politik und emotionen - gefühle als politische realität?

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politik & emotionen – gefühle als politische realität? magazin für politische entscheidungen ausgabe 09 / frühjahr 2015 www.hammelsprung.net u.a. mit Dr. Knut Bergmann Carsten Schneider Gert Scobel Prof. Günther Verheugen

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hammelsprung 9 politik und emotionen

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  • politik & emotionen gefhle als politische realitt?

    magazin fr politische entscheidungenausgabe 09 / frhjahr 2015www.hammelsprung.net

    u.a. mitDr. Knut BergmannCarsten SchneiderGert ScobelProf. Gnther Verheugen

  • Ham | mel | sprung, der;

    (1) parlamentarisches Abstimmungsverfahren, bei dem die Abgeordneten den Plenarsaal verlassen und ihn zur Zhlung ihrer Stimmen durch eine von drei Tren betreten, die jeweils fr Ja, Nein oder Enthaltung stehen;

    (2) berparteiliches und unkommerzielles politisches Magazin an der NRW School of Governance in Duis-burg, von Studierenden gegrndet und im Dezember 2009 erstmalig erschienen.

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    emotionaler totalschaden? der kommunal-wahlkampf 2014 des cdu-kreisverbands duisburgdie emotionen und der wahlkampfkatastrophen und staatstrauer politik(er) im ausnahmezustanderniedrigung, angst und die sonne des majdans das explosive gemisch aus emotionen in der ukraine-krisedrei fragen an ... wulf schmiesepolitsatire im deutschen fernsehen ein ventil fr emotionendie unantastbare wrde des menschen der assistierte suizid als politischer streitfallberliner republik stress republik? warum politiker so selten an burnout erkrankenein gespenst geht um in europa vertrauen(sverlust) emotionale bindungen in der politkder nette herr rsler zu weich fr die politik?emotion als politik oder politik mit emotion?der hammelsprung: sollte social freezing erlaubt sein?berraschungssieg der monheimer peto die sanfte revolutionpolitik und unmut populismus als spiel mit den emotionen?

    editorialgruwortkein kommentarimpressum

  • Es ist lange her, dass die Bedeutung von Emotionen in der Politik so prsent war wie in den vergangenen Wochen und Monaten. Die internationale Politik versucht Herr zu werden ber die Ausbreitung des Ebola-Virus, den IS-Terror, den Konflikt in der Ukraine sowie erneut aufflammende Kmpfe in Israel. All diese Krisen und Kriege sind hochemotional entweder in ihrer Wirkung auf die Bevlkerung oder aber in ihrem Ursprung. Die Krise zwischen der Ukraine und Russland ist beispielsweise nur zu verstehen, wenn man auf die ihr zugrunde liegenden Emotionen der Bevlke-rung und der politischen Eliten blickt.

    Fernab der internationalen Krisen ist die Bedeutung von Emotionen in der Politik aber auch im nationalen Kontext nicht zu unterschtzen. Nicht nur die Betrachtung der (geschickt geplanten) Emotionalitt einzelner Politiker ist in diesem Kontext interessant, sondern auch die Art und Weise, wie Wahlkmpfe Emotionen bei den Whlerinnen und Whlern zu erzeugen versuchen.

    Zur Strukturierung des Hefts orientieren sich die studentischen Beitrge jeweils an einer konkreten Emotion und ihrem Auftreten im politischen Geschehen. Auffllig ist dabei, dass vor allem negative Emotionen Furcht, Unmut, Trauer, Verachtung problemlos besetzt werden konnten, wohingegen positive Emotionen kaum Einzug in den hammelsprung fanden. Die Frage, die sich an dieser Stelle aufdrngt, ist of-fensichtlich: Werden im Zusammenspiel von Politik und Emotionen negative emoti-onale Momente eher wahrgenommen als positive? Und welchen Einfluss htte diese Annahme fr den politischen Alltag?

    Der hammelsprung lebt von seinem interdisziplinren Ansatz und wird durch Gastbeitrge von Persnlichkeiten des ffentlichen Lebens aus den Bereichen Poli-tik, Wissenschaft und Medien bereichert. Fr diese Ausgabe konnten wir Carsten Schneider stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion fr Haus-halt, Finanzen und Euro fr das Gruwort, sowie Prof. Gnter Verheugen EU-Kommissar a.D., Gert Scobel Journalist und Philosoph, Christoph Giesa selbst-stndiger Autor, Dr. Knut Bergmann Leiter der Abteilung Kommunikation und des Hauptstadtbros des Instituts der deutschen Wirtschaft Kln, Wulf Schmiese po-litischer Korrespondent des ZDF-Hauptstadtstudios, Erik Flgge Geschftsfhrer der Politikberatung Squirrel & Nuts, sowie Marina Karbowski Referentin der SPD in NRW, fr weitere Beitrge gewinnen.

  • 3Mit den Gastautoren und Interview-partnern haben wir aktuelle brisante Themen und Krisen diskutiert, die ma-geblich von dem Verhltnis zwischen Politik und Emotionen geprgt sind. Ob assistierter Suizid im Alter, der Konfl ikt zwischen Russland und der EU oder der Umgang der Medien mit Spitzenpoliti-kern die Auseinandersetzung mit Po-litik und Emotionen ist ein weites Feld, dessen mglichst umfassende Abbil-dung und Beleuchtung unser Ziel war.

    Wir mchten uns deshalb an dieser Stel-le bei den Experten aus Politik, Wissen-schaft und Medien bedanken, die wir fr die neue Ausgabe als Gastautoren und Interviewpartner gewinnen konn-ten und die uns einen Einblick in die verschiedenen Themenkomplexe er-mglicht haben. Ihre Einschtzungen des Verhltnisses zwischen Politik und Emotionen bereichern das vorliegende Heft sehr.

    Vor allem stammt der hammelsprung aber aus der Feder der Studierenden der NRW School of Governance. Unser Dank gilt daher allen, die so engagiert Beitrge zu dieser Ausgabe beigesteuert und den Komplex der Emotionen in der Politik bearbeitet haben.

    Editorial

    Vanessa Pudloist Chefredakteurin des hammelsprung. Sie studiert seit 2013 an der NRW School of Governance. Zuvor studierte sie Literatur- und Sozialwissenschaften in Bochum. Sie war drei Jahre lang freie journalistische Mitarbeiterin einer Tageszeitung.

    Julia Carstens ist Chefredakteurin des hammelsprung. Seit 2013 ist sie Master-Studentin an der NRW School of Gover-nance. Praktische Erfahrung sammelt sie als studen-tische Hilfskraft einer politischen Stiftung sowie als Trainerin fr EU-Kompaktkurse an Schulen in NRW.

    Matthias Voigtlnderist Chefredakteur des hammelsprung. Seit 2012 ist er Masterstudent an der NRW School of Governance. Zuvor studierte er European Studies an der Maastricht University sowie in Finnland. Er ist Mitglied der Jungen Liberalen und kommunalpolitisch engagiert.

    Felix Schenuitist Chefredakteur des hammelsprung. Seit 2013 studiert er an der NRW School of Governance. Seine Schwerpunkte sind die EU und Energiepolitik. Erfahrungen sammelte er bei ThyssenKrupp und der Vertretung des Landes NRW in Brssel.

    Darber hinaus mchten wir unserem Gestalter Benjamin Brinkmann und unserem Fotografen Thomas Bcker fr die visuelle Untersttzung danken.

    Die Herausgabe dieses Heftes ist nur durch grozgige fi nanzielle Untersttzung mglich, die wir von der Fakultt fr Gesellschaftswissenschaften der Universitt Duisburg-Essen und der NRW School of Governance erhalten haben. Hierfr be-danken wir uns und hoffen, dass der hammelsprung als Magazin fr politische Ent-scheidungen auch in Zukunft gefrdert werden kann.

    Gerne wrden wir mit dem Heft weitere Diskussionen anregen. Die Mglichkeit dafr stellen wir bereit: Mit unserer Homepage www.hammelsprung.net bieten wir eine Plattform, die weiteres diskutieren ermglicht. Wir freuen uns ber zahlreiches Feedback zu den Beitrgen in diesem Heft!

    Die ChefredaktionJulia Carstens, Vanessa Pudlo, Felix Schenuit, Matthias Voigtlnder

  • muss die Kraft des besseren Arguments auch an der Front politischer Emotionen behaupten knnen. Und Don Quichotte ist sein stndiger Begleiter!

    Als brauchbares diskursives Konzept hat sich dabei die Unterscheidung von au-thentischer Emotion und strategischer Emotionalisierung herausgestellt. Als Arbeitshypothese, sozusagen.

    Ja, es gibt die sich selbst legitimierende emotionale Einlassung, sofern sie per-sonengebunden und authentisch, soll heien unmittelbar und unverflscht ge-uert wird. Ich erlebe dieses Phnomen derzeit in Gesprchen mit skeptischen Parteimitgliedern. Was sollte man den gesttigten biografischen Negativer-fahrungen in der DDR von respektab-len Demokraten, deren Sohn man sein knnte, auch argumentativ entgegen setzen? Entweder ist der Respekt zu gro oder das Gefhl zu stark. Auf die-ser persnlichen Ebene tut das streit-lustige Sachargument gut daran, einfach nur zuzuhren, aktiv, nachdenklich, in angemessener Demut! Hier hat Emotio-nalitt ihre uneingeschrnkte politische Legitimation, als konstruktiv-kritische Unschrferelation. Ja, wir brauchen diese Emotionen als sittliche Ressource fr ein gelingendes Miteinander!

    Ja, ich gebe es freimtig zu: Es gab den Moment vor dem weien Blatt, an dem ich die Zusage fr dieses Gruwort be-reut habe! Politik und Emotionen ha-ben die Studenten denn nichts Besseres zu erforschen? Politik ist schlielich eine rationale Angelegenheit und Emotionen gehren ins Ehebett. So dachte ich je-denfalls mit meinem Karl Popper in der Hosentasche und kaute auf dem digita-len Bleistift.

    Doch dann kam r2g in Thringen und als frisch gewhlter Landesvize der SPD sehe ich mich sptestens seit der Auf-nahme der rot-rot-grnen Koalitions-verhandlungen in Erfurt von Emotio-nen umzingelt. So schnell kann Theorie praktisch werden!

    Verblffende Ambivalenz: Whrend die Redaktion durch die Ereignisse lnger als geplant auf diesen Text warten musste, wofr ich mich nochmals in aller Form entschuldige, bekam ich hierdurch doch genau die tagesaktuellen empirischen Eindrcke, die diese Zeilen befrdert ha-ben.

    Von Verrat ist dieser Tage in Thrin-gen viel die Rede, von Tabubruch und Geschichtsvergessenheit, alles samt hochemotionale Begrifflichkeiten und der politische Akteur, der sich dem kri-tischen Rationalismus verpflichtet fhlt,

  • 5Doch auch auf den persnlichsten Ge-fhlen ziehen strategische Trittbrett-fahrer ihre Runden. Emotionalitt ver-spricht noch jeder politischen Kampagne Anschlussfhigkeit. Sittlich wertvoll ist das selten und hoffentlich immer weni-ger erfolgreich!

    Wenn anlsslich der zeitgeschichtli-chen Erinnerung an den Mauerfall vor 25 Jahren derzeit in Thringen kollekti-ve Gefhle als Protest gegen eine demo-kratisch legitimierte Regierungsbildung proklamiert werden, muss das skeptisch stimmen. Auf den zweiten, sptestens auf den dritten Blick entpuppen sich hin-ter dem Vorhang gemeinschaftlicher Ge-fhlsregungen doch immer wieder sehr heteronome Interessen!

    Und das 20. Jahrhundert ist ein plasti-sches Beispiel fr das gesellschaftliche Spaltungspotential, fr die destruktive Macht und die letztliche Unkontrol-lierbarkeit allzu kritiklosen und eupho-rischen Gemeinschaftsempfi ndens. Knnen Gefhle berhaupt zugleich au-thentisch und kollektiv sein? Ich glaube, das sind eher Stimmungen, allgemeine Gefhlslagen. Der WM-Titel, weih-nachtliche Besinnlichkeit oder ausge-lassene gemeinschaftliche Lebenslust zum Karneval! All dies hat seine Berech-tigung, es mag Rhythmus geben, eine Art sozialer Orientierung, aber niemals berzeugung.

    Es gibt keine strategischen Emotionen

    Gruwortvon Carsten Schneider

    Carsten Schneiderwurde 1998 als damals jngster Abgeordneter Mitglied des Deutschen Bundestages. Der gelernte Bankkaufmann ist seit 2013 stellv. Vorsitzender der SPD-Fraktion fr Haushalt, Finanzen und Euro. Zuvor war der Erfurter haushaltspolitischer Sprecher.

    Solche sozialen Stimmungslagen sind ebenso verlockend wie spontan. Es sind so-cial moments. Sich damit positiv zu verknpfen, ist in freien Gesellschaften so-wohl wirtschaftlich als auch politisch zwingend! Dies ist Teil der kommunikativen Geschftsgrundlage. Die Grenze zur Emotionalitt verluft freilich oftmals fl ieend. Doch auf die kritische Grenzziehung kommt es gerade an!

    Um es mit Popper zu formulieren, muss sich die offene Gesellschaft genau an die-ser virtuellen Grenze gegenber ihre(n) Feinde(n) behaupten, jeden Tag. Ich will das abschlieend an einem Beispiel aus dem bereits in Anspruch genommenem 20. Jahrhundert verdeutlichen.

    Als Willy Brandt am 7. Dezember 1970 in Warschau vor dem Ehrenmal der Helden des Ghettos auf die Knie ging, war das eine hchst persnliche Geste, die die Welt zu Trnen rhrte. Das war eine authentische Emotion, ebenso wirkmchtig wie legi-tim. Unvergesslich und ihre Legitimation unmittelbar aus sich selbst beziehend! So etwas entzieht sich jeder strategischen Planung. Diese emotionale Spontanuerung hat die Stimmung im In- und Ausland nachhaltig geprgt.

    Auch in Demut vor derartigen Persnlichkeitsuerungen bleibe ich weiterhin skep-tisch eingestellt gegenber strategischen Emotionalisierungen und vertraue auf argu-mentative Kritik und nchterne Vernunft fr die Bearbeitung politischer Problemla-gen. Emotionen im Ehebett mgen dafr hilfreich sein.

    Derweil wnsche ich den Leserinnen und Lesern dieser Ausgabe eine rationale Lek-tre in guter Stimmung! Ich danke der Redaktion fr die freundliche Einladung und singe ein Loblied auf die Freiheit von Forschung und Lehre.

  • emotionaler totalschaden? der kommunal wahl- kampf 2014 des cdu-kreisverbands duisburg

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    Man stelle sich folgende Situation vor: eine Partei, die seit geraumer Zeit einer eher schwierigen politischen Existenz frnt, macht es sich zum Ziel, mit der nchsten Wahl wieder die Gunst der Whler zurckzugewinnen und sucht sich dafr eine gesellschaftlich hchst kontrovers diskutierte Angelegenheit als Wahlkampfthema aus. Mutig, knnte man meinen. Gleichzeitig jedoch auch hchst riskant und taktisch unklug, insbesondere dann, wenn die Kontroverse noch mit einer Prise Provokation gespickt wird. Bei der Kommunalwahl 2014 setzte der CDU-Kreisverband in Duisburg genau auf diese wahlkampftechni-sche Emotionensynthese und scheiterte klglich. Eine Einschtzung

    von Vanessa Pudlo

    Es ist noch nicht allzu lange her, da stand Duisburg bundesweit in den Schlagzei-len. Im Juli 2010 starben 21 Menschen bei der zu diesem Zeitpunkt in der Stadt ausgetragenen Loveparade. Was sich in den darauffolgenden Wochen, Monaten und Jahren auf politischer und Verwal-tungsebene in Duisburg abspielte, war eine Schlammschlacht par excellence. Noch immer ist nicht geklrt, wann und ob berhaupt der Strafprozess gegen die zehn von der Staatsanwaltschaft ermit-telten mutmalichen Verantwortlichen erffnet wird. Viele Duisburger machten vor allem den von der CDU gestellten Oberbrgermeister Adolf Sauerland fr die Katastrophe verantwortlich, der bis zu seiner Abwahl durch einen Brge-rentscheid im Jahr 2012 eine Mitschuld an dem Unglck stur bestritt.

    Ob nun lediglich Sndenbock oder tat-schlich mitverantwortlich Adolf Sau-erlands Verhalten hat das Vertrauen der Duisburger Brger in den CDU-Kreis-verband tief erschttert. Der Kommu-nalwahlkampf 2014 sollte das magere Sympathiekonto der Duisburger CDU deshalb wieder aufstocken. Sie wollte sich wieder als Volkspartei verstanden sehen, die sich um die Interessen, Wnsche und Probleme ihrer Brger kmmert. Zu den zentralen Wahlkampfthemen gehrten daher klassischerweise von der CDU be-herrschte Themenfelder wie wirtschaft-liche Entwicklung, Verkehr, Ordnung, Sauberkeit und, nun ja, Zuwanderung. An dieser Stelle kommt das zu Beginn bereits angesprochene explosive Ge-misch aus Kontroverse und Provokation ins Spiel. Unter dem Slogan Missstnde beenden! Duisburg kann besser zeigte die Partei auf einem ihrer Wahlplakate den bundesweit als Problemhaus von

  • Duisburg bekannt gewordenen Wohn-block In den Peschen in Duisburg-Rheinhausen, welcher zum traurigen Sinnbild der Duisburger Zuwanderungs-politik geworden ist. Auf engstem Raum hausten dort bis zum Sommer 2014 mehrere hundert Armutsflchtlinge, die meisten aus Rumnien und Bulgarien, was zu teilweise chaotischen Wohnver-hltnissen fhrte und die Gemter der Duisburger Brger erhitzte. Die CDU als selbsternannte Volkspartei sah es deshalb als ihre Pflicht an, das Thema Zuwande-rung offen und deutlich anzusprechen, um den rechten Parteien erst gar keine Angriffsflche fr ihre Parolen zu bieten. So weit so plausibel, wre da nicht dieses besagte Wahlplakat gewesen. Die poli-tische Konkurrenz zeigte sich entrstet und warf der CDU rassistische Hetze vor, da das Foto des Wohnblocks veral-tet gewesen sei und nicht mehr den ak-tuellen Begebenheiten entsprche. Das enorme Medienecho und die Emprung von Brgern und politischer Konkurrenz ber das Plakat hatten schlielich zur Fol-ge, dass sich eine emotional gesteuerte Aufmerksamkeit auf die Zuwanderungs-thematik entwickelte, wodurch die Duis-burger CDU beim Kommunalwahlkampf 2014 in erster Linie auf diesen Teil ihres Wahlprogramms reduziert wurde. Die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt, die im Wahlprogramm der Partei einen weitaus greren Stellenwert einnahm als das Thema Zuwanderung, geriet ins Wahlkampf-Abseits. Das schlussendli-che Wahlergebnis berraschte demnach wenig: der CDU-Kreisverband Duisburg erzielte sein schlechtestes Ergebnis seit dem Ende des zweiten Weltkriegs und musste selbst in den Stadtteilen, die als CDU-Hochburgen galten, einen massi-ven Stimmverlust hinnehmen.

    Emotionen zu zeigen und Emotionen auszulsen, um die Aufmerksamkeit der Whler zu gewinnen, hat im politischen Geschehen in Zeiten einer immer grer werdenden Prsenz von Politikern auf allen medialen Kanlen und einer sich gleichzeitig zunehmend verfestigenden Politikverdrossenheit in hohem Mae an Bedeutung gewonnen. Dabei ist es unbedingt erforderlich, sich in den Wh-ler hineinzuversetzen und zu verstehen, was ihn beschftigt. Nur so ist es mglich eine Wahlkampfstrategie zu entwickeln, durch die sich die Brger wirklich ange-sprochen und verstanden fhlen.

    Die Duisburger CDU setzte auf Kont-roverse und Provokation und verlor. Sie verlor, weil eine Partei, die seit dem Loveparade-Unglck ohnehin wenig Po-pularitt im Stadtgebiet geniet mit einer Kampagne, die sie gefhrlich leicht an den rechten Rand des politischen Spektrums rcken lie, gefundenes Fressen fr alle Kritiker war. Sie verlor, weil sie fr die Whler unbedingt wieder als Volkspartei prsent sein wollte, die sich kmmert. Es gelang ihr jedoch nicht, zu verstehen, was die Whler von ihren Volksvertre-tern erwarteten. Vier Jahre sind zudem deutlich zu kurz, um den emotionalen Schock, in den die Loveparade-Katastro-phe die Duisburger versetzt hat und die Wut auf Politik, Verwaltung und Veran-stalter zu verarbeiten. Auerdem lsst sich an der CDU-Wahlkampagne exem-plarisch nachverfolgen, wie heutzutage auch die Medien eine emotionale Dyna-mik auslsen und stimulieren knnen. Die medialen Rechtfertigungen des kon-troversen Wahlplakats durch Duisburger CDU-Vertreter erschienen im Kontext des negativen Medienechos scheinheilig und unglaubwrdig. Medien und Br-

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    ger haben in wechselseitiger Beeinflussung ein Urteil ber die CDU gefllt, was sich schlielich mehr als deutlich im Wahlergebnis spiegelte.

    Wie die Duisburger CDU wohl abgeschnitten htte, wenn sie sich strker auf positive Gefhle wie die des wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Aufschwungs konzentriert htte? Mit einer strkeren medialen Thematisierung der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt Duisburg, die eigentlich ohnehin ihr zentrales Wahlkampthe-ma war, wre dies mglich gewesen. Sicherlich kme sie nicht an ihre Glanzzeiten heran, aber sie htte sich zumindest diesen neuerlichen Imageschaden und Vertrau-ensverlust ersparen knnen, den ihr die Kommunalwahl 2014 eingebracht hat. Die Thematisierung der Zuwanderungsproblematik war kein falscher Ansatz der CDU Duisburg, aber ihr Emotionenmanagement war uerst ungeschickt. Ist der Kommu-nalwahlkampf 2014 der Duisburger CDU damit ein emotionaler Totalschaden? Er hat zumindest mehr als eine kleine emotionale Delle verursacht.

  • die emotionen und der wahlkampf

    Im Wahlkampf ist pltzlich alles anders. Politiker, die sich sonst um Details km-mern, sollen groe Geschichten erzhlen. Aus Detailversessenen mssen Menschen werden, die andere emotional umarmen und einen klaren Kurs skizzieren.

    In der Politik geht es um Details. Gesetze entstehen, indem an kleinen Formulierun-gen so lange gearbeitet wird, bis eine gut abgewogene Regelung beschlossen werden kann. Fr alle Beteiligten haben diese Details einen emotionalen Wert. Eine kleine nderung ist ein groer Erfolg oder eine bittere Niederlage. Auerhalb des parlamen-tarischen Alltags interessiert sich jedoch kaum jemand fr diese Detailabwgung. Und noch viel weniger sind sie von emotionaler Bedeutung fr Brgerinnen und Brger.

    Stefan Rebmann MdB, sonst sehr verstndlich, aber in Berlin gehen die Details manchmal mit ihm durch.

    Die Wahlkampfzeit stellt deshalb eine besondere Herausforderung fr den Politikbe-trieb dar. Hier gilt es zu entscheiden, auf welchen relevanten Unterschied man Politik verkrzt, um eine Altnative zu bieten.

    Das sinnvolle Ziel der Reduktion schlgt aufgrund der eigenen Bindung an den eige-nen Inhalt oft ins Gegenteil aus. In einer Wahlkampfkommission der SPD fi el im Jahr 2013 der bezeichnende Satz: Die CDU hat fnf gute Grnde rausgegeben, da haben wir erst mal elf gemacht. Damit ist im Grunde alles gesagt.

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    von Erik Flgge und Marina Karbowski

    Marina Karbowskiist External Researcher am Lehrstuhl fr Internatio-nale Beziehungen an der Universitt der Bundeswehr in Mnchen. Sie ist Mitarbeiterin des SPD Landes-verbandes Nordrhein-Westfalen und persnliche Referentin der SPD-Landesvorsitzenden.

    Erik Flggeist Geschftsfhrer der Squirrel & Nuts GmbH. Er ist politischer Stratege, Dozent an der Universitt Tbingen und Hochschule Krefeld und bert politische Akteure als Experte fr Beteiligungsprozesse.

    10, 20 oder 100 gute Grnde machen keinen Unterschied. Die Wahlprogramme der CSU sind traditionell sehr kurz, die Ergebnisse besonders gut. Das Wahlprogramm der Grnen zur Bundestagswahl wird wohl die 100.000-Gute-Grnde-Grenze durchbrochen haben und dennoch oder vielleicht gerade deswegen zogen am Wahlabend die kos lange Gesichter.

    Die Detailverliebtheit der Politik ist im Wahlkampf ihre Achilles-Verse. Denn fr diejenigen, die diese vielen Forderungen auf-stellen, besitzen die Details einen emotionalen Wert. Fr die Bevlkerung allerdings kaum denn diese bekommt das Ringen um sie nicht mit.

    Denn deren emotionale Bindung bezieht sich nicht aufs Detail, sondern auf ein Thema, eine Person oder eine Partei. Die grne Verbote-Partei ist inhaltlich absurd, aber emotional stark. Merkel als die kmmernde Mutti ist kein bisschen politische Reali-tt, aber dennoch glaubhaft. Es ist egal, wie Peer Steinbrck das Kanzlersalr bewertet und in welchem Kontext sein Stinkefi nger auf dem SZ-Magazin-Cover zu sehen ist. All das wirkt auf die emotionalen Bindungen.

    Emotionen lsen Entscheidungen aus. Sie bedingen, ob wir uns fr oder gegen etwas positionieren. Deshalb gilt es im Wahlkampf die eigene emotionale Agenda zu setzen. Wichtig dabei ist, stets von der eigenen Emotion zu abstrahieren. Es gilt zu fragen, was der Inhalt, der mich wtend oder glcklich macht, bei meinem Gegner auslst. Die Wahl einer Partei muss nicht kognitiv richtig sein, sie muss sich gut anfhlen. Oder kann sich jemand vorstellen, das Whler mit den 10-gute-Grnde-Flyern jeder Partei in der Wahlkabine stehen und nochmal schnell das Angebot vergleichen, um dann eine rein rationale Entscheidung zu treffen? Downs konomische Theorie der Demokratie geht genau davon aus wir wagen es zu bezweifeln.

    Emotionen im Wahlkampf lassen sich kalkulieren und organisieren. Teil einer jeden gesellschaftlichen Grundordnung sind Ge-fhlsregeln. Beispielsweise ob ein Kanzlerkandidat auf der Bhne weinen soll, kann oder nicht darf. Dies systematisch zu erfassen und Inhalte entsprechend zu organisieren, muss Teil von Wahlkampfstrategien sein. Gleichzeitig gehrt dazu auch, den Politiker nicht mehr nur als rein rational kalkulierendes Wesen zu verstehen und darzustellen. Auch Politiker leisten Emotionsarbeit, denn zur politischen Kompetenz gehrt eben auch, Mitgefhl zu haben. Politiker mssen verstehen, was die Menschen bewegt und zeigen, dass sie wirklich Anteil daran haben. Zum Teil gelingt dies heute schon, allerdings meist auf einer eher intuitiven Ebene. Das politische Alltagsgeschft dominiert noch stark die selbstzentrierte Strategieplanung. Viel zu oft wird dann die kleine Attacke des politischen Gegners fr relevant gehalten obwohl die Emprung darber nur im engen Zirkel des politischen Alltags entsteht und handlungsauslsend wirkt. Auerhalb dessen zieht die Attacke vorber, ohne die Menschen zu berhren. Umgekehrt kann die Politik relevante Themen verpassen, weil sie nicht mitbekommt, welche Themen die Menschen emotional bewegen.

  • katastrophen und staatstrauer politik(er) im ausnahmezustand

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    Die Anordnung einer Staatstrauer als Akt des nationalen Innehaltens stellt in modernen Gesellschaften eine politische Institutionalisierung von Betroffenheit dar, beispielsweise um dem Tod eines verdienten Politikers, einer anerkannten Wrdentrgerin oder den Opfern verheerender Katastrophen oft medienwirk-sam begleitet zu gedenken. Die Anordnung einer Staatstrauer symbolisiert die enge Verknpfung von Politik und Emotionen von Politik und Trauer.

    von Lukas Lffler

    Lukas Lfflerstudierte in Halle Politik- und Wirtschaftswissen-schaften. Seit 2013 studiert er an der NRW School of Governance. Erfahrung in der politischen Kommuni-kation sammelte er in der Stadtverwaltung Halle, im Landtag NRW und einem gemeinntzigen Verein.

    Doch welche Anforderungen werden in einer Phase der nationalen Schockstarre an die Politik gestellt? Mit welchen Erwartungen sehen sich die handelnden politischen Vertreter in Tagen gesellschaftlicher Tragdien konfrontiert? Wie sieht eigentlich er-folgreiche Krisenpolitik aus? Staatstrauer ist nicht gleich Staatstrauer

    Zweifellos wre es falsch den offi ziell veranlassten Akt einer Staatstrauer mit dem phy-sischen Zustand eines trauernden Staates gleichzusetzen. Ein Blick in die jngere Ver-gangenheit allein gengt um zu realisieren, dass sich die jeweiligen Beweggrnde und das Ausma der Betroffenheit stark voneinander unterscheiden. Gleiches gilt fr den politischen Handlungsdruck, der signifi kant mit der Verantwortung fr die vorange-gangene Tragdie korreliert.

    So ist es offensichtlich, dass der mit einer Staatstrauer einhergehende Tod von Altbun-desprsident Johannes Rau im Jahr 2006 weniger Anlass zur politischen Reaktion bot als beispielsweise das Grubenunglck in der Trkei 2014. Dieses forderte ber 300 To-desopfer, die Ermittlungen zufolge durch schrfere Sicherheitskontrollen htten ver-hindert werden knnen. Erdogans Unwille zur politischen Aufarbeitung dieser Katas-trophe wurde in der Folge nicht nur in den deutschen Medien stark kritisiert.

    Ein weiteres aktuelles Beispiel fr eine gesellschaftliche und politische Tragdie fi ndet sich im Juli 2014: Der Absturz von Malaysia-Airlines-Flug 17 (MH17) nahe des ostu-krainischen Dorfes Rassypnoje bildete den bis dato traurigen Hhepunkt der Ukra-ine-Krise. 298 unbeteiligte Zivilisten - darunter 193 Niederlnderinnen und Nieder-lnder die vermutlich nicht einmal wussten, wo genau Donezk und Luhansk auf der Landkarte zu fi nden sind, fi elen diesem Krieg zum Opfer. Diese Tragdie erschtterte die Niederlande bis ins Mark. Der Tod Unbeteiligter, die begrndete Vermutung, das Flugzeug knnte von pro-russischen Separatisten abgeschossen worden sein, und die skandals anmutenden Zustnde an der Absturzstelle hoben die weltweite Bestr-zung in der Folge auf ein ganz neues Niveau.

  • Politik nach der Katastrophe: Gratwanderung zwischen Emotionalitt und Professionalitt

    Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, Sie mssten in dieser Situation die Rolle des nie-derlndischen Ministerprsidenten Mark Rutte ausfllen. Wie wrden Sie gegenber der politischen Fhrung in Russland der immerhin eine Teilschuld zugeschrieben wird - reagieren? Und wie wrden Sie der Bevlkerung gegenber, die sie in ihrer po-litischen Funktion reprsentieren, kommunizieren? Wrden Sie sich zum Gedenken der Opfer persnlich betroffen zeigen und emotional handeln? Oder wrden Sie ihre Handlungsoptionen auch im Moment der Wut und Trauer sachlich, nchtern und ra-tional abwgen?

    Dieses Gedankenexperiment verdeutlicht die Problematik der ambivalenten gesell-schaftlichen Rezeption von Emotionen in der Politik nach Schaal und Heidenreich. Auf der einen Seite drfen Politiker niemals emotionslos erscheinen. Gefhlsue-rungen verleihen den Aussagen des politischen Akteurs Authentizitt und Empathie. Sie unterstreichen die Nhe zwischen Politiker und Whler. Ja, sie zeigen uns das, was wir alle wissen, aber oft genug vergessen: Auch Politiker sind nur Menschen. Auf der anderen Seite werden emotionale Politiker in der ffentlichen Wahrnehmung schnell als irrational und hysterisch abgestempelt. Sie werden mit Eigenschaften etikettiert, welche in der scheinbar von sachlichen Entscheidungen und rationalen Strategien ge-prgten politischen Welt eigentlich keinen Platz finden.

    Die politische Herausforderung in Zeiten solcher Tragdien besteht in der nachhalti-gen Auflsung des vermeintlichen Trade-Off von Emotionalitt und Professionalitt, von innerer Kontrolle und Authentizitt. Whrend auf der Ebene der Entscheidungs-politik nach Sarcinelli die problemlsungsorientierte Kompetenz politischer Akteure im Vordergrund steht, bedarf es bei der Politikdarstellung viel Fingerspitzengefhl, um die in der Bevlkerung entstehende und medienvermittelte Dynamik der negativen Emotionen zu kontrollieren. Eine dem Rahmen angemessene Krisenkommunikation ist die elementare Legitimationsgrundlage fr in dieser Phase zu treffende politische Entscheidungen.

    Dieses Artefakt, das fr alle politischen Entscheidungen gilt, wird in einem Ausnah-mezustand, wie er nach dem MH-17-Absturz herrschte, auf die Spitze getrieben.

    Krisenkommunikation und -politik in den Niederlanden

    Wie Krisenpolitik nicht funktioniert stellte unlngst der Brgermeister von Hilver-sum, Pieter Broertjes, unter Beweis. So forderte er kurz nach dem Flugzeugabsturz in der Ostukraine die Ausweisung von Maria Putin, die seit Jahren mit ihrem Freund in der Nhe von Den Haag lebt. Der Vorschlag entfachte vor allem in den sozialen Netz-werken eine regelrechte Hetzjagd auf die Tochter des russischen Prsidenten. Die Verffentlichung ihrer Adresse, notwendig gewordener Polizeischutz, anti-russische

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    Bekundungen und ein kaum zu kont-rollierender ffentlicher Ruf nach Rache waren die Folge. Broertjes sah sich ge-zwungen seine unklugen uerungen, die in einem Gefhl der Hilflosigkeit entstanden seien, zurckzunehmen. Mit einer ffentlichen Entschuldigung ver-suchte er der im Zuge seiner Aussagen entstehenden emotionalen Dynamik ent-gegenwirken.

    Der niederlndische Ministerprsident Mark Rutte hingegen entschied sich mit einer zivilen Mission fr eine zurckhal-tende krisenpolitische Linie. Zwar trfe ein Militreinsatz genau das Gefhl, das viele Menschen, darunter auch er selbst, htten, aber es trgt, so unser Ergebnis, einfach nicht dazu bei, unsere allerhchs-te Prioritt zu realisieren: das mglichst schnelle Zurckholen der Opfer.

    Allein diese Aussage unterstreicht die unbedingte Notwendigkeit der Abw-gung von Emotionen und Rationalitt im politischen Geschft. Die sachliche Entscheidung, den zivilen Charakter der Operation am Absturzort beizubehal-ten, wurde durch ein hochemotionales Missionsziel begrndet. Dem nieder-lndischen Regierungschef gelang damit der mittelnde Ausgleich von Sachlichkeit und authentischer Emotionalitt im f-fentlichen Raum.

    Zwar geriet Mark Rutte, auch aufgrund seiner zurckhaltenden Benennung mg-licher Schuldiger, fr seine sanfte Reakti-on gegenber Russland in vielen natio-nalen Medien ins Kreuzfeuer der Kritik seinen Umfragewerten in der Bevlke-rung schadete dies aber nicht. In einer von Maurice de Hond durchgefhrten Befra-gung urteilten 74% positiv ber das Kri-

    senverhalten des Ministerprsidenten, nur 16% bewerteten das Regierungsauf-treten als schwach. Derart positive Werte hatte eine niederlndische Regierung bei einer von de Hond durchgefhrten Um-frage bis dahin noch nie erzielt. Die Werte sind Indizien fr eine gelungene Krisen-kommunikation und -politik nach dem Absturz von Flug MH17.

    Politik und Trauer: Institutionalisie-rung statt Instrumentalisierung

    Die Anordnung einer Staatstrauer am Tag der berfhrung der zuerst geborgenen niederlndischen Leichen stellte ein wei-teres zentrales Element der niederln-dischen Krisenkommunikation dar. Bei der Ankunft der Transportmaschinen auf dem Flughafen in Eindhoven, die live im Fernsehen bertragen wurde, waren ne-ben zahlreichen betroffenen Angehri-gen auch das niederlndische Knigspaar und Regierungschef Rutte anwesend. Sie vermittelten vor Ort, aber auch in der Be-richterstattung, ein sehr ergreifendes Bild dieser Zeremonie, erweckten dabei aber nicht den Eindruck durch vorgeschobene Empathie Nutzen aus der Situation schla-gen zu wollen.

    Eine mgliche Instrumentalisierung die-ser oder hnlicher Situationen gilt es fr den politischen Akteur unbedingt zu verhindern, da der damit einhergehende Glaubwrdigkeitsverlust groen politi-schen Schaden nach sich ziehen kann.

    Letztlich lassen sich anhand dieses sehr ergreifenden Beispiels verschiedene Schlsse ziehen. Zu konstatieren bleibt, dass sich die Paarung von Emotionalitt und Professionalitt, genauso wie Politik und Trauer, keineswegs ausschliet. Viel-

    mehr bedarf es gerade in Zeiten gesell-schaftlicher Tragdien einer geglckten Synthese beider Elemente, um eine star-ke aber brgernahe Politik zu betreiben. Darstellungs-, Entscheidungs- und sym-bolische Politik im Ausnahmezustand bedeuten eine Gratwanderung und damit eine besondere Herausforderung fr die verantwortlichen politischen Akteure und das dahinterliegende Politikmanage-ment.

    Schlussendlich lsst sich festhalten: Auch wenn die Politik der niederlndischen Regierung ex post sehr positiv bewertet wird, so ist es kaum mglich, diese als Blaupause fr die Krisenpolitik anderer Staaten heranzuziehen. Hierfr unter-scheiden sich die jeweiligen Flle sowie die politischen, kulturellen und wirt-schaftlichen Rahmenbedingungen der jeweilig betroffenen Staaten zu stark. Die detaillierte Beantwortung der Frage nach erfolgreicher Krisen- oder Katastrophen-politik ist somit letztlich immer nur am Einzelfall mglich.

  • erniedrigung, angst und die sonne des majdans das explosive gemisch aus emotionen in der ukraine-krise

    Sehr geehrter Herr Verheugen, Sie haben sich in den letzten Wochen mehr-fach zu der Krise zwischen Russland, der Ukraine und der EU geuert Sie haben dabei Meinungen vertreten, die nicht unbedingt dem Mainstream entsprechen und betont, dass man immer auch die Perspektive der Russen sehen muss. Um diese Perspektive soll es auch in diesem Interview ge-hen dabei allerdings nicht so sehr um geographische oder konomische Aspekte der Krise. Hier soll der Fokus auf dem Verhltnis zwischen Politik und Emotionen liegen. Inwiefern wurde der Verlauf der Krise zwischen Russland, der Ukraine und der EU durch Emotionen geprgt?

    Ich glaube sogar, dass die ganze Krise, mit der wir es hier zu tun haben, hauptschlich durch Emotionen geprgt ist und nicht durch khle Vernunft und rationales Abw-gen. Wir haben es hier mit einem ganz explosiven Gemisch von Emotionen zu tun. Fangen wir an mit Russland und ich rede jetzt mal nicht ber die russische Gesell-schaft sondern ber die russische Fhrung, deren Haltung nur emotional erklrt werden kann. Wenn man Putins Rede vor der Duma nach der Annexion der Krim sieht, war sie voller Emotionen. Und zwar in diesem Sinne: Russland ist ein groes Land und muss anders behandelt werden, als es vom Westen behandelt wurde. Wir Russen werden benachteiligt, in die Ecke gestellt und erniedrigt. Er vermittelte das Bild eines Menschen, der sich erniedrigt fhlt das ist emotional.

    Wenn wir die Ukraine betrachten, so sind es auch hier im groen Umfang Emotionen, die das politische Handeln und das politische Klima bestimmen. Die unterschiedliche politische Orientierung in verschiedenen Teilen des Landes hat sehr viel mit der tief sitzenden Unzufriedenheit mit den politischen und konomischen Verhltnissen zu

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    die Fragen stellte Felix Schenuit

    tun. Das ist eine tiefe Frustration, die sich in der Ukraine immer wieder entldt. Den-ken Sie an die Orangene Revolution oder jetzt den Majdan.

    Und wenn wir uns selber betrachten, dann ist zumindest in Deutschland auch eine sehr starke emotionale Seite festzustellen, nmlich in dem Sinne, dass die Mehrheit der Bevlkerung nicht einverstanden ist mit der Art und Weise, wie die politische Eli-te sich in dieser Krise verhlt. Um es ganz grob zu sagen: Die Deutschen mchten sich eigentlich lieber raushalten, wie berhaupt den Deutschen die Vorstellung gefllt, wir knnten hier in einer Art groer Schweiz leben. Das ist offensichtlich das, was die Leute wollen, whrend in der politischen Elite gerade zurzeit ja auch gesagt wird: Wir mssen uns mehr einmischen.

    Ich wrde gerne einen Aspekt herausgreifen: die Ukraine. Wir sehen eine lange Geschichte der Ukraine, die durch fortwhrende Konflikte und groe Unsicherheiten geprgt ist. Zum Beispiel ist es zu dieser Zeit ja auch die Angst vor dem kalten Winter, in der sich die Abhngigkeit vom russischen Gas zeigt. Wie sehr prgen solche ngste die Ukraine?

    Ja, das ist relevant. Das ist die Angst vor der Verschlechterung der Lebensbedingun-gen. Die fhrt aber zu unterschiedlichen Antworten der Ukraine: Sie fhrt im Westen zu der ganz klaren Antwort: Wir wollen zur Europischen Union gehren. Und zwar genau aus dem Grund, aus dem heraus auch die neuen Mitgliedslnder das gewollt haben. Eben wegen der Chance auf ein besseres, sicheres Leben. Wohingegen im Os-ten der Ukraine eher das Gefhl vorherrscht, dass man sich nicht von Kiew gngeln lassen darf. Russenfeindlichkeit kommt in der Ostukraine nicht gut an. Es ist also eher eine Unzufriedenheit mit dem politischen Status, den man hat. Zudem wrde ich aber auch als eine unmittelbare emotionale Reaktion betrachten, was unmittelbar nach dem Sturz von Janukowytsch passiert ist.

    Es sind zwei Dinge passiert: Das Parlament beschftigte sich mit der Frage der Stel-lung der russischen Sprache. Smtliche sehr rechte nationale Krfte in der Ukraine verlangten die Aufhebung der bestehenden Vertrge mit Russland. Einschlielich des Schwarzmeerfl otten-Vertrages, der fr die strategischen Interessen Russlands von ab-solut zentraler Bedeutung ist. Dieses Verhalten kann nur emotional erklrt werden. Sie haben hingewiesen auf die ukrainische Geschichte, die ja genau geprgt ist von

    diesem pro- und anti-russischen Dualis-mus. Das hat eine groe Rolle gespielt im 2. Weltkrieg, danach und eben auch jetzt wieder. Es zeigt sich, dass dieser Dualis-mus, wie alle politischen Motive, die sich auf Sprache, Rasse oder Kultur grnden, hochemotional und hochbrisant ist- ganz explosiv.

    Ja diese Explosivitt spielt eine groe Rolle in der Krise. Mit Bezug auf den pro- und anti-russischen Dualismus muss man dabei auch einen Blick auf die EU werfen. In Ih-rem Artikel ber das neue Buch von Joschka Fischer Scheitert Europa verweisen sie auf Stmpereien der EU, die hufig nicht behandelt wer-den. Was sind diese Stmpereien?

    Na gut, das sind eine ganze Menge. Die drei wichtigsten Fehler der EU sind ers-tens: diesen Prozess der Heranfhrung der Ukraine begonnen zu haben, ohne der Ukraine selber eine klare verlssliche Perspektive zu geben. Das hat dazu ge-fhrt, dass sowohl in der Juschtschenko als auch in der Janukowytsch-Zeit die Transformation der Ukraine nicht wirk-lich vorangekommen ist.

    Nummer zwei ist, dass man es nicht fr notwendig gehalten hat, mit Russland ber die Auswirkungen der geplanten Assoziierung auf Russland zu reden. Da-

    Prof. Gnther Verheugenwar von 1999 bis 2010 EU-Kommissar fr Erwei-terung und spter fr Industriepolitik, ab 2004 als Vize-Prsident der Kommission. Zurzeit ist Verheugen Honorarprofessor an der Europauniveristt Viadrina in Frankfurt/Oder.

  • mit man mich richtig versteht: ich geste-he Russland kein Recht zu, Einfluss zu nehmen auf die souverne Entscheidung der Ukraine, ob sie assoziiert werden oder Mitglied der EU werden wird. Die-ses Recht hat Russland nicht. Aber Russ-land hat das Recht, darber informiert zu werden und auch dazu gefragt zu werden: Wie geht man mit den Konse-quenzen dieser Politik fr Russland um. Handelspolitische Konsequenzen und so weiter. Das ist nicht gemacht worden.

    Und das dritte ist und da kann ich nur noch mit dem Kopf schtteln der Fall Tymoschenko. Dieser wurde sozusa-gen zum Testfall fr die Rechtstaatlich-keit der Ukraine erhoben. Hier gilt es zu bedenken, dass die Regierung Januk-owytsch im Dezember 2012 zur Unter-schrift des Assoziierungsabkommens bereit war. Es ist die Europische Union gewesen, die 2012 nicht unterschrieben hat. Da fing die Geschichte an. Und zwar wegen Frau Tymoschenko. Da mchte heute niemand gerne dran erinnert wer-den. Diejenigen, die Frau Tymoschenko zur Ikone von Freiheit und Rechtstaatlich und Demokratie erklrt haben, die sind jetzt ganz still. Damit mir keiner sagt, ich bin hier einseitig, will ich hinzufgen: Selbstverstndlich war der Vorwurf an die Ukraine, selektive Justiz zu betrei-ben, berechtigt, denn es htte nicht nur Frau Tymoschenko vor Gericht gehrt, sondern eine Menge anderer auch, das ist vollkommen klar. Der Fall Tymoschenko jedenfalls war es nicht wert, die politi-sche Zukunft der Ukraine und der euro-pischen Integration davon abhngig zu machen. Der letzte Punkt: Majdan. Die-jenigen, die sich auf dem Majdan in der groen Zustimmung der Massen gesonnt haben, sind leider jetzt nicht bereit, auch

    den Preis dafr zu bezahlen. Jetzt schweigen sie ganz still darber. Denn natrlich ha-ben diese Leute Erwartung geweckt, von denen sie damals schon wussten, dass die EU diese nicht wrde erfllen knnen.

    Die Punkte, die Sie jetzt genannt haben sind Hauptprobleme in der Verstn-digung zwischen europischer und russischer Politik. Was sind denn Mg-lichkeiten, die zunehmend einschlafenden Kontakte aufrecht zu erhalten?

    Das wrde ich so nicht sagen. Ich habe es bedauert, dass der Petersburger Dialog der jetzt vor ein paar Tagen in Sotschi htte stattfinden sollen abgesagt wurde. Aber an sich funktionieren die deutsch-russischen Gesprchskanle ja noch ganz gut und es wird ja hier in Berlin ja auch schon intensiv darber nachgedacht, wie man von dem Sanktionskurs wieder weg kommt. Das Ziel sollte sein, dass man grundstzlich wie-der darber reden kann, wie wir unser Verhltnis langfristig gestalten wollen. Voraus-setzung dafr ist natrlich die Bewltigung der aktuellen Krise. Das heit, es muss ein Status gefunden werden in und fr die Ukraine, mit dem alle leben knnen den sehe ich zurzeit allerdings nicht. Ich wirke in verschieden Organisationen daran mit, Lsungen zu erleichtern. Aber ich muss sagen in dem Augenblick, in dem wir heute hier sitzen, wei ich nicht wie der eigentliche politische Konflikt, der ja der Konflikt um die territoriale Integritt und nationale Souvernitt der Ukraine ist, bewltigt werden kann. Am leichtesten natrlich, wenn Russland sagen wrde: Wir mischen uns da nicht weiter ein. Ich bin aber auch gar nicht mehr sicher, ob die Nichteinmi-schung Russlands heute noch eine notwendige und hinreichende Bedingung zugleich ist. Mglichweise reicht das gar nicht mehr aus, wenn Russland sich nicht einmischt, weil eine Eigendynamik entstanden ist, die wir nur sehr schwer beurteilen knnen.

    Also kurz und gut: die aktuelle Krise muss eingehegt werden. Dann allerdings glaube ich ist die Stunde gekommen, in der man sehr grundstzlich und ehrlich miteinander darber reden muss, was in den letzten Jahren schief gegangen ist. Wo man Putin auch mal fragen muss wieso fhlte er sich an den Rand gedrngt, bergangen und ernied-rigt? Was haben wir denn eigentlich nach seiner Meinung falsch gemacht? Wo man ganz kritisch berprfen muss, was denn aus der sogenannten Strategischen Partner-schaft zwischen der EU und Russland tatschlich praktisch herausgekommen ist. Die praktischen Ergebnisse sind nmlich relativ bescheiden. Und letztlich muss man fra-gen, wie die gemeinsame Verantwortung fr die Zukunft des gesamten Kontinents wahrgenommen werden. Der Punkt ist ja, dass wir als EU und Russische Fderati-on eine gemeinsame Verantwortung haben fr den gesamten Kontinent eine neue Teilung darf sich nicht wieder in unseren Kpfen verfestigen. Da landen wir dann bei zwei in der Zukunft zu klrenden Themen. Zum einen bei der Frage nach der Wettbe-werbsfhigkeit Europas in der immer schneller werden konomischen Globalisierung und zweitens bei der Frage eines stabilen und verlsslichen Sicherheitssystems fr Eu-ropa, das den Ausbruch neuer Konflikte in Europa verhindert.

    Vielen Dank fr das Gesprch!

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    drei fragen an ...wulf schmiese *

    * Wulf Schmieseist politischer Korrespondent des ZDF-Hauptstadtstu-dios. Nach dem Studium der Politik und Geschichte und einer Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule in Hamburg arbeitete er als politischer Korrespondent u.a. fr Die Zeit, Die Welt, Spiegel und FAZ

    Schmidt, Schrder, Merkel wie emotional sind Spitzenpolitiker heute noch?

    Auch Spitzenpolitiker sind eine hetero-gene Gruppe: Manche zeigen Gefhle ffentlich, wie es etwa Schrder und vor allem Kohl es taten. Beide schmten sich nicht ihrer Trnen. Andere sind da zu-rckhaltend, wie Schmidt und Merkel. Adenauer zhlte wohl auch zu den emoti-onal Disziplinierten. Insofern ist da nicht in Heute und Gestern zu unterscheiden, sondern in Typen.

    Das Bild des unfehlbaren Politikers interpretieren die MedienEmotionen als Schwche?

    Gefhlsausbrche werden von Medien negativ interpretiert, wenn sie als unan-gemessen empfunden gelten: Etwa das Weinen der kurzzeitigen Kieler Oberbr-germeisterin Susanne Gaschke nach einer Rathausrede, mit der sie auf Angriffe der Opposition reagierte. Teilweise werden Emotionen aber durchaus als Strke emp-funden, zumindest als Ausdruck unver-bogenen Charakters. Wie Kohl sich den Eierwerfer von Leipzig packte galt in vie-len Kommentaren als nachvollziehbare Reaktion und wurde gelobt als Zeichen, dass selbst ein wahlkmpfender Kanzler sich nicht alles bieten lassen muss. Tr-nen in hochemotionalen Momenten wie Zapfenstreich oder Kranzniederlegungen werden als Herzenswrme positiv wahr-genommen.

    Stichwort Authentizitt sehen Sie Unterschiede zwischen TV und Print?

    Politiker sind in TV-Interviews insofern authentischer, weil zu ihren Worten Ges-tik und Mimik kommen und Gesagtes nicht mehr zu redigieren ist. Die wah-re Authentizitt darzustellen allerdings ist fr Print wie TV gleichermaen eine gewaltige Herausforderung. Sie kann in beiden Formaten gelingen. Ein stark ge-schriebenes Portrt mag zuweilen noch schonungsloser daherkommen, weil da-rin im Wortsinn die ungeschminkte Wahrheit geschrieben kann. Es ist leich-ter, Weggefhrten zu zitieren, die nicht namentlich auftauchen. Dagegen ist der eigentliche Bild- und Ton-Vorteil des Fernsehberichts ein Nachtteil.

  • politsatire im deutschen fernsehen ein ventil fr emotionen

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    In Deutschland macht sich der Wutbrger breit, er vergisst sein eher konservativ-brgerliches Benehmen und demonstriert aufgebracht gegen Projekte wie Stuttgart 21. In vielen Regionen formiert sich Protest gegen meterhohe Stromtrassen, die die Energiewende bringen sollen. TTIP und andere Handelsabkommen mobilisieren die unterschiedlichsten Bevlkerungsgrup-pen und rufen Emprung hervor. Diese Beispiele verdeutlichen: wo es um Macht und Politik geht, sind auch immer Emotionen im Spiel. Die Menschen sind meist persnlich von Entscheidungen Dritter betroffen teilweise existenziell. Es liegt in der Na-tur von Emotionen, dass sie beachtet und verarbeitet werden wollen. Doch die Tendenz zur Rationalisierung des politischen Willensbildungsprozesses verbannt Gefhle aus der Politik ins Private. Dabei beschrnkt sich der rationale Diskurs auf Begrn-dungen fr Argumente, er rckt die Generalisierung in den Vordergrund und gibt individueller Erfahrung und Betroffenheit wenig Raum. Oftmals geht es um Machtpolitik, nicht aber um das Wohl der Allgemeinheit. Der informierte Brger kann nur zusehen, wie eine falsche Entscheidung nach der anderen getroffen wird.

    Zudem fhlen sich viele Menschen in der komplexer werdenden Welt verloren. Gary S. Schaal und Felix Heidenreich stellen im APuz-Artikel Politik der Gefhle. Zur Rolle von Emotionen in der Demokratie fest, dass das Vertrauen gegenber Politikern immer wichtiger, zugleich jedoch immer seltener wird. Durch den raschen sozialen Wandel vermehrt sich damit in unserer Gesellschaft nicht nur Wissen, sondern auch Unsicherheit. Gelingt es Politikern nicht, der Bevlkerung Orientierung zu geben, dann wird aus Unsicherheit und einem mangelnden Vertrauen in die Fhigkeit der Politikeliten nur noch eins: Ablehnung. Ver-achtung entsteht dann durch die berzeugung, dass Politiker ihren sozialen Rang und das damit einhergehende Prestige nicht verdienen. Umfragen spiegeln genau das wider: in der Allensbacher Berufsprestige-Skala 2013 schneidet der Beruf des Politikers schlecht ab, nur 6 Prozent der Bevlkerung achten ihn. Der Beruf des Arztes liegt dagegen seit Jahren unangefochten an der Spitze der Skala. In anderen Lndern steht es hnlich schlecht um das Ansehen des Politikers: in Tschechien haben nur Putzfrauen ein noch schlechteres Image.

    Wir befi nden uns also zunehmend in einer Demokratiekrise, denn ohne den Glauben der Brger an eine funktionierende De-mokratie und einen intakten Rechtsstaat fehlt dem Staat seine wichtigste legitimatorische Grundlage. Trotz ihrer Verachtung fr die Politiker des Landes wollen und knnen viele Brger sich nicht gnzlich vom politischen Geschehen abwenden, daher erfreut sich die Politsatire mehr denn je groer Beliebtheit. Formate wie Extra 3, Die Anstalt oder die ZDF heute-show nehmen mittels bertreibung, Blostellung und Verzerrung das Politikgeschehen auf unterhaltsame Weise in die Mangel. Rentenpolitik, Energiewirrwarr, Massenberwachung, Herdprmie, Drohnen, Aufstieg der AFD und Abstieg der FDP die Politik liefert dafr genug Sendematerial.

    Whrend sich also immer mehr Menschen von den klassischen Nachrichtensendungen abwenden, kursieren im Internet und auf Smartphones tglich Meldungen wie: Lobbyistenlobby fordert Diten fr an Gesetzgebung beteiligte Lobbyisten (Der Postilli-on, 2010) oder Putin schickt Armee in Ostukraine, um nach verirrten russischen Soldaten zu suchen (Der Postillion, 2014). Im Fernsehen kommen die beienden Kommentare von heute-show-Moderator Oliver Welke besonders beim jngeren Publikum an. In einer Folge nimmt Welke die Vorstellungsvideos der neuen Regierung auseinander: Was ich an den Filmen aber richtig

    In Deutschland knnen politische Satiresendungen wie die ZDF heute-show als Ventil fr Emotionen dienen und staatstragende Bildungsbrger davor bewah-ren, die Bundesrepublik aus Frust und Verachtung ber die Unfhigkeit ihrer Volksreprsentanten kurz und klein zu schlagen. Doch was genau steckt hinter der Begeisterung fr politische Satireformate und was bedeutet das fr unsere Demokratie?

    von Sonja Fasbender

    Sonja Fasbenderstudiert seit 2013 an der NRW School of Governance. Erfahrungen sammelte sie u.a. im Dsseldorfer Rat-haus, im Wahlkampf-Management, in einem Bundesin-stitut, im Landtag NRW und als freie Mitarbeiterin bei der Uni-Zeitung in Dsseldorf.

  • geil finde; die Minister mssen sich bei ihrer Vorstellung immer so keck ein-drehen. Das sieht so derartig uncool aus (Pause), da knnte man glatt eine ganze RTL-Serie draus machen! In Form des GZSZ-Einspielers erscheinen dann in Zeitlupe und engelhaft lchelnd Siggi, Franky boy, die Uschi, Peterle, Wolle und Mutti. Auch der Europawahlkampf bietet dieser Folge Gesprchsstoff. Wel-ke stellt fest, wie unfassbar viel in dieser Zeit im Wahlkampf auf den deutschen Markpltzen abgeht. Passend dazu wird Kanzlerin Angela Merkel bei einer Wahlkampfveranstaltung eingeblendet, mit den Worten: Viele haben gebrllt, viele haben zugehrt, beim Eiswagen war eine Schlange, das hat mich sehr beeindruckt [] und wenn dann noch gefragt wird, worum gings sonst noch, hat die Merkel noch irgendwas gesagt Moderator Welke schaltet sich wieder ein: ...dann sagen Sie, keine Ahnung, ich habe nicht zugehrt, ich stand in der Schlange am Eisstand! Meine Fresse, die Merkel, der alte Baldrian-Junkie. (ZDF heute-show, Folge vom 23. Mai 2014).

    Der Politikwissenschaftler Claus Legge-wie sprach auf der 32. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft fr Politikwis-senschaft zum Thema Emotionen und Politik einen Wunsch aus: Ich mch-te, dass Politiker ihre Wrde behalten. Doch welche Auswirkungen haben Sa-tireformate wie die heute-show auf die Politik- und Demokratiezufriedenheit? Frdert Politsatire sogar die Verachtung gegenber Politikern?

    Einerseits ja, andererseits nein. Zunchst zum Gefahrenpotenzial: nicht nur die politische Kommunikation, auch die Medien betreiben Gefhlsmanagement,

    indem sie Emotionen beeinflussen oder erstmalig hervorbringen. Die Begeisterung fr Satire ist nicht neu, mit den Massenmedien und den Verbreitungsmglichkeiten des Internets entstehen jedoch neue Dimensionen. Politische Satire trgt damit eine gewisse Verantwortung. Aber auch der Zuschauer sollte den Konsum einer politi-schen Satiresendung grndlich reflektieren, damit kein neues Aggressionspotenzial entsteht.

    Andererseits gefhrdet nicht nur die Unvernunft eines emotionalisierten Mobs die Demokratie, sondern viel strker die Lethargie einer saturierten Konsumge-sellschaft, die auch im Angesicht himmelschreiender Ungerechtigkeiten oder er-kennbarer Rechtsbrche keine Wut mehr empfindet, um es mit den Worten von Heidenreich und Schaal zu sagen. Die Lcke zwischen diesen beiden Extremen fllen Satire-Formate. Sofern die Bedingung des bewussten Konsums erfllt ist, dient die politische Satire als Ventil fr Emotionen und hilft dabei Dampf abzulassen. Um der unertrglichen Realitt zu entkommen, flchtet sich der interessierte Brger von der heute-Sendung in die heute-show. Politsatire kanalisiert die vorhandene Ver-achtung gegenber Politikern geschickt und ermglicht es dem Zuschauer mit einer sprachlich berspitzten Thematisierung von Missstnden, sich lustig zu machen, und hlt dadurch das Interesse an Politik und ihren Vertretern lebendig. In einer auf die Gefhlsbremse getretenen Konsensdemokratie wirken die Sticheleien wie eine Erlsung.

    Letztendlich kann Politsatire la heute-show bis zu einem gewissen Grad Unsicher-heiten abbauen und Orientierung geben. Satire ist damit im Bereich der Unterhal-tung frderlicher fr die Demokratie als Mario Barths Frauenwitze und die vllige Abkehr von Politik und Nachrichten. Dadurch, dass Hohn und Spott zugelassen wer-den, kann nach einem ersten Aufschrei paradoxerweise langfristig wieder Vertrauen entstehen. Schlielich scheint der arme Politiker auf dem Bildschirm doch nicht so arrogant zu sein, sondern einfach nur menschlich. Es findet somit in gewisser Wei-se eine Verniedlichung statt, jedoch keinesfalls eine Verharmlosung. Wenn der Mo-derator der heute-show von einer Pointe zur nchsten jagt, hlt sich der Zuschauer vor Lachen den Bauch, jedoch einen informierten Bauch. Gut mglich, dass einige Zuschauer in der Sommerpause der Sendung unter Entzugserscheinungen litten. Als Verfall der Demokratie kann die derzeitige Entwicklung jedoch nicht bezeichnet werden. Das geschickte Spiel mit den Emotionen ist vielmehr berlebenswichtig fr die Demokratie - Humor besitzt damit eine wichtige politische Funktion.

    Martin Sonneborn kommentierte seinen Eintritt ins Europische Parlament in der heute-show vom 6. Juni 2014 dagegen mit den Worten: Mit Satire kann man die Welt nicht verndern, ich gehe deswegen jetzt in die Politik. Hier wre ein Augen-zwinkern angebracht. Ein Satiriker darf eben auch als Politiker nicht ernst genommen werden.

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    Ein privates Tagebuch gehrt weder ins Internet noch in die Cloud.De Mazire (2014), auf dem Nationalen IT-Gipfel in Hamburg

    Das Bafg zahlen wir gemeinsam, der Bund 65 % und die Lnder 35 %. Das ist so, und das bleibt so. Das wurde in den Koalitionsverhandlungen so entschieden. Johanna Wanka im SPIEGEL-Interview, November 2013.

    Wir brauchen Brger, die auf die Straen gehen und den Spinnern ihre Grenzen aufweisen.Joachim Gauck (2013) im Rahmen einer Schlerveranstaltung zu Protesten der NPD gegen ein neues Asylbewerberheim in Berlin

    Die NSA betreibt berhaupt keine Massenberwachung, sie sammelt Daten, etwa Telefonnummern und E-Mails.Amerikanischer Abgeordneter Robert Pittenger im FAZ Interview auf die Frage, ob die NSA Massenberwachung in Europa betreibe.

    Menschen, die die DDR erlebt haben und in meinem Alter sind, die mssen sich schon ganz schn anstrengen, um dies zu akzeptieren.Joachim Gauck ber die geplante rot-rot-grne Landesregierung in Thringen mit Bodo Ramelow als erstem linken Ministerprsidenten Deutschlands.

    Die Linke ist der elende Rest dessen, was zum Glck berwunden ist.Wolfgang Biermann, deutscher Liedermacher und Lyriker, bei seinem Auftritt im Bundestag zur Gedenksitzung zum Fall der Mauer vor 25 Jahren.

    Es gibt hier keinen Kompromiss, es gibt nur null oder eins.GDL-Vorsitzender Claus Weselsky zu mglichen weiteren Verhandlungen mit der Deutschen Bahn ber einen eigenen GDL-Tarifvertrag fr Zugbegleiter.

    kein kommentar

  • Herr Scobel, das Thema der aktuellen Hammelsprung-Ausgabe lautet Po-litik und Emotionen. Ein emotional aufgeladenes Thema, das die Medien bereits seit einiger Zeit beherrscht, ist die Beihilfe zur Selbstttung. Ihre Sendung vom sechsten November thematisierte hierzu passend den Suizid im Alter. Ein Aspekt dieser Diskussion ist die Betrachtung der Wrde des Menschen. Nach dem Grundgesetz ist die Wrde des Menschen unantast-bar. Aber wie genau definiert sich Menschenwrde? Ist Wrde die vllige Selbstbestimmung bis hin zur Entscheidung der Herbeifhrung des eigenen Todes? Oder bedeutet Wrde das Leben als Geschenk zu sehen und den Tod in der Konsequenz als nicht in der eigenen Macht liegendes Ereignis zu betrachten?

    Das Problem ist, dass wir im Grundgesetz eine sehr gute Definition haben, die po-litisch sehr brauchbar ist, da sie alle Versuche jemanden so zu behandeln als htte er oder sie keine Wrde in sich bestraft und juristisch belangt. Also ist diese Definition im negativen Sinne als Ausschlusskriterium sehr brauchbar. Positiv hilft uns die poli-tische oder auch die juristische Definition erst einmal nicht weiter, weil man Wrde in beide Richtungen deuten kann, wie es in der aktuellen Debatte tatschlich auch gemacht wird. Die eine Seite, die von einem religisen Begriff ausgeht, meint, Wr-de bedeutet meinem Auftrag als Geschpf nachzukommen und nicht Hand an mich selbst anzulegen. Dies wre also gegen meine eigentliche Wrde als Mensch. Die an-dere Seite, vorzugsweise, aber nicht notgedrungen Menschen mit einer atheistischen Position, sehen das vllig anders. Also hilft uns Politik in dem Kontext berhaupt nicht. Meine Vermutung ist, dass uns auch die Philosophie nur bedingt helfen kann, weil sie uns zwar eine abstrakte und gute Analyse des Begriffs liefern kann, aber was Wrde jeweils bedeutet kann nur im konkreten Einzelfall entschieden werden. Ich komme nicht umhin, mir jeden Fall, in dem es um Sterben in Wrde geht, tatsch-lich genau anzuschauen. Ich frchte, es gibt keine allgemeine Definition dessen, was Wrde ist. Wahrscheinlich knnten wir uns bei Grenzfllen einigen, also wenn zum

    die unantastbare wrde des menschen der assistierte suizid als politischer streitfall

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    die Fragen stelle Julia Carstens

    Gert Scobelist Journalist, Moderator, Autor und Philosoph. Nach dem Studium der Theologie und Philosophie folgten vielfltige journalistische Ttigkeiten. Seit 2008 mode-riert er das Wissensmagazin scobel auf 3sat. Scobel publizierte mehrfach in Fachzeitschriften.

    Beispiel ein wirklich leidender Mensch mit Gewalt und gegen seinen Willen am Le-ben gehalten wird. Ich denke, das kann man noch weiter konstruieren, beispielswei-se, wenn diese Person auch noch eine Patientenverfgung hat, gegen die verstoen wird. In dem Fall wre es der Wrde entsprechender einem solchen Menschen beim Sterben zu helfen. Es gibt andere Flle, bei denen wir uns mglicherweise nicht eini-gen knnen.

    Daran anknpfend: Wenn ich als Individuum in einer solchen Situation und nicht mehr in der Lage bin, die gewnschte Selbstttung durchzufhren. Wre das nicht eine Verletzung meiner Wrde als Mensch, wenn man mich gegen meinen Willen am Leben erhlt?

    Ja, das kann man so sehen und ich persnlich wrde es auch so sehen. Man kann es aber auch so betrachten, dass ein Arzt, der mir bei der Umsetzung der Ttung, die ich nicht mehr selbst vollziehen kann assistiert, gegen die jeweilige Landesverordnung und damit gegen geltendes Recht handelt. Es hat diese Prozesse zwar noch nicht ge-geben, aber einige Landesrztekammern knnten mit ihren Verordnungen rzte, die dem Suizid assistieren, ausschlieen, indem Sie Ihnen die Approbation entziehen. Dann fi ndet derjenige in der jeweiligen Region als Arzt keine Arbeit mehr. Da hilft es dann relativ wenig, wenn man wei, dass die Wrde des Menschen geachtet wurde, im Anschluss jedoch der Job weg ist. Das ist zwar noch nicht passiert, wahrschein-lich aus gutem Grund, aber es knnte passieren. Dies bedeutet, dass es keine klare politische und juristische Regelung gibt und eine solche Regelung gefunden werden muss. Wenn Sie mich persnlich fragen: Wenn der Patient bei klarem Bewusstsein noch hat sagen knnen, dass er unbedingt und unter allen Umstnden sterben will und wenn auch die Bedingung, dass eine Zeit lang gewartet wurde, bis der assistierte Suizid ausgefhrt wird ebenfalls erfllt ist spricht eigentlich alles dafr, diesem Men-schen tatschlich zu helfen, was in diesem Fall den assistierten Suizid bedeutet.

    Es gibt neuere berlegungen, das Problem der unklaren Gesetzeslage dahingehend zu lsen, todkranken Patienten, die nicht mehr in der Lage sind die Selbstttung durchzufhren, eine Apparatur vorzusetzen, die mit Augenkontakt bedient werden kann und durch einen Mechanismus die tdliche Medikation verabreicht. Kritiker merken an, dass so eine Vereinfa-chung der Selbstttung herbeigefhrt werden kann. Denken Sie, dass es ei-

  • nen Unterschied darstellt, ob sich der Patient die Medikation selbst zufhrt oder diese durch einen Augenkontakt ausgelst werden kann?

    Ein klassisches Beispiel in der Philosophiegeschichte ist der Selbstmord von Sokra-tes. Sokrates hat den Giftbecher vor sich stehen, den man vereinfacht als Apparatur betrachten kann, die im Grunde genommen nur aus einem Becher besteht, der me-chanisch mit der Hand bewegt werden muss. Die nchste Abstraktionsstufe besteht darin den Becher, der in irgendeiner Form, beispielsweise ber einen Schlauch, zuge-fhrt wird, auf einen Knopfdruck zu bedienen. Der nchste Schritt knnte sein, dass der Becher zugefhrt aber kein Knopf gedrckt wird, sondern visuell durch eyetra-cking eine Zahlenkombination eingegeben werden muss. Der nchste Schritt wre dann eine einzige Taste anzuschauen um alles in Gang zu bringen. Die Frage ist, ob es zwischen dem Anfang, also Sokrates mit dem Becher und meinem Augenkontakt am Ende, mit dessen Hilfe ein Mechanismus bedient wird, ein qualitativer Unterschied besteht. Den sehe ich nicht unter der Voraussetzung, dass der handelnde Mensch in jedem dieser Flle frei, selbstbestimmt und ohne Druck handelt. Wenn dies bejaht werden kann, finde ich das vllig in Ordnung. Ich sehe in dem Fall keinen qualitati-ven Unterschied zu jemandem, der sich selbst den Becher nimmt und trinkt.

    Sie haben in der ersten Antwort bereits angesprochen, dass das Thema des assistierten Suizids politisch sehr schwierig zu lsen ist, vor allem weil die Beihilfe zur Selbstttung in Deutschland per se nicht strafbar ist. Jedoch zgern viele rzte und mchten sich zu diesem Thema nicht uern, obwohl viele von ihnen die Beihilfe durchfhren. Es wre fr die rzte eine groe Erleichterung, wenn man sie auf juristischer Grundlage in ganz be-stimmten Fllen entlasten wrde. Was sind Ihrer Meinung nach die Haupt-faktoren, die eine politische Lsung des Problems so schwer machen?

    Ich denke, dass eine sehr komplexe Gemengelage von verschiedenen Motiven und Grnden herrscht. Ich glaube, dass ein Haupthinderungsgrund in der Debatte die Emotionen sind. Das lsst sich dadurch erklren, weil jeder von uns wahrscheinlich Flle kennt, sprich Eltern, Groeltern, Freunde oder Bekannte, die einem nahe ge-hen. Je nachdem in welcher Beziehung man zu diesem Menschen steht, mchte man nicht, dass dieser stirbt, was einen Hinderungsgrund darstellt zu akzeptieren, dass sich ein Mensch selbst dafr entschieden hat und auch entschlossen ist zu sterben. Da spielen starke emotionale Momente eine Rolle. Der zweite Grund ist, dass es un-sere eigene Konstruktion von Sinn massiv infrage stellt, wenn jemand nach reiflicher berlegung und bei klarem Verstand und nach Prfung aller Sachverhalte sagt, dass er sterben will, weil er im Weiterleben, trotz palliativer Behandlung, keinen Sinn mehr sieht. Das Gros der Menschen sieht aber offensichtlich einen Sinn und muss sich dann fragen welcher das ist. Das stellt uns wiederum emotional infrage. Der dritte Grund ist, dass natrlich die Kirchen in der Diskussion im Hintergrund eine unglaubliche Rolle spielen. Dieses politische Thema erinnert uns daran, dass wir in Deutschland nicht wirklich eine Trennung von Kirche und Staat praktizieren. Indirekt und sehr

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    versteckt spielt bei der Diskussion um dieses Thema ein ganz anderes eine Rolle: nmlich Laizismus in Deutschland. Der vierte Grund, der sicherlich auch eine Rolle spielt, ist unsere Vergangenheit im Nationalsozialismus. Damals wurde kollektiv der T-tung einer bestimmten definierten Gruppe von Menschen zugestimmt. Natrlich gab es viele Menschen, die dagegen waren, aber der Groteil der deutschen Bevlkerung hat zugestimmt. Sicher herrschte damals keine Demokratie. Die Art und Weise, wie whrend der NS-Herrschaft Gesetze zustande kamen lsst sich mit der heutigen nicht vergleichen. Aber trotzdem zeigt es, dass es in einer Gesellschaft Mechanismen geben kann, die zu einem solchen Druck fhren, dass so etwas wie Euthanasie kollektiv mglich wird. In einer Sendung von Frank Plasberg zum Thema Sterben trat ein hollndischer Journalist auf, der argumentierte, er sei sehr erschrocken ber die Entwicklung in Holland. Dort ist aktive Sterbehilfe legal, sodass mittlerweile ein gewisser Druck auf die Menschen ausgebt werde, wenn sie weiter leben wollen und kosten. Was mich zum fnften Punkt bringt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass die Krankenkassen in der Zukunft bestimmte Behandlungen nicht mehr zahlen und der Patient dann mglicherweise mit dem Besttigungsschreiben der Krankenkasse, dass sie nicht mehr weiter zahlen wird der unverbindliche Hinweis kommt, dass es doch eine sehr preiswerte und vor allem schmerzfreie Weisen gibt, aus dem Leben zu scheiden, nmlich indem man sich selber ttet. Und schon ist der Druck da! Das sind jetzt nur ein paar Grnde, die im Hintergrund mitspielen und es wahnsinnig schwer machen, einen politischen Kompromiss in einem emotional sehr aufgewhlten Kontext zu finden.

    Herr Scobel, vielen Dank fr das Gesprch.

  • berliner republik stress republik? warum politiker so selten an burnout erkranken

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    Bereits vergangenes Jahr meldete der BKK-Bundesverband, dass die Anzahl an Berufsttigen mit psychischen Krank-heiten seit Jahren kontinuierlich zuneh-me. Demnach seien die registrierten Krankheitstage aufgrund von BurnoutSyndrom innerhalb von acht Jahren um das 18-fache gestiegen, Frauen seien da-bei wesentlich strker betroffen als Mn-ner. Psychische Strungen, zu denen auch Burnout zhlt, stehen demnach bei den Betriebskrankenkassen als Ursache fr Arbeitsunfhigkeitstage bereits an zweiter Stelle hinter Skelett- und Mus-kelerkrankungen. Zwar sei die Anzahl an Burnout bedingten Fehltagen aktuell leicht rcklufi g, dennoch sei die durch-schnittliche Krankheitsdauer pro Burn-out Fall laut BKK mit 39,7 Tagen nach wie vor mehr als doppelt so lang wie bei an-deren Krankheitsbildern wie beispiels-weise Rcken- und Gelenkschmerzen. Ganz offenbar unberhrt von diesen Zahlen bleibt allerdings das Arbeitsum-feld der Berufspolitiker.

    Die Politik erfllt beste Vorausset-zungen fr einen Burnout

    Dabei scheint es so paradox: Politiker er-fllen offenbar viele der grundstzlichen Voraussetzungen, um an emotionaler Erschpfung zu erkranken. Sie sehen sich oftmals mit hohen Arbeitsbelas-tungen, Stress, fehlendem oder wenig

    Sie arbeiten nicht selten zwischen 70 und 80 Stunden die Woche, erfahren hu-fig offensive Ablehnung und Kritik und treffen weitreichende Entscheidungen im Gesetzgebungsprozess, dennoch sind Politiker erstaunlich selten vom Burnout-Syndrom betroffen. Bis auf Matthias Platzeck gibt es in Deutschland keinen ffentlichen Fall von krankhafter, emotionaler Erschpfung in der Spitzenpolitik. Aber woran liegt das?

    von Daniel Dicke

    Daniel Dickestudierte an der Universitt Kassel Politikwissenschaft und Soziologie. Seit 2013 ist er Student an der NRW School of Governance. Praktische Erfahrung sam-melte er bei einer afrikanischen Tageszeitung und am Zentrum fr Hochschul- und Qualittsentwicklung.

    positivem Feedback sowie zu hohen oder unklaren Erwartungen und Ziel-vorgaben konfrontiert. Auf der persn-lichen Ebene spielen die vermeintlich typischen Charakteristika wie berm-iger Ehrgeiz, hohe Ideale und die Angst vor Gesichtsverlust eine zentrale Rolle. Beide Faktoren zusammengenommen knnen das Risiko, psychisch zu erkran-ken, um ein Vielfaches erhhen. Wolf-gang Bosbach, CDU-Politiker und seit 2009 Vorsitzender des Innenausschus-ses des Deutschen Bundestages, sagte dazu jngst in einem Interview mit der Rhein-Zeitung, dass die Arbeitsbelas-tung heute nicht wesentlich hher sei als frher, sich in ihrer Struktur jedoch stark verndert habe, da die Umdrehungs-geschwindigkeit immer grer werde. Dazu haben seiner Meinung nach auch die vielen Onlinemedien und sozialen Netzwerke beigetragen. Demnach sei be-obachtbar, dass die heutige Arbeitswelt als solche schnelllebiger ist als noch vor einigen Jahren. Informationen werden in Folge dessen in immer krzeren Ab-stnden und gleichzeitig grerer Menge bereitgestellt. Eine fachkundige Analyse und abschlieende Bewertung von Poli-tikern werde meist direkt im Anschluss daran erwartet. Dies generiere unter f-fentlicher Beobachtung und Beurteilung einen zustzlichen Druck, wobei sich der Umgangston zwischen Medien, Po-litik und Bevlkerung verschrft habe.

  • Laut Bosbach werden in Deutschland schlichtweg keine Fehler mehr gemacht, da Kleinigkeiten postwendend skanda-lisiert und aus lsbaren Problemen ver-kaufsfrdernde Katastrophen gemacht werden. Doch diese Sichtweise wrde Politiker ganz im Sinne der Mediokratie zu Spielbllen einer einseitigen Abhn-gigkeitsbeziehung machen, bei der dem Zwang zur mediengesttzten Politikver-mittlung nachgegeben wird.

    Sabine Btzing-Lichtenthler, seit 2002 fr die SPD im Bundestag vertreten und von 2005 bis 2009 Drogenbeauftragte der Bundesregierung, vertritt auf An-frage des hammelsprung eine andere Ansicht. Zwar stimme auch sie der Aus-sage Bosbachs, dass sich das Gefhl vom stndigen verfgbar sein mssen gegen-ber den Medien innerhalb der letzten Jahre verstrkt habe, grundstzlich zu. Dies sei allerdings auch eine Folge des Umgangs der Politik mit den Medien. Kein Politiker ist gezwungen, auf eine Medienanfrage unmittelbar einzugehen. Er/Sie kann immer selber entscheiden, dass das sauber Antworten wichtiger ist, als das schnelle Antworten. Das bedeutet in einer Vielzahl der Flle, dass man mit dem Thema vielleicht nicht mehr wahr-genommen wird, weil der zur Verfgung stehende Platz von anderen ausgefllt worden ist. Aber gezwungen, sich zu uern, ist niemand, so Frau Btzing-Lichtenthler. Dass man mit dieser Ein-stellung vielleicht nicht Kanzlerin wird, ist Ihr dabei durchaus bewusst.

    Vielmehr zeigen diese beiden divergie-renden uerungen und Ansichten be-zglich des politisch-medialen Zusam-menspiels eine Grundproblematik auf, mit denen sich Politiker vermehrt kon-

    frontiert sehen. Oftmals dienen sie als Projektionsflche fr negative Assoziati-onen mit politischen Handlungsweisen und ihren Auswirkungen. Berechtigte Kritik kippt dabei nicht selten in ma-lose Anfeindungen, ein Phnomen, das vor allem in sozialen Netzwerken zu be-obachten ist.

    Man muss seine Ttigkeit schon ein bisschen lieben

    Interessant ist in diesem Zusammen-hang vor allem die Kluft zwischen dem allgemeinen Ansehen von Politikern und dem persnlich erlebten. Laut Btzing-Lichtenthler erhalten Abgeordnete vor Ort ebenso Lob und Zuspruch von Br-gerInnen, wenn diese mit der konkreten Arbeit zufrieden sind. Sicherlich spielt in diesem Zusammenhang auch das ge-sunkene Abstraktionsniveau eine Rolle, durch das eine Abkehr vom fernen Kon-strukt des Politikers erreicht und somit vor allem in den jeweiligen Wahlkreisen eine gewisse persnliche Bindung herge-stellt werden kann. Dennoch spielt sich ein groer Teil des beruflichen Lebens von Bundespolitikern in Berlin ab, was durch die Doppelbelastung einen steten Spagat zwischen den Anforderungen an Bundes- und Wahlkreispolitik bedeu-tet. Man muss seine Ttigkeit schon ein bisschen lieben, damit man den Stress aushlt und auch mal eine Woche lang mit 3 Stunden Schlaf tglich auskommt, ergnzt die SPD-Abgeordnete. Dennoch entscheide jeder Politiker im Endeffekt selbst, wie weit er oder sie bereit ist zu gehen.

    Nun ist die Bundespolitik vornehmlich bekannt dafr, kein wirklich zimperli-cher Betrieb zu sein. ffentlich ausge-

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    tragene Kmpfe um die Deutungshoheit einzelner Themenbereiche gehren genauso zum Alltagsgeschft wie innerparteiliche Konkurrenzkmpfe um Posten und Medienprsenz. Fakt ist allerdings auch, dass es kaum ein anderes Berufsumfeld gibt, indem das ffentliche Diskreditieren anderer Personen (solange sich dies auf die politische Arbeit bezieht) und politisch divergierender Ansichten gleichzeitig sowohl die Profilierung des eigenen Selbst als auch den Abbau angestauten rgers ermglichen kann.

    Spitzenpolitiker sind aus einem bestimmten Grund an der Spitze

    Das dabei aber das Arbeitsumfeld der Politiker eine ganz besondere Rolle spielt, wei Prof. Dr. Rainer Wieland, Leiter des Ar-beitsbereiches Arbeits- und Organisationspsychologie der Bergischen Universitt Wuppertal: Das hohe Ma an Verantwortung wird ja kollektiv getragen, und wir wissen, dass soziale Untersttzung und gemeinsam getragene Ziele den Einzelnen entlasten. Es gibt hier einen wichtigen Selektionseffekt: Spitzenpolitiker sind deshalb an der Spitze, weil sie offenbar besondere Fhigkeiten besitzen, die sie an die Spitze gebracht haben. Anzunehmen ist, dass es insbesondere drei Kompetenzbereiche sind, die Spitzen-politiker auszeichnen: Hohes Ausma an (emotionaler) Selbstregulationskompetenz, eine hohe Ambiguittstoleranz, d.h. die Fhigkeit Vieldeutigkeit, Unsicherheit und Unbestimmtheit zur Kenntnis zu nehmen und ertragen zu knnen, und eine hohe physische und seelische Robustheit (Resilienz).

    Politiker zu sein bedeutet demnach nicht nur Sympathien zu gewinnen und die eigene Durchsetzungsfhigkeit glaubhaft unter Beweis stellen zu knnen. Vielmehr mssen sie aus arbeitspsychologischer Sicht einen bestimmten Kommunikationsstil erler-nen, der als surface acting bzw. Oberflchenhandeln bezeichnet wird. Dies bedeutet, dass die ffentlich vermittelte Emotion, un-abhngig von den erlebten Gefhlen, kongruent sein muss mit den sozial akzeptierten Darstellungsregeln. Durch dieses Handeln bestehe neben dem Schutz vor gesundheitlichen emotionalen Folgen laut Wieland auch die Gefahr des Widerspruchs zwischen dargestellten und erlebten Gefhlen, welcher auf lange Sicht zu einem Burnout-Syndrom fhren kann.

    Der schtzende Fraktionszusammenhalt

    Zwar sind sicherlich selbst Politiker mit einem hohen Ma an emotionaler Stabilitt nicht vollkommen immun gegen Kritik und Anfeindungen. Doch entsteht durch den Fraktionszusammenhalt auch soziale Integration und damit verbunden eine Einbettung in ein untersttzend-dynamisches Kollektiv, verstanden als einen Raum, der viele der als negativ bewerteten Arbeitsfaktoren kompensieren kann. Besonders interessant ist, Bezug nehmend auf die Ausgangsfrage, die Relevanz des politischen Arbeits-zyklus, welcher durch eine ganz bestimmte Art von Ruhephasen gekennzeichnet ist. Laut Prof. Wieland werden Spitzenpoliti-ker quasi in langen Sitzungen dazu gezwungen, unttig zu sein. Dies sei als eine Art Zwangserholung zu betrachten. Die stark strukturierten Arbeitsablufe ermglichen es den Volksvertretern demnach, trotz Stress und legislativer Verantwortung sowohl physisch als auch psychisch kurzzeitige Erholung zu finden.

    Dass der gesamte Berufsstand der Spitzenpolitiker vergleichsweise so selten vom Burnout betroffen ist, hat nicht nur damit zu tun, dass vor allem sie darauf bedacht sind bestimmte Krankheitsbilder vor der ffentlichkeit geheim zu halten, um den Ein-druck von Schwche zu vermeiden. Prof. Wieland argumentiert: Betrachtet man das vorab Gesagte, dann befinden sich Politiker aufgrund des Selektionseffektes nur Personen mit bestimmten Eigenschaften werden Politiker und aufgrund ihrer Arbeits-weise bzw. ihrer Arbeitssituationen weitgehend auerhalb des Burnoutrisikos.

  • ein gespenst geht um in europa

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    Jobb flni, mint megijedni lautet ein ungarisches Sprichwort. Es ist besser, sich zu frchten als sich zu erschrecken. Selten traf eine Redewendung die Realitt in einem Land genauer als derzeit in Ungarn. Seitdem die rechtskonservative Partei Fidesz um Regierungschef Viktor Orbn im April 2010 eine Zweidrittelmehrheit bei den Parla-mentswahlen erlangen konnte, befi ndet sich die Demokratie im Land auf dem Ab-stellgleis. Nicht weniger als vier Verfassungsreformen wurden in den letzten Jahren verabschiedet, wohlgemerkt ohne dass davon im Vorfeld der Wahl 2010 eine Rede war. Im Mrz 2013 wurden gar gleich mehrere zuvor vom Verfassungsgericht ge-kippte Gesetze per Verfassungsreform durchgedrckt. Im gleichen Zug erklrte man frhere Entscheidungen des Verfassungsgerichts fr nichtig, beschrnkte das Streik-recht und umging mit einem Haushaltsrat die Budgethoheit des Parlaments um nur ein paar Beispiele zu nennen.

    Die strkste Waffe der EU gegen solche antidemokratischen Entwicklungen sind Vertragsverletzungsverfahren. Mittlerweile laufen vier davon, aber es hat lange ge-dauert, bis Brssel sich dazu durchringen konnte. Ein Grund war sicherlich die an-haltende Deckung Orbns durch die EVP Fraktion, besonders durch die CDU in Person des ehemaligen Europaparlamentsprsidenten und derzeitigem Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung Hans-Gerd Pttering. Dieser hatte befremdlicher-weise die umstrittene Osterverfassung von 2011 explizit fr deren europische Wer-teordnung gelobt. Viktor Orbn selbst hat im Herbst 2012 auf Einladung der KAS in Berlin klargestellt, dass man in Europa mit Blick auf wachsende Volkswirtschaften wie Russland oder China die eigene Vorstellung von Demokratie anpassen msse. Danach gab es einen netten Plausch und Shake-Hands mit Freund und Vertrautem Pttering. So weit, so absurd. Vergessen schienen die diplomatischen Geschtze, die man europaweit bei der Regierungsbeteiligung der Haider-FP in sterreich aufge-fahren hat.

    Illiberalismus als Staatsdoktrin

    Razzien bei auslndischen Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty Internati-onal, ein regierungstreuer Medienrat, der ffentlich-rechtliche Sender berwacht: Die Regierung Orban hat in den letzten vier Jahren viel dafr getan, uere Einfl sse aus der Gesellschaft herauszuhalten. Hierzulande wird unlngst von Putinisierung gesprochen. Es ist perfi de und konsequent zugleich, die Vorgnge offen als Aufbau ei-

    das Gespenst der Autokratie. So oder hnlich lieen sich die geflgelten Worte nach Marx und Engels aktuell fassen. Whrend man im Fall von Russland demokratische Standards fast schon abgeschrieben hat, schickt sich mit Un-garn ein Mitglied der Europischen Union an, diesem Weg zu folgen. Warum die europischen Nachbarn dabei nicht tatenlos zuschauen drfen. Ein Kommentar

    von Manuel Gath

    Manuel Gath ist Masterstudent an der NRW School of Governance. Erfahrung sammelte er u.a. im Bundestag, Europi-schen Parlament und Bundeswirtschaftsministerium. Er ist stellv. Landesvorsitzender der Jungen Europi-schen Fderalisten Hessen.

  • nes illiberalen Staates zum Schutz na-tionaler Interessen zu titulieren. Schon lnger bedient man sich in Budapest um-fassender Nationalismusrhetorik und versucht sich an der Heraufbeschw-rung eines alles akzeptierenden Wir-Ge-fhls. Eine neue nationale Revolution soll die Mehrheitsverhltnisse der Fidesz aus dem Parlament auf die Bevlkerung bertragen wahlunabhngige und au-erparlamentarische Machtsicherung mit Ansage.

    Laut dem niederlndischen Extremis-musforscher Cas Mudde ist im absoluten Mehrheitsverstndnis der Fidesz kein Platz fr die Kompromissorientierung la Brssel. Die liberale Grundausrich-tung Europas widerspricht den ganz ei-genen berzeugungen der ungarischen Regierung. Aus diesem Grund wchst nicht nur der Euroskeptizismus in Or-bns Partei, sie lst sich auch aktiv von den europischen Grundwerten. Aus hiesiger Sicht scheint es wenig verstnd-lich, warum sich das Land gute 20 Jahre nach der neugewonnenen Unabhn-gigkeit von den demokratischen Errun-genschaften Westeuropas entfernt. Von ungarischer Seite hrt man hingegen oft das Argument, die Kritik am eigenen Land sei im europischen Vergleich weit berzogen. Blicke man nach Serbien oder in die Slowakei, so lieen sich dort doch zum Beispiel viel weniger gesetzlich fi-xierte Minderheitenrechte ausmachen und selbst diese wrden in der Praxis re-gelmig missachtet.

    Fernab von Toleranz auf den Spuren Putins

    Soweit ist der Verweis zwar berechtigt, zielt aber am Kern des Problems vorbei.

    Dass Ungarn fr ein Transformations-land weiter sein mag als andere, fhrt doch gerade zu der Berechtigung, Rck-schritte in der rechtstaatlichen und de-mokratischen Entwicklung umso strker anzumahnen. Zu zeigen, dass Demokra-tisierungsprozesse in diesem Europa un-ter keinen Umstnden umkehrbar sind, sollte im ureigenen Interesse Europas als Kontinent und politischer Union liegen. Abgesehen davon sind ungarische Po-litiker in Brssel kein bloes Beiwerk, sie wirken in Parlament und Rat aktiv an der europischen Gesetzgebung mit und lassen somit zuknftige politische Blockaden befrchten. Dass die neue EU-Kommission die Digitale Agenda strken will, whrend Ungarn offen ber die Einfhrung einer Internetsteuer spe-kuliert, ist wohl nur ein erstes Beispiel fr die Nichtanerkennung europisch-politischer Realitten. Demonstrationen von zehntausenden sind die logische Antwort der Bevlkerung.

    Auch in Putins Russland gab es einst Massenaufstnde und Demonstrationen von bis zu hunderttausend Menschen. Die zugehrigen Bilder kommen einem vor wie aus lngst vergangenen Zeiten. Selbst Staatsbedienstete gehen heute jedoch davon aus, dass ein Groteil der 2011 und 2012 an den Protesten beteilig-ten Menschen Russland inzwischen ver-lassen hat. Gleichzeitig wird der Sicher-heits- und Militrsektor ausgebaut und entsprechend vor Ort gebunden Russ-land verschliet langsam aber sicher sei-ne Grenzen von innen. In den letzten Jahren haben auch immer mehr unga-rische Intellektuelle und Knstler das Land verlassen. Schlimmstenfalls sind das nur Vorboten einer von Angst und politischer Hysterie geschrten feindse-

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    ligen Stimmung gegenber Andersdenkenden, die irgendwann auch Oppositionelle vertreibt. Ein Kernelement europischer Freizgigkeit ist die Freiwilligkeit, die ers-terer vorausgeht. Die Schreckensliste von in Ungarn eklatant verletzter Grundrechte wird so fast unbemerkt lnger und lnger.

    Droht ein Schrecken ohne Ende?

    Und so knnte am Ende doch alles anders ausgehen: Was Orbn von der neuen EU-Kommission halten drfte, kann man sich denken schlielich war er einer der lautesten Gegner von Jean-Claude Juncker als Ratskandidat. Die angestreb-ten Vertragsverletzungsverfahren scheinen ihn und seine Partei nicht im Gerings-ten zu beeindrucken. Die vermeintliche Hrte der EU-Diplomatie wird also intern wie extern nach wie vor nicht ernst genommen. Wie sonst ist zu erklren, dass der NATO-Generalsekretr sich dazu veranlasst fhlt, den baltischen EU-Mitgliedern uneingeschrnkten Schutz des Atlantikpakts vor russischen bergriffen versichern zu mssen. Auf der Bhne der internationalen Machtpolitik kommt die Europische Union derzeit erschreckend schlecht zurecht. Ein gesellschaftspolitisches Zusteuern Ungarns auf Russland wird so jedenfalls nicht verhindert. Es ist wahrlich zum Frch-ten.

    Ein weiteres ungarisches Sprichwort lautet: Jobb a j szomszd sok rossz atyafinl. Ein guter Nachbar ist besser als viele bse Verwandte. Europa muss sich endlich ent-scheiden, ob es souverner Nachbar sein will oder weiterhin am Familientisch ge-hnselt wird. Ist Zweiteres der Fall, wre die Furcht vor Autokratie in Europa umso begrndeter - den Friedensnobelpreis knnte die EU dann getrost am Hauseingang abgeben.

  • Herr Dr. Bergmann, Politik und Emotionen passen nicht zusammen, da in der Politik immer die Ratio der Gefhligkeit vorgezogen wird. Kann man das so stehen lassen?

    Nein, das kann man nicht so stehen las-sen. Natrlich erscheint beim Blick auf die Politik diese immer als ein sehr ratio-nales Geschft, das von Rationalitt, von Strategie und Taktik bestimmt wird und in dem der Faktor Emotion immer nur dann eine Rolle spielt, wenn es um das Thema Wahlwerbung geht. Aber sogar dort ist die Emotion verrationalisiert, indem Fragen gestellt werden wie etwa: Wie emotionalisiere und wie mobilisie-re ich meine potenziellen Whler. Ich bin der Meinung, dass Emotionen in der Politik vor allem beim Thema Vertrauen eine wichtige Rolle spielen, etwa bei Ko-alitionsverhandlungen. Wenn man sich zum Beispiel dem Thema schwarz-grn nhert

    Wie zeichnet sich also Emotion - oder eben in Bezug auf die Koali-tionsbildung und insbesondere bei der Konstellation schwarz-grn - Vertrauen aus?

    Das Zustandekommen der ersten schwarz-grnen Koalition in Hamburg

    vertrauen(sverlust) emotionale bindungen in der politk

    2008 hatte auch etwas mit Emotio-nen zu tun. Den Verhandlungen war es durchaus zutrglich, dass Ole von Beust schlicht ber gutes Benehmen verfg-te nachdem die GAL in Hamburg zwei Jahrzehnte lang ausgesprochen schlecht behandelt worden war. Selbst einfache Gesten wie das Aufhalten einer Tr be-kamen Bedeutung. Es klingt trivial, aber es kann den Unterschied machen. Aus dieser Perspektive war es dann auch nicht berraschend, dass die Koalition schnell am Ende war, nachdem sich Ole von Beust von der politischen Bhne verabschiedet hatte. Oder denken Sie an die schwarz-grne Koalitionsbildung in Hessen. Die Protagonisten kannten sich lange und haben es offenkundig ge-schafft, ihre Ressentiments gegeneinan-der zu berwinden. Natrlich gibt es im-mer rationale Grnde und Analyse, die gegen eine solchen Zusammenschluss sprechen, aber der Faktor Vertrauen, ein Wir werden das schon hinbekommen, ist ein gewichtiger Faktor, der leider zu oft unter den Tisch fllt.

    Wir sprechen also vom Vertrauen von Politikern untereinander als eine treibende Kraft?

    Absolut. Hierzu gibt es historische Bei-spiele. So kann man das Vertrauen, das

    George Bush Sr. in Helmut Kohl im Prozess hin zur Wiedervereinigung Deutschlands hatte, nennen. So wusste das Weie Haus vorab von dem legen-dren 10-Punkte-Plan Kohls; der ameri-kanische Prsident und sein Team kann-ten aber nicht genau dessen Inhalt. Aber sie vertrauten Kohl. hnliche Vertrau-ensverhltnisse herrschten zwischen Helmut Schmidt und Valry Giscard dEstaing aber auch zwischen Francois Mitterand und wiederum Helmut Kohl.

    Wenn man nun vom Verhltnis zwischen Politikern weg auf das Verhltnis von Politiker und Whler blickt - Wie schafft Frau Merkel es, dass ihr die Whler in diesem besonderen Mae vertrauen? Sie uert sich ja zu vielen Themen nicht.

    Es ist eine Kombination aus Person, The-men und den Erfahrungen, die die Men-schen mit Frau Merkel gemacht haben. Ihr Pragmatismus, ihre Uneitelkeit und Unaufgeregtheit passen einfach gut in die Zeit.

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    die Fragen stellte Matthias Voigtlnder

    Wie sind beispielweise die Emotionen beim Engagement von Brgerinnen und Brgern gegen den Infrastruktur-ausbau im Zuge der Energiewende zu erklren? Ein emotionalisiertes Phnomen?

    Nicht nur, aber auch. Zunchst folgen solche Auseinandersetzungen dem klassischen David-gegen-Goliath-Prinzip. berdies ist Engagement Ausdruck eines Lebensgefhls. Gerade Protestbewegungen haben oft den Charme eines Happenings. Protest als soziale Bewegung erfllt die Kriterien, warum Menschen sich engagieren: Man dient einer in den eigenen Augen guten Sache, gestaltet das eigene Umfeld, bringt Kompetenzen ein und erlebt soziales Miteinander. Belohnt wird die Mhe mit dem motivie-renden Gefhl, selbstwirksam zu sein. Das ist der emotionale Teil. Der andere ist in vielen Fllen durchaus zweckrational. Wenn ich mir in Norddeutschland ein reetgedecktes Haus zugelegt habe, mchte ich keine Stromtrasse in der Nhe meines Gartens haben, weil es meine Lebensqualitt senkt. Not in my backyard-Verhalten hat nicht nur mit Emotionen zu tun.

    Wren die Proteste rund um Stuttgart 21 ein Beispiel, bei dem dies anders aussieht?

    Zweifelsohne waren die Prote