rechtliche strukturen und rahmenbedingungen der privat- und sozialversicherung

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Rechtliche Strukturen und Rahmenbedingungen der Privat- und Sozialversicherung Gemeinsamkeiten und Unterschiede —* Von Meinhard Heinze, Bonn I. Am 27. Mai 1787 schreibt Goethe s auf seiner italienischen Reise aus Nea- pel nach Weimar: „Auf Herders dritten Teil (der Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit) freue ich mich sehr. Hebt mir ihn auf, bis ich sagen kann, wo er mir begegnen soll! Er wird gewiß den schönen Traum- wunsch der Menschheit, daß es dereinst besser mit ihr werden solle, treff- lich ausgeführt haben. Auch, muß ich selbst sagen, halt ich es für wahr, daß die Humanität endlich siegen wird, nur fürcht ich, daß zu gleicher Zeit die Welt ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärter sein werde." Mit dieser Warnung Goethes, daß die Welt nicht ein großes Hospital und nicht einer des anderen humaner Krankenwärter sein dürfe, möchte ich Sie einstimmen auf meine Überlegungen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den rechtlichen Strukturen und Rahmenbedingungen von Privatversicherungen und Sozialversicherung. Peter Koch hat in der Festausgabe zum Anlaß des hundertjährigen Be- stehens des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft 2 sehr an- schaulich dargestellt, wie sich in den ersten Jahrzehnten nach der Kaiser- lichen Botschaft vom 17. November 1881 die wissenschaftliche Auseinan- dersetzung um die Sozialversicherung, schwankend im Streit zwischen der Versicherungstheorie und der Versorgungstheorie, entwickelt hat. Und in der Tat hat sich erst Ende der zwanziger Jahre und der beginnenden dreißi- ger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts die wissenschaftliche Erkenntnis durchgesetzt, daß die Sozialversicherung als wirkliche Versicherung zu qualifizieren ist, die jedoch gegenüber der Privatversicherung einige Beson- derheiten aufweist. Historische Untersuchungen belegen, daß Bismarck von Anfang an ganz bewußt die Bezeichnung „Versicherung" verwendet hat, * Vortrag auf der Jahrestagung des Deutschen Vereins für Versicherungswissen- schaft am 15. März 2000 in Leipzig. 1 Goethe, Italienische Reise, Insel -Verl., S. 427 f. 2 Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft in Deutschland, 1998, S. 122 ff.

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Page 1: Rechtliche Strukturen und Rahmenbedingungen der Privat- und Sozialversicherung

Rechtliche Strukturen und Rahmenbedingungender Privat- und Sozialversicherung

— Gemeinsamkeiten und Unterschiede —*

Von Meinhard Heinze, Bonn

I.

Am 27. Mai 1787 schreibt Goethe s auf seiner italienischen Reise aus Nea-pel nach Weimar: „Auf Herders dritten Teil (der Ideen zur Philosophie derGeschichte der Menschheit) freue ich mich sehr. Hebt mir ihn auf, bis ichsagen kann, wo er mir begegnen soll! Er wird gewiß den schönen Traum-wunsch der Menschheit, daß es dereinst besser mit ihr werden solle, treff-lich ausgeführt haben. Auch, muß ich selbst sagen, halt ich es für wahr, daßdie Humanität endlich siegen wird, nur fürcht ich, daß zu gleicher Zeit dieWelt ein großes Hospital und einer des anderen humaner Krankenwärtersein werde." Mit dieser Warnung Goethes, daß die Welt nicht ein großesHospital und nicht einer des anderen humaner Krankenwärter sein dürfe,möchte ich Sie einstimmen auf meine Überlegungen zu Gemeinsamkeitenund Unterschieden in den rechtlichen Strukturen und Rahmenbedingungenvon Privatversicherungen und Sozialversicherung.

Peter Koch hat in der Festausgabe zum Anlaß des hundertjährigen Be-stehens des Deutschen Vereins für Versicherungswissenschaft2 sehr an-schaulich dargestellt, wie sich in den ersten Jahrzehnten nach der Kaiser-lichen Botschaft vom 17. November 1881 die wissenschaftliche Auseinan-dersetzung um die Sozialversicherung, schwankend im Streit zwischen derVersicherungstheorie und der Versorgungstheorie, entwickelt hat. Und inder Tat hat sich erst Ende der zwanziger Jahre und der beginnenden dreißi-ger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts die wissenschaftliche Erkenntnisdurchgesetzt, daß die Sozialversicherung als wirkliche Versicherung zuqualifizieren ist, die jedoch gegenüber der Privatversicherung einige Beson-derheiten aufweist. Historische Untersuchungen belegen, daß Bismarck vonAnfang an ganz bewußt die Bezeichnung „Versicherung" verwendet hat,

* Vortrag auf der Jahrestagung des Deutschen Vereins für Versicherungswissen-schaft am 15. März 2000 in Leipzig.

1 Goethe, Italienische Reise, Insel-Verl., S. 427 f.

2 Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft in Deutschland, 1998, S. 122 ff.

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eben weil er den Kern der Sozialversicherung rechtlich ausmacht und dendie gesamte Sozialversicherung beherrschenden Grundgedanken darstellt. 3

In der heutigen herrschenden wissenschaftlichen Meinung der Sozialrechts-lehre4 ist völlig unbestritten, daß der Versicherungsgedanke und der Ver-

sicherungsgehalt zwar in den einzelnen Zweigen der Sozialversicherungunterschiedlich, auch durch einige Besonderheiten ausgestaltet ist, gleich-wohl die Sozialversicherung echte Versicherung ist, indem das individuelleRisiko durch Zusammenfassung und Einbindung gleichartig Bedrohter imRahmen einer Versichertengemeinschaft umgelegt wird.

Betrachtet man die Jahrzehnte von der kaiserlichen Botschaft 1881 biszum Ausbruch des ersten Weltkriegs als eine zusammenhängende Periode,so wird in diesem Zeitraum nachhaltig deutlich, wie Sozialversicherungs-gesetzgebung und Privatversicherungsgesetzgebung im wechselseitigen,korrespondierenden Bezug zueinander stehen. An zwei Persönlichkeitenläßt sich dies beispielhaft konkretisieren. So war der Referent für das Ge-werbewesen im Reichsamt des Inneren Tonio Bödiker bei der Ausgestaltungder Sozialversicherungsgesetze maßgeblich beteiligt. Er war aber auch derUrheber des 1883 erstellten Entwurfs eines Reichsgesetzes über die privatenVersicherungsunternehmungen. 5 Sein Entwurf — auch die Motive stammenebenfalls zum größten Teil von ihm selbst — war Grundlage des Reichsgeset-zes über die privaten Versicherungsunternehmungen vom 12. Mai 1901, dasam 1. Januar 1902 in Kraft getreten ist. Andererseits war der zweite Präsi-dent des Aufsichtamts für Privatversicherungen Ernst Gruner als einer derbesten Kenner des gesamten deutschen Versicherungsrechtes seiner Zeitmaßgeblich an den Entwürfen für das Versicherungsvertragsgesetz beteiligt,das am 1. Januar 1910 in Kraft getreten ist. Zugleich war er einer der maß-gebenden Anreger und Gestalter der späteren Arbeitslosenversicherung. 6

So läßt sich von den Anfängen des modernen Sozial- und Privatversiche-rungswesens an ein doppeltes Spannungsverhältnis zwischen Privatver-sicherung und Sozialversicherung konstatieren: Einerseits in quantitativerHinsicht, als die moderne Sozialversicherung durch Festlegung eines Ver-sicherungszwanges der Privatversicherung notwendigerweise potentielleVertragspartner entziehen mußte. So entfiel etwa im Zuge des Inkraft-tretens des Unfallversicherungsgesetzes im Jahre 1884 das Bedürfnis zum

3 Vgl. Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft in Deutschland, 1998,S. 123.

4 Vgl. Bley/Kreikebohm, Sozialrecht, 7. Aufl. 1993, Rn. 274; Fuchs, VSSR 1991,281, 301; Gitter, Sozialrecht, 4. Aufl. 1996, S. 52 ff.; Schulin/Igl, Sozialrecht, 6. Aufl.1999, Rn. 81; Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 11 ff .

5 Vgl. hierzu Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft in Deutschland,1998, S. 124, 196.

6 Vgl. Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft in Deutschland, 1998,S. 197 f.

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Abschluß privater Haftpflichtversicherungsverträge auf Seiten der Arbeit-geber.7 Andererseits in qualitativer Hinsicht, als die mit der Sozialversiche-

rung normierten oder praktizierten Standards private Versicherungsver-träge inhaltlich unmittelbar berühren, so vor allem im Bereich der gesetz-lichen Krankenversicherung, als diese zum Beispiel im Bereich der Kran

-kenhausversorgung die maßgeblichen technischen und wissenschaftlichenStandards in praxi vorgibt, oder im Bereich der Pflegeversicherung, inderen Rahmen private und soziale Pflegeversicherungen inhaltlich nahezugleich geschaltet sind. Damit ist jedoch das wechselseitige Spannungsfeldvon Privatversicherung und Sozialversicherung vorerst noch in einem sehrvagen Rahmen angedeutet. Im folgenden wird es nun um eine Konkretisie-rung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede gehen.

II.

Noch immer wird vor allem in der politischen Diskussion allzu oft über-sehen, daß das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf Privatversiche-rung und Sozialversicherung von einer einheitlichen Versicherungsverfas-sung im Sinne unseres Grundgesetzes ausgeht. So hat das Bundesver-fassungsgericht am Beispiel der Entscheidung zu der nach Landesrechterrichteten, öffentlich-rechtlich ausgestalteten badischen Gebäudever-sicherung ausgeführt: „Das Bild des Versicherungswesens wird im wesent-lichen dadurch gekennzeichnet, daß den privatwirtschaftlichen Versiche-rungsunternehmen mit privatrechtlichen Vertragsbeziehungen öffentlich -rechtliche Versicherungseinrichtungen gegenüberstehen, die mit den priva-ten im Wettbewerb stehen und deren Versicherungsverhältnisse ebenfallsdem Privatrecht angehören." Die systematische Betrachtung durch dasBundesverfassungsgericht zeitigt deshalb auch das Ergebnis, daß Privatver-sicherung und Sozialversicherung nicht beziehungslos nebeneinander be-stehen, sondern daß das Grundgesetz von einem komplementären Zusam-menwirken von Privat- und Sozialversicherung ausgeht. Unserer Verfas-sung liegt, wie das Bundesverfassungsgericht sinngemäß deutlich macht,eine bipolare Versicherungsordnung zugrunde, die ausweislich des Art. 74,Abs. 1, Nr. 11 und Nr. 12 GG auf zwei selbständigen, in sich geschlossenenTrägersystemen beruht.

Die Privatversicherung verdankt ihren Namen dem Umstand, daß siedurch Privatautonomie gekennzeichnet ist. 9 Sie hat Ihre Grundlage im

7 Vgl. zur Entwicklung der Haftpflichtversicherung Koch, Geschichte der Versi-cherungswissenschaft in Deutschland, 1998, S. 263 ff.

8 BVerfGE 41, 205, 219.

9 Vgl. Isensee, FS Gitter, 1995, S. 401, 406.

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Freiheitsbereich. Ebenso wie der Abschluß eines Versicherungsvertrages imGrundsatz der privatautonomen Disposition der Vertragsparteien überlas-sen ist, entspricht es der privatautonomen Entscheidung, als Versicherer aufden Markt zu treten. Legitimationsquelle dieser Freiheit sind die Grund-rechte. Privatautonomie stellt nichts anderes als ein selbstverständlichesElement der Grundrechtsfreiheit dar. Der jeweilige Grundrechtsträger, derseine Freiheit ausübt, bedarf dazu keiner Rechtfertigung. Eingriffe in dasjeweils betroffene Grundrecht sind nur im Rahmen der verfassungsrechtli-chen Ermächtigungen zulässig.

Hingegen beurteilt sich die Legitimation der Sozialversicherung nachvöllig anders gelagerten Maßstäben. Die Sozialversicherungsträger habenkein grundrechtliches Fundament. 1° Es fehlt die Symbiose mit einemgrundrechtlich geschützten Lebensbereich. Ihre Träger verdanken ihre Exi-stenz und ihre Kompetenz ausschließlich der Organisationsgewalt des Staa-tes. Zieht man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes 11 heran,sind die Sozialversicherungsträger lediglich organisatorisch verselbstän-digte Teile der Staatsgewalt, die der Sache nach mittelbare Staatsverwal-tung ausüben. Die Staatsgewalt ist aber, mag sie unmittelbar, mag sie mit-telbar in Erscheinung treten, Adressat der Grundrechte, nicht zugleich de-ren Träger.

Während folglich die Privatversicherung ihre Legitimation aus der Frei-heit, verankert in Art. 2, Art. 12 und Art. 14 unserer Verfassung schöpft, be-darf die Sozialversicherung der besonderen Legitimation. Anders als dieVersicherungsunternehmen des Privatversicherungsrechts legen ihre Trägerweder den Gegenstand noch den Umfang ihres Aufgabenkreises eigenstän-dig fest, sondern unterliegen dem vom Gesetzgeber zugewiesenen Wir

-kungskreis, sind folglich nur im Rahmen der ihnen jeweils kraft Gesetzesverliehenen Kompetenzen rechtsfähig. 12 Isensee 13 verweist darauf, daß „derGrund im demokratischem Prinzip" liegt, „das alle Staatsgewalt auf dasVolk zurückführt ". Einrichtungen der mittelbaren Staatsverwaltung han-deln nur legitim, soweit sie vom Gesetz als Verkörperung des Volkswillensermächtigt werden. Es gilt der Vorbehalt des Gesetzes. Gerade dies hat auchder Gesetzgeber in § 31 SGB I ausdrücklich nochmals konkretisiert, wenn

10 Vgl. dazu Isensee, Privatautonomie der Individualversicherung und sozialeSelbstverwaltung, 1980, S. 11 ff.

11 Vgl. BVerfGE 39, 302, 312 ff.12 Das Konzept der kompetenzbegrenzten Rechtsfähigkeit, das für die juristischen

Personen des öffentlichen Rechts gilt, entspricht der Ultra-vires-Lehre des anglo-amerikanischen Rechts, vgl. dazu Eggert, Die deutsche Ultra-vires-Lehre, Versucheiner Darstellung am Beispiel der Außenvertretung der Gemeinden, 1977; König, WM1995, 317, 322 ff.

13 Isensee, Privatautonomie der Individualversicherung und soziale Selbstverwal-tung, 1980, S. 27,

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er festlegt, daß Rechte und Pflichten im Bereich der Sozialversicherung nurbegründet, festgestellt, geändert oder aufgehoben werden dürfen, soweitein Gesetz dies vorschreibt oder zuläßt.

Somit folgt aus der verfassungsrechtlich vorgegebenen Rechtslage, daßdie Sozialversicherung, wenn sich ihr Wirkungskreis auf einen als schüt-zenswert erachteten Lebensbereich erstrecken soll, der gesetzlichen Legi-timation bedarf. Dasselbe gilt erst recht für ihre Träger, denn als juristischePerson des öffentlichen Rechts sind sie auf eine Kompetenzzuweisungseitens des Gesetzgebers angewiesen. Anders als die Privatversicherung,deren handelndes Versicherungsunternehmen seine Kompetenz aus denGrundrechten schöpft und deren Handeln nur im Rahmen der Rechts-ordnung eine Begrenzung erfährt, können sich weder die Sozialversiche-rung noch ihre Träger auf die verfassungsrechtlichen Freiheitsrechte undauf die in ihnen liegende Kompetenz berufen, weil für sie allein das Gesetzselbst Grundlage und Ermächtigung ihres Handeln bestimmt. Deshalbkann sich auch die Sozialversicherung nicht in einem Raum freien sozial

-politschen Wirkens bewegen, denn ihre gegenüber der Privatversicherungvöllig anders gelagerte Legitimation, die in der Notwendigkeit einer gesetz-lichen Aufgabenzuweisung wurzelt, wird von Verfassungs wegen überdiesdahin begrenzt, daß ihre Expansion nicht uneingeschränkt erfolgen kann. 14

Die der Privatversicherung eigene, auf den Freiheitsrechten beruhendeLegitimation und die ihr von vornherein eröffnete Privatautonomie begren-zen das Aufgabenfeld der Sozialversicherung ebenso wie der ihr durchArt. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG vorgegebene institutionelle Schutz. Die in Art. 74Abs. 1 Nr. 11 und Nr. 12 GG normierten Kompetenzregeln belegen das Be-stehen einer bipolaren Versicherungsverfassung 15 , nach der das Versiche-rungssystem in der Bundesrepublik Deutschland auf zwei selbständigen, in

sich geschlossenen Trägern beruht, demzufolge es verfassungsrechtlich

nicht hinnehmbar wäre, wenn die Sozialversicherung den verfassungs-rechtlich gewährten Freiheitsraum der Privatversicherung weiter einengen

würde. 16

Erlauben Sie mir noch einen Ausblick auf das europäische Recht, das in

bemerkenswerter Weise die hier vorgestellte verfassungsrechtliche Rechts-

lage bestärkt. Würde der deutsche Gesetzgeber zum Nachteil der privatenVersicherung neue Personenkreise in die gesetzliche Sozialversicherung ein-

beziehen, stünden Rechtsverletzungen des Art. 49 EGV (Dienstleistungs-

freiheit) und der Art. 81 ff. EGV (Europäisches Wettbewerbsrecht) unmittel-bar in Frage. 17 Denn bereits mit dem Federation francaise-Urteil von 1995

14 Vgl. grundsätzlich Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974,S. 47 ff.

15 Dazu Leisner, Sozialversicherung und Privatversicherung, 1974, S. 164 ff.

16 Vgl. Baumann, FS Lübtow 1980, S. 667, 692.

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248 Meinhard Heinze

hat der Europäische Gerichtshofs8 dem nationalen Gesetzgeber hier deutli-che Grenzen gesetzt. Zudem ist bereits 1985 die Kommission 19 im Fall einer„griechischen Versicherung" gegen ein Gesetz, das Versicherte des Privat-sektors zugunsten von Versicherern des öffentlichen Sektors vom Markt fürVermögen der öffentlichen Hand ausschloß, gemäß Art. 86 Abs. 1 und Abs. 2EGV (damals Art. 90 Abs. 1 und Abs. 2 EWGV) vorgegangen. Dies bedeutetmeines Erachtens aus der Sicht des europäischen Rechtes, daß Kompetenzund Legitimation der Privatversicherung nicht mehr durch nationaleRechtsgeber ohne Verletzung europäischen Rechtes zum Nachteil der Pri-vatversicherung verändert werden können.

Damit läßt sich hinsichtlich der Rahmenbedingungen der Privat- undSozialversicherung in quantitativer Hinsicht feststellen, daß das eingangsbereits bezeichnete Spannungsverhältnis zwischen Privat- und Sozialver-sicherung hinsichtlich des erfassten Personenkreises eine verfestigendeKlarstellung zumindest insoweit erfahren hat, als der Gesetzgeber die Kom-petenzzuweisung an die Sozialversicherung nicht mehr in quantitativerHinsicht erweitern kann, wenn er nicht einerseits gegen die bipolare Versi-cherungsverfassung der Bundesrepublick Deutschland, andererseits gegenunmittelbar bindendes europäisches Recht verstoßen will. Im Gegenteilführt unsere Verfassung hier zu dem Grundsatz „In dubio pro libertate",was bedeutet, daß die Privatversicherung aufgrund ihrer besonderen ver-fassungsrechtlichen Stellung im verfassungsrechtlich garantierten Frei-heitsbereich geschützt ist gegen eine weitere Expansion der Sozialversiche-rung und ihrer Träger bezüglich des erfassten Personenkreises. Im Gegen-teil zwingen nationales Verfassungsrecht und supranationales Europarechtzur Überprüfung des erreichten Kompetenzstandes zwischen Privat- undSozialversicherung, zumindest aber muß eine Verschlechterung des Statusquo zulasten der Privatversicherung zwingend ausscheiden. Ich werde aufdiesen Gesichtspunkt an anderer Stelle nochmals zurückkommen.

Wenden wir uns nunmehr in qualitativer Hinsicht den Gemeinsamkeitenund Unterschieden zwischen Privat- und Sozialversicherung zu, so ergibtsich zunächst wiederum ein gemeinsamer Ausgangspunkt: Ungeachtet derEinbettung der Sozialversicherung in das öffentliche Recht ist ihr wie derPrivatversicherung die rechtliche Erfassung des jeweiligen individuellenRisikos durch Einbeziehung gleichartig betroffener Risikolagen in Gefah-rengemeinschaften konzeptionell immanent. Hier wie dort wird das in sei-nem Eintritt ungewisse individuelle Risiko auf die Schultern vieler verteiltund jeweils im Gegenzuge im Wege der Prämien- oder Beitragszahlung

17 Vgl. auch die grundsätzlichen Ausführungen zu Sozialversicherung und euro-päischem Wettbewerbsrecht bei Giesen, VSSR 1996, 311 ff.

18 EuGH, Sig. 1995, I-4013 ff.; siehe dazu Heinze, ZVersWis 1996, 281, 286 ff.

19 Kommissionsentscheidung 85 / 276 / EWG v 24.4. 1985, AB1. L 1985, 152/25.

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finanziert. 20 Wie die Privatversicherung ist auch die Sozialversicherung alseine Gemeinschaft zu verstehen, in der gleichartig Gefährdeten selbstän-dige Rechtsansprüche auf wechselseitige Bedarfsdeckung bei Realisierungder versicherten Gefahrenlage erwachsen. Gerade auch der Sozialversiche-

rung liegt, auf der Grundlage von Beitragszahlungen, vorsorgeorientierterSchutz im Wege der Gewährleistung eines Anspruchs auf Leistungen ausder Gefahrengemeinschaft zugrunde. Die Beitragszahlung ist damit Grund-

lage des Versicherungsschutzes: Dieser wird vom Versicherungsträger um

der Beitragszahlung willen geschuldet. 21 Sowohl in der Privat- wie in derSozialversicherung erwächst folglich dem Versicherten bei Erfüllung der

jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen auf der regelmäßigen Grund-

lage geleisteter Beitragszahlungen als Gegenleistung ein Anspruch auf densozialversicherungsrechtlich wie privatversicherungsrechtlich jeweils vor-

gesehenen Schutz. Privat- wie Sozialversicherung knüpfen deshalb an die

Begründung des Versicherungsverhältnisses jeweils übereinstimmend dasEntstehen einer Beitragsschuld, mag das Sozialversicherungsverhältnisauch kraft gesetzlichen Zwangs begründet werden. Aber auch bei verglei-

chender Betrachtung der jeweiligen Versicherungsfälle weisen Privatver-sicherung und Sozialversicherung wesentliche Gemeinsamkeiten auf, die

aus der Natur der Sache resultieren. Nicht nur der Sozialversicherung, son-

dern auch und gerade der Privatversicherung kommt jedenfalls in denjeni-

gen Bereichen die Funktion der Daseinsvorsorge zu, die, wie dies bei densozialversicherungsrechtlich erfassten Versicherungsfällen der Fall ist, dem

Einzelnen existenziellen Schutz gegen die Wechselfälle' des Lebens bietensollen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der substitutiven privatenKrankenversicherung oder allgemein im Hinblick auf die weitgehende Ver-

zahnung zwischen privater Krankenversicherung und gesetzlicher Kran-

kenversicherung. Die vergleichende Betrachtung führt folglich zu der Be-

wertung der Privatversicherung als Element der Daseinsvorsorge im Rah-men eines integrierten und integrierenden privatwirtschaftlichen Elementesin einem Gesamtsystem mit der Sozialversicherung, beide anstelle staat-

licher Sozialvorsorge.

Bei aller so angedeuteten prinzipiellen inhaltlichen Übereinstimmung

von Privatversicherung und Sozialversicherung führt jedoch die genauere

Betrachtung der Äquivalenzproblematik zwischen Leistung und Gegen-

leistung in Privatversicherung und Sozialversicherung auch zu einemdurchaus inhaltlich bedeutsamen Unterschied. So wie Privatautonomie und

Versicherungszwang zwar nicht ganz rein, aber im Grundsatz Privatver-

20 Vgl. Bley/Kreikebohm, Sozialrecht, 7. Aufl. 1993, Rn. 276 ff.; Fuchs, VSSR1991, 281, 300; Gitter, Sozialrecht, 4. Aufl. 1996, S. 53; Schulin/Igl, Sozialrecht,6. Aufl. 1999, Rn. 81.

21 Vgl. Gitter, Sozialrecht, 4. Aufl. 1996, S. 53.

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sicherung und Sozialversicherung voneinander abgrenzen, eben weil diePrivatversicherung auf die Privatautonomie und das durch sie gewährlei-stete Freiheitsrecht bezogen ist, wirkt die Beitragsleistung im Rahmen derPrivatversicherung im Sinne der Individualäquivalenz. 22 Im Rahmen desprivatautonom abgeschlossenen Versicherungsvertrages der Privatversiche-rung bildet die Leistung des Versicherungsnehmers und die Gegenleistungdes Versicherers ein individuelles Äquivalent im Sinne unseres privaten Ver-tragsrechtes. Grundsätzlich ist deshalb auch die Privatversicherung ver-tragsrechtlich gezwungen, eine Verhältnismäßigkeit zwischen der indivi-duellen Beitragsleistung und der dem Versicherten bei Eintritt des Versiche-rungsfalles zu entrichtenden Versicherungsleistung sicherzustellen und zugewährleisten. Prägt somit die Privatversicherung das Prinzip der Indivi-dualäquivalenz, so ist dies für die Sozialversicherung zumindest nicht prin-zipiell und durchgehend zu bejahen. 23 Gleichwohl ergeben sich auch ausder Sicht der Sozialversicherung zwei zu kalkulierende Größen, die sichentsprechen müssen. Zum einen besteht die Notwendigkeit einer schätz-ungsweisen Kalkulation der eintretenden Schadensfälle. Daneben müssendie dem Versicherungsträger regelmäßig in der Gestalt von Prämien oderBeitragsleistungen zugehenden Mittel zur Erfüllung der Versicherungs-leistungen genügen.

Deshalb ist auch für die Sozialversicherung die Gemeinsamkeit mit derPrivatversicherung zu konstatieren, daß eine Äquivalenz zwischen Beitragund Versicherungsleistung, also eine Verhältnismäßigkeit zwischen Lei-stung und Gegenleistung gewährleistet ist. Allerdings erscheint diese Äqui-valenz von Beitrag und Versicherungsleistung in der Sozialversicherungtypischerweise nicht als Individualäquivalenz, sondern als Globaläquiva-lenz. Auch wenn deshalb ein Äquivalenzverhältnis nicht nur in der Privat-versicherung, sondern ebenso in der Sozialversicherung besteht, so ist dochals wesentlicher Unterschied festzustellen, daß die Sozialversicherungzumindest typischerweise nicht auf die Individualäquivalenz, sondern aufdie Globaläquivalenz ausgelegt ist. Da nämlich in der Sozialversicherung,soweit es namentlich um die Erfüllung von Sachleistungen geht, die Bei-tragslast zugunsten solidarischer Elemente geprägt ist, unterliegt die Äqui-valenz in der Sozialversicherung dem als Grundsatz der Kostendeckungdienenden Prinzip der Globaläquivalenz. Soweit deshalb in der Sozialver-sicherung beim proportional nach dem Arbeitseinkommen bemessenen Bei-trag das höhere Einkommen für denselben Versicherungsschutz monetärmehr leistet, liegt eben keine Individualäquivalenz wie in der Privatver-sicherung vor, sondern Globaläquivalenz. Sobald indessen Geldleistungen

22 Vgl. Isensee, FS Gitter, 1995, S. 401, 405.23 Vgl. Bley/Kreikebohm, Sozialrecht, 7. Aufl. 1994, Rn. 279; Fuchs, VSSR 1991,

281, 300 f.; Gitter, Sozialrecht, 4. Aufl. 1996, S. 55.

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Strukturen und Rahmenbedingungen der Privat- und Sozialversicherung 251

in Frage stehen, ergibt sich auch im Rahmen der Sozialversicherung bezüg-lich der Beitragsleistung ein Äquivalenzverhältnis im Sinne der Individual-äquivalenz, so etwa in der Renten- und Unfallversicherung bei der Zahlungvon Rentenleistungen, ferner in der Arbeitslosenversicherung bei der Be-messung der Höhe des Arbeitslosengeldes oder in der gesetzlichen Kran-kenversicherung bei der Berechnung der Höhe des Krankengeldes. Wenndeshalb auch das Äquivalenzprinzip in den verschiedenen Zweigen derSozialversicherung unterschiedlich konturiert ist, so bleibt gleichwohl alsGemeinsamkeit von Privat- und Sozialversicherung zunächst festzustellen,daß das Äquivalenzprinzip gewahrt ist, allerdings mit dem gravierendenUnterschied, daß die Privatversicherung durchgehend durch das Prinzipder Individualäquivalenz, das Sozialversicherungsrecht dagegen typischer -weise durch das Prinzip der Globaläquivalenz geprägt ist. 24

Dieser gewichtige Unterschied des Äquivalenzprinzips in der Privatver-sicherung als Individualäquivalenz und in der Sozialversicherung als Glo-baläquivalenz verweist stärker und deutlicher als alle anderen in der Lite-ratur oftmals benannten Unterscheidungskriterien 25 in der Tat auf eineunterschiedliche Ausgestaltung des Solidaritätsprinzips in der Privatver-sicherung einerseits, in der Sozialversicherung andererseits, der im folgen-den nachgegangen werden soll.

M.

Zweifellos gestaltet das Solidaritätsprinzip in der Form des Versiche-rungsprinzips sowohl die Privatversicherung wie auch die Sozialversiche-rung, aber wie der Unterschied von der Individualäquivalenz zur Global-äquivalenz in der Sozialversicherung deutlich macht, ist das Solidaritäts-prinzip in der Sozialversicherung durch zusätzliche soziale Komponentenangereichert. Seit ihrer Einführung war und ist für die Sozialversicherungdas Prinzip des sozialen Schutzes bestimmend, weshalb das Prinzip derSolidarität unter dem Gesichtspunkt des interpersonalen Ausgleichs zu-sätzlich erweitert und angereichert ist. In der Rentenversicherung führt dasso sozial angereicherte Solidaritätsprinzip sogar zu dem Ziel eines inter-generationellen Ausgleichs. Während in der Privatversicherung, was hierdie Individualäquivalenz sichert, der Einzelne um seiner selbst willen denSchutz der Solidargemeinschaft erstrebt, gewissermaßen im egoistischenSinne solidarischen Schutz wählt, setzt die Sozialversicherung zusätzlichesozialpolitische Ziele, wie dies schon die kaiserliche Botschaft von 1881

24 Vgl. Bley/Kreikebohm, Sozialrecht, 7. Aufl. 1993, Rn. 279; Fuchs, VSSR 1991,281, 301, Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 1, 1965, S. 27 f.

25 Dazu ausführlich Bley/Kreikebohm, Sozialrecht, 7. Aufl. 1993, Rn. 274 ff.

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betont hat, indem die „Heilung sozialer Schäden" als Ziel der Gesetzgebunggenannt wurde. Bis heute hat sich daher an dieser grundsätzlichen Zielset-zung der Sozialversicherung, dem Schutzbedürftigen zu helfen und dem so-zialen Frieden zu dienen, nichts geändert. 26

Gleichwohl folgt hieraus, daß die Sozialversicherung im Unterschied zurPrivatversicherung, deren Legitimität sich aus der Wahrnehmung der Frei-heitsrechte ergibt, stets einer besonderen Begründung, einer besonderenLegitimation eben wegen dieses beabsichtigten sozialen Schutzes bedarf.27

Die Sozialversicherung nimmt den durch sie erfaßten Versicherten geradejene Freiheitsrechte, die die Privatversicherung ihren Versicherten eröffnet,was nur gerechtfertigt sein kann, wenn es im Licht des Sozialstaatsgeboteszur Abwehr bestehender oder drohender Not dringend erforderlich er-scheint. Dies scheint weithin vergessen zu sein, denn die heute politisch undgesellschaftlich fast als zwangsläufig vorgegebene Einbahnstraße der so-zialrechtlichen Gesetzgebung kennt nur eine Weiterentwicklung der Dyna-misierung nach vorne, ohne daß die soziale Rechtfertigung geprüft wird. 28

Wohl als erster hat Zacher29 die Forderung nach einer „Resozialisierungdes Sozialrechts" mit der Begründung erhoben, daß hinter allem Bemühenum Korrektur immer das materielle Prinzip stehen müsse, daß im Rahmendes Sozialrechts an erster Stelle der Kampf gegen die Not stehen müsse.Denn wenn das Sozialrecht das Sozialstaatsgebot der Verfassung ernst-nimmt, dann führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, daß es sich zu einemRechtssystem vorrangiger Besitzstandswahrung nicht eignen kann undauch nicht eignen darf. Resozialisierung des Sozialrechts als permanenterAuftrag an den Sozialstaat bedeutet deshalb mit anderen Worten ständige,wiederkehrende Überprüfung des Rechts der sozialen Sicherheit hinsicht-lich der Aufnahme sozialer Notlagen und hinsichtlich des Ausscheidens vonBesitzstandspositionen, die den politisch wie ethisch so wirkungsvollenTitel sozial nicht - mehr - verdienen. So hat es mit Sozialrecht nichts mehrzu tun, wenn der beitragsleistenden Solidargemeinschaft im Rahmen derSozialversicherung sogenannte „Zwangspatenschaften" seitens des Staatesaufoktroyiert werden oder wenn - was fast noch schlimmer ist - Bevölke-rungskreise in die Sozialversicherung einbezogen werden, deren Einbezie-hung weder Not noch soziale Notwendigkeit fordert, sondern beispielsweisedas finanzielle Interesse des Staates hinsichtlich einer Entlastung der ihntreffenden Zahlungspflichten. Hier wird nicht nur in das Grundrecht desArt. 2 Abs. 1 GG verfassungswidrig eingegriffen - hier verstößt der Gesetz-

26 Vgl. Bley/Kreikebohm, Sozialrecht, 7. Aufl. 1993, Rn. 283; Fuchs, VSSR 1991,281, 296.

27 Siehe oben vor Fn. 12.

28 Isensee, FS Broermann, 1982, S. 365, 366.29 Zacher, SozFort 1984, 1, 10.

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Strukturen und Rahmenbedingungen der Privat- und Sozialversicherung 253

geber nicht nur selbst gegen das Sozialstaatsprinzip - hier verletzt er dasSozialversicherungsrecht und zwar das Soziale in seinem Kern.

Resozialisierung des Sozialversicherungsrechtes bedeutet deshalb zu-nächst und vor allem konkretisierende Abgrenzung der Solidargemein-schaft, Ausgliederung all derjenigen Personen und Personenkreise, denendie Möglichkeit und auch die Verantwortung für eine eigenständige, eigen

-verantwortete Sicherung der Existenz ihrer Person und ihrer Familie zu-mindest mitzugemutet und von Verfassungs wegen auch erwartet werdenkann. So stellt sich hier ferner die Frage, ob nicht weitaus stärker im Rah-men der Sozialversicherung auf das jeweilige Familieneinkommen abzustel-len ist anstatt - wie bisher - auf das Arbeitseinkommen des Einzelnen.

Die Solidargemeinschaft der Sozialversicherung wird durch den Gesetz-geber mißbraucht, wenn dieser - wie in den vergangenen Jahrzehnten - anden zeitweilig „reichen" Fleischtöpfen der sozialen Sicherungsträger nichtohne Begehrlichkeit vorbeigehen kann. Erst recht wächst diese Begehrlich

-keit in Zeiten angespannter Staatshaushalte. So entlastet sich der Sozial-fiskus zunehmend auf Kosten der parafiskalischen Kassen der Sozialver-sicherung, in dem er Sozialpolitik zulasten der Solidargemeinschaft be-treibt.

Anders als die Privatversicherung, die ihre volle Legitimation aus denFreiheitsrechten bezieht, muß sich die Sozialversicherung stets und immerwieder, sowohl hinsichtlich des erfassten Personenkreises als auch hinsicht-lich der inhaltlichen Ausgestaltung ihrer Hilfen, durch das Sozialstaats

-prinzip legitimieren.3° Gerade insoweit führt der oftmals ideologisch kon-struierte Gegensatz von Privatversicherung und Sozialversicherung nichtweiter - es gilt die eigenständigen Aufgaben beider Versicherungszweige zuerkennen und ergänzend gegenseitig im Sinne eines kombinatorischen Ge-samtsystems abzugrenzen. Warum soll das Risiko sozialisiert, der Reichtumaber privatisiert sein? Oder anders gefragt: „Warum soll die Leistung derKindererziehung privat erbracht, ihr Nutzen aber sozialisiert werden ?" 31

Damit sind wir schließlich bei einem weiteren und letzten Gesichtspunkt,bei dem Subsidiaritätsgrundsatz angelangt.

Das Solidaritätsprinzip in der sozialen Ausformung der deutschen So-zialversicherung setzt das Subsidiaritätsprinzip zwingend voraus, ja eskann nur unter voller Achtung und Wahrung des Subsidiaritätsprinzipsüberhaupt die Solidarität der Solidargemeinschaft in der Sozialversiche-rung - nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Globaläquivalenz anstelleder Individualäquivalenz - legitimieren. Und so gelangen wir über den Um-

3° Vgl. Papier, ZSR 1990, 344, 347.

31 Vgl. hierzu Borchert, Die Berücksichtigung familiärer Kindererziehung, in:Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, 1981, S. 143 ff., 225 ff.

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weg einer Konkretisierung des sozialen Solidaritätsprinzips der Sozialver-sicherung im Unterschied zur Privatversicherung und ihrem Prinzip der In-dividualäquivalenz zu dem inneren geistigen Bezug von Solidaritätsprinzipund Subsidiaritätsprinzip der Sozialversicherung gegenüber der Privatver-sicherung. Denn im Gegensatzpaar von Solidarität und Subsidiarität oder -wie dies völlig richtig Nell-Breuning32 formuliert hat - im Aufbau von Soli-darität auf der Grundlage von Subsidiarität als Entfaltung des Zentralbe-griffs „Bonum commune" gibt sich auch noch ein anderes Gegensatzpaarpreis: Erich Fechner33 hat in seinem Vortrag über Freiheit und Zwang im so-zialen Rechtsstaat darauf hingewiesen, wenn er formuliert: „Nur wenn derEinzelne von der sachgegebenen Situation, von seinen realen Alltagsgege-benheiten her wieder in das Ganze hineinfindet, wird es möglich sein, einenSozialstaat zu verwirklichen, in dem die Freiwilligkeit den Zwang in Gren-zen hält, wird eine sich selbst bescheidende Freiheit zu retten sein in einemStaat, der zugleich Sozialstaat und Rechtsstaat ist. Nur so wird ein ange-messenes Verhältnis zwischen Zwang und Freiheit herzustellen und auf-rechtzuerhalten sein. Nur so wird verhindert werden, daß zum zweiten Maleeine schrankenlose und mißverstandene, d. h. totale Freiheit vom totalenZwang aufgefressen wird." In der Tat konkretisieren Solidaritätsprinzipund Subsidiaritätsprinzip den Gegensatz von Freiheit und Zwang im Rah-men der Sozialversicherung, denn die Solidarität kann im Rechtssystemdort, wo wie in der Sozialversicherung die Solidarität im Sinne des „Bonumcommune" gefordert ist oder gefordert sein soll, auf den Zwang nicht ver-zichten, um die Solidarität zu retten und zu realisieren. Aber dieser Zwangkann nur legitimiert werden durch den freiwilligen Einsatz von unten, waszugleich bedeutet, daß die Sozialstaatlichkeit nur verwirklicht werden kanndurch das Subsidiaritätsprinzip, wenn sie die Rechtsstaatlichkeit nichtpreisgeben will. Denn daß jeder Maßnahme von oben eine Tendenz zumZwang und eine Totalitätstendenz innewohnt, hat bedauerlicherweise diehistorische Erfahrung gezeigt. Sie muß durch den Willen von unten, dasNotwendige von selbst zu tun, durch das Subsidiaritätsprinzip aufgehaltenwerden, um die Freiheit vor dem Zwang zu realisieren.

Während die Privatversicherung ihre Grundlage im Freiheitsbereich hat,da sie durch die Privatautonomie gekennzeichnet ist und folglich ihr Soli-daritätsprinzip in der Tat auf der Subsidiarität aufbaut, muß die Sozialver-sicherung stets neu das Subsidiaritätsprinzip entdecken, gewährleisten undrealisieren. Denn wenn Resozialisierung des Sozialversicherungsrechts dieRückbesinnung auf die ihm eigentlich gestellten Aufgaben bedeutet, dann

32 Beiträge zu einem Wörterbuch der Politik, Heft III. Die soziale Frage, Freiburg1949, S. 29.

33 Fechner, Freiheit und Zwang im sozialen Rechtsstaat, in: Rechtsstaatlichkeitund Sozialstaatlichkeit, 1968, S. 92, 94.

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kann diese überfällige Konzentrierung nur erfolgen, wenn das Sozialrechts-system sich erst seines netzartigen Auffangcharakters im sozialen Bereichwieder bewußt wird. Allein durch die Subsidiarität können die öffentlich-rechtlichen Formen der sozialen Sicherheit in der Sozialversicherung wie-der mit den privatrechtlichen Instituten der Vermögensbildung, der Privat-versicherung, der Betriebsrenten usw. in Einklang gebracht werden, wäh-rend alle Einebnungsversuche auf den Widerstand der Grundrechte, aufden verfassungsrechtlichen Freiheitsbereich und auf den Widerstand derMenschen selbst stoßen müssen. Die Subsidiarität des Solidaritätsgrund-satzes in der Sozialversicherung bewirkt deshalb keine Abschwächung dessozialen Rechts, sondern Stärkung für seine eigentlichen Aufgaben undseine Einbindung in das Rechtssystem eines demokratischen Staates, derdas Vertrauen in die Initiative und Verantwortlichkeit des Einzelnen nochnicht verloren hat. Der Grundsatz beinhaltet aber weiterhin die Verpflich-tung des Staates über den bestehenden Bestand hinaus weitere Formen dereigenverantwortlichen, freiheitlichen Sicherung des Einzelnen - nicht zu-letzt im Hinblick auf das Steuerrecht - sicherzustellen und sinnvoll zu er-möglichen.

IV.

Privat- und Sozialversicherung finden ihre Gemeinsamkeiten im Soli-daritätsprinzip; ihre Unterschiede ergeben sich aber gravierend im Hinblickauf das Subsidiaritätsprinzip. 34 Während die Privatversicherung, auf dieFreiheitsgrundrechte verpflichtet, dem Subsidiaritätsprinzip entspricht,muß sich die Sozialversicherung wegen der Realisierung des Sozialstaatsge-botes mit dem Subsidiaritätsprinzip dort schwer tun, wo es um Abwendungoder Vorsorge gegenüber Not geht. Die Sozialversicherung überschreitetallerdings ihre Legitimationsgrenze dort, wo der Solidaritätsgedanke dena-turiert wird, weil er den Subsidiaritätsgedanken verletzt. Das sozialrecht-liche Rechtssystem läuft Gefahr, auch und gerade im Rahmen seiner Sozial-versicherung seine Funktion eines der privaten Sicherung und privatenEntfaltungsmöglichkeiten unterlegten Netzes ersatzweise und subsidiäreingreifender sozialer Sicherung zu verlieren und sich statt dessen zu einemÜberbau zu entwickeln, der der Präponderanz der Freiheit in Sinne unsererVerfassung ebensowenig mehr gerecht wird wie dem Solidaritätsprinzip.Das Sozialversicherungsrecht steht heute in der Gefahr, seine eigene Wirk

-samkeitsgrundlage zu zerstören, weil es weder die individuelle Freiheitnoch die Solidarität der Solidargemeinschaft hinreichend stärkt. Wennrund 82 Mio. Bundesbürger glauben, sich ein Soziales Netz leisten zumüssen in einer jährlichen Größenordnung, die höher liegt als das gesamte

34 Vgl. Heinze, ZVersWiss 1996, 281, 288 ff.

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Sozialprodukt Indiens und des Subindischen Kontinents von 945 Mio.Menschen, dann muß doch die Frage erlaubt sein, ob es diesen 82 Mio. Bun-desrepublikanern wirklich noch um die Abwendung von Not durch Soli-darität der Rechtsgenossen geht oder ob nicht in Wahrheit hier ein Wohl

-fahrts- und Wohlstandssystem der Mehrheit etabliert worden ist, das dannallerdings in der Tat den eingangs zitierten Worten Goethes35 eine erschrek-kende Realität verleiht, daß nämlich dann die ganze Bundesrepublik eingroßes Hospital und ein jeder Bundesbürger des anderen humaner Kran

-kenwärter geworden ist. Daß dann, wie Max Scheler36 bereits vor dem er-sten Weltkrieg erkannt hat, die Sphäre des Sozialen und Solidarischen erstdie Übel schafft, die sie beseitigen oder lindern will, ist wohl offensichtlich.Solidarität setzt die Gefahr gemeinsamer, weil jeden treffender Not voraus.Wo es nicht mehr um Not geht, sondern um Wohlstand, pervertiert die Soli-dargemeinschaft zur Anteilsinhabergemeinschaft. Dann allerdings - undich glaube an dieser Wegscheide stehen wir bei der Frage der Gemeinsam-keiten und Unterschiede von Privatversicherung und Sozialversicherung -dann geht es nicht mehr um Solidarität, sondern um die Durchsetzung derstärksten individuellen Interessen, mögen diese auch gruppenspezifischeingebunden sein. Hier hat dann das Wort von der Solidarität, der Gehaltdes Solidaritätsprinzips, jeden Wert und jeden Inhalt verloren, so wenn derGesetzgeber nur noch darauf blickt, Beitragszahler für die gesetzliche So-zialversicherung einzufangen, gleichgültig, ob es bei diesen um Abwendungirgendwelcher Not geht. Wer aber die Solidarität vernichtet, der muß sichan den Worten Rudolf von Iherings 37 messen lassen: „Daß die Wölfe nachFreiheit schreien, ist begreiflich. Wenn aber die Schafe in ihr Geschrei ein

-stimmen, so beweisen sie damit nur, daß sie Schafe sind ".

Zusammenfassung

Privatversicherung und Sozialversicherung bestehen nicht beziehungslosnebeneinander, sondern das Grundgesetz geht von deren komplementärenZusammenwirken aus. Während die Grundlage der Privatversicherung inder Privatautonomie liegt, bedarf die Sozialversicherung der gesetzlichenLegitimation, die aufgrund der bipolaren Versicherungsverfassung dahinbegrenzt wird, daß die Expansion der Sozialversicherung nicht unein-geschränkt zu Lasten der Privatversicherung erfolgen kann. Diese verfas-sungsrechtliche Ausgangslage wird durch das europäische Recht in Art. 49,81 ff. EGV bestärkt.

35 Vgl. Fn. 1.

36 Max Scheler, Vom Umsturz der Werte, 1955, S. 309.37 Rudolf von Ihering, Der Zweck im Recht, 1877, I. Band, S. 106.

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Ein wesentlicher Unterschied zwischen Privat- und Sozialversicherungbesteht darin, daß die Privatversicherung das Prinzip der Individualäquiva-lenz zwischen Beitrags- und Versicherungsleistung prägt, wohingegen dieSozialversicherung typischerweise auf Globaläquivalenz ausgelegt ist. In-folgedessen ist das Solidaritätsprinzip in der Sozialversicherung durch zu-sätzliche soziale Komponenten angereichert, bestimmend ist das Prinzipdes sozialen Schutzes. Entgegen der Entwicklung der vergangenen Jahr-zehnte eignet sich das Sozialversicherungssystem daher nicht zu einemRechtssystem vorrangiger Besitzstandswahrung, sondern hat an erster Stel-le dem Kampf gegen die Not zu dienen. Dieses netzartigen Auffangcharak-ters im sozialen Bereich muß sich das Sozialrechtssystem wieder bewußtwerden und das Subsidiaritätsprinzip stets neu entdecken, gewährleistenund realisieren.

Abstract

Private insurance and national social security insurance do not coexistunrelatedly. The constitution rather presumes a complementary co-opera-tion of both branches of insurance. Whereas private insurance is based onthe doctrine of privity of contract, national social security requires statu

-tory legitimation. However, the principle of the bipolar insurance constitu-tion restricts social security insurance to the effect, that it cannot expandunlimitedly at the expense of private insurance. This constitutional basis isreinforced by European Community law in Articles 49, 81 pp. EC.

An essential difference between private and social security insurance isthe fact that private insurance is characterized by the principle of personalequivalence between contribution and benefit payments, whereas in socialsecurity insurance this relation is determined by the principle of generalequivalence. Consequently, the principle of solidarity in social security in-surance is enriched by additional social components, the most dominantbeing the principle of social protection.

Contrary to the developments of the last decades, social security systemsare not designed as a legal scheme to protect a status quo of possession butshould primarily serve to fight poverty. Thus, social security law should re-call its absorbing function in the social network and rediscover, guaranteeand realize the principle of subsidiarity in social security.