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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts R g geschichte Rechtsgeschichte www.rg.mpg.de http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg16 Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 16 (2010) http://dx.doi.org/10.12946/rg16/190-210 Rg 16 2010 190 – 210 Rodrigo Míguez Núñez Republikanischer Staat und indigenes Land: Die Erfahrungen in der Andenregion im 19. Jahrhundert Dieser Beitrag steht unter einer Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts Rggeschichte

Rechtsgeschichte

www.rg.mpg.de

http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg16

Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 16 (2010)

http://dx.doi.org/10.12946/rg16/190-210

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Rodrigo Míguez Núñez

Republikanischer Staat und indigenes Land: Die Erfahrungen in der Andenregion im 19. Jahrhundert

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Abstract

The advent of the republican state involved the imposition of liberalism as the central value of the new institutional Latin-American order. Such a process, justified by the prestige of the European experience, was supported by the proliferation of a set of laws aimed at cancelling any reference to the colonial system. In its economic profile, the new ideology gravitated around the establishment of individual freedom of disposition over the most valued asset according to the European values of physiocracy: the land. For this reason, the process of economic consolidation led to the establishment of an increasing market in land based on individual titles to property, and to the eradication, through an exhaustive legislative production, of any ob-stacle to the free alienability of land.

This paper illustrates, within the wider legal framework required to carry out this operation, the ideological and normative approach that al-tered the structure of the land tenure systems of the Andean indigenous groups during the 19th cen-tury. Our analysis will focus on the principal legal milestones enacted in four countries of the Andean area: Argentina, Bolivia, Chile and Peru, with par-ticular regard to the experience of the Bolivian state during the period between 1825 and 1880.

The study seeks to reflect about the legal trans-plant of possessive individualism in order to pro-vide a critical review of the impact of the rule of law in the arrangement of the indigenous agrarian system during the 19th century.

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Republikanischer Staat undindigenes Land: Die Erfahrungenin der Andenregion im 19. Jahr-hundert*Mit der Ankunft des republikanischen Staates in Lateiname-

rika wurde dort der Liberalismus als zentraler Wert der neueninstitutionellen Ordnung durchgesetzt. Dieser durch das Prestigeder europäischen Erfahrung begründete Prozess führte zum Erlasseiner Reihe von Gesetzen, die darauf abzielten, jeglichen Bezug zurkolonialen Vergangenheit auszulöschen. Wirtschaftlich gesehen lagder Schwerpunkt der neuen Ideologie auf der Einführung indivi-dueller Freiheit im Hinblick auf das Schicksal des nach den euro-päischen Wertmaßstäben der Physiokratie wichtigsten Guts: desLandes. Aus diesem Grund wurde der Prozess wirtschaftlicher An-siedlung auf die Schaffung eines wachsenden ländlichen Marktesauf der Basis von Privateigentum konzentriert, und jegliche Hin-dernisse der freien Zirkulation des Agrarreichtums wurden mittelseiner erschöpfenden Gesetzesproduktion beseitigt.

Im Rahmen des breiten juristischen Entwurfs, den dieses Vor-gehen eröffnet, soll die vorliegende Arbeit das ideologisch-norma-tive Panorama in den Blick nehmen, das die Struktur der Land-rechte der indigenen Andenbevölkerung während des 19. Jahr-hunderts veränderte. Im Mittelpunkt der Analyse stehen dabei ineiner ersten generischen Annäherung die wichtigsten juristischenMeilensteine in vier Ländern des Andenraums: Argentinien, Bo-livien, Chile und Peru, wobei der Fokus auf die Vorgänge inBolivien in der Zeit von 1825 bis 1880 gerichtet ist. Es soll überdie Operation der juristischen Übertragung des Besitzindividualis-mus reflektiert werden, um so die Rolle des Rechtsstaates in derOrdnung des indigenen Agrarsystems des 19. Jahrhunderts kri-tisch zu beleuchten.

I. In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts schlugen ver-schiedene europäische Staaten neue Wege im Hinblick auf dasImmobilieneigentum ein.1 Das neue Konzept zielte darauf ab, dieökonomischen Grundlagen des modernen Staates zu schaffen: Eshandelte sich um eine individualistisch-liberale Doktrin auf der

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* Der hier vorgestellte Text wurdeunter Einbeziehung der einfüh-renden Betrachtungen zu meinerArbeit »Las oscilaciones de lapropiedad colectiva en las consti-tuciones andinas« verfasst, die inder Zeitschrift Global Jurist (8)2008, Iss. 1 (Topics) Article 4,zu finden unter: http://www.bepress.com/gj/vol8/iss1/art4,erschienen ist. Ich danke demProgramm Marie Curie Est unddem Projekt Lagrange der StiftungCRT für die freundliche Unter-stützung der Studie.

1 Als erste Annäherung an die um-fangreiche Bibliografie zu diesemThema seien empfohlen: Albertode la Hera, Precedentes ilustra-dos del proceso desvinculador ydesamortizador de bienes de ma-nos muertas, in: El proceso des-vinculador y desamortizador de

bienes eclesiásticos y comunales enla América española, siglos XVIIIy XIX, hg. von Hans-JürgenPrien und Rosa María Martí-nez de Codes, Cuadernos deHistoria Latinoamericana, Nr. 7,Ridderkerk 1999, 77–96; Ge-meinheitsteilungen in Europa.Die Privatisierung der kollektivenNutzung des Bodens im 18. und19. Jahrhundert, hg. von StefanBrakensiek, Jahrbuch für Wirt-

schaftsgeschichte 2, Berlin 2000;The Management of CommonLand in North West Europe,c. 1500–1850, hg. von Martinade Moor, Leigh Shaw-Taylorund Paul Warde, Turnhout2002; Les propriétés collectivesface aux attaques libérales (1750–1914). Europe occidentale etAmérique latine, hg. von Marie-Danielle Demélas und NadineVivier, Rennes 2003.

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Grundlage physiokratischer Ideen, nach der das Immobilieneigen-tum als Motor des Fortschritts und als Komplement zur nationalenIdentität galt. Zu beobachten sind die Vervollkommnung derdirekten und einheitlichen Beziehung zwischen dem Menschenund den Dingen und die Entstehung des sogenannten modernenEigentums, einer allgemeinen und abstrakten Formel, die im Ein-klang mit den aufgeklärten Ideen jener Zeit vom Individuumausgeht und von ihm abhängig ist.2

Nach dem Einschlagen der neuen rechtlich-politschen Rich-tung präsentierte sich folgendes Szenario: Juristische Aufklärungund Physiokratie hatten ihren Ausgangspunkt im Angriff auf dieOrdnung des Feudaleigentums, auf das Konzept der unteilbarenHerrschaft, auf die Überlagerung subjektiver Befugnisse und aufdie Hindernisse des freien Warenumlaufs. Der Besitzindividualis-mus wurde als Gut betrachtet, geschätzt und angestrebt, und mitder weiteren Entwicklung im revolutionären Europa gewann erimmer mehr an Dominanz.

Zu Recht wurde also gesagt, dass die alte Verbindung zwischenEigentum und Persönlichkeit, zwischen Sachherrschaft und Selbst-herrschaft sehr lebendig war und sich die soziale Ordnung deshalbaus publizistischer Sicht auf das Institut des Eigentums und dasPrinzip der Vertragsfreiheit stützen musste, wobei der Schutz dieserFundamentalnormen höchste Pflicht des Staates war.3

Daher kann es nicht verwundern, dass Formen von Kollektiv-eigentum damals für das neue Programm bestenfalls »Anomalien«darstellten und dem Staat die Aufgabe zukam, die Ausübung deraus ihnen resultierenden Rechte durch einen mächtigen und fort-schrittlichen Mechanismus einzuschränken: das Gesetz. Deswegen– so lehrt Grossi – war das Thema des Kollektiveigentums einer derauffälligsten Prüfstände des juristischen Absolutismus des 19. Jahr-hunderts: Fast ein Jahrhundert lang bestand die einzige Reaktiondes Staates, der die Erarbeitung der Gesetze monopolisierte, darin,kollektive Eigentumsstrukturen zu beseitigen. Da in diesem bür-gerlichen Staat alles die Güterverteilung Betreffende hochgradigöffentlichkeitswirksam war, wurde diese Frage unvermeidlich zueinem Problem der konstitutionellen Ordnung.4

Diese Elemente ergaben sich aus der – mythologischen – Ver-breitung des geschriebenen Gesetzes als gemäß der Forderung derexegetischen Schule einziger und dogmatischer Quelle der sozialenRealität. Ihre Gegenwart führte den staatlichen Absolutismus zu

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2 Siehe dazu Paolo Grossi, La pro-prietà e le proprietà nell’officinadello storico, in: ders., Il dominioe le cose. Percezioni medievali emoderne dei diritti reali, Milano1992, 651 ff.; Franz Wieacker,Storia del diritto privato moderno,I, Milano 1980, 493–495.

3 Pietro Costa, Cittadinanza, Ro-ma, Bari 2005, 62–63. Unter Ab-solutismus ist die Ideologie derpolitischen Reform zu verstehen,

die ab Mitte des 18. Jahrhundertsden Kodifikationsprozess in Eu-ropa stimuliert. Siehe dazu Gio-vanni Tarello, Storia dellacultura giuridica moderna. Asso-lutismo e codificazione del diritto,Bologna 1976, 227, 259; PaoloGrossi, Assolutismo giuridico eproprietà collettiva, in: ders., Ildominio e le cose (Fn. 2) 695 ff.

4 Ebd., 698–699.

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dem neuen Eigentumskonzept, das als Macht ohne Grenzen, so-gar bis hin zur Verantwortungslosigkeit, aufgefasst wurde.5 Tat-sächlich, sei es vom politischen oder juristisch-technischen Stand-punkt gesehen, hatte das neue Konzept, materialisiert in der Formelder napoleonischen Kodifikation, die unbegrenzte und exklusiveMacht des Eigentümers und gleichzeitig die Negation der Formendes Kollektiveigentums zur Folge, weshalb die strukturellen Be-stimmungen des Eigentumsrechtes dazu beitrugen, das Institutnach einem essentiell individualistischen Standpunkt zu deuten.6

Das sind also Ergebnis und Maxime der europäischen Ideo-logie des 19. Jahrhunderts: Die Ära des Liberalismus wird vomstärksten juristischen Absolutismus begleitet, was, für unsere Zwe-cke vereinfacht ausgedrückt, zu einer völligen Abwendung vonalternativen kollektiven Erwerbsformen führte, sofern diese nichtmit dem gesetzlich etablierten und durch die Lehre verbreitetenKonzept übereinstimmten.

Wie Rafael Altamira y Crevea in einem Abschnitt seinesStandardwerks beschreibt, nahm mit dem wachsenden persönli-chen Individualismus die Zersplitterung des Eigentums zu, dessengemeinschaftlicher Charakter an Einfluss verlor und sich nur nochauf die Macht der Gewohnheit stützte.7 Der Ausdruck Gewohnheiterlaubt es, das reale und unterschwellige Fortbestehen parallelerAneignungsformen während des jahrelangen Verharrens bei dereuropäischen positivistischen Ideologie zu beschreiben.

II. Dieser kurze Überblick dient lediglich dazu, den Kontext zuverdeutlichen, den die ersten Regierungen der unabhängigen latein-amerikanischen Staaten bei der Festlegung der inneren Ordnungvor Augen hatten. Alberdi schrieb zu jener Zeit: »Unsere Gesetz-geber sahen lediglich die Notwendigkeit, unsere Unabhängigkeit zuproklamieren und zu sichern sowie die Prinzipien der Gleichheitund Freiheit als Grundlage der internen Regierung zu stützen.«8

Bolívar, Sucre, San Martín und O’Higgins begannen mit einerReihe revolutionärer Erklärungen, und ihre Nachfolger widmetensich der Bildung der Verfassungsorgane, um die neue Ordnung indie Praxis umzusetzen.

Doch der Konsolidierung der Unabhängigkeit haftete in ihrenAnfängen ein kultureller Makel an, denn jene Erklärungen, die sichvon der kolonialen Vergangenheit lossagten, beseitigten zugleichjeden Bezug auf die Rechte, die für verschiedene Kulturen bei der

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5 Michel Vidal, La propriété dansl’école de l’exégèse in: QuaderniFiorentini 5/6 (1976–1977) I, 30.

6 So Stefano Rodotà, Il terribilediritto. Studi sulla proprietà pri-vata, Bologna 1990, 105.

7 Rafael Altamira y Crevea,Historia de la propiedad comunal,[Madrid 1890] 2. Aufl. Madrid1981, 321.

8 Juan Bautista Alberdi, Bases ypuntos de partida para la organi-

zación política de la República deArgentina, 2. Aufl. Buenos Aires1980, 26.

9 Eric J. Hobsbawm, Nations andNationalism since 1780, Cam-bridge 1990.

10 Siehe Bartolomé Clavero,Códigos como fuente de derecho ydesague de constitución, in: Codi-ci. Una riflessione di fine millenni,hg. von Paolo Cappellini und

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Konzeption der republikanischen Ordnung standen. Weil der mo-derne Staat sich vereinheitlichen musste, um zu regieren, bemäch-tigte er sich der Gleichung Staat = Nation,9 indem er nach europäi-schem Modell eigenständige Kulturen homogenisierte und mittelseiner umfangreichen Produktion von Gesetzestexten jegliche Spu-ren von kulturellem und folglich juristischem Pluralismus beseitigte.

So kommen wir zu einem wichtigen Aspekt unserer Unter-suchung: Die Caudillos proklamierten die Unabhängigkeit undordneten zusammen mit ihren Erklärungen die Formulierung derersten Verfassungstexte an. So gesehen – präzisiert Clavero – findetin Lateinamerika eine Kodifikation statt, die nicht von Europaauferlegt wurde, sondern von der Definition jener Staaten ausgeht,die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts an den Unab-hängigkeitskämpfen interessiert waren.10 Dieses erste republika-nische Moment ist der historische Meilenstein in der Rezeption dermodernen Kodifikation; es handelt sich um den Beginn der Ver-fassung, des ersten Codexes und der Quelle der darauf folgendenCodices.11

Aber kehren wir zu unserem Hauptthema zurück und wendenunsere Aufmerksamkeit einer besonderen Revolutionsart zu: derAgrarrevolution. Nach Erreichen der politischen Emanzipationzeigte sich die Notwendigkeit, bestimmte juristische Institutionenzu erneuern, deren Prinzipien dem Geist der neuen Ordnung vonFreiheit und Gleichheit entgegenstanden. Das implizierte die Not-wendigkeit einer neuen Revolution, dieses Mal ökonomischer undsozialer Art, inspiriert vom liberalen Denken. Die Unabhängigkeitwar ebenso politischer wie agrarischer Natur und hatte unterdiesem Aspekt zum Ziel, die Verbindung zwischen Land undMajoratsherren, Stiftungen für kirchliche Zwecke und Patronatenzu lösen, das Land aus seinen Zins- und Rentenverstrickungen zuentbinden, die Hindernisse der freien Verfügbarkeit von Güternabzuschaffen und letztendlich das Land aus der »Toten Hand« zubefreien.12 Nicht übersehen darf man dabei, dass die Revolutionnicht auf den Großgrundbesitz zielte, da dieser sehr wohl demIndividuum gehörte, sondern auf die comunidades oder ayllus inden vorrangig indianischen Gesellschaften der Andenregion, derenLändereien man als »tot« ansah und damit zu Hindernissen fürdie Entwicklung des modernen Staates erklärte.13

Aus der Reihe von Aktionen im Rahmen des »Bodenbefreiung-sprozesses« soll hier die fortschreitende Abschaffung des Land-

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Bernado Sordi, Milano 2002,106–107.

11 Bartolomé Clavero, Codifica-ción y constitución: paradigmasde un binomio, in: Quaderni Fio-rentini 18 (1989) 81 ff.

12 Abelardo Levaggi, El procesodesamortizador y desvinculadorde los bienes de manos muertasdesde la óptica jurídica, in: Prien,Martínez de Codes (Fn. 1) 52.Vorgeschichte der peruanischen

Erfahrung und allgemeine biblio-grafische Hinweise in CarlosRamos Núñez, Historia del de-recho civil peruano. Siglos XIX yXX, t. IV, Lima 2003, 168 ff.

13 Wenngleich die Begriffe comuni-dad und ayllu gemeinhin als Sy-nonyme benutzt werden, ist einekonzeptuelle Präzisierung not-wendig. Der ayllu ist die typischesoziale Organisationsform in denAnden und basiert auf der ge-

meinsamen Identität seiner Mit-glieder auf der Grundlage realeroder fiktiver Verwandtschaftsbe-ziehungen. Er setzt unter anderemgemeinschaftlichen Landbesitzund kollektive Arbeitsformen zumNutzen aller Mitglieder voraus.Der Begriff comunidad hingegenist ein Ausdruck, der sich auf dasBesitzkonzept bezieht, das in denAnden infolge der kolonialen Po-litik der Ansiedlung der Indios inOrtschaften nach spanischem Bei-spiel eingeführt wurde. So gesehenstellt die indigene comunidad dasErgebnis der juristischen Umsied-lungspolitik der gemeinschaftli-chen Organisation im kolonialenKastilien dar, deren Rezeption ihreAdaptation und Vermischung mitdem prähispanischen ayllu mitsich brachte. Für nähere Informa-tionen siehe: Harald Mossbru-cker, Zur Diskussion über dörfli-che Wirtschaft und »comunidad«in den Anden, Bonn 1987; KarolA. Yambert, Thought and Reali-ty: Dialectics of Andean Commu-nity, in: Land and Power in LatinAmerica. Agrarian Economies andSocial Processes in the Andes, hg.von Benjamin S. Orlove undGlynn Custred, New York,London 1989, 55–78; RogerNeil Rasnake, Domination andCultural Resistance. Authorityand Power Among an AndeanPeople, Durham 1988, 49–51.Zur Vorgeschichte des ayllussiehe: Ricardo A. Godoy, TheFiscal Role of the Andean Ayllu,in: Man. New Series 21, 4 (1986)723 ff.; Herbert S. Klein, Ha-ciendas y ayllus en Bolivia, ss.XVIII und XIX, 84 ff.; JehanVellard, Civilisations des Andes.Évolution des populations duhaut-plateau bolivien, Paris 1963,119–123. Und schließlich klassi-sche Betrachtungen zur spanischenUmsiedlungspolitik der comuni-dad im Andenraum: CarlosValdez de la Torre, Evoluciónde las comunidades de indígenas,Lima 1921, 77 ff.; José MaríaArguedas, Las comunidades deEspaña y del Perú, Lima 1968;José Matos Mar, Comunidadesindígenas en el área andina, in:Hacienda, comunidad y campesi-nado en el Perú, hg. von dems.,Lima 1976, 182.

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rechts der indigenen comunidades analysiert werden, die wegen derNormen des gemeinen republikanischen Rechts die Teilung undAnnexion ihres Besitzes mit sich brachte. Während der Kolonialzeitunterlagen das Land der comunidad und seine Nutzung eigenenRegeln, denn die Philosophie der Zeit gestattete den Erhalt allerSitten und Gebräuche, die der kolonialen Gesetzgebung oder demchristlichen Glauben nicht entgegenstanden.14 In der Recopilaciónde Leyes de los Reynos de las Indias von 1680 finden wir Anord-nungen, die sich auf die indigene Bevölkerung, ihr Land undallgemein auf die gemeinschaftliche Landnutzung in der Umgebungvon Städten und Dörfern beziehen. Nach diesem Modell wurde dasKonzept des ejido gestaltet, ein die Dörfer umgebendes Gemein-schaftsland, das für öffentliche Veranstaltungen und als Weidelandgenutzt wurde. Außerdem wurde in mehreren Anordnungen zu-nehmend die Respektierung des von der indigenen Bevölkerungbewirtschafteten Landes angeordnet.15 Unter dieser Voraussetzunghatten die alten ayllus ein ganz besonderes Schicksal; ab 1570 wirddie Andenregion Schauplatz der Einrichtung von Reduktionen(reducciones) oder Indiodörfern (pueblos de indios). Die neue,von Vizekönig Francisco de Toledo (1569–1581) geförderte Politikstellte für die indigene Bevölkerung ein zivilisatorisches Projekt dar,das mit aristotelischen und thomistischen Werten bezüglich desLebens in Gemeinschaft in Einklang stand (obgleich es in der Praxisdarauf abzielte, die territoriale Struktur der ayllus zu verändern, umdie Arbeit und die Tributverpflichtungen der indigenen Bevölke-rung gegenüber der Krone zu organisieren). Die Spanier erkanntenso die bereits existierende soziale Realität an und entschieden sichfür die Institutionalisierung der ayllus, indem sie sie in Reduktionenneu zusammenführten und damit zu Rechtssubjekten machten.Diese Maßnahme diente nicht nur dazu, ihren Besitz für legitimzu erklären, indem er mittels eines institutionalisierten Rechts unterdie spanische Doktrin verlegt wurde, sondern sie ermöglichte invielen Gebieten auch den Erhalt und Schutz der Traditionen derethnischen Gruppen.16 Letztendlich konnte sich das entworfeneSchema nicht anders darstellen, da die mittelalterliche Ordnung, diein der Kolonie etabliert wurde, feudalen mit gemeinschaftlichemBesitz in Einklang brachte.17

Nach dem Erreichen der Unabhängigkeit proklamierten Abge-ordnete und Intellektuelle die Ideologie der neuen Ordnung, indemsie die juristische und soziale Gestalt der neuen Nationen auf einer

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14 Siehe Víctor Tau Anzoátegui,La costumbre jurídica en la Amé-rica española (siglos XVI–XVIII),in: Revista de Historia del Dere-cho 14 (1986) 355–425.

15 Siehe Gesetze 5, 7, 9, 12, 16, 17,18 und 19 Titel 12, Buch IV; 8 und20 Titel 3 Buch VI. Gesetz 14, Titel3 des gleichen Buches wiederumzeigt an, dass »den Indios Lände-reien, Gewässer und Bergland zuzeigen und zu geben sind«. Reco-pilación de leyes de los Reynos delas Indias, [Madrid 1680]. Prólogopor Ramón Menendez y Pidal.Estudio preliminar de Juan Man-zano Manzano, Madrid 1973.

16 Für eine erste, nicht erschöpfendeAnnäherung siehe Arturo Ur-quidi, Las comunidades indígenasen Bolivia, Cochabamba 1970;José M. Ots Capdequí, El régi-men de la tierra en la América

española durante el periodo colo-nial, Ciudad Trujillo 1946, 122 ff.;John H. Rowe, The Incas UnderSpanish Colonial Institutions, in:Hispanic American Historical Re-view 37, 2 (1957) 155–199; Mi-guel Bonifaz, Derecho indiano:Derecho castellano. Derecho pre-colombino. Derecho colonial,Sucre 1961; Ward Stavig, Ambi-guous Visions: Nature, Law, andCulture in Indigenous-Spanish

Land Relations in Colonial Peru,in: Hispanic American HistoricalReview 80, 1 (2000) 77–111;Charles Gibson, Indian Societiesunder Spanish Rule, in: TheCambridge History of Latin Ame-rica, hg. von Leslie Bethell,Cambridge 1984, II, 381–419.

17 Zu diesem Thema siehe David E.Vassberg, Land and Society inGolden Age Castile, Cambridge1984.

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eurozentrischen Basis regulierten und jegliche Unterschiede zwi-schen dem auferlegten theoretischen Modell und der lokalen Rea-lität, die sie umgab, als Anormalitäten betrachteten.18 Die Frage istalso, um mit der Historikerin Marie-Danielle Demélas zu sprechen,welches Schicksal diesen Kollektivstrukturen in einem System, daseinzig und allein das Individuum anerkannte, vom modernen Staatzugedacht sein würde.19

Die Republik führte die Ideale der Französischen Revolutionein und auch jene, die aus den Debatten der Cortes von Cádizentstanden waren: Formale Freiheit und Gleichheit bedeuteten die(zumindest erklärte) Einsetzung der indigenen Bevölkerung in denStand eines modernen Bürgers und brachten gleichzeitig einenallgemeinen Wandel mit sich, nämlich den Übergang von derkolonialen Politik der Bewahrung der indigenen Identität undKultur zur Homogenisierung nach den neuen republikanischenWerten. Denn nach Ansicht von Simón Bolívar musste sich derStaat auf diese Grundsätze stützen, die wiederum auf einem ganzbesonderen Prinzip beruhten: der Vernunft – einer Ideologie, dieeinem völligen Bruch mit den historischen Referenzen Lateiname-rikas gleichkam.20 Auf dieser Grundlage betrachtete der vonLocke, Hume und den Erklärungen der Menschen- und Bürger-rechte inspirierte sogenannte »Libertador« das Eigentum, zusam-men mit Gleichheit, Freiheit und Sicherheit, als eines der kardinalenRechte, auf dem die neue Institutionalisierung beruhen musste.Bolívar glaubte an das Eigentum, das auf Rechtlichkeit, Gerech-tigkeit und Moral basierte und vom Staat in all jenen Situationengeschützt werden musste, in denen es ein ethisch zu rechtfertigen-des Recht war.21 So ist es auch zu verstehen, dass die bürgerlicheGesellschaft im ökonomischen Bereich nur durch die Abschaffungdes gemeinschaftlichen Agrarsystems und seine Umwandlung indirektes und individuelles Eigentum erreicht werden konnte, weildarin die Vollendung der persönlichen Freiheit und die Herstellungeiner gerechten Agrarverfassung bestand, die der Staat ermöglichensollte. Die Liberalen des 19. Jahrhunderts maßen den prähispani-schen territorialen Organisationsformen keine Bedeutung bei, dennsie folgten einem universalen Prinzip ohne jeglichen territorialenBezug, einer abstrakten Regel, in der die koloniale Tradition derAndenvölker keine Rolle spielte.

Gerade dies war auch der Grundgedanke, der dem Dekret desRevolutionären Rates von Santa Fe de Bogotá vom 24. September

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18 Siehe Alberto Filippi, Radicidell’etnocentrismo giuridico-poli-tico, in: Quaderni dell’Istituto diStudi Economici e Sociali 10(1994) 105 ff.; La colonialidad delsaber: eurocentrismo y cienciassociales. Perspectivas latinoameri-canas, hg. von Edgardo Lander,Buenos Aires 2000. Es sei daranerinnert, dass die Dichotomiezwischen Realität und auferlegtemModell schon seit frühesten Zeiten

des kastilischen Kolonialismusexistierte; und so implizierte diegleiche Vorstellung des modernenNaturrechts, das angewendetwurde, um die juristischen Fragenin der Neuen Welt zu beantwor-ten, ein ganz und gar »europäi-sches« Verständnis von »Ver-nunft«, der Theologen und Juris-ten mittels der Benutzung vonKommunikationstechnologie undsymbolischer Formeln wie dem

Requerimiento einen universalenWert zusprachen. Siehe dazuAldo Andrea Cassi, Ultramar.L’invenzione europea del NuovoMondo, Roma, Bari 2007, 13 ff.;Luigi Nuzzo, Il linguaggio giuri-dico della conquista, Napoli 2004;Anthony Pagden, Spanish Im-perialism and the Political Imagi-nation, New Haven, London1990, 13 ff.

19 Siehe Marie-Danielle Demélas,La invención política. Bolivia,Ecuador, Perú en el siglo XIX,Lima 2003, 361.

20 Cristóbal Aljovín de Losada,Caudillos y constituciones: Perú1821–1845, Lima, Ciudad deMéxico 2000, 82, 84; Pagden(Fn. 18) 140.

21 So José Luis Salcedo-Bastar-do, Simón Bolívar. La vita e ilpensiero politico, Roma 1983,139.

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1810 zugrunde lag. Diese Verordnung, in der die Basis der kreo-lischen Politik hinsichtlich der Ländereien der comunidades fest-gelegt wurde, schrieb die Gleichheit der Rechte der indigenenBevölkerung fest und machte sie zu gleichwertigen Bürgern. Außer-dem wurden ihnen resguardos (comunidades) übereignet. Daswiederum war die Grundlage des Dekrets vom 27. August 1821,in dem der Befreier José San Martín das Verbot aussprach, dieUreinwohner als Indios oder Eingeborene zu bezeichnen, da sieSöhne und Bürger von Peru seien und daher fortan Peruanergenannt werden sollten; und es war ebenfalls die Grundlage fürdas Dekret Sucres vom 19. Februar 1826, das getrennte Kirchen-gemeinden verbot, denn es durfte nun keine allein Kreolen oderIndios vorbehaltenen Räume mehr geben; und schließlich war esdie Grundlage der von Simón Bolívar verabschiedeten Agrar-dekrete von Cundinamarca (1820), Trujillo (1824), Cuzco (1825)und Chuquisaca (1825), welche die agrarische Zukunft der näch-sten hundert Jahre in Peru und Bolivien besiegeln sollten.22

In Argentinien bestand Juan Bautista Alberdi, wichtigsterVordenker der Verfassung von 1853, als Anhänger der liberalenIdeen von Spencer und Smith darauf, dass die Grundlagen derRepublik der Privatinitiative einen großen Spielraum einräumensollten. In diesem Szenario sollte, wie er erklärte, das privateEigentum, das auf der Anerkennung der exklusiven Rechte ander eigenen Arbeit, dem eigenen Kapital, dem eigenen Landbesitzund an deren Früchten basierte, als Hauptmotor des Reichtumsder Nation geschätzt werden.23 Deshalb betonte er: »[…] jeglichesGesetz, das dem Besitzer den tatsächlichen Stimulus des komplettenund absoluten Eigentums entzieht, macht ihn apathisch, dennnichts stimuliert mehr seine Aktivität: Er wird aufgrund der Un-sicherheit seines Eigentums oder Besitzes faul […]«, denn für ihn»[…] kann der Besitz nur all die Resultate erbringen, zu denen erzum Nutzen der Bevölkerung und zum Wohlergehen der Mehrheitin der Lage ist, wenn sein Erwerb, seine Übertragung, sein Einsatzund Gebrauch frei sind […]«24

Diese Konzeption veranlasste den Juristen und PolitökonomenNicolás Avellaneda dazu, in seinen »Estudios sobre las leyes detierras públicas« (1865) die Notwendigkeit der Vermehrung derEigentümer nach dem Modell der Kolonisierung in Nordamerikazu betonen, um die Argentinische Republik am Leben zu erhal-ten.25 Jahre später, als er bereits Präsident war und sich die Losung

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22 Siehe Demélas, La invenciónpolítica (Fn. 19) 362–363, 394–396; Guillermo Figallo Adri-anzén, Origen, exclusión y rea-firmación de las comunidadescampesinas del Perú, Lima 2007,82 ff.

23 Juan Bautista Alberdi, Sistemaeconómico y rentístico de la Con-federación Arjentina según suConstitución de 1853, Valparaíso1854, 16.

24 Siehe Levaggi (Fn. 12) 54.25 Nicolás Avellaneda, Estudios

sobre las leyes de tierras públicas,Buenos Aires 1865, 8, 133, 147.

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Alberdis – Regieren heißt Bevölkern – zu eigen gemacht hatte,erließ Avellaneda das Einwanderungsgesetz von 1876, aus demsich der Charakter Argentiniens als Einwanderungsland begrün-det. Die gleichen Prämissen lagen auch der sogenannten Eroberungder Wüste (Conquista del Desierto) zugrunde, einem militärischenFeldzug gegen die Völker der Mapuche, Tehuelche und Ranquel,der um 1880 die Besetzung der Gebiete La Pampa und Patagonienund deren Integration in Argentinien zur Folge hatte. Der BegriffWüste selbst zeugt von der verächtlichen Meinung gegenüber derindigenen Bevölkerung, die in diesem weitläufigen Gebiet lebte. Alsdas Ziel, die Region zu bevölkern, erreicht war, betonte am 8. Mai1881 der damalige Präsident Julio Argentino Roca in seiner Bot-schaft an den Kongress: »[…] kein einziger Indio geht mehr überdas gleiche Grasland, wo einst viele Stämme ihren Besitz hatten […]und der Wert des Landes steigt in unerwartetem Maße. An denNebenflüssen des Río Negro sind viele der gefangenen und unter-worfenen Indios heute Tagelöhner […] die Stämme verschwindenund der Wilde beugt sich den Anforderungen der Zivilisation […]«»Jene enorm großflächigen Gebiete sind ein für allemal aus derindigenen Herrschaft befreit worden, und schon zeigen sie sich vollblendender Zukunftsaussichten für den Einwanderer und das aus-ländische Kapital.«26 Neue Gebiete wurden also besetzt, indem dieindigene Bevölkerung ausgerottet wurde: Die Eroberung der Wüs-te in Argentinien, die Befriedung der Araucanía (Pacificatión de laAraucanía) auf chilenischem Gebiet sind Euphemismen für denProzess des Genozids an der indigenen Schicht als Wegbereiter fürdie wirtschaftliche Entwicklung. Doch bedeutete die Expansion dereuropäischen Wirtschaft auf diesem Weg in Chile und Argentiniendie Expansion eines alten Systems der Produktionsorganisation:Sowohl die argentinische Estanzia als auch die chilenische Finca(fundo) sind Varianten des Hazienda-Systems.27

In diesem ideellen Umfeld zeigt die Überzeugung des bolivia-nischen Großgrundbesitzers und Politikers José Vicente Doradoein klares Bild des liberalen Denkens, das sich des republikanischenStaates bemächtigt. Dorado, Anhänger der Freihandelsdoktrin derenglischen Ökonomen und Verfechter der Agrarbewegung derRoten Partei, behauptete in seiner Schrift »Proyecto de reparticiónde tierras y venta de ellas entre los indíjenas« von 1864: »DiesesLand aus den Händen des dummen und zurückgebliebenen India-ners zu reißen, der weder die Mittel noch die Möglichkeiten oder

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26 Zitiert nach Marzia Rosti, Gliindios e la terra nell’attuale Costi-tuzione argentina, in: Un giudice edue leggi. Pluralismo normativo econflitti agrari in Sud America, hg.von Mario G. Losano, Milano2004, 89.

27 So Jacques Chonchol, Sistemasagrarios en América Latina. De laetapa prehispánica a la moderni-zación conservadora, MéxicoD. F., Santiago 1996, 117.

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den Willen hat, es zu kultivieren, und es der unternehmungsfreu-digen, aktiven und intelligenten weißen Rasse zu übereignen, dienach Besitz und Reichtum verlangt, voller Ambitionen und Be-dürfnisse, ist der gesündeste Wandel in der sozialen und wirtschaft-lichen Ordnung Boliviens. Das Land der Toten Hand des Indianerszu entziehen, heißt, es in einen produktiven Zustand zu über-führen, zum Wohl und Nutzen der ganzen Menschheit […]«28

Das Ziel von Dorados liberaler Operation unterschied sich nichtvon dem, was offen in Argentinien oder Chile verfolgt wurde,nämlich sich des republikanischen Rechtsstaates zu bedienen, umden comunidades ihr Land zu nehmen und es mittels verschiede-ner Gesetzesmechanismen in individuelles Eigentum der kreolisch-europäischen Klasse zu verwandeln.

Im ideologischen Diskurs in Lateinamerika findet sich nichtsals Ethnozentrismus, eine verzerrte Vision der Realität, die sich ausder europäischen Sichtweise ableitete, mit der die »Aufklärer« derAndenregion die republikanische Ordnung sahen, und damit vorallem Eurozentrismus, die Überzeugung von der Überlegenheit dereuropäischen Kultur und ihren juristischen Lösungen.29 Geradeweil die republikanischen Autoritäten ihren Blick auf den europä-ischen Horizont gerichtet hatten, so betont Platt bei der Betrach-tung des republikanischen Panoramas in Bolivien, erschien dasFortdauern des kolonialen ayllu in der Andenregion als anachro-nistisches Hindernis, das Bolivien daran hinderte, seinen Platz inder Gemeinschaft der freien Nationen einzunehmen.30 Die Stimmeder offiziellen Rechtskultur in den Anden ist univok und monis-tisch, einfach und abstrakt, blind gegenüber der sie umgebendensozialen Realität. Die Formen der kollektiven Eigentumsnutzungan indigenem Land stellen für das offizielle System Anomalien dar;sie relativieren und vervielfältigen das monistische Staatsschema,weshalb der Staat sie entweder ignorieren oder angreifen muss. Das19. Jahrhundert bringt ein abstraktes universalistisches Rechtsver-ständnis mit sich, aber in Wirklichkeit handelt es sich, wie Claveroüberzeugend gezeigt hat, um eine bestimmte Universalität: Einspezielles Konzept wird als allgemeines Konzept gehandhabt.Darum haben wir es mit einem hauptsächlich kulturellen Imperia-lismus zu tun, denn es wird nicht ein Recht für alle postuliert,sondern nur für bestimmte Menschen, nämlich für jene Individuen,die das Glück haben, einem von der politischen Macht gefördertenkulturellen Konzept zu entsprechen.31

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28 Siehe Luis Antezana Ergueta,La política agraria en la primeraetapa nacional boliviana, La Paz2006, 136–137; Silvia RiveraCusicanqui, Oprimidos pero novencidos. Luchas del campesinadoaymara y qhechwa de Bolivia1900–1980, Ginebra 1986, 13–14.

29 Siehe Rodolfo Sacco, Antropo-logia Giuridica, Bologna 2007, 68.

30 So Tristan Platt, Estado boli-viano y ayllu andino, Lima 1982,88–89.

31 Bartolomé Clavero, Derechoindígena y cultura constitucionalen América, Madrid 1994, 23.

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III. Lateinamerika ist ein fruchtbarer Boden für die Produktionvon Verfassungstexten. Es wird geschätzt, dass die lateinamerika-nischen Staaten seit ihrer Unabhängigkeit etwa 200 Verfassungs-urkunden erlassen haben. Die institutionelle Instabilität und dasständige Schwanken der politischen Interessen der jeweiligen Re-gierungen zeigt sich in der großen Menge der Verfassungstexte, diein den ersten Jahrzehnten der Republiken, die uns hier beschäf-tigen, verabschiedet wurden.32 Die meisten von ihnen enthaltenNeuentwürfe des bourbonischen Absolutismus und stellen eineechte, eigene Erneuerung eines – diesmal präsidentiellen – Autori-tarismus mit ausgeprägt zentralisiertem und oligarchischem Cha-rakter dar.33

Wie in Frankreich mit dem Triumph der Bourgeoisie oder inden Vereinigten Staaten mit der Ausbreitung der Ideen AlexanderHamiltons, des nächsten Mitarbeiters von Washington, sollten dieVerfassungstexte die oligarchische Klasse schützen und ihre insti-tutionelle Basis auf Grundbesitz begründen. Es waren Zeiten, indenen sich die Politik als Wissenschaft der Verwaltung von Interes-sen verstand, wobei die Liegenschaften im Mittelpunkt standen.Weil der Eigentümer zugleich Verwalter seiner Güter und damitInhaber von Interessen war, sah man seinen Grundbesitz und seineFähigkeit, diesen zu bewirtschaften, als Grundlage der Politikwis-senschaft an.34 Eben diese Klasse der Landbesitzer ergriff schnelldie Zügel des Staatsapparates und passte diesen ihren Interessen an.Auf der Ebene des Verfassungsrechts wurde die Stabilität des Pakteszwischen politischer Macht und Agrarreichtum gestärkt, als dieersten Texte Grundbesitz zur Voraussetzung für den Eintritt inAbgeordnetenhaus und Senat sowie für Erwerb und Ausübungfundamentaler politischer Rechte, selbst des Bürgerrechts und desWahlrechts, machten.35

Trotz des Schutzes der Macht der Großgrundbesitzer wollteman zugleich die kolonialrechtlichen Schranken abbauen, die denfreien Grundstücksverkehr einschränkten und behinderten, auchwenn das deren Vermögen beeinträchtigen sollte. In Chile wurdemit Artikel 162 der Verfassung von 1833 die Verfügungsfreiheitüber das gesamte Eigentum erklärt, unabhängig von seiner Majo-ratsbindung, was 1852 in einem speziellen Gesetz, entworfen vonAndrés Bello, konkretisiert wurde. In Peru bestätigte die Verfas-sung Bolívars von 1828 in Artikel 160, dass Eigentum keinerleiErbprivilegien oder weltlichen Bindungen unterliege, da jeder Ge-

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32 Elf in Bolivien (1826, 1831, 1834,1839, 1843, 1851, 1861, 1868,1871, 1878, 1880); zwölf in Peru(1823, 1826, 1828, 1834, 1836[3], 1837, 1839, 1856, 1860,1867); fünf in Chile (1818, 1822,1823, 1828, 1833); drei in Argen-tinien (1819, 1826, 1853).

33 Das zeigt Heise für die chilenischeVerfassung von 1833 in Überein-stimmung mit dem Denken sämt-licher ersten amerikanischen

Aufklärer, in: Julio Heise Gon-zález, 150 años de evoluciónconstitucional, Santiago 1990,45–46.

34 Demélas, La invención política(Fn. 19) 364.

35 Mehr dazu in Rodrigo MíguezNúñez, Las oscilaciones de lapropiedad colectiva en las consti-tuciones andinas, in: Global Jurist8, 1 (2008) (Topics) 10–11.

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genstand aus einer Sachgesamtheit herausgelöst und veräußertwerden könne. In Argentinien befreite die revolutionäre Gesetzge-bung des Ersten Kongresses von 1813 (Versammlung des JahresXIII) das Eigentum von Majoraten. Später bestätigte die Verfas-sung von 1853 das Recht auf die freie Nutzung und Veräußerungdes Eigentums und garantierte seine Unverletzlichkeit (Art. 14, 17).Genau wie seine Vorgänger von 1819 und 1826 proklamiert derVerfassungstext von 1853 das Eigentum als heiliges und unver-letzliches Recht. In Bolivien garantierte die liberale Verfassungvon 1826, die auf dem Entwurf von Simón Bolívar basierte, dasRecht auf Eigentum (Art. 149) und schaffte damit Erbprivilegienund Bindungen jeglicher Art ab. Daneben verkündete man dieVeräußerlichkeit des Eigentums von karitativen Einrichtungen, derKirche und anderen (Art. 154). Eigentum sei unverletzlich, erklärtdie Verfassung von 1843, ausgenommen im öffentlichen Interesse(Art. 15) – eine in den darauf folgenden Verfassungstexten immerwiederholte Formel.36 Die angeführten Normen entstammen einerGesetzgebung, die auf das Ancien Régime zurückgriff und nurscheinbar die Privilegien der Aristokratie abschaffte, denn dieAufteilung des Bodens, seine Befreiung aus den kolonialen Institu-tionen und seine Lösung aus der »Toten Hand« bedeuteten insge-samt, dass er in die »lebenden Hände« der Klasse gebracht wurde,die über die nötige Kaufkraft verfügte. Deshalb stellt der Prozessder Forderung nach Individualeigentum, der Aufteilung und Be-freiung des Grundbesitzes aus feudalen Bindungen, wie er sich inder Andenregion vollzog, eine Form der Enteignung oligarchischenCharakters dar, die in ihrer Struktur einen weiteren Aspekt dersogenannten »traditionalistischen Modernisierung« des 19. Jahr-hunderts verwirklichte.37

Das Gesagte macht ausreichend deutlich, dass die Position derindigenen Bevölkerung und ihre Formen von Grundbesitz voll-ständig ignoriert wurden. Außerdem aber musste die Modernisie-rung des Agrarsektors von zwei weiteren legislativen Mechanismenflankiert werden, um den Verfassungsauftrag umzusetzen: vonZivilgesetzbüchern und Sondergesetzen.

Die neu entstehenden Verfassungsurkunden und die sie be-gleitenden Diskussionen ordnen nach dem Modell der Verfassungvon Cádiz von 1812 die Erstellung von Gesetzbüchern an.38 Wiezuerwarten, enstanden zunächst Zivilgesetzbücher (Bolivien 1830–1845, Peru 1852, Chile 1855, Argentinien 1869).39 Den Regie-

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36 Vollständige Texte und bibliogra-phische Verweise ebd., 10 ff.

37 Nach der Formel von Fernandode Trazegnies, La idea de dere-cho en el Perú republicano delsiglo XIX, Lima 1992, 30.

38 Als Beispiele mögen genügen: Art.106 der Peruanischen Verfassung

von 1823, Art. 64 Nr. 11 der Ar-gentinischen Verfassung von 1853und der Hinweis Bolívars auf dieKodifikation des Zivilrechts inseiner Rede zum Verfassungsent-wurf vor dem verfassungsgeben-den bolivianischen Kongress am25. Mai 1826. Siehe Proyecto deConstitución para la República deBolivia y discurso del Libertador,Lima 1826, 13.

39 Es gibt umfangreiche Literaturüber den Prozess der Kodifikationdes Zivilrechts in Lateinamerika;hier sei exemplarisch auf zweiwichtige Beiträge hingewiesen:Alejandro Guzmán Brito, Lacodificación civil Iberoamericana,siglos XIX y XX, Santiago 2000;Carlos Ramos Núñez, El Códi-go napoleónico y su recepción enAmérica Latina, Lima 1997.

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rungen war klar, dass die Kontrolle des Privatrechts die Kontrolleüber die Nation bedeutete, daher sollte die Reform des Privat-rechts die interne Ordnung der neuen Staaten schaffen.40 Aber dieKodifikation war auch, wie sich zur selben Zeit in Europa zeigte,ein neues normatives, einheitliches und vereinheitlichendes Instru-ment zur Überwindung des Rechtspartikularismus der vorange-gangenen Epoche, ein Beitrag zur Stärkung der nationalen Einheitmit Hilfe eines im alten Kontinent ausgereiften Instrumentes: derVernunft.41

Aus diesen Gründen zeichnet sich die Kodifikation des Zivil-rechts in den Andenstaaten durch eine von der komparatistischenLehre immer wieder hervorgehobene Charakteristik aus: die hoheWertschätzung des importierten Modells.42 Das war die entschei-dende Voraussetzung für die Imitation/Adaptation des französi-schen Code Civil im Andengebiet. Es handelte sich um die Über-nahme eines angesehenen Mechanismus sozialer Herrschaft, umeine nationale Identität zu schaffen und eine interne Ordnung zufestigen. Das napoleonische Gesetzbuch beseitigte die Hinterlassen-schaft des Ancien Régime und schuf eine liberale bürgerlicheGesellschaft weltlicher Prägung, in der Eigentum, Gleichheit undpersönliche Freiheit als Dogmen der Moderne unantastbar waren.Darum wurden das individuelle und unbeschränkte Eigentum, dieAutonomie des Willens und die Vertragsfreiheit zu tragendenSäulen des Privatrechts. Im napoleonischen Modell konnte nureine Welt von Eigentümern mit absoluten Befugnissen die Sicher-heit und Ruhe des Staates garantieren, und so fand die Formel desArtikel 544 Code Civil rasch Verbreitung in Lateinamerika.43

Getreu ihrem Modell verankerten die Zivilgesetzbücher derAndenregion die Vorherrschaft des Besitzindividualismus. Was dieAgrargesetze angeht, so favorisieren sie die Teilung der Ländereien,legen eine begrenzte Anzahl an dinglichen Rechten fest, schränkendie Rolle des Gewohnheitsrechts ein und erklären sämtlichesherrenlose oder verlassene Land zu Staatseigentum. Erneut wirddeutlich, dass in einer vom Individualismus inspirierten Struktur,die auf die Entwicklung eines von der Staatsgewalt angeordnetenwirtschaftlichen Liberalismus abzielt, der Raum für die Boden-erwerbsformen der indigenen comunidades gleich null war, einzigihre Teilung war vorgesehen.

Aber das ist noch nicht alles. Das Wort »Indio« wurde nichtnur aus den Verfassungstexten, sondern auch aus den Zivilge-

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40 Matthew C. Mirow, LatinAmerican Law. A history of Pri-vate Law and Institutions in Spa-nish America, Austin 2004, 98.

41 Francisco Tomás y Valiente,Códigos y constituciones (1808–1978), Madrid 1989, 85; Tarello(Fn. 3) 29.

42 Siehe Alan Watson, Legal Trans-plants. An Approach to Compa-rative Law, Edinburgh 1974, 29;Rodolfo Sacco, Introduzione al

diritto comparato, Torino 1992,147 ff.; Elisabetta Grande, Imi-tazione e diritto: ipotesi sulla cir-colazione dei modelli, Torino2000, 15 ff.; Michele Grazia-dei, Comparative Law as the Stu-dy of Transplants and Receptions,in: The Oxford Handbook ofComparative Law, hg. von Ma-thias Reimann und ReinhardZimmermann, Oxford 2007,457–458; Ugo Mattei, Circola-

zione dei modelli giuridici, in:Enciclopedia del diritto, Annali I(2008) 177.

43 Vgl. André-Jean Arnaud, Lesorigines doctrinales du Code civilfrançais, Paris 1969, 192. Siehedazu auch Art. 289, 290 des C. C.von Bolivien von 1830; 460, 461,462 des C. C. von Peru von 1852;582 des C. C. von Chile; 2506 desC. C. Argentiniens.

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setzbüchern gestrichen, was sich besonders verheerend in Ländernwie Peru und Bolivien auswirkte, in denen im Lauf des 19. Jahr-hunderts die indigene Bevölkerung ein stetiges demographischesWachstum erlebte. In Bolivien übernahm lediglich ein isolierterArtikel des Zivilgesetzbuches von 1830, Artikel 455, eine Normaus der Recopilación de Leyes de las Indias, zur Regelung derTestamentsformen von Indios, die außerhalb ihrer Quartiere leben.Nicht anders ist es um das Schicksal der peruanischen Indiosbestellt. Mit der Formulierung »ein geschichtsträchtiges Verges-sen« bezeichnet die Forschung zur Geschichte der Inka die Nicht-erwähnung der Indios und ihrer comunidades durch die Verfasserdes Zivilgesetzbuches von 1852.44 Der aus Cuzco stammende His-toriker Atilio Sivirichi wies Mitte des 20. Jahrhunderts darauf hin,dass der Código civil einen Höhepunkt der gegen das indigeneRecht und die Ordnung der indigenen comunidades gerichtetenGesetze darstellte, da deren Rechtspersönlichkeit angesichts desindividualistischen Geistes des Código ignoriert worden sei.45

Das Übergehen der indigenen Bevölkerung in der Zivilgesetz-gebung komplementierte lediglich eine dritte und direkte Art derAggression gegenüber der indigenen landwirtschaftlichen Organi-sationsform. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist einsteigender Druck auf die Ländereien der comunidades auszuma-chen, als man nach der endgültigen Festlegung der politischenAußengrenzen der neuen Staaten zur internen landwirtschaftlichenExpansion zu Lasten des Gemeinschaftslandes übergeht.

In Peru (und gleiches gilt für Bolivien vor der Unabhängigkeits-erklärung von 1825) begann das neue Agrarzeitalter mit den De-kreten, die Bolívar am 8. April 1824 in Trujillo und am 4. Juli 1825in Cuzco verabschiedet. Im ersten Dekret erklärte er die indigeneBevölkerung zu absoluten Eigentümern ihrer Güter und ordnete dieUmwandlung des Gemeinschaftslandes in individuelles Eigentumund seine Verteilung proportional zum Familienstand jedes Mit-gliedes der comunidad an. Der Landüberschuss sollte als Staats-eigentum verkauft werden. Das zweite Dekret umfasst drei Ver-ordnungen. Um die Übertragung von Boden an religiöse Insti-tutionen zu verhindern und die indigene Bevölkerung gegen Drittezu schützen, erklärte eine von ihnen die Veräußerung indigenerGüter an Dritte bis zum Jahr 1850 für nichtig, Übertragungen andie »tote Hand« wurden unbefristet verboten und als nichtig er-klärt.46

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44 So Figallo Adrianzén (Fn. 22)113 ff.

45 Atilio Sivirichi, Derecho indí-gena peruano, Lima 1946, 116.

46 Der Text der Dekrete Bolívarsfindet sich in Miguel Bonifaz,Legislación agrario-indigenal,Cochabamba 1953.

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In Chile bestimmte das Gesetz vom 4. Dezember 1866, dassdie Gebiete südlich des Flusses Bio Bio (die urkundlich dem Volkder Mapuche gehörten) als Eigentum des Fiskus behandelt undöffentlich versteigert werden sollten, außerdem die Einzäunungder verbleibenden indigenen Ländereien und ihre Zuordnung zuEigentumstiteln (Títulos de Merced). Darüber hinaus wurde dieComisión Radicadora de Indígenas ins Leben gerufen, eine Kom-mission, deren Aufgabe es war, der indigenen Bevölkerung die ihrnach der neuen Gebietsordnung zustehenden Ländereien zuzu-weisen. Ähnlich begann in Argentinien Julio A. Roca die interneConquista der indigenen Ländereien mit der Wüsten- und derChacokampagne. Rechtliche Grundlage dieser Schritte ist das Ge-setz 947 vom 4. Oktober 1878, das in Erfüllung des Grenzgesetzesvom 13. August 1867 die Investition einer Summe von bis zu einerMillion sechshunderttausend Pesos Fuertes zur Unterwerfung undVertreibung der »barbarischen Indios« aus der Pampa vorsah.Sein Auftrag wurde im Oktober 1876 durch das Einwanderungs-gesetz von Präsident Nicolás Avellaneda ergänzt. So griff mansowohl in Chile als auch in Argentinien auf die alte Lehre vomherrenlosen Land zurück, ausgehend von der üblichen ethnozentri-schen Perspektive: Die indigene Bevölkerung der eroberten Gebietehatte ganz einfach kein Eigentumsrecht, da es sich um eine noma-disch lebende Bevölkerung handelte, die nicht von der westlichenRechtsauffassung vorgesehene Voraussetzungen für den Eigen-tumserwerb erfüllte.47

Kurz und gut, wir beobachten in dieser ersten legislativenPhase das Aufeinandertreffen zweier deutlich erkennbarer Ent-wicklungen: auf der einen Seite die angestrebte Abkehr vom altenSystem durch die Landverteilung, die Vermeidung der Häufungvon Eigentumstiteln, die Entziehung von Eigentum aus den Hän-den der Kirche, der Aristokratie und der comunidades; auf deranderen Seite die Stärkung und Vermehrung des Großgrundbesit-zes. Dieses doppelte Phänomen ist nicht auf eine zufällige Gleich-zeitigkeit zurückzuführen: Das erste ist die Voraussetzung deszweiten. Tatsächlich war es eben die Klasse der Großgrundbesitzer,die als Ergebnis der fortschreitenden Befreiung von Grund undBoden ihren Besitz vergrößerte, indem sie sich zunehmend desLandes bemächtigte, das sich in jenen »toten Händen« befundenhatte. Während die Maßnahmen vor 1830 den Übergang desGroßgrundbesitzes von den privilegierten Subjekten des alten

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47 So Víctor Toledo LLanca-queo, En segura y perpetua pro-piedad. Notas sobre el debatejurídico sobre derechos de propie-dad indígena en Chile, siglo XIX,in: Actas 4 Congreso Chileno deAntropología, Santiago 2001,1131.

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Systems auf die Oligarchie des neuen Staatsapparates erlaubten,ermöglichten die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts er-griffenen Maßnahmen die Expansion des Agarliberalismus, welchedie Interessen der indigenen comunidades unmittelbar gefährdete.

IV. Ein bemerkenswertes Beispiel für das unermüdliche Tätigwer-den des Staates bei der Reform des indigenen Agrarsystems ist dasZusammentreffen48 von Recht und Liberalismus des 19. Jahrhun-derts in der bolivianischen Republik, die kurz skizziert werdensoll.49

Nach der Unabhängigkeitserklärung Boliviens dehnte Bolívarmittels einer Resolution vom 29. August 1825 seine in Trujillo undCuzco verabschiedeten Dekrete auf den gesamten neuen Staat aus.Die Agrarnormen seiner Nachfolger, der Präsidenten Sucre (1826–1828) und Santa Cruz (1829–1839), führten die von ihm begon-nene liberalistische Politik weiter. Sucre erließ das Gesetz vom27. September 1826, das erlaubte, die den Indígenas zugeteiltenLändereien bereits nach einer Frist von zehn Jahren zu veräußern,ohne bis zum Jahr 1850 warten zu müssen, wie es noch 1825 dasDekret von Cuzco bestimmt hatte. Santa Cruz verweigerte mitdem Gesetz vom 7. Februar 1838 den indigenen comunidades dieHandlungs- und Prozessfähigkeit, indem jedweder Person verbotenwurde, in ihrem Namen Rechtsgesuche einzureichen. Ein Jahr zu-vor hatte er bei der Umsetzung der Agrargesetze seiner Vorgängerder steuerzahlenden indigenen Bevölkerung das Eigentum an sol-chen Grundstücken zugesprochen, die sie bereits zehn Jahre langfriedlich in ihrem Besitz hatten, und damit in der Konsequenz derfreien Übertragbarkeit ihrer Grundstücke Tür und Tor geöffnet(Dekret vom 7. April 1837).50

Nach einigen Jahren ohne Veränderungen erlebte Bolivien wiedie übrigen lateinamerikanischen Länder eine Renaissance liberalerIdeen.51 Die von Politikern wie Jorge Mallo, José Vicente Doradound Melchor Urquidi vorgetragenen liberalen Forderungen stehenstellvertretend für die offizielle Agrarpolitik der Regierung JoséMaría Achás (1861–1864). Während seiner Amtszeit ordnete dasDekret vom 28. Februar 1863 die Umsetzung der Agrargesetz-gebung von Bolívar und Santa Cruz an, um die Ländereien dercomunidades aufzuteilen und den Rest dem Meistbietenden zuverkaufen und so die öffentlichen Ausgaben zu decken und dentotalen Staatsbankrott zu verhindern. Die Anordnung, die von

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48 Der Begriff Zusammentreffen (theencounter) stammt von MarkGoodale, für den der Prozess derruralen Transformation in Boli-vien im 19. Jahrhundert eines derdrei Hauptmomente der Begeg-nung mit der liberalistischen Ideeim Recht darstellt. Siehe MarkGoodale, Dilemmas of Modern-ity: Bolivian Encounters with Lawand Liberalism, Stanford Ca.2009, 45 ff.

49 Die historiographische Literaturdazu ist umfangreich. Ein Quer-

schnitt der jüngsten Untersuchun-gen: Marie-Danielle Demélas,Attaques et résistances. Les com-munautés indiennes en Bolivie auXIXe siècle, in: Demélas und Vi-vier (Fn. 1) 303–322.

50 Die vollständigen Passagen derAgrargesetze von ihren Anfängenbis zur Mitte des 20. Jahrhundertssind in zwei bemerkenswertenSammlungen zu finden: JoséFlores Moncayo, Legislación

agraria del indio: recopilación deresoluciones, órdenes, decretos,leyes, decretos supremos y otrasdisposiciones legales 1825–1953,La Paz 1953; Bonifaz, Legisla-ción agrario-indigenal (Fn. 46).

51 Charles Hale, Political and So-cial Ideas in Latin America, 1870–1930, in: The Cambridge Historyof Latin America IV, hg. von Les-lie Bethell, Cambridge 1986,367–441.

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weiten Kreisen als Angriff auf das von Bolívar angeordnete indi-gene Eigentum angesehen und deshalb schon vor ihrer Umsetzungwieder aufgehoben wurde (mit dem Gesetz vom 19. Juni 1863),ließ bereits die liberale Ausrichtung zukünftiger Regierungen er-ahnen.

Angesichts dieser Ausgangslage sahen sich die bolivianischenPolitiker zu Beginn der diktatorischen Amtszeit von GeneralMariano Melgarejo (1864–1871) in zwei Lager gespalten, wasdas Schicksal der indigenen Bevölkerung und ihres Landes betraf:Die einen sahen sie als Kolonen im Hazienda-System, die anderenals individuelle Eigentümer des von ihnen besessenen Landes.52

Doch in den Diskussionen der »roten« wie der gemäßigten Libe-ralen ging die endgültige Lösung dieser Frage von der Abschaffungder comunidades aus, da man hierin eine unverzichtbare Maß-nahme für den wirtschaftlichen Erfolg sah.53

Die Regierung von Melgarejo übernahm die radikal-liberaleThese. Zwei Dekrete bestimmten das Schicksal der comunidadesund ihrer Ländereien. Mit dem ersten vom 20. März 1866 wurdendie Indianer, die Staatsland besaßen, zu Eigentümern mit absolutenRechten erklärt (bislang hatte man sie lediglich als Nießbraucherangesehen), allerdings unter der Bedingung, dass sie innerhalb von60 Tagen eine von einem Gutachter festgelegte Summe zwischen 25und 100 Pesos bezahlten. Nach dieser Frist sollten die Indianer, dieihre Situation nicht auf diese Weise legalisiert hatten, ihr Landverlieren, welches öffentlich versteigert werden sollte. Die Frist warabsurd kurz, die Konsequenzen offensichtlich.

Ein zweites Dekret vom 28. September 1868 ordnete an, Land,das sich als Gemeinschaftsland in indianischem Besitz befand undnicht bereits von indianischen Individuen erworben war, zu Staats-eigentum zu erklären und öffentlich zu versteigern, um die öffent-lichen Ausgaben zu decken. Außerdem sollte selbst dort, wo India-ner die Bedingungen des Dekrets vom 20. März 1866 erfüllt und soihr Land zurückerhalten hatten, nur ein einfacher Pachtvertrag fürdie Dauer von fünf Jahren geschlossen sein, nach deren Ablauf dasLand an den Staat zurückfallen müsse.

Wie man sieht, zwangen die Verordnungen Melgarejos dieindigene Bevölkerung erneut dazu, das von ihr bereits seit unvor-denklicher Zeit besessene Land zu kaufen, das die Krone mit Hilfeverschiedener Rechtsinstitute in der Kolonialzeit anerkannt hatte.Deshalb hatte die mit Melgarejo begonnene Operation eine neue

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52 Das Kolonat (coloniaje o colona-to) ist ein Pacht- und Arbeitsver-hältnis, auf dessen Grundlage dieder Hazienda unterstellten Bau-ern / Indígenas eine unterschied-liche Anzahl von Tagen auf derHazienda arbeiten müssen, umdafür im Austausch Zugang zuLand zu bekommen.

53 Näheres bei Erick D. Langer,El liberalismo y la abolición de lacomunidad indígena en el siglo

XIX, in: Historia y Cultura 14(1988) 67 ff. Mehr zur Vorge-schichte der Agrarpolitik der Re-gierung Melgarejos in Ana MaríaLema, Le cauchemar et le rêve:politique économique du Gouver-nement de Melgarejo. Bolivie1864–1871, Mémoire de maîtrise,Paris 1983, 175 ff.

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Strukturierung des Landes zur Folge, dieses Mal aber charakte-risiert durch Usurpation und Staatsbetrug.

Das Ergebnis ist absehbar: Zwischen dem 20. März 1866 unddem 31. Dezember 1869 versteigerte die Regierung das Land von216 comunidades im Bezirk Mejillones, von 109 im Bezirk La Paz,15 in Cochabamba, 12 in Chuquisaca, 4 in Tarata, 3 in Oruro und1 in Potosí.54 Die indigenen Aufstände hiergegen waren eine derHauptursachen für den Sturz der Regierung Melgarejo (1871).Nach dem Sturz war das Thema, das die öffentliche Aufmerksam-keit beschäftigte, die Rechtmäßigkeit der Verkäufe von Gemeinde-land und dessen Schicksal. Die Liberalen (und die Landkäuferunter der Verwaltung Melgarejos) befürworteten das Hazienda-System; ihrer Einschätzung nach ermöglichte die Umwandlung desindigenen Eigentümers in einen freien Kolonen dem Indianer einenbesseren Stand: »[…] denn er muss keinem anderen Herrn gehor-chen als seinem Patron […] Den Hazienda-Indio demütigt nie-mand, keiner nimmt ihm seine Esel weg oder zwingt ihn, gegenseinen Willen zu arbeiten.«55 Die Lösung bestand also darin, dasGrundeigentum dem Kapital zu übertragen, das den Weg für dieProduktion im großen Stil freimachen würde. Mit dem Slogan»Mehr Freiheit und weniger Regierung« äußerten sie ihre Über-zeugung, nach der die Rolle des Staates darin bestehen sollte, eineLaissez-Faire, Laissez-Passer-Position einzunehmen. Daher gingensie von der Rechtmäßigkeit der Verkäufe von Gemeindeland aus.56

Andere, die eher liberal-konservativ gesinnt waren, sahen in Mel-garejos Gesetzgebung einen direkten Angriff auf das in den Dekre-ten Bolívars von 1824 bis 1825 festgeschriebene Eigentumsrechtder Indígenas. Das Kolonat musste abgelehnt und die Rückforde-rung des während der Amtszeit des Diktators verkauften Gemein-delandes in die Wege geleitet werden. Allerdings sollte das Ge-meindeland nach der Rückgabe aller Grundstücke in individuellesEigentum umgewandelt werden, denn man glaubte: »Wenn derAngehörige der Comunidad Herr über sein Land ist, wird er es mitmehr Hingabe bestellen, und wenn er es veräußern kann, wird erselbst dafür sorgen, dass es in die fleißigsten Hände gelangt.«57

Dies war schließlich die Lösung, die mit dem Gesetz vom31. Juli 1871 festgeschrieben wurde, in dessen Artikel 1 es hieß:»Die Indianer sind und waren die Eigentümer der ursprünglichenLändereien und des Gemeindelandes. In diesem Sinne werden dieVeräußerungen, Zuerkennungen oder Verkäufe jeglicher Art, die

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54 Siehe, auf der Grundlage derDenkschrift des Ministerio deHacienda von 1870, NicolásSánchez Albornoz, Indios ytributos en el Alto Perú, Lima1978, 207–208; Lema (Fn. 53)194.

55 So Medinaceli, Cuestión de co-munidades. Artículos tomados de»La Reforma«, La Paz junio 1871,9, Biblioteca Nacional de Bolivia(BNB), Sucre, M 807 XXIX.

56 Siehe ebd. 11, 12, 21; Los com-pradores de terrenos, Dos pa-labras sobre las ventas de tierrasrealengas, a la Nación, a la Sobe-rana Asamblea y al Supremo Go-bierno, Cochabamba 13 mayo1871, 19 ff., BNB, Sucre, M 420VI; Dos abogados de La Paz, Ladefensa de los intereses del puebloante la Honorable AsambleaConstituyente de 1871 (erste Fol-ge), La Paz junio 1871, 17 ff.,BNB, M 420 VII, Sucre; Loscompradores, Legitimidad de lascompras de tierras realengas o seaecsamen de los folletos titulados,»revindicación de los terrenos decomunidad« und »propiedad delos terrenos de los orijinarios«,Cochabamba 10 julio 1871, 35 ff.,BNB, Sucre M 420 IX; José Ma-ría Barragan y Eyzaguirre,Reclamo de los compradores deterrenos del Estado ante la Sobe-rana Asamblea, La Paz julio 1871,5 ff., BNB, Sucre, M 807 XXXI;Los compradores de tierrasde comunidad, Solicitud presen-tada al Supremo Gobierno, La Pazjulio 1873, BNB, Sucre, M 534 X.

57 So José María Santibañez, Re-vindicación de los terrenos de co-munidad, Cochabamba 1871, 32,28, 44 ff., BNB, Sucre, M 420 Vbis; ders., Revindicación de losterrenos de comunidad o sea larefutación del folleto titulado»Legitimidad de las compras detierras realengas«, Cochabamba1871, 42 ff., BNB, Sucre, M 420XI. Zur Unterstützung seinerPosition: Miguel María de

Aguirre, Apéndice al ilustradoopúsculo del Dr. José María San-tibañez sobre la nulidad de laventa de terrenos de orijinarios,Cochabamba junio 1871, BNB,Sucre, M 420 VIII; Un vecino deChayanta, Propiedad de los terre-nos de orijinarios y la injusticia delas ventas de ellos, ante el juicio dela nación, Sucre 17 julio 1871,BNB, Sucre, M 420 X.

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mit diesen Ländereien unter der Herrschaft von Don MarianoMelgarejo unternommen worden sind, für nichtig erklärt, da sieeinen Angriff auf das Eigentumsrecht darstellen.«

Trotz der klaren Intention des Gesetzgebers von 1871 legtenspätere Vorschriften einige Aspekte des Gesetzes zum direktenNachteil der enteigneten indigenen Bevölkerung aus. Das Gesetzvom 9. August 1871 schaffte die generelle Nichtigkeit der Grund-stücksverkäufe ab. Von da an war es notwendig, spezielle Ver-fahren anzustrengen und ein Urteil über die Nichtigkeit zu er-streiten. Später ordnete Artikel 1 der Obersten Resolution vom7. Juni 1872 an, dass die Angehörigen einer indigenen Gemeindeweder einzeln noch gemeinsam Klagen erheben durften, die dasGrundstückseigentum zum Gegenstand hatten, ohne den Nachweisüber die notwendigen Voraussetzungen für die Ausübung desvollen Eigentums zu erbringen. Es sei darauf hingewiesen, dassdiese ergänzende Gesetzgebung das Fortschreiten der Usurpationvon Gemeindeland stärkte, denn aufgrund der von ihr errichtetenHürden kehrten nur wenige Ländereien tatsächlich in die Händeder indigenen Bevölkerung zurück, und auf diese Weise verfestigtesich die wachsende Konzentration ehemaligen Gemeindelandes imVermögen der Hazienda-Besitzer.

Die Grundlagen des liberalen Agrarsystems hatten zu Anfangder 1870er Jahre bereits tiefe Wurzeln geschlagen, es fehlte nurnoch der Gnadenstoß zugunsten des Besitzindividualismus. DieseAufgabe übernahm die Regierung von Tomás Frías (1874–1876).Das Gesetz vom 5. Oktober 1874, bekannt als Gesetz der Befreiung(exvinculación) von Gemeindeland, folgt dem Muster der Ver-ordnungen von 1824, 1825, 1831, 1863 und 1871. Noch einmalwird das absolute Recht der indigenen Bevölkerung an ihremjeweiligen Besitz mit den bekannten Grenzen und Einschränkenerklärt (Artikel 1). In diesem Sinne sind sie berechtigt, das Land zuverkaufen und über ihren Landbesitz frei zu verfügen (Art. 5). DasLand, das sich nicht in ihrem Besitz befindet, wird zu überschüssi-gem Land erklärt und in Staatseigentum überstellt (Art. 4).

Die Verordnung schreibt in Artikel 7 das höchste Ziel derbolivianischen Liberalen fest: »Sind die Eigentumstitel erteilt, wirddas Gesetz keine comunidades mehr anerkennen. Kein Individuumoder Zusammenschluss von Individuen wird sich als comunidadoder aillo [ayllu] bezeichnen oder für eine solche vor einer Behördeauftreten können.« Das Gesetz überträgt den sogenannten Juntas

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Revisitadoras die Aufgabe, die neuen Eigentumstitel für jedenIndianer festzustellen, genau zu bezeichnen und auszustellen (Art.11). Eine Bestimmung vom 24. Dezember des gleichen Jahres, diedie Umsetzung der exvinculación regeln soll, ordnet an, dass mitder Aufnahme der Arbeit durch die Juntas die indianischen comu-nidades oder ayllus juristisch nicht mehr existieren (Art. 59).Zudem bestimmt das Gesetz vom 5. Oktober die Ablösung dertraditionellen Personalsteuer (seit 1825 als »Indianerabgabe« be-kannt) durch eine Sach- und Territorialsteuer, die sich am Umfangdes Eigentums bemisst (Art. 19, 20).

Das Gesetz zur exvinculación wurde nicht sofort umgesetzt;erst 1879 beschloss man die Durchführung der Umwandlung fürdas ganze Gebiet der Republik. In der Zwischenzeit hatte man inder Nationalversammlung von 1880 grundsätzlich und offen überdie Zukunft der indigenen Ländereien diskutiert.58 Dieses Gre-mium schloss sich den Stellungnahmen von Repräsentanten wieJosé Rosendo Gutierrez (»Es gibt keinen Staat und keine Nationohne die vorherige Zerstörung der indigenen Comunidad«) odervon Nataniel Aguirre (»Folgen wir dem Beispiel des französischenAdels! Geben wir dem Indio seine Rechte zurück!«) an, um so dieayllus zu zerstören und die Bildung von Bürgern nach europäi-schem Modell festzulegen.59

Dementsprechend war nach 1879 die Staatsaktivität aus-schließlich darauf gerichtet, die liberale Gesetzgebung umzusetzen,die während des 19. Jahrhunderts Schritt für Schritt erlassenworden war. Die neue Dynamik führte zu einer Beziehung zurindigenen Klasse, die auf dem Agrarkapitalismus basierte, zurVermarktung ihres Landes und zur Kommerzialisierung der Be-ziehungen zur staatlichen Autorität. Die Maßnahmen, die man inden letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts ergriff, zielten mit ande-ren Worten darauf ab, einen nationalen Bodenmarkt als erstenSchritt zur Expansion der Hazienda zu etablieren. Es handelte sichletztendlich um einen Prozess mit dem Ziel, ein modernes Agrar-modell auf der Grundlage eines Systems zu erzwingen, das denBesitz nach in anderen Breiten gereiften Konzepten rationalisierte;ein fremdes System, das die koloniale Tradition unberücksichtigtließ und so das Gleichgewicht der bolivianischen Zivilgesellschaftuntergrub.60

Das unmittelbare Ergebnis des ersten bolivianischen Zusam-mentreffens mit dem liberalen Recht war die Auflösung der kolo-

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58 Für nähere Einzelheiten sieheMarta Irurozqui Victoriano,Elites en litigio. Las ventas detierras de comunidad en Bolivia,1880–1899, Lima 1993, 10.

59 Siehe Demélas, La invenciónpolítica (Fn. 19) 403; dies., Lespropriétés collectives face aux at-taques libérales (Fn. 49) 314.

60 Nach Tristan Platt sah die Revisitaeine komplette Transformation

des gültigen Steuersystems vor, dasie von Staatsseite aus die einseiti-ge Nicht-Erfüllung des tradition-ellen Paktes der Gegenseitigkeitmit den Gemeinden einschloss.Dadurch wurden die von der co-munidad bereitgestellten Diensteund kolonialen Tribute mittels derStaatsgarantie der Anerkennungdes Eigentums ihrer Ländereienneu verteilt. Die Abschaffung dercomunidad harmonierte daher in

der Mentalität des Indígenas derAndenregion nicht mit der Auf-rechterhaltung des Tributs. SiehePlatt (Fn. 30) 91, 100; ders.,The Role of the Andean Ayllu inthe Reproduction of the PettyCommodity Regime in NorthernPotosí (Bolivia), in: Ecology andExchange in the Andes, hg. vonDavid Lehmann, Cambridge1982, 27–69, 36.

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nialen Agrarorganisation und der mit ihr verbundenen sozialenDynamiken; dadurch wurde der Weg für eine Zeit indigener Auf-stände geebnet, die in der großen Rebellion von 1899 gipfelten.61

Der Übergang von 30% des Gemeindelandes in Privathände in den1880er Jahren, seine Verringerung um 67,7% gegenüber einemZuwachs der Haziendas von 423,5% allein im Bezirk La Paz in derZeit von 1846–194162 oder die allgemeine Reduzierung von Ge-meindeland auf weniger als ein Drittel der gesamten ruralen Aus-dehnung des Landes – das sind, aus der historischen Distanzbetrachtet, Zahlen, die es erlauben, die Zeit bis zum Ende desJahrhunderts als essentiellen Angriff der Oligarchie auf indigenesLand zu charakterisieren.63

V. In diesem Aufsatz wurden die wichtigsten ideologischen Strö-mungen und Maßnahmen der republikanischen Regierung zurEinführung des Systems des Besitzindividualismus im landwirt-schaftlichen Szenario der Andenregion skizziert. Im Verlauf diesesProzesses liefern das vollkommene Fehlen indigener Präsenz inden analysierten Texten und die Instrumentalisierung der Gesetz-gebung zum Zweck der Teilung, Übertragung oder Usurpationindigener Ländereien unumstößliche Anhaltspunkte zur Bestäti-gung einer kürzlich verallgemeinerten These: Seit seinem Entstehenwurde das Regelwerk des Rechtsstaates zu verschiedenen Zeit-punkten als demokratischer Wert missachtet und als Mechanismuszur Schaffung und Legitimierung rechtswidriger Situationen miss-braucht. Das ist die negative und seltene gesehene Dimension jenerwichtigsten Garantie ziviler Freiheit und moderner Institutionali-tät; in dieser Spielart wird das Recht als Unterdrückungsinstrumentaufgefasst, im Begriff, eine widerrechtliche Ressourcenverteilungauf Kosten der schwächsten Bevölkerungsteile zu schaffen.64 Dieswar das Profil des republikanischen Rechtsstaates im Hinblick aufden Umgang mit dem indigenen Land; gerechtfertigt wurde diesePolitik durch eine importierte Ideologie, derer sich die republikani-schen Ideologen mit dem Ziel bedienten, das koloniale Agrargleich-gewicht zu zerstören und eine ungleiche Landverteilung durchzu-setzen.

Unter dem Einfluss von Prinzipien der Freiheit des Markteslösten Verfassungen und Zivilgesetzbücher die traditionelle Ver-bindung zwischen Staat und ethnischen Gruppen und setzten anihre Stelle eine enge Verbindung von institutioneller Infrastruktur

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61 Umfassend analysiert in RamiroCondarco Morales, Zárate eltemible Willca. Historia de la re-belión indígena de 1899 en la Re-pública de Bolivia, 2. Aufl. La Paz1982; Gonzalo Flores, Levan-tamientos indígenas durante el pe-riodo liberal, Cochabamba 1984.

62 Zur Präzisierung siehe Marie-Danielle Demélas, Nationalismesans Nation? La Bolivie aux XIXe– XXe siècles, Tolouse 1980,

148 ff.; Erwin P. Grieshaber,Resistencia indígena a la venta detierras comunales en el departa-mento de La Paz, in: Data, Revistadel Instituto de Estudios Andinos yAmazónicos 1 (1991) 114. Auseiner mikrohistorischen Perspekti-ve siehe Rossana Barragán undFlorencia Durán, El despojo enel marco de la ley, in: Collana:Conflicto por la tierra en el Alti-plano, La Paz 2003, 37 ff.

63 Klein (Fn. 13) 148; ders., Boli-via: The Evolution of a Multi-Ethnic Society, New York, Oxford1992, 152; Jorge Ovando Sanz,Sobre el problema nacional y co-lonial de Bolivia, Cochabamba1962, 204 ff.

64 Es handelt sich um das provo-kante Werk von Ugo Mattei undLaura Nader, Plunder: When theRule of Law is Illegal, Oxford2008, 10–26.

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und reichem Grundbesitz, so dass schließlich, wie José CarlosMariátegui 1928 schrieb, »[…] während eines Jahrhunderts derRepublik der Großgrundbesitz trotz des theoretischen Liberalis-mus unserer Verfassung und der praktischen Notwendigkeiten derEntwicklung unserer kapitalistischen Wirtschaft erstarkte undwuchs«.65 Aus diesem Grund waren die Auswirkungen der juristi-schen Transplantation liberaler Ideologie in diese Breiten nicht diegleichen wie im revolutionären Frankreich; in den Anden wird keinBeitrag zur Schaffung einer egalitären Gesellschaft kleiner Eigen-tümer geleistet, sondern die Expansion des Immobilienreichtums inden Händen einer kleinen Gruppe Privilegierter gefördert. DieseVorgänge bestätigen nicht nur die Abgelöstheit des Rechts vompolitisch-sozialen Kontext, in dem es entsteht, sondern beweisenauch die Veränderungen der ideologischen Grundlagen des Rechtsje nach den Interessen der Umgebung, in die dieses Recht hineintransplantiert wird.66

Das 19. Jahrhundert präsentiert sich monistisch im Hinblickauf die Ideologie und monopolisierend im Hinblick auf die Rechts-quelle, denn im Denken der geistigen Väter war weder der poli-tische Erfolg des Staates noch der rational-kapitalistische öko-nomische Fortschritt ohne die Etablierung vereinigter Bürgernach individualistischem Modell vorstellbar. Angesichts eines Pro-gramms, das einem rechtlich imaginierten Land den Vorzug gegen-über dem real existierenden gab,67 müssen die indigene Kultur undihre kollektiven territorialen Praktiken im unendlichen Universumdes ungeschriebenen Rechts verbleiben und sich außerhalb desRahmens der staatlichen Anerkennung entwickeln. So musste eineParallelordnung entstehen, die in Erwartung ihrer legislativen An-erkennung fortbesteht, die das folgende Jahrhundert als Antwortauf die wachsende soziale Anklage jener marginalisierten indiani-schen Nation bringen wird.

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65 José Carlos Mariátegui, 7 en-sayos de interpretación de la rea-lidad peruana, 71. Aufl. Lima2005, 51.

66 Graziadei (Fn. 42) 458; Mattei(Fn. 42) 173. Das Thema steht imMittelpunkt des außergewöhnli-chen Werkes von Diego LopezMedina, Teoría impura del de-recho. La transformación de lacultura jurídica latinoamericana,Bogotá 2004.

67 Bernardino Bravo Lira, Entredos constituciones, histórica yescrita. Scheinkonstitutionalismusen España, Portugal e Hispano-américa, in: Quaderni Fiorentini27 (1998) 155, 158.