prinzipien der osteopathischen notfalltechniken nach robert rousse

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* Gabi Prediger arbeitet in eigener Praxis in München. Seit 2008 ist sie Leiterin der Exekutive des Deutschen Osteopathie Kolleg (DOK), an dem sie von 1997–2002 ihre Ausbildung absolviert hat. Osteopathische Medizin 12 PRAXIS & TECHNIK 12. Jahrg., Heft 1/2011, S. 12–16, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed Prinzipien der osteopathischen Notfalltechniken nach Robert Rousse Gabi Prediger* Zusammenfassung In der Osteopathie bezeichnet der Aus- druck „funktioneller Notfall“ die Notwen- digkeit einer schnellen Aktion des Osteo- pathen, um Störungen, welche die Motilität und Vitalität der Gewebe wesentlich beein- trächtigen, zu beseitigen. Dazu muss eine sehr wirkungsvolle, schnelle und effiziente Technik anwendet werden, um die erstarr- te Körperstruktur zu befreien. Ziel der osteopathischen Techniken des funk- tionellen Notfalls ist es, Schnelligkeit, Kraſt und Wirksamkeit zu vereinen. Die Arbeits- stellung sollte sowohl für den Osteopathen als auch für den Patienten bequem sein, dies geschieht immer unter Berücksichtigung der existierenden Schmerzphänomene. Damit die Techniken des funktionellen Not- falls effektiv eingesetzt werden können, müs- sen verschiedene Prinzipien berücksichtig werden. Ziel ist eine globale Befreiung einer „erstarrten“ Körperstruktur. Die Folge der osteopathischen Notfalltechniken wendet sich an sogenannte „Monoblock-Patienten“, bei denen alles – Becken, Bauch, Brustkorb und Schädel – blockiert zu sein scheint. Ne- ben der rein funktionellen oder rein struk- turellen Technik gibt es theoretisch eine Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten. Dabei hängt die Wahl in erster Linie von den Bedürfnissen des Gewebes ab und nicht von den Vorlieben des Behandlers. Schlüsselwörter Osteopathische Notfalltechniken, „Mono- block“-Patienten, Mobilität, Vitalität, Kor- rekturprinzipien Abstract In Osteopathy “functional emergence” sig- nifies the necessity for fast action by the Osteopath in order to remove all dysfunc- tions which affect significantly the motility and vitality of the tissues. is requires the application of a very effective, fast and ef- ficient technique in order to liberate the blocked structures of the body. e objective of the osteopathic techniques of the functional emergency is to unify ra- pidity, force und effectiveness. e working position of the osteopath as well as the po- sition of the patient should be as comfort- able as possible, always keeping in mind the existing pain phenomena. For that it is necessary to take into consid- eration various principles. e goal is a glo- bal liberation of the “frozen” structure. is osteopathic method is applied in so called “monoblock-patients”, i.e. basin, abdomen, thorax or cranium, everything seems to be blocked. Besides the functional or purely structural technique there exists a multitude of com- bination possibilities, the choice depends primarily on the needs of the patient’s tis- sue, less on the own preferences. Keywords Osteopathic emergency technique, mono- block-patient, mobility, vitality, principle of correction Definition In der Osteopathie bezeichnet der Ausdruck „funktioneller Notfall“ die Notwendigkeit einer schnellen Aktion des Osteopathen zur Beseitigung aller Störungen, welche die Motilität und Vitalität der Gewebe wesentlich beein- trächtigen. Für den Osteopathen heißt das, dass er eine sehr wirkungsvolle, schnelle und effiziente Technik anwen- det, um die erstarrte Körperstruktur zu befreien. Ziel der osteopathischen Techniken des funktionellen Notfalls ist es, Schnelligkeit, Kraſt und Wirk- samkeit zu vereinen. Die Arbeitsstel- lung sollte sowohl für den Osteopathen als auch für den Patienten bequem sein, immer unter Berücksichtigung der exi- stierenden Schmerzphänomene. Einleitung Patienten, die über Beschwerden wie beispielsweise Lumbalgie, Ischialgie, Kopfschmerzen, Verdauungsproble- me oder Zervikalgie klagen, waren die Motivation, die funktionellen Notfall- techniken zu entwickeln. Bei der Un- tersuchung dieser Schmerzpatienten ist häufig festzustellen, dass sie globaler blockiert sind, als das lokale Symptom zunächst vermuten lässt. Unabhängig von der getesteten Körperregion stellen wir fest, dass Mobilität der untersuch- ten Struktur oder ihre Vitalität und manchmal auch beides beeinträchtigt oder sogar völlig blockiert sind. Fragestellung Was kann man für diese „Mono- · block“-Patienten tun, deren Struktur völlig erstarrt ist? Diese Menschen, die den Eindruck erwecken, perma- nent die Luſt anzuhalten? Wo sollte die Behandlung begin- · nen? Sollte zuerst die Mobilität wie- der hergestellt werden oder sollte vorrangig die Struktur in ihrer Ge- samtheit dynamisiert werden, um ihr anschließend die Mobilität wie- der zu ermöglichen? Wie kann dem Patienten schnell · und nachhaltig geholfen werden? Um das Prinzip der osteopathischen Notfalltechniken verstehen zu können, müssen die allgemeinen Prinzipien, die Prinzipien der physiologischen und pa- thologischen Funktion und die osteo- pathischen Prinzipien einander gegen- übergestellt und verglichen werden. Allgemeine Prinzipien Das menschliche Gewebe ist mobil und lebendig. Diese Eigenschaſten verleihen

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Page 1: Prinzipien der osteopathischen Notfalltechniken nach Robert Rousse

* Gabi Prediger arbeitet in eigener Praxis in München. Seit 2008 ist sie Leiterin der Exekutive des Deutschen Osteopathie Kolleg (DOK), an dem sie von 1997–2002 ihre Ausbildung absolviert hat.

Osteopathische Medizin

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P R A X I S & T E C H N I K

12. Jahrg., Heft 1/2011, S. 12–16, Elsevier GmbH – Urban & Fischer, www.elsevier.de/ostmed

Prinzipien der osteopathischen Notfalltechniken nach Robert RousseGabi Prediger*

ZusammenfassungIn der Osteopathie bezeichnet der Aus-druck „funktioneller Notfall“ die Notwen-digkeit einer schnellen Aktion des Osteo-pathen, um Störungen, welche die Motilität und Vitalität der Gewebe wesentlich beein-trächtigen, zu beseitigen. Dazu muss eine sehr wirkungsvolle, schnelle und effi ziente Technik anwendet werden, um die erstarr-te Körperstruktur zu befreien.Ziel der osteopathischen Techniken des funk-tionellen Notfalls ist es, Schnelligkeit, Kraft und Wirksamkeit zu vereinen. Die Arbeits-stellung sollte sowohl für den Osteopathen als auch für den Patienten bequem sein, dies geschieht immer unter Berücksichtigung der existierenden Schmerzphänomene.Damit die Techniken des funktionellen Not-falls eff ektiv eingesetzt werden können, müs-sen verschiedene Prinzipien berücksichtig werden. Ziel ist eine globale Befreiung einer „erstarrten“ Körperstruktur. Die Folge der osteopathischen Notfalltechniken wendet sich an sogenannte „Monoblock-Patienten“, bei denen alles – Becken, Bauch, Brustkorb und Schädel – blockiert zu sein scheint. Ne-ben der rein funktionellen oder rein struk-turellen Technik gibt es theoretisch eine Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten. Dabei hängt die Wahl in erster Linie von den Bedürfnissen des Gewebes ab und nicht von den Vorlieben des Behandlers.

SchlüsselwörterOsteopathische Notfalltechniken, „Mono-block“-Patienten, Mobilität, Vitalität, Kor-rekturprinzipien

AbstractIn Osteopathy “functional emergence” sig-nifi es the necessity for fast action by the Osteopath in order to remove all dysfunc-tions which aff ect signifi cantly the motility and vitality of the tissues. Th is requires the application of a very eff ective, fast and ef-fi cient technique in order to liberate the blocked structures of the body.

Th e objective of the osteopathic techniques of the functional emergency is to unify ra-pidity, force und eff ectiveness. Th e working position of the osteopath as well as the po-sition of the patient should be as comfort-able as possible, always keeping in mind the existing pain phenomena.For that it is necessary to take into consid-eration various principles. Th e goal is a glo-bal liberation of the “frozen” structure. Th is osteopathic method is applied in so called “monoblock-patients”, i.e. basin, abdomen, thorax or cranium, everything seems to be blocked.Besides the functional or purely structural technique there exists a multitude of com-bination possibilities, the choice depends primarily on the needs of the patient’s tis-sue, less on the own preferences.

KeywordsOsteopathic emergency technique, mono-block-patient, mobility, vitality, principle of correction

Defi nition

In der Osteopathie bezeichnet der Ausdruck „funktioneller Notfall“ die Notwendigkeit einer schnellen Aktion des Osteopathen zur Beseitigung aller Störungen, welche die Motilität und Vitalität der Gewebe wesentlich beein-trächtigen. Für den Osteopathen heißt das, dass er eine sehr wirkungsvolle, schnelle und effi ziente Technik anwen-det, um die erstarrte Körperstruktur zu befreien. Ziel der osteopathischen Techniken des funktionellen Notfalls ist es, Schnelligkeit, Kraft und Wirk-samkeit zu vereinen. Die Arbeitsstel-lung sollte sowohl für den Osteopathen als auch für den Patienten bequem sein, immer unter Berücksichtigung der exi-stierenden Schmerzphänomene.

Einleitung

Patienten, die über Beschwerden wie beispielsweise Lumbalgie, Ischialgie, Kopfschmerzen, Verdauungsproble-me oder Zervikalgie klagen, waren die Motivation, die funktionellen Notfall-techniken zu entwickeln. Bei der Un-tersuchung dieser Schmerzpatienten ist häufi g festzustellen, dass sie globaler blockiert sind, als das lokale Symptom zunächst vermuten lässt. Unabhängig von der getesteten Körperregion stellen wir fest, dass Mobilität der untersuch-ten Struktur oder ihre Vitalität und manchmal auch beides beeinträchtigt oder sogar völlig blockiert sind.

Fragestellung

Was kann man für diese „Mono-· block“-Patienten tun, deren Struktur völlig erstarrt ist? Diese Menschen, die den Eindruck erwecken, perma-nent die Luft anzuhalten?Wo sollte die Behandlung begin-· nen? Sollte zuerst die Mobilität wie-der hergestellt werden oder sollte vorrangig die Struktur in ihrer Ge-samtheit dynamisiert werden, um ihr anschließend die Mobilität wie-der zu ermöglichen?Wie kann dem Patienten schnell · und nachhaltig geholfen werden?

Um das Prinzip der osteopathischen Notfalltechniken verstehen zu können, müssen die allgemeinen Prinzipien, die Prinzipien der physiologischen und pa-thologischen Funktion und die osteo-pathischen Prinzipien einander gegen-übergestellt und verglichen werden.

Allgemeine Prinzipien

Das menschliche Gewebe ist mobil und lebendig. Diese Eigenschaft en verleihen

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ihm die Fähigkeit, sich Stresssituationen anpassen zu können (dies geschieht durch Elastizität und Flexibilität).

Je rigider und fi xierter das Gewebe ist, · desto weniger kann es sich anpassen.Je elastischer und beweglicher es ist, · desto besser kann es sich anpassen.

Als Schlussfolge ergibt sich, dass man versuchen muss, allen Geweben ihre Mobilität und Vitalität zurückzugeben.Der Körper erzeugt und setzt eigene En-ergie frei (vitale Energie), die zentrifugal ist. Er lebt in einer einengenden Umwelt (biokinetische Energie), die zentripetal ist (Schwerkraft , Stress jeglicher Art).Es existiert ein reziproker, mobiler, permanenter Stützpunkt (Fulkrum) zwischen dem Körper und seiner Umwelt (innere und äußere Umwelt). Hieraus ergibt sich, dass man dem Körper dabei helfen muss, sich von seinen Restriktionen zu befreien, da-mit er mit maximaler Effi zient sein Energiepotenzial einsetzen kann.Die Gewebe des Körpers reagieren auf Stress immer mit Verdichtung. Beispiel: Eine exzessive Spannung oder ein zu starker Druck in einer bestimmten Körperregion verursacht eine Kalzifi -kation in diesem Bereich. Das Gewebe verdichtet sich, um sich zu wehren.Diese Zonen werden zu hypomobilen Regionen. Der Körper ist dadurch ge-zwungen, von einer anderen Region eine Adaptation zu fordern, indem er die Bewegung dort übertreibt und diese Zone dadurch aus dem Gleich-gewicht bringt (hypermobile Zone).

Diese Regionen sind Sitz schmerzhaf-ter Symptome: Eine Hypermobilität kann einen Entzündungszustand her-vorrufen, dessen Defi nition „Wärme, Röte, Schmerz“ jedem bekannt ist.Für die Behandlung ist es nötig, die „stummen“ (hypomobilen oder aner-gischen) Zonen zu befreien. So ist der Körper nicht mehr gezwungen, nach kompensatorischen Adaptationen zu suchen, und die Möglichkeit eines Rückfalls wird ebenfalls ausgeschaltet. Der Begriff „Läsion“ ist im osteopathi-schen Konzept hinreichend bekannt. Aber wir dürfen dabei nicht vergessen, dass diese Läsion nur deshalb entstand, weil ein Verlangsamungspunkt vorhan-den war. Beseitigt man die Verdichtung einer Struktur, beseitigt man auch die Möglichkeit, dass andere Strukturen diese Verdichtung als Fulkrum benutzen und eventuell Adaptionsläsionen entwickeln.

Physiologische und

pathologische

Funktionsprinzipien

Normale Funktion

– Physiologie

Das Leben in den Geweben wird durch Mobilität und Vitalität zum Ausdruck gebracht. Für die mobile Struktur gilt: Jede Struktur benutzt ihre eigenen physio-

logischen Achsen. Trotzdem ist sie in der Lage, sich in alle Richtungen des Raums zu bewegen. Die Bewegung um diese Achsen muss ausgeglichen sein. Beispiel: Das Sakrum macht Flexion/Extension um eine Transversalachse. Der Bewegungsausschlag von Flexion und Extension muss identisch sein. Dabei sind alle Achsen fl ießend – es ist bekannt, dass im Körper keine einzige starre Achse vorhanden ist.Für die lebendige Struktur gilt: Jede Körperzelle muss sich dilatieren und retrahieren können, und sie muss sich genauso gut dilatieren wie retrahieren können. Jede Struktur kann gleicher-maßen Inspiration wie Exspiration, Dilatation wie Retraktion durchführen. Durch diese Bewegungen entsteht eine echte Zellatmung. Sie ermöglicht, dass die Austauschvorgänge im gesamten Körper ungehindert erfolgen können.

Abnorme Funktion

– Pathologie

Die Physiologie kann entweder durch Beeinträchtigung der Bewegung, durch Beeinträchtigung der Vitalität oder durch beide Komponenten ge-meinsam gestört sein. Jede Beeinträch-tigung hat jedoch eine Auswirkung auf die anderen Komponenten.Beeinträchtigung der Mobilität: Zu unterscheiden sind

traumatische Läsionen (direktes · Trauma – Verschiebung eines Ele-ments entlang der Achse) physiologische Läsionen (Dysbalan-· ce einer Bewegung um eine Achse)

Beeinträchtigung der Vitalität:Trauma (Verstauchungen, Brüche)· emotionaler Stress: Angst, Schreck, · wodurch eine Retraktion der Struktur ausgelöst wird (z.B. Stress im Bereich der kraniosakralen Duralachse)

Durch die Überlagerung verschiedener Läsionsschemata an einer Stelle wird die Struktur immer stärker beeinträchtigt.Beeinträchtigung beider Kompo-nenten:

schweres Trauma (z.B. Autounfall)· starke emotionelle Einfl üsse wie in-· tensiver Schreck, psychischer Stress (Aggression, Krieg, etc.)

Der menschliche Körper ist aus ver-schiedenen Systemen zusammenge-setzt, die in ständiger Wechselbeziehung

Abb. 1: Autoadaptation des Körper. (Aus: Rousse 2004, S. 6)

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zueinander stehen, und zwar artikuläre, myofasziale, durale, liquide, viszerale und energetische Systeme. Jedes Sys tem hat aufgrund seiner Konstitution eine spezifi sche Funktion zu erfüllen und arbeitet im ständigen Wechselspiel mit anderen Systemen. Der Körper befi n-det sich in ständiger Autoadaptation: Die Beeinträchtigung eines Systems wirkt sich automatisch auf die anderen Systeme aus (Abb. 1).

Osteopathische

Prinzipien und Funktio-

nen der Körperstruktur

Betrachtet man den Körper unter dem mechanischen Aspekt, ist sein Ausdrucksmodus die Mobilität. Diese drückt sich durch das zentrale, peri-phere und intermediäre System sowie durch die Vitalität aus.

Das zentrale System

Dieses System ist unpaarig. Es manife-stiert sich durch die Parameter der Fle-xion/Extension, die die vertikale Achse des Körpers nutzen (oben/unten oder kranial/kaudal). Dieses System ist durch „die zentrale Achse“ materialisiert, die sich aus drei Teilen zusammensetzt:

im Inneren die kraniosakralen Du-· ramembranenaußen die muskuloaponeurotische · pharyngoprävertebrale Kettein der Mitte die Wirbelsäule·

Es ist eine Funktionseinheit mit eige-nen Gesetzen:

Die Duralachse benutzt den Parame-· ter der kranialen/kaudalen Bewegung.Die zentrale Kette benutzt den sagit-· talen Parameter (anterior/posterior).Die Wirbelsäule benutzt den frontalen · Parameter (Rotation und Seitneige).

Das periphere System

Dieses System ist paarig angelegt. Es passt sich der zentralen Flexion/Exten-sion an, indem es eine Bewegung der Außenrotation/Innenrotation macht. Es benutzt horizontale Ebenen (die Bewe-gungen erfolgen nach vorne/hinten und links/rechts). Es regruppiert die Extre-mitäten und alle paarigen Elemente des

Körpers: Hemithorax (die thorakalen Zylinder), linke und rechte Schädelhälf-te (Beispiel: Hirnhemisphären).

Das intermediäre System

Die Übergangszonen liegen sowohl paarig als auch unpaarig vor. Auf funktioneller Ebene ist das wichtig-ste Element weder das Zentrum noch die Peripherie, sondern die Zone der Passage von einer Ebene zur anderen, d.h. die Stelle, an der sich die Flexions-bewegung in eine Bewegung der Au-ßenrotation (bzw. die Extension in die Innenrotation) umkehrt. Beispiel: Die thorakalen Zylinder und die mediasti-nale Achse oder die beiden Mm. iliop-soas und die Lendenwirbelsäule.Diese Übergangszone muss unbedingt frei bleiben, damit die Bewegung vom Zentrum zur Peripherie oder von der Peripherie zum Zentrum korrekt wei-tergeleitet werden kann. Sobald diese Passage gestört wird, ist die Zentralach-se bei ihrer auf- oder absteigenden Be-wegung behindert, und es kommt zu einer Reduktion des primären Respira-tionsmechanismus (PRM). Die Vitalität des Individuums kann sich schlechter ausdrücken; der Patient verliert die Fähigkeit, sich optimal an Stresssitua-tionen anzupassen. Die Störung mani-festiert sich durch das Auft reten eines oder mehrerer Symptome.Diese Übergangszone markiert demnach die Passage von der Vertikalen (zentrale Achse) in die Horizontale (die drei Dia-phragmen und ihre Fortsätze, die An-hangsgebilde). Die Zentralachse selbst wird als geteilt betrachtet: Sie besteht aus einer linken und einer rechten Hälft e. Diese Teilung fi ndet man insbesondere auf der pharyngo-prävertebralen Kette, auf lumbaler Ebene mit den beiden Pso-asmuskeln und auf zervikaler Ebene mit den beiden Mm. longi colli wieder. Diese beiden Hälft en funktionieren gemeinsam, können aber getrennt mobilisiert werden (insbesondere während der Tests).

Vitalität

– der lebende Körper

Betrachtet man den Körper als ein le-bendes Element, ist seine Ausdrucks-möglichkeit die Vitalität. Sie drückt sich durch einen Parameter aus: Expansion/

Kontraktion, Dilatation/Retraktion oder Inspiration/Exspiration – verschiedene Ausdrücke für den gleichen Parameter. Abhängig vom „Körpergehäuse“ ist der Gesundheitszustand eines Individuums unterschiedlich. Dieser Gesundheitszu-stand hängt von der Fähigkeit des Kör-pers ab, sich an Belastungen anpassen zu können. Stress kann den Menschen re-gional oder global beeinfl ussen. Er kann die Mobilität oder die Vitalität seiner Strukturen einschränken, und er kann von innen oder von außen kommen.

Anwendungsprinzipien

Ziel

Globale Befreiung einer „erstarr-· ten“ Körperstruktur: Diese osteo-pathische Folge wendet sich an so-genannte „Monoblock-Patienten“, d.h. Patienten, bei denen man nicht weiß, wo man beginnen soll. Bek-ken, Bauch, Brustkorb oder Schädel, alles scheint blockiert.Befreiung der zentralen Achse: Der · Übergang zwischen den unpaarigen (zentralen) Strukturen und den paa-rigen (peripheren) Strukturen des Körpers muss befreit werden. Die Achse muss frei sein.Befreiung der läsionellen Wechselbe-· ziehungen zwischen linker und rech-ter Hälft e dieser zentralen Achse. Befreiung der Restriktionen zwischen · den verschiedenen Komponenten der zentralen Achse, und zwar zwischen Dura mater, Wirbelsäule und myofas-ziale pharyngo-prävertebrale Kette

Leistungskriterien

Folgende Elemente werden kombiniert:Schnelligkeit· Präzision· Wirksamkeit· Leistungsfähigkeit· Schmerzlosigkeit· Komfort (für Patienten und Osteopath)·

Arbeitsstellungen

Für den Patienten scheint die Sei-tenlage die beste Ausgangsstellung zu sein: Der Patient liegt dabei leicht zu-sammengekauert auf der Seite. Diese

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Stellung ist am bequemsten und kann von fast allen Patienten eingenommen werden. Bei einer akuten Lumbalgie ist dies häufi g sogar die einzig mögli-che Stellung. Sie wirkt sehr beruhigend und ermöglicht dem Osteopathen, die drei Bewegungsparameter der zentra-len Achse einsetzen zu können:

axiale Traktion oder axiale Kom-· pressionLinks- oder Rechtsseitneigung· Ante- und Postfl exion (dieser Pa-· rameter ist in Rückenlage nur sehr schwer durchführbar)

Diese Stellung ermöglicht, die Hemi-sphären zueinander zu bearbeiten und gleichzeitig Schulter- und Beckengürtel in die gleiche Richtung (nach kranial oder kaudal) oder einen Hemikörper zur zentralen Achse zu mobilisieren.Der Osteopath steht entweder vor oder hinter dem Patienten und beugt sich über ihn. Er bildet eine Einheit mit ihm. Mit Armen, Brust, Schul-tern, Becken, Oberschenkel oder Kinn kontrolliert er so viele Parameter wie möglich. Seine Hände sind völlig frei, um zu palpieren und die spezifi sche Adjustierung im Inneren einer globa-len Kontrolle durchzuführen.Die globale Einheit ist wahrscheinlich der Grund, warum sich der Patient dabei so wohl und in Sicherheit fühlt. Der Osteo-path hat dabei eine nahezu perfekte Kon-trolle, die seiner Technik eine einfl ussrei-che Kraft verleiht. Die Tatsache, viele Parameter gleichzeitig zu kontrollieren, ermöglicht eine sehr präzise Vorberei-tung der Technik. Dadurch wird sie sehr wirkungsvoll und kann leichter durchge-führt werden, da der Körper dabei selbst seine eigenen Korrekturkräft e freisetzten kann. Aber vor den Korrektur stehen Tests: Ohne präzise Tests können keine guten Korrekturen durchgeführt werden.

Testprinzipien

Mobilitätstests

Testet man zwei Strukturen zueinan-der, benötigt man zwei unterschiedli-che Referenzen:

ihre Stellung im Raum· ihre Orientierung im Raum·

Dazu benutzt man die drei Richtungen im Raum. Jede Bewegung kann in Be-

zug zur vertikalen, transversalen und sagittalen Achse zergliedert werden. Das vermittelt uns folgende Parameter:

hoch/tief· vorne/hinten· links/rechts·

Um diese drei Achsen im Raum hat die Struktur zwei Möglichkeiten. Entweder kann sie entlang der Achse gleiten: Diese Verschiebung ist geradlinig, sie kann ei-ner traumatischen Verschiebung gleich-gestellt werden. Oder sie kann um eine Achse drehen: Diese Verschiebung be-schreibt eine gekrümmte Linie und kann demnach einer physiologischen Ver-schiebung gleichgesetzt werden (auch wenn sie nicht unbedingt eine physiolo-gische Achse der Struktur benutzt). Eine Struktur kann also um jede Achse entwe-der eine rotierende oder eine geradlinige Verschiebung durchführen.Beispiele:

Um die Vertikalachse gleitet die · Struktur nach oben/unten und macht eine Links-/Rechtsrotation.Um eine Transversalachse gleitet die · Struktur lateral nach links/rechts und macht Ante-/Postfl exion.Um die Sagittalachse gleitet die · Struktur anteroposterior und neigt sich seitlich nach links/rechts.

Läsionsverschiebungen der Stellung ver-ursachen größere Spannungen in den Gewebefasern als Verschiebungen der Orientierung. Somit ist es logisch, zu-erst die geradlinigen („traumatischen“) Verschiebungen zu testen und danach die Tests der rotatorischen („physiologi-schen“) Verschiebungen durchzuführen.Eine Gruppe von „traumatischen“ Lä-sionen:

hoch/tief (Kompression/Trennung)· links/rechts oder laterales Abscheren· vorne/hinten oder anteroposteriores · Abscheren

Eine Gruppe von „physiologischen“ Läsionen:

Ante-/Postfl exion· Links-/Rechtsseitneigung· Links-/Rechtsrotation·

Testaussagen: Sind diese Tests been-det, weiß der Osteopath genau, ob sich

die Struktur auf ihrem Platz befi ndet und ob sie im Raum zu den anderen Strukturen richtig orientiert ist. Man weiß auch, in welchem Parameter sich die größte Restriktion befi ndet und in welchem die größte Läsion vorliegt.

Vitalitätstest

Th eoretisch handelt es sich hier um keine eigentliche Bewegung, sondern um ein Gefühl der Ein- und Ausat-mung des Gewebes. Das Gewebe dila-tiert und retrahiert sich. In der Praxis benutzt man subjektive und objektive Zeichen, um die Vitalität eines Gewe-bes einzuschätzen (Tab. 1).

Korrekturprinzipien

Man besitzt sieben Parameter für die Tests. Diese setzten sich aus sechs Para-metern für die Struktur (je drei für die geradlinige und die rotatorische Ver-schiebung) sowie einem Parameter für die Atmung zusammen. Bei jedem Pa-rameter hat man die Wahl, in die Leich-tigkeit (funktionell = F) oder in den Wi-derstand (strukturell = S) zu gehen.

Behandlungsmöglichkeiten

Prinzip: 6 F oder 6 S +

Atmung (F oder S)

Es besteht die Möglichkeit die Para-meter funktionell oder strukturell ein-zustellen. Auch bei der Atmung muss man sich zwischen funktionell oder strukturell entscheiden.Wählt man die Richtung, in die sich die Struktur leicht verschieben lässt, geht man in die Richtung der osteo-pathischen Läsion; man benutzt das funktionelle Prinzip. Alle Parameter können in diese Richtung eingestellt werden. Hierbei handelt es sich um ei-ne funktionelle Technik.Wählt man die Seite des größten Be-wegungswiderstandes, kommt man zu einer Barriere im Gewebe; hier be-

Tab. 1: Vitalitätszeichen eines Gewebes

Subjektive Zeichen Objektive Zeichen

• Visuelle Wahrnehmung• Ausstrahlen in die Peripherie (leer/voll)• Reaktion auf die Ein- und Ausatmung

• Empfindlichkeit und Beschaffenheit der Haut• Perkussion (Dumpfheit der Struktur)• Temperatur (warm/kalt)

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nutzt man das strukturelle Prinzip. Es können alle Parameter an der Barriere eingestellt werden. Hierbei handelt es sich um eine strukturelle Technik.In der Praxis werden meist die rein funktionelle, die rein strukturelle Tech-nik oder eine Kombination aus beidem angewendet.

Rein funktionelle Technik

(6 F + Resp. F)

Bei dieser Möglichkeit werden die Neu-tralpunkte aller Parameter summiert. Begonnen wird mit den Parametern, welche die Struktur am meisten behin-dern, den „traumatischen“. Dann stellt man die physiologischen Parameter ein, bis in den Geweben eine „Stille“ auft ritt, der Moment, in dem alle Span-nungen zur Ruhe kommen und sich ausgleichen. Jetzt können die Gewebe-fl üssigkeiten ihre Arbeit leisten.Diese Methode wird eingesetzt, wenn die Mobilität nur geringfügig eingeschränkt, kein Parameter markant gestört und die allgemeine Vitalität gut ist.

Rein strukturelle Technik

(6 S + Resp. S)

Hier wird eine Summation des Span-nungsaufb aus bis an die Gewebebar-riere aller Bewegungsparameter durch-geführt. Somit werden alle „Flucht-

möglichkeiten“ in den Bewegungs-parametern blockiert. Der Körper ist gezwungen, sich auf dem einzig mög-lichen Parameter, der Vitalität, auszu-drücken und zu korrigieren. Er benutzt seine Gewebeatmung durch fl üssigen Druckaufb au, um sich zu befreien.Diese Möglichkeit wird eingesetzt, wenn mehrere Parameter einge-schränkt sind oder die Vitalität sich nicht ausdrücken kann (z.B. bei Über-lagerung von Läsionschemata).

Ein Parameter strukturell,

die anderen funktionell

(1 S + 5 F + Resp. S)Hier wird der am deutlichsten einge-schränkte Parameter in die Korrek-turstellung gebracht (strukturell) und eine Summation der läsionellen Neu-tralpunkte der fünf anderen Parameter durchgeführt (funktionell). Als Atem-parameter wird die Ausatmung einge-setzt. Dabei versteht sich von selbst, den Parameter, der den Körper am stärksten behindert, als Fulkrum einzusetzen. Durch die Tatsache, dass die anderen Parameter in den läsionellen Stillpoint eingestellt sind, werden die parasitären Spannungen, die den idealen Korrek-turweg des Parameters mit der größ-ten Restriktion behindern, beseitigt.Diese Methode wird dann eingesetzt, wenn ein Parameter wirklich viel einge-

schränkter ist als die anderen, die Vitalität aber gut ist. Dies ist der „ideale Weg“ ei-nen „sauberen“ richtigen Impuls durch-zuführen, da der Weg nur in eine einzige Richtung frei ist. Die Korrektur erfordert deshalb keinerlei Kraft aufwand.

Wahl der Technik: funktio-

nell, strukturell oder Thrust?

Der Osteopath sollte sich im Klaren sein, dass die Wahl, ob funktionell oder strukturell behandelt wird, nicht von der eigenen Lust abhängt, sondern in erster Linie von den Bedürfnissen des Gewe-bes. Besteht größerer Bedarf, die Mobili-tät oder die Vitalität wiederherzustellen? Die Struktur jedes Patienten weist unter-schiedliche Probleme auf, und während der Behandlung modifi ziert sich die Qualität der Gewebe weiter. Es besteht immer Anlass, alternativ das eine oder das andere Prinzip einzusetzen. Der „Th rust“ oder Impuls ist nicht ob-ligatorisch, da dieser meist nur anekdo-tisch ist, wenn die Vorbereitung der Pa-rameter richtig durchgeführt wurde. Ist die Vitalität gut, wird die Gewebefl exi-bilität genügen, um sich in der Stille zu befreien. Welch ein sensationelles Ge-fühl, wenn man unter seinen Fingern eine tiefe Entspannung spürt, die einem Gelenk ermöglicht, sich zu befreien.

Technik zur Befreiung der

„thorakalen Zylinder“

Ziel dieser Technik ist die Befreiung der beiden Hemithorax zueinander, der Verstrebungen des Hemithorax am mediastinalen Teil des Th orax und am anderen Hemitorax (Abb. 2 u. 3).

Literatur[1] Rousse R (2004) Funktionelle Notfalltechniken

(Skript). Rohrdorf: Deutschen Osteopathie KollegDas Skript zu den funktionellen Notfalltechniken kann beim Deutschen Osteopathie Kolleg (DOK) bezogen werden.

Korrespondenzadresse:

Gabi Prediger Praxis am SchlossNotburgastr. 280639 München

[email protected]

Abb. 2: Griff für den oben liegenden (rechten) Zylinder. (Aus: Rousse 2004, S. 88)

Abb. 3 Visualisierung des Zylindergriffs: Die Unterarme liegen parallel. (Aus: Rousse 2004, S. 88)