den Se-minaren f�r Geschichtswissenschaft undRecht diese Dinge nicht ohne Schmun-zeln vorgetragen werden.“49

W�hrend Hammer Spott, Ironie und Zy-nismus an den Tag legte, versuchte HansEwers [1884-1968] (DP) schulmeisterhaftzu erkl�ren, dass in der britischen Zoneein von der amerikanischen Zone unter-schiedliches Entnazifizierungsverfahrendurchgef�hrt worden sei, das zwei Verfah-rensarten miteinander verkn�pfte: dasSpruchkammerverfahren und das Straf-verfahren. Um die rechtliche Unzul�ssig-

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keit und damit das Unrecht dieses Vorge-hens zu begr�nden, schloss Ewers, nunin demagogischer Form, an die Rechts-staatsideologie an:„Es handelt sich dabei um die Durchf�h-rung des ersten gro�en Generalurteils ausN�rnberg, in dem bekanntlich, was bis-her im Strafverfahren neu war, ganze Or-ganisationen f�r verbrecherisch erkl�rtwurden, wobei dann dem Einzelverfahrenvorbehalten blieb, diese Konsequenz desUrteils zu ziehen.“50

Somit seien Personen, die einer nach demN�rnberger Urteil als verbrecherisch an-gesehenen Organisation angeh�rt h�tten,wegen eines Tatbestandes dreier Verfah-ren ausgesetzt worden:„Einmal erledigte sich vor den Spruchkam-mern die Frage: Geh�rst du in Kenntnisdes verbrecherischen Charakters einer Or-ganisation an? Dann kam das Entnazifizie-rungsverfahren. Drittens kam, wenn siepers�nlich eines Verbrechens verd�chtigtwaren, au�erdem ein Strafverfahren we-gen dieses Verbrechens. Eine Justizmetho-de, die jedenfalls mit dem ‘ne bis in idem’nichts zu tun hat, d.h. mit dem Grund-satz, nicht zweimal in derselben Sache einVerfahren gegen denselben T�ter anzu-strengen.“51

Deshalb forderte Ewers eine – scheinbarnur kleine – Erg�nzung dieses Satzes imAusschussantrag: „Die Beendigung derEntnazifizierung soll die Periode der sche-matischen Bewertung ganzer Personen-gruppen wegen ihrer Zugeh�rigkeit zuOrganisationen oder Einrichtungen dernationalsozialistischen Herrschaft ab-schlie�en.“Diesem Satz nun sollte ein Nebensatz an-gef�gt werden: „sich insbesondere auchauf Personen beziehen, die in der fr�he-ren britischen Zone durch die Spruch-

gerichte allein wegen ihrer Zugeh�rigkeitzu einer im N�rnberger Urteil als verbre-cherisch bezeichneten Organisation mitStrafe belegt wurden.“52

Diese „kleine“ Erg�nzung sollte in der Tatalle verantwortlich-exponierten NSDAP-,Gestapo-, SD- und SS-Mitglieder denEntnazifizierungsma�nahmen entziehen.Dar�ber hinaus hatte der f�r die DP spre-chende L�becker Rechtsanwalt auch nochderen v�llige Rehabilitierung durch L�-schung der entsprechenden Eintr�ge imStrafregister vorgesehen.

Das Ansinnen von FDP und DP entsprachganz den Vorstellungen der SRP. Deshalbunterst�tzte ihr Sprecher, v. Thadden, auchdie vorgetragenen �nderungsantr�ge undverwies dar�ber hinaus angesichts der an-stehenden (Re-)Militarisierung des Landesdarauf, dass im Ausschussantrag „die klei-nen Majore des deutschen Generalstabesund die Unteroffiziere der Waffen-SS im-mer noch zum Personenkreis der KlasseII“ gez�hlt werden, ja, dass auch die Mi-nister, die nun die Aufr�stung betrieben,im Grunde nach Artikel 8 des Befreiungs-gesetzes anzuklagen seien.53 Deshalb sollteund m�sste die CDU/CSU den Erg�n-zungsantr�gen der FDP und DP zustim-men.

Der CDU-Abgeordnete Matthias JosephMehs [1893-1976] lehnte im Namen sei-ner Partei die �nderungsantr�ge ab:„Wenn wir uns jedenfalls auf den Stand-punkt stellen, der hier vorgetragen wor-den ist, dass also die gro�en S�nder derGruppe I und II wieder freigelassen wer-den und mit wei�en Westen herumlaufen,dann w�rde das tats�chlich bedeuten, dassdas Dritte Reich nicht stattgefunden hat.“54

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W�hrend Brill im Namen der SPD umZustimmung f�r den unver�nderten Aus-schussantrag warb, lehnte die KPD-Frak-tion diesen ab, „denn er verquickt die ein-fachen Mitl�ufer mit den gro�en Kriegs-verbrechern.“55

Deshalb beantragten die Kommunisten dieAbstimmung �ber den Antrag abschnitt-weise vorzunehmen.Dagegen unterst�tzte Dr. Fritz Oellers[1905-1977] (FDP) nachdr�cklich denDP-�nderungsantrag und begr�ndete dies�ffentlich durch die unzutreffende Behaup-tung, dieser w�rde nicht die Gruppe I undII bezielen.

Obwohl der Bundestagspr�sident die Aus-sprache geschlossen hatte, erhielten den-noch der damalige Bundesminister desInnern, Dr. Robert Lehr [1883-1956] undder Staatssekret�r im Bundesministeriumder Finanzen, Alfred Hartmann [1894-1967], die M�glichkeit, den Standpunktder Regierung darzulegen. Lehr gab zu-n�chst zu bedenken, dass mit der Annah-me des Ausschussantrages „die Landes-gesetze diesen Empfehlungen, die der Bun-destag an sie gerichtet hat, anzupassen“h�tten. Er versprach eine �bersicht �berKonzentrationslager und ihrer Todesop-fer zu erstellen und kl�rte dar�ber auf, dassdie L�nder sich geeinigt h�tten, die Wie-dergutmachung zu betreiben, so dass keinBundesgesetz notwendig sei.56 Das best�-tigte sodann auch Staatssekret�r Hart-mann, der weiters zu bedenken gab, dassdie Forderung eines Wiedergutmachungs-gesetzes in der Form, wie sie der Antragbeinhalte, „eine R�ckbildung des Wieder-gutmachungsrechtes“ darstelle, weil es dieEmigranten, Displaced Persons (DPs) undHinterbliebenen von Verstorbenen aus-schlie�e.57

Nachdem die Debatte wieder er�ffnet warund Hermann Brill (SPD), Johannes Kun-ze [1882-1959] (CDU) – damals Vorsit-zender des Bundestagsausschusses f�rden Lastenausgleich –, Margot Kalinke[1909-1981] (DP) und Werner Jacobi[1907-1970] (SPD) noch einmal parteipo-litische Statements abgaben, erfolgte dieAbstimmung: Die Erg�nzungsantr�ge derFDP, DP und DRP wurden mehrheitlichabgelehnt und der Antrag des Ausschus-ses unver�ndert beschlossen.58

Mit Schreiben vom 10. Mai 1951 (Druck-sache 2241) teilte Bundeskanzler Adenauerdem Pr�sidenten des Deutschen Bundes-tages mit, dass der Beschluss des Bundes-tages den Landesbeh�rden am 13. Febru-ar 1951 zugegangen sei und die Bundes-regierung beschlossen h�tte, „vorerst voneiner �ber das Gesetz zur Regelung derWiedergutmachung nationalsozialistischenUnrechts f�r Angeh�rige des �ffentlichenDienstes hinausgehenden, die Wiedergut-machungsgesetze der L�nder ab�ndern-den oder sie er�brigenden Bundesgesetz-gebung abzusehen.“59

Das bedeutete faktisch, dass einmal na-tionalsozialistische T�ter ihrer Rehabilitie-rung recht nahe gekommen waren und dasszum anderen die zu entsch�digenden na-tionalsozialistischen Opfer weiter hinge-halten wurden.

7. AusblickIm Grunde war die gesamte Auseinander-setzung um die Beendigung der Entnazifi-zierung auf Bundesebene nichts anderesals eine politische Propagandaveranstal-tung f�r die Rehabilitierung der Anh�ngerdes Nationalsozialismus, die unter dieKategorie I und II – Hauptschuldige undBelastete – gefallen waren bzw. noch fal-

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len sollten. Denn tats�chlich hatte erstensder Beschluss des Bundestags vom 15.Dezember 1950 als Empfehlung an dieLandesregierungen keinen rechtsverbind-lichen Charakter. Zweitens war die Entna-zifizierung faktisch schon so gut wie be-endet, zumal es am 5. und 6. November1949 zu einem �bereinkommen der L�n-derjustizminister gekommen war. Drittensbezogen sich die verh�ngten S�hne- undStrafma�nahmen auch nur auf einen klei-nen Teil der Bev�lkerung, die in den dreiwestlichen Zonen, der sp�teren Bundes-republik Deutschland, 1946 45 MillionenMenschen z�hlte.So stellte Dr. Walter Menzel (SPD) fest:„In allen drei Zonen sind ca. 6,1 Millio-nen F�lle beendet worden, davon allein inder amerikanischen Zone 3,6 Millionen.Von diesen 3,6 Millionen der amerikani-schen Zone sind 2,5 Millionen amnestiertworden. In rund 59.900 F�llen wurde dasVerfahren durch Entscheidung erledigt.Die Anzahl der Verfahrensf�lle in der bri-tischen Zone betrug rund 2 Millionen undin der franz�sischen Zone rund 670.000[...] In der amerikanischen und franz�si-schen Zone sind in die Kategorie I 1.664Personen gebracht worden und in der Ka-tegorie II der Schuldigen und Belastetenrund 23.000, insgesamt nach I und II rund24.700. Vergleichbare Zahlen f�r die briti-sche Zone konnten nicht beigebracht wer-den [...].“60

Es handelte es sich demnach um eine kleineMinderheit von h�chstens 100.000 Per-sonen, die von den Entscheidungen derEntnazifizierungsverfahren negativ betrof-fen waren, darunter vor allem Kriegsver-brechen und Verbrechen gegen die Mensch-heit („crimes against humanity“), die inDeutschland bis heute f�lschlich als „Ver-

brechen gegen die Menschlichkeit“ her-untergespielt werden.Die parlamentarischen Vorst��e von DP,FDP, DRP und auch des Bundeskanzlerszielten auf diesen Personenkreis und da-mit auf die Rehabilitierung der sogenann-ten „Elite“ des NS-Systems ab.Die schon jahrelang vorher �ffentlich vor-gebrachte konservative Kritik an der Ent-nazifizierung61 wurde nun rasch nach derKonstituierung des Deutschen Bundesta-ges ins Parlament gebracht. Insofern dien-te diese repr�sentativ-demokratische In-stitution als „Trib�ne“ zur Verk�ndigungnihilistischer Rechtsstaatspositionen.Diese nihilistische Rechtsstaatspositionberuht auf einem Rechtsverst�ndnis, indem das Recht als Ausdruck b�rgerlicherKlassenverh�ltnisse eine �ber dem Staatstehende Stellung einnimmt.Da grunds�tzlich auch unter dem natio-nalsozialistischen Regime diese Klassen-verh�ltnisse nicht aufgehoben worden wa-ren, konnten gro�e Teile der unter demNationalsozialismus rechtlich geregeltenBereiche mit kleineren redaktionellen �n-derungen in der Bundesrepublik Deutsch-land �bernommen werden. Auch das Jus-tizpersonal r�ckte wieder in seine Posi-tionen ein:„Bereits 1948 waren 30 Prozent der Ge-richtspr�sidenten und 80 bis 90 Prozentder Landgerichtsdirektoren und -r�te derbritischen Zone wieder ehemalige Partei-genossen. In den anderen westlichen Zo-nen bot sich ein �hnliches Bild.“62

Mit sich als ‘unpolitisch’ ausgebendenRechtstechniken und Methoden, mit der�bernahme des von nationalsozialisti-schen „Ausw�chsen“ gereinigten b�rger-lichen Rechts und mit einem angeblich nurnach diesen Vorgaben handelndem Justiz-personal erhielt nicht nur der Begriff

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„Rechtsstaat“, sondern auch die Instituti-on der Justiz nihilistischen Charakter. Los-gel�st von jedweder ethischer (dabei im-mer auf ‘Gerechtigkeit’ zielenden) Grund-lage wurde Recht instrumentell angewandtund zugleich verkehrt: So konnten T�terwie Opfer und Opfer wie T�ter definiertund behandelt werden. Diese Tendenzdr�ckte sich am deutlichsten in den auf-einander abgestimmten FPD- und DRP-Antr�gen vom 31. 1. bzw. 15. 2. 1950 aus,in denen einmal die Kategorien IV und III– n�mlich Mitl�ufer und Minderbelastete– und zum anderen V, IV und III – n�m-lich Unbelastete und Mitl�ufer und Min-derbelastete – zusammengefasst und juri-stisch gleichbehandelt werden sollten.

Diese Verkehrung von Recht und Unrechtet vice versa ist dann m�glich, wenn Rechtals �berstaatliche Instanz verstanden wird,die auf einer transzendentalen Rechtsvor-stellung beruht. Dieser gelten zum Beispielauch die N�rnberger Rassegesetze (1935)und die NS-Konzentrationslager als„rechtsf�rmig“, also „nicht als au�erhalbder Rechtsordnung dieser Staaten ste-hend“ (Hans Kelsen), weil die Moral desRechts in der Norm als solcher liegt. Mi-cha Brumlik betont zutreffend: „Wer sol-ches Recht und solche Rechtsphilosophiehat, braucht kein Unrecht und keine Un-rechtsideologie mehr.“63

Dies war im Sinne des Zeitgeistes, derauch in der Gr�ndungs- und Fr�hphaseder Bundesrepublik als „Geist der Zeiten[...] im Grund der Herren eigner Geist, indem die Zeiten sich bespiegeln“, war[Faust I: 575-577], so notwendig wie funk-tional, um den Einfluss antifaschistischer,antimilitaristischer und anti-monopolisti-scher Kr�fte und Str�mungen in der jun-

gen Bundesrepublik Deutschland einzu-d�mmen und zur�ckzunehmen. Insofern�berlappte sich auch zeitlich die Debatteum die Beendigung der Entnazifizierungim Bundestag mit der der Rehabilitierungdes nationalsozialistischen Berufsbeam-tentums, der der Remilitarisierung, der derWestintegration und der der Bildung vonStaatsschutzinstitutionen.

Anmerkungen* leicht gek�rzte Textfassung des gleichnamigenKapitels aus meinem Buch: Nachkriegsgeschichte/n. Sozialwissenschaftliche Beitr�ge zur Zeit(ge-schichte). Aachen: Shaker, 2007, 266 p. [= Berichteaus der Geschichtswissenschaft], hier 179-204

1 Wittk�mper, Gerhard W.: Rechtsstaat. In: Mickel,W. (Hrsg), Handlexikon der Politikwissenschaft.Bonn 1986, S. 431-436, zit. S. 4312 Ebenda, S. 4333 Verhandlungen des Deutschen Bundestages f�r dieWahlperiode 1949. Anlagen zu den Stenographi-schen Berichten. Drucksachen 1. Teil. Bonn 19504 Ebenda5 Erkl�rung der Bundesregierung. 5. Sitzung desBundestages vom 20. September 1949. In: Ver-handlungen des Deutschen Bundestages. 1. Wahl-periode. Stenographische Berichte. Bd.1, Bonn1949, S. 276 Verhandlungen, aaO (Anm. 3). Der Antrag waru.a. auch unterzeichnet von den 6 der 11 Abgeord-neten aus Hessen: Dr. Ludwig Preiss [1894-1965],Dr. Richard Hammer [1897-1969], HeinrichFa�bender [1899-1971], Karl R�diger [1896-1971], Dr. Viktor Emanuel Preusker [1913-1991]und Dr. Otto Kneipp [1884-1965], die bei der�berpr�fung durch amerikanische Beh�rden alsNSDAP- und/oder SS-Mitglieder belastet waren;Marburger Presse vom 26. August 1950. Ebenfallsunterzeichnet war der Antrag von dem Abgeordne-ten Alfred Onnen [1904-1966], der 1949 wegen„Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ aufgrundder Kontrollratsdirektive (KRD) 10 angeklagt wor-den war, dessen Immunit�t der Bundestag jedochnicht aufhob; 27. Sitzung des Deutschen Bundesta-ges, Mittwoch, den 18.1.950. In: Verhandlungen,aaO (Anm. 5), S. 852-855

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7 M�ller, Ingo: Furchtbare Juristen. Die unbew�ltig-te Vergangenheit unserer Justiz. M�nchen 1987; zurRestauration S. 210 ff.; vgl. auch zu ehemaligen SS-und SD-Funktion�ren im und um das Reichssicher-heitshauptamt (RSHA) Herbert, Ulrich: Best. Bio-graphische Studien �ber Radikalismus, Weltanschau-ung und Vernunft 1903-1989. Bonn 1996, S. 453ff. Diese Gruppe f�rderte auch die Bestrebungen,die NRW – F.D.P. zu einem Sammelbecken f�rehemalige Nazi-Eliten zu machen, eine durchauszun�chst erfolgreiche Strategie, die jedoch mit derVerhaftungsaktion der Briten im Januar 1953 ende-te: Hachmeister, Lutz: Der Gegenforscher Die Kar-riere des SS-F�hrers Franz Alfred Six. M�nchen1998, besonders S. 24 ff. und S. 306 ff.8 Sitzungen des Deutschen Bundestages, aaO (Anm.3)9 Ebenda10 40. Sitzung des Deutschen Bundestages. In: Ver-handlungen des Deutschen Bundestages. I. Wahl-periode 1949. Stenographische Berichte Bd. 2,Bonn 1950, S.1330-1355. – Dr. Franz Richter(DRP), Vorsitzender der Fraktion der DRP, eigent-lich Fritz R�sler: juristische und volkswirtschaftlicheStudien, 1930 Mitglied der NSDAP, 1935Schulungsleiter der Gau-Schulungsburg Augusten-burg im Erzgebirge, 1945 T�tigkeit im Reichs-propagandaleitung der NSDAP, nach dem Krieg alsStudienrat Dr. Franz Richter im nieders�chsischenSchuldienst t�tig, dort am 20. Mai 1949 wegen neo-nazistischer �u�erungen entlassen, unterst�tzt durchdie Sudetendeutsche Landsmannschaft �ber die Lan-desliste der DRP 1949 in den Bundestag gew�hlt,am 4. Mai 1952 u.a. wegen Urkundenf�lschung undBetrug zu 18 Monaten Gef�ngnis verurteilt; Jenke,Manfred: Die nationale Rechte. Parteien PolitikerPublizisten. Berlin 1967, S. 19911 Sitzungen des Deutschen Bundestages, aaO(Anm. 3), S. 133012 Eugen Gerstenmaier war NSDAP, SA-Mitgliedund Funktion�r in der Reichsf�hrung der „DeutschenStudentenschaft“ (1933-1935), Mitarbeiter derInformationsabteilung des Reichau�enministeriums,Berlin, Bundestagsabgeordneter der CDU, Bundes-tagspr�sident: Koppel, Wolfgang, Sauer, Karl: F�h-rer durch das braune Bonn. Frankfurt/Main 1969,S. 9613 Sitzungen des Deutschen Bundestages, aaO(Anm. 3), S. 1335 und S. 1337; Hans-Joachim v.Merkatz, Jurist, Generalsekret�r des Ibero-Ameri-

kanischen Instituts im „Dritten Reich“ Bundestags-abgeordneter (1949-1960) der DP, dann CDU,Bundesratsminister und Bundesvertriebenenminister;Koppel, Wolfgang, Sauer, Karl: F�hrer..., aaO(Anm. 12), S. 10514 Deutscher Bundestag, 40. Sitzung, Stenographi-sche Berichte, Bd. 2 (Bonn 1950), S. 133915 Ebenda, S. 133916 Adolf v. Thadden, seit 1947 Mitglied der Deut-schen Rechts-Partei, 1949 Bundestagsabgeordne-ter der DRP, dann Deutsche Reichs-Partei, 1955Abgeordneter des nieders�chsischen Landtages,1961 Vorsitzender der DRP, 1962 der DeutschenFreiheits-Partei, 1964 Gr�ndung der Nationalde-mokratischen Partei Deutschlands (NPD); Jenke,Manfred: Die nationale Rechte, aaO (Anm. 10), S.203 f.17 Stenographische Berichte, S. 1344. Alfred Loritz,Rechtsanwalt in M�nchen (1926-1939), 1928 Mit-glied der Wirtschaftspartei, 1932 Austritt wegen ih-res Anschlusses an die ‘Harzburger Front’, 1933-1939 illegal gegen die Nationalsozialisten t�tig,Flucht in die Schweiz, Streichung von der Anwalts-liste, 1940 in Abwesenheit zum Tode verurteilt, 1946Gr�ndung der Wirtschaftlichen Aufbauvereinigung,Mitglied des Landtages, Sonderminister f�r Entna-zifizierung im Kabinett Ehard, 1947 entlassen, 1949Mitglied des Bundestages, suchte die Zusammen-arbeit mit der DRP, 1959 in Bremen zu 3 1/2 Jah-ren Zuchthaus wegen Meineid und Falschbeurkun-dung verurteilt, Flucht nach �sterreich; Jenke, Man-fred: Die nationale Rechte, aaO (Anm. 10) , S. 198f.18 Stenographische Berichte, S. 184619 Ebenda, S. 1346 f.20 Ebenda, S. 134721 Ebenda22 Ebenda, S. 134923 Ebenda, S. 1350. – Bernhard Reismann war Ju-rist und Anwalt, Mitglied des Zentrums, Abgeord-neter im Stadtrat von M�nster bis 1933, Wieder-begr�nder des Zentrums, 1949 Mitglied des Bun-destages, als Kritiker der Personalpolitik der Dienst-stelle f�r Ausw�rtige Angelegenheiten hervorgetre-ten, Immunit�t 1951 aufgehoben: http://www.munzinger.de; Biographisches Handbuch der Mit-glieder des Deutschen Bundestages 1949-2002, Bd.2, S. 67924 Stenographische Berichte, S. 135025 Ebenda, S. 1351

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26 Drucksachen..., aaO (Anm. 3)27 52. Sitzung am 27. M�rz 1950. In: Verhandlun-gen des Deutschen Bundestages. 1. Wahlperiode1949. Stenographische Berichte (Bd. 3). Bonn1950, S. 187528 Materialien zu allen Gesetzesentw�rfen, Antr�-gen und Interpellationen der 1. Wahlperiode, Bd.A/I, betrifft Entnazifizierung 1046-105229 1. Protokoll/730 2. Anlage zum 1. Protokoll/731 Bericht Prof. Dr. Brill vom 1.12.1949 an denAusschu� f�r Rechtswesen und Verfassungsrecht desdeutschen Bundestages betr. Bericht zu den Antr�-gen Nr. 13, 27, 97, 99; 9/Anlage 1, 21 Seiten. In:Stenographische Berichte, aaO. (Anm. 28)32 Ebenda, S. 3333 Ebenda, S. 25; 14. Sitzung vom 13.9.1950, S.2534 Ebenda, S. 3935 Ebenda, S. 4436 Ebenda, S. 8a37 Ebenda, S. 1238 Ebenda, S. 1839 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 1.Wahlperiode 1949. Anlagen zu den Stenographi-schen Berichten (7. Teil). Bonn 195140 Verhandlungen des Deutschen Bundestages I.Wahlperiode 1949. Stenographische Berichte (Bd.5), S. 3431-3438. Entsprechend des PotsdamerAbkommens (August 1945) und des „Gesetz[es]zur Befreiung von Nationalsozialismus und Milita-rismus“ (M�rz 1946) nahmen die ersten Spruch-kammern Mitte Mai 1946 ihre T�tigkeit auf. Bis31.12.1949 sollten sie etwa 6,08 Millionen Men-schen als „F�lle“ (in der US-amerikanischen Zone3,62, in der britischen 2,04 und in der franz�sischen0,42 Mio.) bewertet haben. Von diesen gut sechsMillionen wurden (I) 1.700 als Hauptschuldige, (II)23.000 als Belastete, (III) 150.400 als Minderbe-lastete und (IV) 1.006.000 als Mitl�ufer eingestuft(Entnazifizierung [...] Kurz-Dokumentation vonChaim Frank http://www.juedisches-archiv-chfrank.de/zgs/denazificat/adenazi.htm [1.10.2006]).Dies veranla�te den Zeitgeschichtler Lutz Nietham-mer sp�ter, die Spruchkammern „Mitl�uferfabrik“zu nennen. Die Spruchkammern urteilten in den etwa2,5 Millionen Verfahren, die sie bis Ende 1949 ent-schieden hatten: 34,6 Prozent der eingeleiteten Ver-fahren wurden eingestellt, 0,6 Prozent der „F�lle“wurden als NS-Gegner anerkannt, 54 Prozent wur-

den als Mitl�ufer (Kategorie IV), 9,4 Prozent alsMinderbebelastete (Kategorie III) und 1,4 Prozentals Belastete und Hauptschuldige (Kategorien II undI) bewertet. Von den Hauptschuldigen der Kate-gorie I sollen (so Hinweise bei http://de.wikipedia.org/wiki/Entnazifizierung [1.10.2006]) 5.025 ver-urteilt worden sein, davon 806 zu Tode, wobei da-von wiederum 486 Todesurteile vollstreckt sein sol-len.41 Ebenda, S. 343342 Ebenda, S. 343543 Ebenda, S. 3436 f.44 Ebenda, S. 343845 Ebenda, S. 343846 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. I.Wahlperiode 1949. Anlagen zu den Stenographi-schen Berichten (8. Teil). Bonn 195147 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. I.Wahlperiode 1949. Stenographische Berichte. Bonn1951, S. 4065-407248 Ebenda, S. 406549 Ebenda, S. 406550 Ebenda, S. 406651 Ebenda, S. 406652 Ebenda, S. 406653 Ebenda, S. 406754 Ebenda, S. 406755 Ebenda, S. 406856 Ebenda, S. 406857 Ebenda, S. 406958 Ebenda, S. 407259 Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 1.Wahlperiode 199. Anlagen zu den StenographischenBerichten (11. Teil). Bonn 1951. – Die Wiedergut-machung bezog sich auf den Beamtenapparat: Ge-setz �ber Sofortma�nahmen zur Sicherung der Un-terbringung der unter Artikel 131 des Grundgeset-zes fallenden Personen vom 14. M�rz 1951. In:Bundesgesetzblatt. Teil I. Jahrgang 1951. Hrsg v.Bundesministerium der Justiz. K�ln o.J.; Gesetz zurRegelung der Rechtsverh�ltnisse der unter Artikel131 des Grundgesetzes fallenden Personen vom 11.Mai 1951. In: Bundesgesetzblatt. Teil I. 1951, Nr.22, S. 307-321. – Faktisch bedeutete sie die Wie-dereinsetzung des NS-Beamtenapparates, insbeson-dere der h�heren Dienststellen, weil es vor allemdie vor 1935 als Beamte t�tigen Personen, die nach1945 wegen ihrer Mitgliedschaft zur NSDAP oderihren Gliederungen angeh�rten, zu Anspruchsberech-tigten erkl�rte; vgl. auch Friedrich, J�rg: Die kalte

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Amnestie. NS-T�ter in der Bundesrepublik. Frank-furt/Main 1985, S. 272-281; Herbert, Ulrich: Best.Biographische Studien �ber Radikalismus, Weltan-schauung und Vernunft 1903-1989. Bonn 1996, hierS. 451-455, arbeitet die Rolle des „rechten“ FDP-Fl�gels vor allem im Hessen und NRW in den Kam-pagnen zur Beendigung der Denazifizierung und zurGeneralamnestie von NS-T�tern heraus.60 Verhandlungen des Deutschen Bundestages, aaO(Anm. 40), S. 343261 Albrecht, Wilma: Die konservative Kritik an derEntnazifizierung. Eine �bersicht �ber die publizisti-sche Auseinandersetzung. In: Bl�tter f�r deutscheund internationale Politik, 7/1978, S. 861-868; indiesem Band S. 169-18262 M�ller, Ingo: Furchtbare Juristen, aaO (Anm. 7),S. 20563 Brumlik, Micha: Gesetzliches Unrecht. Die Wehr-losigkeit des wissenschaftlichen Rechtspositivismusgegen�ber nationalsozialistischen Staatsverbrechen;in: Jahrbuch 2005 zur Geschichte und Wirkung desHolocaust, Frankfurt/Main-N.Y. 2005, S. 15-25,zit. S. 24

Wilma Ruth Albrecht (*1947) ist Sozial-und Sprachwissenschaftlerin mit denArbeitsschwerpunkten Literatur-, Politik-und Architekturgeschichte des 19. und20. Jahrhunderts. Sie war seit 1972 be-ruflich als Wissenschaftlerin, Stadt- undRegionalplanerin und Lehrerin t�tig.Seit 2005 ver�ffentlicht sie (online-) Texteim GRIN-Verlag (http://ww.grin.com/de/search?searchstring=16255&search=id_autor&page=0),zuletzt ihre Kritik der Amtssprache, derLegende vom „Jobmotor Mittelstand“und ihren Bericht aus Nova Utopia.2006 erschienen Heimatzeit: Erz�hlungen– Gedichte – Geschichte (VerlagsKontorf�r akustisch angewandte Texte:VerKaaT, 2006, 76 p., ISBN 3-921384-087) und als ihr erstes p�dagogischesLesebuch: Bildungsgeschichte/n. Texteaus drei Jahrzehnten (Shaker Verlag,2006: Berichte aus der P�dagogik, 202p., ISBN 3-8322-4897-8). 2007 folgten

ihr literarisches Lesebuch: Harry Heine(Shaker Verlag, 2007: Berichte aus derLiteraturwissenschaft, 112 p., ISBN 978-3-8322-6062-0) und ihre sozialwissen-schaftlichen Beitr�ge zur Zeit(geschich-te) unter dem Titel: Nachkriegsgeschich-te/n (Shaker Verlag, 2007: Berichte ausder Geschichtswissenschaft, 266 p.,ISBN 978-3-8322-6506-9). – Die Auto-rin ver�ffentlicht seit Herbst 2007wiesenhausbl�tter (e-Bl�tter f�r Sch�neLiteratur & Graphik -> http://www.wiesenhausblatt.de) und arbeitet derzeit(2007/08) an ihrem ersten Roman.Email: [email protected]

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