augustinus über emotionen und meta-emotionen · 2011. 3. 17. · 587 christoph jäger augustinus...

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Christoph Jäger Augustinus über Emotionen und Meta-Emotionen In: Im Drama des Lebens, hrsg. von Nikolaus Wandinger und Petra Steinmair-Pösel, Münster: Lit-Verlag, 2011, 587-606

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  • Christoph Jäger

    Augustinus über Emotionen

    und Meta-Emotionen

    In: Im Drama des Lebens,

    hrsg. von Nikolaus Wandinger

    und Petra Steinmair-Pösel,

    Münster: Lit-Verlag, 2011, 587-606

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    Christoph Jäger

    Augustinus über Emotionen und Meta-Emotionen

    1 Meta-Emotionen in den Confessiones Zu den Lieblingsautoren von Józef Niewiadomski gehört ein spätanti-ker Denker, dessen metaphysische Tiefe, Sinn für das Wesentliche, argumentative Kraft und rhetorische Brillanz ich ebenfalls sehr be-wundere. Die Rede ist von Augustinus, der mit seiner Gnadenlehre und seinen Überlegungen zur menschlichen Willensfreiheit die abend-ländische Geistes- und Kulturgeschichte auf das Nachhaltigste prägen sollte. Niewiadomski hat sich nicht nur (kritisch) mit der augustini-schen Gnadenlehre beschäftigt,1 sondern es fasziniert ihn – so der Titel eines Aufsatzes aus dem Jahre 2000 – auch „der Mensch Augus-tinus“2. Im Folgenden möchte ich ein Thema erörtern, das Augustinus als Menschen und als Philosophen charakterisiert und dessen Durch-leuchtung m.E. zu den zentralen Aufgaben einer jeden Theorie des Selbst gehört. Eine wichtige Inspiration zu den folgenden Überlegun-gen verdanke ich einer amerikanischen Popsängerin. Als ich vor eini-ger Zeit in einem Leihwagen den US-Bundesstaat Missouri durch-querte und, um nicht einzuschlafen, das Radio einschaltete, tönte mir ein Lied entgegen, dessen Refrain wie folgt lautete:

    “And I hate how much I love you, I can’t stand how much I need you; but I just can’t let you go, I hate that I love you so.”

    Ich hätte dieser Lyrik und dem auch musikalisch nicht allzu fesseln-den Song keine größere Bedeutung beigemessen, hätte ich nicht am Abend zuvor in den Confessiones des Augustinus gelesen. Was, wird mancher Leser skeptisch fragen, hat Augustinus mit einer amerikani-schen Popsängerin des 21. Jahrhunderts wie Rihanna – den Namen erfuhr ich bei einer umgehend gestarteten Google-Suche – gemein? Unsere Pop-Interpretin ringt, wenn auch rhetorisch auf etwas schlich-

    1 Niewiadomski (2005); s. auch ders. (1993) und (1991). Kritisch sieht Niewiadomski, dass Augustinus „bis ins tiefste der Gewalttradition“ verpflichtet gewesen sei und sein Erbe sich daher „merkwürdig zwiespältig“ ausnehme (1991, 574). Als Kernproblem benennt Niewiadomski (1986) hier ausführlicher den augustinischen Dualismus von durch göttliche Gnade Erwählten und durch göttlichen Zorn Verworfenen. 2 Niewiadomski (2000); vgl. auch ausführlicher Niewiadomski (2005).

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    tere Weise als der Kirchenvater, mit einem Phänomen, dem sich auch Augustinus an zahlreichen Stellen seiner Bekenntnisse widmet. In verschiedenen Passagen etwa der Bücher II, III, IV, VI und IX seines großen Werkes diskutiert auch Augustinus Emotionen, die man auf den ersten Blick als „zwiespältig“ oder „ambivalent“ bezeichnen mag.3 Bei genauerem Hinsehen, so lautet meine These, wird indes deutlich, dass es sich bei den betreffenden Phänomenen um Meta-Emotionen handelt: um Emotionen, die Personen gegenüber ihren eigenen Emotionen haben.

    Beginnen wir mit Augustinus’ Bericht von seiner Liebe zum Thea-ter. „Heftig ergriffen mich die Schauspiele“, so schreibt er über seine Zeit als junger Mann in Karthago und wundert sich, dass er damals den Schmerz liebte und ihm die vom Schauspieler dargestellten Müh-sale umso mehr gefielen, je mehr Tränen sie ihm entlockten.4 Woher kommt es, so verallgemeinert Augustinus seine Frage, „dass der Mensch Schmerz empfinden will, wenn er sich Trauriges und Tragi-sches ansieht?“5 Manchmal sei der Schmerz selbst ein Genuss; Tränen liebe man und Schmerzen – obwohl sich doch gewiss jeder Mensch freuen wolle.6

    Augustinus denkt hier über das sog. „Paradox der Tragödie“ nach, das schon bei Aristoteles (Poetik, Kap. 14) anklingt. Dem Zuschauer der Tragödie, so stellt bereits Aristoteles fest, bereiten Erfahrungen etwa von Mitleid (ejvleo") und Angst (fovbo") Vergnügen (hJdonhv). Doch Angst und Mitleid sind Affekte mit hedonisch negativer Va-lenz.7 Angst ist ein Affekt, den wir üblicherweise nicht genießen, und Mitleid bleibt, auch wenn es das Leiden anderer zum Gegenstand hat, eine Form von Leid. Wie können sich solche negativen Emotionen mit hedonisch positiven mischen?

    Oft wird in diesem Kontext darauf hingewiesen, dass Tragödien uns mit fiktionalen Situationen und Inhalten konfrontieren und wir als

    3 Die hier als „Emotionen“ bezeichneten Phänomene behandelt Augustinus (meist synonym) unter den Begriffen perturbationes (animi), passiones, affectus, affectiones, animi motus (CD, IX, Kap. 4-6) oder auch motus (animae) (CD XIV, Kap. 5f.). Mehr zu diesen Begriffen unten in Abschnitt 2. 4 „Rapiebant me spectacula theatrica.“ (CF III, 2, 2, 98) „Ego tunc miser dolere ama-bam et quaerebam, ut esset quod dolerem, quando mihi in aerumna aliena et falsa et saltatoria ea magis placebat actio histrionis meque alliciebat vehementius, qua mihi lacrimae excutiebantur.“ (CF III, 2, 4, 100, 102) 5 „Quid est, quod ibi homo vult dolere cum spectat lactuosa et tragica?“ (CF III, 2, 2, 98). 6 „Dolor ipse est voluptas. ... Lacrimae amantur et dolores. Certe omnis homo gaudere vult.“ Augustinus (ibid.). 7 Dies legt Aristoteles in der Rhetorik, II, 5, ausführlich dar.

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    Zuschauer dies auch wissen. Das allerdings erklärt für sich genommen nicht, warum die Darstellung von Leid in solchen Fällen positive Af-fekte auslösen kann. Auch wertschätzen wir Tragödien oft dann be-sonders, wenn sie uns gerade nicht mit allzu realitätsfernen Situatio-nen konfrontieren, sondern „Wahrheiten des Lebens“ (in ästhetisch gelungener Weise) präsentieren. Andere Antworten versuchen, Gefüh-le, die in fiktionalen Kontexten erlebt werden, als bloße „Quasi-Emotionen“ zu deuten.8 Vielleicht antizipiert Augustinus eine solche Theorie, wenn er in der oben zitierten Passage zu dem Schluss kommt, dass seine einstige „Liebe des Schmerzlichen“ keine Schmerzen betraf, die ihn „tiefer zu durchdringen“ vermochten, sondern allenfalls Ge-fühle, die ihn „oberflächlich kratzen“ sollten.9 Wir brauchen dieses Thema indessen hier nicht zu vertiefen, denn Augustinus beschreibt ähnliche Phänomene auch außerhalb fiktionaler Kontexte: Bereits in den eben besprochenen Passagen über Emotionen im Theater resü-miert er allgemein, dass es „bisweilen Liebe zu Schmerzen“ gebe.10 Sodann gibt es viele Stellen, an denen er von ähnlichen psychischen Zuständen im wahren Leben erzählt. Als Augustinus einst im Alter von neunzehn Jahren seinen besten Freund verlor, so erinnert er sich, war ihm „einzig das Weinen süß“ und dieses Weinen sei dem Freund (an dessen statt) als eine „Wonne der Seele“ gefolgt.11 Er habe damals „Ruhe in der Bitterkeit“ gefunden.12

    Rihanna befasst sich in ihrem Popsong mit positiven Emotionen, die von negativen kontaminiert werden. Augustinus betrachtet an den bisher erwähnten Stellen negative Emotionen, die sich mit positiven mischen. Doch beide Fälle gehören zum selben generischen Phäno-men. Bei jenen gemischten Gefühlen handelt es sich genauer besehen

    8 Kendall Walton etwa hat in einem vieldiskutierten Buch eine So-tun-als-ob-Theorie (make-believe theory) des Affekterlebens in fiktionalen Kontexten vorgeschlagen, derzufolge wir in fiktionalen Kontexten keine echten, sondern lediglich „Quasi-“ Emotionen erleben (Walton 1990). 9 „Inde erant dolorum amores, non quibus altius penetrarer ... sed quibus auditis et fictis tamquam in superficie raderer.“ (CF III, 2, 4, 102) 10 „Amentur dolores aliquando.“ (CF III, 2, 3, 100). 11 „Solus fletus erat dulcis mihi et successerat amico meo in deliciis animi mei.“ (CF IV, 4, 9, 152) 12 „Requiescebam in amaritudine“ (CF IV, 6, 11, 154). Ähnliche Zustände schreibt Augustinus auch Ambrosius, dem Bischof von Mailand, zu (von dem sich Augustinus im Jahre 387 taufen ließ): „Trost fand er im Unglück“ (haberet ... solaminis in adversis) (CF VI, 3, 3, 248). In seinem Traktat De passionibus animae verteidigt auch Thomas von Aquin die These, dass Traurigkeit – auch außerhalb fiktionaler Kontexte – bisweilen erfreulich sein kann. „Tränen, die aus Traurigkeit vergossen werden, können ergötzlich sein.“ („Lacrymae, quae ex tristitia oriuntur, possunt delectabiles.“ ST I-II, qu. 32, art. 4., s.c.).

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    um Emotionen, deren Gegenstände andere Emotionen (desselben Subjekts) sind: Im einen Fall geht es um eine negative Emotion, die sich auf einen positiven affektiven Zustand des Subjekts richtet („I hate that I love you“); im anderen Fall liegen positive Emotionen vor, die sich auf negative Emotionen desselben Subjekts beziehen („dolere amabam“, „dolor es voluptas“, „lacrimae amantur“, „fletus erat dulcis mihi“). Ich nenne Emotionen, die sich in dieser Weise auf Emotionen mit entgegengesetzter hedonischer Wertigkeit richten, Meta-Emotio-nen mit (hinsichtlich der Primäremotion vorliegender) diskrepanter Valenz. Gibt es auch Meta-Emotionen mit kongruenter Valenz, d.h. solche, in denen sowohl die höherstufige Emotion als auch die Pri-märemotion positiv ist oder beide negativ sind?

    Augustinus diskutiert auch solche Fälle. In der berühmten Passage vom Birnendiebstahl beispielsweise erzählt er, wie er einst als Jugend-licher mit Freunden Birnen gestohlen hatte, obwohl er keinerlei Inte-resse hatte, sie zu essen (und es sich daher noch nicht einmal um Mundraub gehandelt hatte). Warum tat er dies? Es waren seine Scham über die eigene Scham hinsichtlich derartiger Streiche, so vermutet Augustinus, und der Versuch, solche Schamgefühle zu überwinden, die ihn zu seinem Tun getrieben hätten. Manchmal schäme man sich, nicht schamlos zu sein.13 Eine andere einschlägige Stelle ist jene, an der er vom Tod seiner Mutter und dem großen Schmerz erzählt, der ihn ob dieses Ereignisses überwältigte. Es ärgerte ihn, so führt er aus, dass ihn dieser Schmerz so heftig ergreifen konnte. Außerdem habe ihn sein großer Schmerz zu einem anderen Schmerz geschmerzt, so dass er sich in doppeltem Kummer gequält habe.14

    In diesen Fällen geht es um negative Emotionen, die sich auf nega-tive Emotionen (derselben Art) richten. An anderen Stellen berichtet Augustinus aber auch über positive Emotionen, die sich auf (typ)iden-tische positive Emotionen beziehen: „Ich liebte die Liebe“, so heißt es etwa in Buch III der Confessiones.15 Insgesamt zeichnet sich ab, dass Meta-Emotionen sowohl in Negativ-positiv-Paarungen und umgekehrt als auch in Form von Negativ-negativ- und Positiv-positiv-Kombina- 13 „Pudet non esse impudentem“ (CF II, 10, 9, 92); vgl. auch ibid., 3, 7, 74. 14 „Alio dolore dolebam dolorem meum et duplici tristitia macerabar.“ (CF IX, 12, 31, 474) 15 „Amare amabam“ (CF III, 1, 1, 96). Ein verallgemeinernder Hinweis auf eine solche Meta-Emotion findet sich auch, vermutlich stark durch Augustinus beeinflusst, bei Thomas von Aquin: Der Mensch, so stellt Thomas fest, könne sich, so wie er die Liebe lieben und sich über den Schmerz betrüben könne, auch vor der Furcht fürchten. („Homo potest amare amorem, et dolere de dolore. Ergo etiam pari ratione potest timere timorem“ ST, I-II, q. 42, art. 4, s.c., und corpus. Der Satz taucht unter sed contra auf, wird aber von Thomas im Korpus des Artikels verteidigt.).

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    tionen vorkommen. Dabei richtet sich in den zuletzt genannten Bei-spielen eine Emotion auf „ihresgleichen“: Scham richtet sich auf Scham, Liebe auf Liebe, usw. Doch Meta-Emotionen mit kongruenter Wertigkeit sind nicht auf Fälle mit (typ)identischen Emotionen auf der Primär- und der Meta-Ebene beschränkt. Wir kennen auch Phänomene wie Ärger über Scham, Reue über Wutausbrüche, Freude an Zufrie-denheit u.ä.: Richard betritt die Boeing 747 und will seinen Transat-lantikflug antreten, doch wieder einmal packt ihn Flugangst. Als er zudem sein Handgepäck nicht mehr unterbringen kann und eine Flug-begleiterin ihm vorschlägt, woanders Platz zu nehmen, steigt Zorn in ihm auf, und er wird ungehalten. Noch während diese Emotionen in ihm wüten, beginnt Richard, sich über seine Angst zu ärgern und sich für seinen Zorn zu schämen. – Martina, eine ehrgeizige Wissenschaft-lerin, war bis dato meist unzufrieden mit ihren Leistungen. Eines Ta-ges merkt sie, dass sie an ihren hohen Ansprüchen zu zerbrechen droht; sie arbeitet an dem Problem und hat Erfolg: Mitte des Jahres reicht sie eine größere Arbeit bei einer internationalen Fachzeitschrift ein und ist mit ihrer Leistung zufrieden. Martina freut sich, doch nicht nur über die fertiggestellte Arbeit. Sie freut sich auch darüber, dass sie nunmehr Gefühle der Zufriedenheit genießen kann. Solche Geschich-ten sind an der Tagesordnung, und Augustinus, so dürfen wir mutma-ßen, würde auch solche Meta-Emotionen anerkennen.

    Im Folgenden werde ich die von Augustinus in den Bekenntnissen angedeuteten Überlegungen über meta-emotionale Zustände rekon-struieren und von seiner allgemeinen Emotionstheorie aus beleuchten, wie er sie in den Büchern IX und XIV von De civitate Dei entwickelt. Meine Überlegungen sind in erster Linie rekonstruktiv: Es geht darum, (i) darauf hinzuweisen, dass Augustinus implizit den Begriff der Me-ta-Emotion entdeckt hat, und (ii) darzustellen, wie sich dieser Begriff aus der Sicht der in De civitate Dei entwickelten Emotionstheorie genauer erschließt. In Abschnitt 2 diskutiere ich Augustinus’ vor al-lem in Auseinandersetzung mit der Stoa entwickelte allgemeine „Re-habilitation der Affekte“. In Abschnitt 3 folgt eine Darstellung seiner theologisch inspirierten Umdeutung und Neubewertung der vier stoi-schen Hauptemotionen cupiditas (oder libido), timor (oder metus), laetitia (oder voluptas) und tristitia (oder agritudo). In Abschnitt 4 wende ich die Ergebnisse der vorangegangenen Rekonstruktionen auf Augustinus’ Überlegungen über Meta-Emotionen in den Confessiones an, um dann mit einer kurzen Zusammenfassung zu schließen (Ab-schnitt 5). Bevor ich auf Augustinus’ Behandlung der stoischen Affek-

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    tenlehre eingehe, seien zunächst die wichtigsten Merkmale von Meta-Emotionen nochmals kurz zusammengefasst.16

    (i) Intentionalität: Meta-Emotionen sind Emotionen, die sich inten-tional auf andere Emotionen richten. Der Begriff „intentional“ ist dabei im Sinne der Brentano-Husserl-Tradition so zu verstehen, dass ein psychischer Zustand oder Vorgang genau dann intentional ist, wenn er von etwas handelt, „Richtung auf ein Objekt“ oder „Bezie-hung auf einen Inhalt“ hat. 17 Emotionen können auch in kausalen Relationen zueinander stehen. Traurigkeit etwa kann Ärger verursa-chen, Schadenfreude kann Scham hervorrufen, usw. Solche Beziehun-gen sind jedoch keine meta-emotionalen im hier gemeinten Sinne. Nur wenn beispielsweise ein Kummer zum intentionalen Gegenstand eines Ärgers wird, d.h. wenn eine Person sich darüber ärgert, dass sie trau-rig ist, liegt eine Meta-Emotion vor. Der intentionale emotionale Ge-genstand einer Meta-Emotion kann, muss aber nicht mit ihrem kausa-len Auslöser identisch sein.

    (ii) Intrasubjektivität: Meta-Emotionen sind ferner ausschließlich Emotionen, deren Gegenstände andere affektive Zustände und Vor-gänge desselben Subjekts sind. Emotionen können sich auch auf Emo-tionen anderer richten: Fremde Freude kann freudig, fremder Schmerz kann traurig stimmen (und umgekehrt). Ferner können sich Emotionen auch intentional und intrapersonal auf nicht-emotionale psychische Zustände beziehen: Man kann Furcht vor seinen Erinnerungen haben, sich über seine Wünsche ärgern, usw. In solchen Fällen handelt es sich ebenfalls nicht um Meta-Emotionen im hier zu diskutierenden Sinne.18 16 Vgl. zum Folgenden ausführlicher Jäger / Bartsch (2009). 17 Vgl. Brentano (1955), Buch 2, Kapitel 1, Abschnitt 5, 366. Gewisse Emotionen sind für Brentano paradigmatische intentionale Zustände: Wie in der Wahrnehmung etwas wahrgenommen werde, so werde „in der Liebe etwas geliebt, im Hasse etwas gehaßt, im Begehren etwas begehrt, usw.“ 18 Dieser Hinweis erscheint u.a. deshalb wichtig, weil bisweilen auch in anderem Sinne von höherstufigen Affekten die Rede ist. So meint Brachtendorf (1997, 301) zwar, dass Augustinus u. a. über „Passionen zweiter Stufe“ nachdenke („Augustine’s examples show that he tries to justify second-order passions.“ Vgl. auch ibid., 304f.) Doch Brachtendorfs Begründung lautet (ibid., 301): „All the [second-order ? C.J.] passions Augustine presents are reactions to sin, i.e. reactions to the victory of first-order pas-sions.“ Unabhängig davon, wie man den ersten Teil dieser Behauptung bewerten mag, müssen „Reaktionen auf Sünde“ jedoch keine intentionalen Relationen sein, und selbst in den Fällen, in denen es sich um intentionale Beziehungen handelt, bleibt unklar, ob der primäre intentionale Gegenstand die die Sünde hervorrufende Emotion ist oder die Sünde. Brachtendorf schreibt auch: „Fear of eternal punishment is a useful second-order passion“ (305). Doch „ewige Strafe“ ist keine Passion oder Emotion. Brachtendorfs Begriff der „second-order passion“ ist daher nicht koextensiv mit Meta-Emotionen in dem von mir betrachteten Sinne.

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    (iii) Negative Fälle: Manchmal haben wir auch Emotionen darüber, dass wir gewisse Emotionen nicht oder nicht mehr haben. So freuen wir uns beispielsweise oder schämen uns, fürchten uns davor usw., bestimmte Angst- oder Schuldgefühle nicht oder nicht mehr zu emp-finden. „Negative“ Fälle kommen auch auf der Meta-Ebene vor: Wir können uns nicht darüber freuen, ärgern usw., bestimmte Emotionen zu erleben oder auch nicht zu erleben. Ein interessantes Beispiel hier-für (das Augustinus in etwas anderem Zusammenhang in Buch IX von De civitate Dei diskutiert) findet sich im 2. Brief an die Korinther (2 Kor 7,8-11). Seine Ermahnungen, so schreibt Paulus, hätten die Korinther vermutlich betrübt; doch diese Betrübnis habe ihn allenfalls vorübergehend gereut. Nun freue er sich – jedoch nicht darüber, dass die Korinther betrübt seien, sondern darüber, dass sie zur Reue betrübt seien. Ihre gottgemäße Traurigkeit bewirke eine Reue auf das Heil hin, die nicht zu bereuen sei. In dieser Überlegung steckt die Annahme, dass es Formen von Reue gibt, die das Subjekt bereuen kann und soll-te, sowie auch Arten von Reue, die nicht bereut werden sollten.

    (iv) Unendliche Hierarchien? Augustinus meint offenbar nicht, dass jeder affektive Zustand eine Meta-Emotion hervorruft. Seine Überlegungen laufen daher nicht etwa auf die problematische Annah-me einer unendlichen Hierarchie von Emotionen hinaus. Gleichwohl würde er vermutlich nicht ausschließen, dass Meta-Emotionen auch auf dritter und höherer Stufe vorkommen. (So mag man sich schuldig fühlen (3. Stufe) für den Spaß (2. Stufe), den man am Nervenkitzel (1. Stufe) eines Stierkampfs empfindet.) Auf wie vielen Stufen Meta-Emotionen bei Personen vorkommen können, ist freilich eine Frage, die sich mit rein philosophischen Mitteln nicht beantworten lässt und die ich hier auf sich beruhen lassen werde.

    (v) Keine Universalität: Schließlich sei darauf hingewiesen, dass nicht behauptet werden soll, alle Emotionen, welchen Typs auch im-mer, könnten als Meta-Emotionen vorkommen. Neid beispielsweise dürfte ein schlechter Kandidat zumindest für synchrone selbstbezügli-che Emotionen sein. Womöglich kann man Emotionen nachtrauern, deren man früher einmal fähig war, und sich selbst um diese einstigen Emotionen beneiden.19 Doch der Begriff des Neides lässt es nicht zu, sich selbst um Emotionen zu beneiden, die man gegenwärtig hat. Die-se Punkte berücksichtigend, halten wir zusammenfassend fest: Meta-Emotionen sind intentionale affektive Zustände oder Vorgänge, die ein Subjekt in einem bestimmten Zeitraum oder zu einem bestimmten

    19 Vgl. hierzu etwa Augustinus (CF) X, 12, 30, 538: „Traurig gedenke ich ehemaliger Freude“ (tristis gaudium pristinum recolo).

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    Zeitpunkt hinsichtlich affektiver Zustände oder Vorgänge hat, in de-nen es sich – im selben oder einem anderen Zeitraum oder Zeitpunkt – befindet.

    2 Augustinus’ Rehabilitation der Affekte Augustinus entwickelt in den Confessiones keine systematische Theo-rie der Affekte. Eine solche findet sich jedoch in Buch IX und XIV von De civitate Dei (Kap. 3-6 bzw. 5-10), wo er, stark beeinflusst von Ciceros Darstellungen in dessen Disputationes in Tusculum (Buch IV), stoische und peripatetische Ansätze kritisch rekonstruiert und umdeutet bzw. weiterentwickelt. In Buch XIV von De civitate Dei, Kap. 4, skizziert Augustinus zunächst die Kernideen beider Schulen in ihrer traditionellen antiken Gegenüberstellung:

    „Zwei Ansichten sind es, die von den Philosophen über jene Bewegungen der Seele vertreten werden, welche die Griechen pavqh nennen, bei uns aber die einen, wie Cicero, Aufwühlungen, die anderen Affektionen oder Affekte und wieder andere ... nach dem griechischen Ausdruck Passionen. Einige Philosophen nun sagen, dass jene Aufwühlungen oder Affektionen oder Passionen auch den Weisen befallen, jedoch gemäßigt und der Ver-nunft unterworfen, so dass ihnen die Herrschaft des Geistes gewisserma-ßen Gesetze auferlegt, durch welche sie auf ein notwendiges Maß einge-schränkt werden. Die das meinen, sind die Platoniker oder Aristoteliker, denn Aristoteles, der die peripatetische Schule gründete, war ein Schüler Platons. Anderen aber, wie den Stoikern, gefällt es nicht, dass solche Pas-sionen den Weisen überhaupt in irgendeiner Weise befallen sollen.“20

    Augustinus’ These von einer gemeinsamen platonisch-akademisch und peripatetischen Tradition in der Theorie der Affekte ist ein etwas zweifelhaftes philosophiehistorisches Konstrukt, doch dieser Punkt mag hier auf sich beruhen bleiben. Entscheidend für den vorliegenden Kontext ist, dass Augustinus argumentiert, „zwischen der Meinung der Stoiker und der anderen Philosophen über die Passionen und See-lenverwirrungen“ bestehe „kein oder fast kein Unterschied“21; denn

    20 „Duae sunt sententiae philosophorum de his animi motibus, quae Graeci pavqh, nostri autem quidam, sicut Cicero ..., perturbationes, quidam affectiones vel affectus, quidam vero ... de Graeco expressius, passiones vocant. Has ergo pertubationes, sive affec-tiones, sive passiones quidam philosophi dicunt etiam in sapientem cadere, sed mode-ratas rationique subiectas, ut eis leges quodammodo, quibus ad necessarium redigantur modum, dominatio mentis imponat. Hoc qui sentiunt, Platonici sunt sive Aristotelici, cum Aristoteles discipulus Platonis fuerit, qui sectam Peripateticam condidit. Aliis autem, sicut Stoicis, cadere ullas omnino huiuscemodi passiones in sapientiem non placet.“ (CD IX, 4, 1, 258). Alle Übersetzungen aus CD und HT sind vom Autor. 21 „Quae si ita sunt, aut nihil, aut pene nihil distat inter Stoicorum aliorumque philo-

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    auf beiden Seiten gehe man davon aus, dass der Geist und die Ver-nunft des Weisen nicht der Herrschaft der Affekte unterliege. Zur Untermauerung dieser These beruft sich Augustinus auf eine Anekdo-te aus Aulus Gellius’ Attischen Nächten22, die Augustinus wie folgt nacherzählt.

    Ein Schiff, unter dessen Passagieren ein stoischer Philosoph ist, gerät in Seenot. Als auch der Philosoph erbleicht, fragen ihn einige der Mitreisenden, wie er sich seine Furcht erkläre. Der Weise zieht ein Buch von Epiktet hervor und zitiert daraus die Ansicht der Stoiker, dass die Seele keine Macht darüber habe, ob und wann sie von Phan-tasiebildern heimgesucht werde. Furchterregende Bilder, das bestreite auch der Stoiker nicht, könnten daher durchaus auch den Weisen be-wegen und ihn erblassen lassen. Jedoch gingen solche Gemütserre-gungen der Aktivität des Geistes und der Vernunft voraus, und der Geist bilde sich keineswegs (fälschlicherweise) ein, es drohe Übel. Er billige jene Affekte nicht und halte – im Gegensatz zum Toren, der sich von ihnen leiten lasse – an seinen wahren und unumstößlichen Urteilen fest. Diese Geschichte zeigt laut Augustinus, dass nach stoi-scher Ansicht der Geist des Weisen den perturbationes, „auch wenn sie die untergeordneten Seelenteile befallen, nicht erlaubt, in ihm ge-gen die Vernunft die Oberhand zu gewinnen“23. Zugleich sei klar, dass auch die Stoiker keineswegs bestritten, dass perturbationes auch in der Seele des Weisen vorkämen. Folglich behaupteten die Stoiker vielleicht nur in dem Sinne, dass der Weise nicht von perturbationes und passiones befallen werde, dass diese seine Weisheit nicht durch Irrtum verfinsterten oder durch einen Fehltritt verdürben.

    Augustinus referiert diese Anekdote nicht nur in De civitate Dei, sondern auch in seiner Schrift Quaestiones in Heptateuchum. Ein Vergleich der beiden Darstellungen untereinander sowie mit den Ori-ginalformulierungen bei Gellius macht deutlich, worauf Augustinus hinauswill. Hierauf hat neuerlich Johannes Brachtendorf in erhellen-der Weise hingewiesen.24 Zunächst heißt es bei Gellius an keiner Stel-le, dass auch der Weise von passiones (oder perturbationes, affectus, affectiones) heimgesucht werde. Vielmehr sagt Gellius lediglich, Epiktet schreibe, dass auch das Gemüt des Weisen, wenn ein schreck-

    sophorum opinionem de passionibus et perturbationes animorum“ (CD IX, 4, 3, 259f.). 22 Vgl. Gellius (1952), 349-355. 23 „Ita mens ... nullas perturbationes, etiamsi accidant inferioribus animi partibus, in se contra rationem praevalere permittit“ (CD IX, 4, 3, 260). 24 Vgl. Brachtendorf (1997), 297-299. Für eine hilfreiche allgemeine Rekonstruktion der augustinischen Affektentheorie (die allerdings dieses Thema ausblendet) s. auch Brachtendorf (2008), Colish (1990), 207-225 und Newmark (2008).

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    liches Geräusch auftauche, notwendig kurz bewegt und zusammenge-zogen werde und erblasse. 25 Augustinus dagegen schreibt in De civitate Dei, die Seele jenes Weisen sei ein Weilchen von Furcht be-wegt oder von Kummer zusammengezogen worden, wobei diese Pas-sionen der Betätigung des Geistes und der Vernunft vorausgegangen seien.26 Gellius’ Formulierungen lassen sich so deuten, dass er die stoische Lehre – korrekterweise – dahingehend rekonstruiert, dass entsprechende Gemütserregungen seitens des stoischen Weisen, auch wenn sie ihn erblassen lassen, keine passiones sind. Denn, so Gellius, die sie auslösenden Phantasien oder Visionen weise der Philosoph zurück; er verachte sie und stimme ihnen nicht zu. Augustinus hinge-gen bezeichnet jene Vorgänge als Anfälle von Furcht und Kummer und klassifiziert sie explizit als passiones.27 Dass dies nichts mit man-gelnder Sensibilität für die begrifflichen Nuancen in Gellius’ Darstel-lung zu tun hat, legt sich auch nahe, wenn man Augustinus’ Nacher-zählung in den Quaestiones in Heptateuchum betrachtet.28 Auch dort fragt er, ob den Weisen perturbationes ergreifen könnten. Wieder erzählt er Gellius’ Anekdote vom stoischen Philosophen, der in Seenot gerät, doch nun interpretiert er die in der Geschichte veranschaulichte stoische Lehre so, dass des Weisen Herz zwar durchaus bewegt, aber nicht von perturbationes befallen werden könne; denn diese seien definiert als ein Nachgeben der Vernunft gegenüber solchen Regun-gen.29 Dies ist zweifellos die adäquatere Rekonstruktion des stoischen Ansatzes, ganz wie er in Gellius’ Geschichte veranschaulicht werden

    25 „Cum sonus aliquis formidabilis ... est ... factum, sapientis quoque animum paulisper moveri et contrahi et pallescere necessum est“ (Gellius, 1952, 352). 26 „...necesse est etiam sapientis animum moveant; ita ut paulisper vel pavescat metu, vel tristitia contrahatur, tamquam his passionibus praevenientibus mentis et rationis officium.“ (Augustinus, CD IX, 4, 2, 259) 27 Ich glaube, dass in der Tat viel für diese Interpretation spricht. Allerdings ist der Punkt weniger eindeutig als Brachtendorf (1997) ihn darstellt. Denn Gellius spricht auch davon, dass man den stoischen Philosophen auf dem Schiff als pavidus wahrnahm (atque ibi hominem conspicimus pavidum; NA, 349f.); er lässt jenen Philosophen von sich sagen, er sei ein wenig pavefactus gewesen (350), und führt aus, dass dieser gefragt worden sei, was der Grund seines pavor gewesen sei (ibid.) bzw. warum er sich gefürchtet (timuisti) habe: „Quid hoc ... est, o philosophe, quod, cum in periculis essemus, timuisti et palluisti?“ (ibid.). Die Ausdrücke pavidus und pavefactus aber bedeuten u.a. „furchtsam“ und „geänstigt“, und auch pavor kann entsprechend mit „Furcht“ übersetzt werden. Freilich lassen sich diese Ausdrücke auch mit „zitternd“, „zum Zittern gebracht“ bzw. „Zittern“ übersetzen. Ferner kommt der Begriff timere bei Gellius ausschließlich in einer Frage vor, die der stoische Philosoph immerhin als verfehlt zurückweist. In dieser Weise verstanden, entspricht Gellius’ Darstellung der vorgeschlagenen Deutung. 28 Augustinus (HT), I, Abschnit XXX, 556. 29 „Ratio talibus motibus cedere“ (Augustinus, ibid.).

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    soll.30 Und dass Augustinus in den Quaestiones eine solche Deutung der Gellius-Anekdote vorlegt, zeigt, dass ihm die stoische Differenzie-rung zwischen perturbationes (bzw. dem, was Seneca affectus nennt; vgl. Anm. 30) im Sinne ausgewachsener Emotionen und bloßen „Be-wegungen der Seele“ geläufig war und er sie somit vermutlich bei seiner Diskussion der Seenot-Geschichte in De civitate Dei bewusst übergeht. Warum? Weil diese Unterscheidung seine dort aufgestellte Behauptung bedroht hätte, dass auch der stoische Weise sehr wohl von Emotionen – perturbationes (passiones, affectus oder affectiones) – heimgesucht wird. Eine Differenzierung zwischen von der Vernunft als angemessen anerkannten perturbationes bzw. affectus und rational nicht weiter verarbeiteten „bloßen Gemütsbewegungen“ könnte einen Kritiker zu dem Einwand einladen, dass der Weise der stoischen Leh-re zufolge eben doch für die entscheidende Art von Emotion un-anfällig ist.

    Die Quintessenz aus all dem lautet, dass Augustinus zunächst so eindeutig wie möglich gegen die hergebrachten Thesen der Stoa beto-nen will, dass Emotionen unausrottbarer Bestandteil der menschlichen Psyche sind und das Ideal eines Lebens in ajpavqeia ein verfehltes, weil unerreichbares Ziel ist. Zur Stützung zitiert er auch Paulus, der Menschen, die ohne Passion seien, getadelt habe. Auch der heilige Psalm habe solche Leute beschuldigt und von ihnen gesagt: „Ich war-tete, ob jemand mit mir trauerte, aber da war niemand.“31 Ähnlich dächten im Übrigen auch „weltliche Schriftsteller“: Überhaupt keinen Schmerz zu empfinden, so habe einer geschrieben, sei nicht ohne einen hohen Preis zu erreichen, zumindest solange wir an diesem (ir-

    30 In ihr hallt, wenn auch in etwas anderer Begrifflichkeit, zum Beispiel Seneca wider, der an einer einschlägigen Stelle in De ira (Buch II) ähnlich wie Gellius ausführt, dass auch der tapferste Mann bisweilen erblasse; dem unerschrockensten Soldaten beim Zeichen der Schlacht ein wenig die Knie zitterten; dem großen Feldherrn das Herz schlage, bevor die Reihen der Soldaten aufeinanderprallten; und auch dem eloquentesten Redner die Hände kalt würden, wenn er sich zum Sprechen vorbereite. Gleichwohl, so betont Seneca, dürfe nichts von dem, was die Seele in dieser Weise zufällig anstoße, affectus genannt werden. Denn affectus bedeute nicht, sich zu erregen, wenn sich Vorstellungen von Dingen bieten, sondern sich diesen Vorstellungen hinzugeben und jener zufälligen Erregung zu folgen. („Nihil ex his quae animum fortuito impellunt affectus vocari debet: ista, ut ita dicam, patitur magis animus quam facit. Ergo affectus est non ad oblatas rerum species moveri, sed permittere se illis et hunc fortuitum motum prosequi”, Seneca, De ira, Buch II, Kap. 3, 3, 152). Was Seneca hier affectus nennt, entspricht offensichtlich dem, was Augustinus in den Quaestiones in Heptateuchum als perturbationes bezeichnet. 31 „Vituperabat enim et detestabatur Apostolus quosdam, quos etiam esse dixit sine af-fectione ... Culpavit etiam illos sacer Psalmus, de quibus ait: Sustinui qui simul con-tristaretur, et non fuit.“ (Augustinus CD XIV, 9, 4, 415)

  • 598 Christoph Jäger

    dischen) Ort des Elends verweilten: Ein solcher Zustand sei nur um den Preis von Rohheit in der Seele und Erstarrung des Leibes zu ha-ben.32 Augustinus resümiert:

    „Wenn einige mit einer Eitelkeit, die umso ungeheuerlicher ist, je seltener sie ist, in sich lieben, dass sie von Affekten weder erregt noch ermuntert werden noch gebeugt werden noch ins Wanken geraten, so haben sie mehr ihre ganze Menschlichkeit verloren als wahre Ruhe erreicht. Denn nicht weil etwas hart ist, ist es recht, und nicht weil es stumpf ist, ist es ge-sund.“33

    Augustinus betont in diesem Zusammenhang, dass die stoische ajpavqeia, verstanden als etwas, das man lateinisch mit „Leidensunfä-higkeit“ (impassibilitas) übersetzen könne und das soviel wie Freiheit von vernunftwidrigen Affekten bedeute, durchaus wünschenswert und etwas Gutes sei; allein, in diesem Leben gebe es sie nicht. Erst im seligen und ewigen Leben werde es keine Furcht und keinen Schmerz, hingegen wahre und sichere Liebe und Freude geben.34

    3 Gute und schlechte Gefühle In Buch XIV von De civitate Dei ergänzt Augustinus diese These im Rahmen einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit der stoischen Affektenlehre und gibt seiner Rehabilitation der Affekte eine explizit theologische Wendung. Im Anschluss an Cicero betrachtet er zunächst die vier in der Stoa als Hauptemotionen ausgezeichneten perturbatio-nes oder passiones: (i) Begierde – cupiditas (oder, wie bei Cicero, li-bido); (ii) Furcht – timor (oder, wie bei Cicero, metus); (iii) Lust – laetitia (bei Cicero voluptas); und (iv) Kummer – tristitia (bei Cicero agritudo).35 Augustinus’ Kernziel besteht darin, gegen die Stoiker zu zeigen, dass diese perturbationes keineswegs nur schlecht, sondern auch gut sein können, und zwar je nachdem ob sie einem gottgemä-ßen, guten Willen und echter Gottesliebe (amor Dei) oder aber einem schlechten Willen und egozentrierter Selbstliebe (amor sui) entsprin- 32 „Nam omnino non dolere, dum sumus in hoc loco miseriae, profecto, sicut quidam etiam apud saeculi huius litteratos sensit et dixit, non sine magna mercede contingit in-manitatis in animo, stuporis in corpore.“ (Ibid.) 33 „Et si nonnulli tanto inmaniore, quanto rariore vanitate hoc in se ipsis adamaverint, ut nullo prorsus erigantur et excitentur, nullo flectantur atque inclinentur affectu; hu-manitatem totam potius amittunt, quam veram adsequantur tranquillitatem. Non enim quia durum aliquid, ideo rectum; aut quia stupidum est, ideo sanum.“ (CD XIV, 9, 6, 417) 34 Vgl. CD XIV, 9, 6, 415 und 416: „Beata vero eademque aeterna amorem habebit et gaudium non solum rectum, verum etiam certum, timorem autem ac dolorem nullum.“ 35 Vgl. Cicero (Disp), IV, 11, 254.

  • Augustinus über Emotionen und Meta-Emotionen 599

    gen. Im vorliegenden Abschnitt skizziere ich Augustinus’ Argumenta-tion für diesen Ansatz, um dann im letzten Abschnitt von der soweit rekonstruierten allgemeinen augustinischen Affektenlehre aus noch-mals die in den Bekenntnissen angesprochenen Meta-Emotionen zu beleuchten.

    In Buch XIV, Kap. 5, von De civitate Dei weist Augustinus zu-nächst die Idee zurück, die Störungen der Seele durch perturbationes seien allein dem Körper anzulasten. Nicht durch das Fleisch werde die Seele so affiziert, dass sie begehre, fürchte, sich freue und traurig sei; vielmehr könne sie diese Bewegungen auch aus sich selbst heraus erregen.36 Sodann plädiert Augustinus für eine voluntaristische Theo-rie der Affekte, in welcher die in der Stoa und, mit anderen Motiven, auch in peripatetischen Ansätzen zentrale Trennung von Affekt und Wille aufgehoben wird: cupiditas, laetitia, timor/metus und tristitia seien nichts anderes als Äußerungen von voluntas. „Was“, so fragt Augustinus rhetorisch, „ist Begierde und Lust, wenn nicht Wille, der dem zustimmt, was wir wollen?“

    „Und was sind Furcht und Kummer, wenn nicht Wille, der ablehnt, was wir nicht wollen? Wenn wir begehrend dem zustimmen, was wir wollen, nennen wir es Begierde; wenn aber genießend, so nennen wir es Lust. Desgleichen, wenn wir ablehnen, was wir nicht eintreten lassen wollen, so ist ein solcher Wille Furcht; indes lehnen wir ab, was gegen unseren Wil-len eintritt, so ist ein solcher Wille Kummer. Alles in allem gilt, dass je nach Verschiedenheit der Dinge, die man erstrebt oder flieht, so der Wille des Menschen angezogen oder abgestoßen wird, so dass er sich in diese oder jene Affekte verwandelt und wendet.“37

    Augustinus referiert in diesem Zusammenhang auch die stoische An-sicht, dass den ersten drei Affekten oder perturbationes aus dieser Liste auf Seiten des Weisen „Wohlgestimmtheiten“ (eujpavqeiai) oder, wie Cicero übersetzt, „Ruhelagen“ (constantiae) der Seele entsprä-chen. Hierbei handelt es sich anstelle der (angeblich schädlichen) Begierde um Willen (voluntas); anstelle von Furcht um Vorsicht (cautio); und anstelle von Lust um Freude (gaudium). Kummer hinge- 36 „Non ex carne tantum afficitur anima, ut cupiat, metuat, laetetur, aegrescat; verum etiam ex se ipsa his potest motibus agitari.“ (CD XIV, 5, 409) 37 „Nam quid est cupiditas et laetitia, nisi voluntas in eorum consensionem quae volu-mus? Et quid est metus atque tristitia, nisi voluntas in dissensionem ab his quae nolu-mus? Sed cum consentimus appetendo ea quae volumus, cupiditas; cum autem consen-timus fruendo his quae volumus, laetitia vocatur. Itemque cum dissentimus ab eo quod accidere nolumus, talis voluntas metus est; cum autem dissentimus ab eo quod nolenti-bus accidit, talis voluntas tristitia est. Et omnino pro varietate rerum quae appetuntur atque fugiuntur, sicut adlicitur vel offenditur voluntas hominis, ita in hos vel illos affectus mutatur et vertitur.“ (CD XIV, 6, 409)

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    gen kann der stoischen Lehre zufolge den Weisen nicht befallen, denn Kummer ist ein Resultat von Übel, wovor der Weise gefeit ist. Doch Augustinus kritisiert diese stoische Sichtweise und die ihr zugrunde-liegenden Wertungen mit dem Argument, dass die betreffenden con-stantiae in Wahrheit sowohl bei Guten wie bei Bösen vorkämen. An-sonsten könne beispielsweise nicht sinnvoll gesagt werden: „Nie darf Dein Wille sich auf Lüge richten!“ (Dieses Gebot geht offenbar davon aus, dass es auch einen bösen Willen gibt.) Oder wenn Cicero sage, er begehre, milde zu sein (cupio ... me esse clementem), dann spreche er offenbar von Begehren in einem guten Sinne38:

    „Also die Guten und die Bösen wollen, sehen sich vor und freuen sich; oder um dasselbe mit anderen Worten zu sagen: Es begehren, fürchten und freuen sich Gute wie Böse, aber jene gut, diese böse, je nachdem, ob die Menschen einen rechten oder verkehrten Willen haben.“39

    Im Übrigen gebe es auch den Kummer, den die Stoiker aus dem Geist des Weisen verbannen wollten, in einem guten Sinne, und insbesonde-re bei den Unsrigen, d.h. den Bürgern des Heiligen Gottesstaates (cives sanctae civitatis Dei), komme er vor. Als Beleg führt Augusti-nus den oben bereits erwähnten Verweis auf Paulus an, der die Korin-ther lobt, dass sie sich „gottgemäß betrübt“ hätten. Insgesamt hängen also die Bewertungen affektiver Zustände, und zwar sowohl der von den Stoikern generell als negativ ausgezeichneten perturbationes als auch der angeblich generell positiven constantiae, laut Augustinus allein von dem jeweiligen Willen ab, auf dem diese Zustände beruhen. Sei dieser verkehrt (perversa), so seien auch die entsprechenden Be-wegungen (motus) der Seele verkehrt; sei er aber recht (recta), so seien diese Regungen nicht nur unschuldig (inculpabiles), sondern sogar lobenswert (laudabiles).40 Was aber, so fragt sich als Nächstes, zeichnet einen Menschen mit rechtem oder gutem Willen aus?

    An dieser Stelle bringt Augustinus eine Passion ins Spiel, die bis heute im Zentrum der christlichen Lehre steht: Wer den Vorsatz habe, gottgemäß den Nächsten zu lieben wie auch sich selbst, der werde ohne Zweifel dieser Liebe wegen (ein Mensch) guten Willens ge-

    38 CD XIV, 8, 2, 412. Das Cicero-Zitat findet sich in In Catilinam I, 2. 39 „Proinde volunt, cavent, gaudent et boni et mali; atque ut eadem aliis verbis enunti-emus, cupiunt, timent, laetantur et boni et mali: sed illi bene, isti male, sicut hominibus seu recta seu perversa voluntas est.“ (CD XIV, 8, 3, 412f.; Hervorhebung in der Über-setzung C.J.) 40 Vgl. CD XIV, 6, 409.

  • Augustinus über Emotionen und Meta-Emotionen 601

    nannt.41 Dieser gute Wille heiße in der Heiligen Schrift gewöhnlich caritas. Gleichwohl, so versucht Augustinus zu zeigen, würden amor sowie auch dilectio oft in derselben Bedeutung verwendet. Augustinus verwendet bevorzugt amor, unterstreicht jedoch, dass keineswegs dilectio nur mit positiven und amor nur mit negativen Konnotationen verwendet würden. Vielmehr sei der rechte Wille die gute Liebe (bo-nus amor) und der verkehrte Wille die schlechte Liebe (malus amor). Vor dieser Folie holt Augustinus dann zu einer radikalen Uminterpre-tation der vier stoischen perturbationes aus. Anders als die Stoiker, die sie als Verwirrungen und Krankheiten der Seele behandelten, er-klärt Augustinus sie sämtlich als Formen der Liebe:

    „Liebe (amor) also, die danach lechzt, zu besitzen, was sie liebt, ist Be-gehren (cupiditas); diejenige aber, die dies besitzt und genießt, ist Lust (laetitia); die flieht, was ihr zuwider ist, ist Furcht (timor), und wenn sie, was ihr zustößt, fühlt, handelt es sich um Kummer (tristitia). All das ist schlecht, wenn die Liebe schlecht ist, und gut, wenn die Liebe gut ist.“42

    Auch amor kann also sowohl gut als auch schlecht sein, und die je-weilige axiologische Eigenschaft überträgt sich auf die von ihm her-vorgerufenen Affekte. Die „Bürger des Heiligen Gottesstaates“ emp-finden „gemäß den Heiligen Schriften und der gesunden Lehre“ sehr wohl Furcht und Verlangen, Schmerz und Freude. Doch weil ihre Liebe adäquat ist, sind auch diese Affekte adäquat. So fürchten die Gläubigen zum Beispiel die ewige Strafe und begehren das ewige Leben; es schmerzen sie ihre Sünden und sie freuen sich an guten Taten. Sie fürchten sich, versucht zu werden, oder – je nach ihrer in-neren Stärke oder Schwäche – verlangen sie auch nach Versuchung, trauern über sie oder freuen sich in ihr.43 Insgesamt, so fasst Augusti-nus zusammen, seien in einem rechten Leben (vita recta) alle Affekte recht, in einem verkehrten hingegen (vita perversa) seien sie ver-kehrt. 44 Soviel zunächst zur allgemeinen augustinischen Affekten-lehre. Kommen wir damit zurück zum Thema Meta-Emotionen.

    41 „Cujus propositum est amare Deum, et non secundum hominem, sed secundum Deum amare proximum, sicut etiam se ipsum; procul dubio propter hunc amorem dici-tur voluntatis bonae.“ (CD XIV, 7, 1, 410) 42 „Recta itaque voluntas est bonus amor, et voluntas perversa malus amor. Amor ergo inhians habere quod amatur, cupiditas est; id autem habens eoque fruens, laetitia est: fugiens quod ei adversatur, timor est: idque si acciderit sentiens, tristitia est. Proinde mala sunt ista, si malus est amor; bona, si bonus.“ (CD XIV, 7, 2, 410) 43 „Sicuti se infirmitas eorum firmitasque habuerit, metuunt tentari, cupiunt tentari: dolent in tentationibus, gaudent in tentationibus.“ (CD XIV, 9, 1, 414) 44 Furcht und Schmerz freilich gebe es, auch wenn sie recht seien, nur in diesem Le-ben; im seligen und ewigen Leben hingegen werde man nicht nur rechte, sondern auch

  • 602 Christoph Jäger

    4 Meta-Emotionen im Lichte der Affekttheorie in De civitate Dei

    Die in Abschnitt 1 diskutierten Meta-Emotionen sind für Augustinus sämtlich Ausdruck eines falschen, d.h. für ihn: religiös verfehlten Lebens. In ihnen manifestiert sich amor sui statt caritas und amor Dei.45 Ebenso wie Emotionen erster Stufe je nachdem, ob sie Aus-druck eines „rechten Willens“ und eines „rechten Lebens“ sind, adä-quat oder inadäquat sein können, so können auch Meta-Emotionen – die, in Augustinus’ Terminologie gesprochen, ebenfalls nichts anderes als perturbationes, affectus, affectiones, oder passiones sind – adäquat oder inadäquat sein. Emotionen erster Stufe sind Augustinus zufolge adäquat, wenn sie in der richtigen Weise auf passende nicht-affektive Gegenstände gerichtet sind. Meta-Emotionen sind adäquat, wenn sie die Emotion, auf die sie sich beziehen, adäquat bewerten, und ob sie das tun, hängt davon ab, ob sie ein Produkt von caritas oder eher amor sui sind. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang an vier zentrale Beispiele aus den Confessiones: das Paradox der Tragödie; Augustinus’ positive Gefühle hinsichtlich des Kummers über den Tod des Freundes; seinen Schmerz über den Kummer anlässlich des Todes der Mutter; und die Scham über seine Scham in der Geschichte vom Birnendiebstahl.

    Augustinus’ Lust an Trauer und Mitleid im Theater in Karthago war für ihn rückblickend insofern verfehlt, als diese Emotionen erster Stufe „unecht“ waren. Statt wahrer caritas entsprangen sie fehlgeleite-ter Neugier, Sensationslust und seinem damaligen übermäßigen Hang zu Zerstreuung und sinnlichem Vergnügen. Wer dagegen echtes Mit-leid empfinde, so Augustinus, dem bereite der damit einhergehende Kummer kein Vergnügen, sondern der sähe es lieber, wenn es das, was jenen Schmerz bereite, gar nicht gäbe.46 Auch hinsichtlich seiner Gefühle angesichts des Todes seines Freundes urteilt Augustinus aus der Sicht der Confessiones, dass sein Schmerz zumindest in der Quali-tät und Intensität, in der er ihn befiel, inadäquat war. Dieser Kummer war indessen sehr wohl echt, und entsprechend ist der Grund, ihn kritisch zu beurteilen, hier ein anderer. „O törichter Mensch“, schreibt Augustinus, „der an Menschlichem unangemessen leidet! So war ich

    sichere Liebe und Freude haben: „Amorem habebit et gaudium non solum rectum, ve-rum etiam certum.“ (CD XIV, 9, 6, 416) 45 Zu Augustinus’ Kampf gegen amor sui in seinem eigenen Leben vgl. Niewiadomski (2005), 203 f. 46 Vgl. CF III, 3, 52, 100.

  • Augustinus über Emotionen und Meta-Emotionen 603

    damals!“47 Töricht ist jener allzu große Kummer deshalb, weil das Ende des irdischen Lebens kein Übel ist. Dieser Punkt wird noch deut-licher im Zusammenhang mit Augustinus’ Analyse seiner Gefühle über den Tod seiner Mutter, auf die ich unten zu sprechen komme. Was seine Gefühle angesichts des Todes des Freundes angeht, so dia-gnostiziert Augustinus ferner Egozentriertheit statt caritas: „Ich war so elend“, berichtet er, doch habe er sein elendes Leben für wertvoller gehalten als jenen verlorenen Freund selbst.48 Hingegen habe er sich nicht in einem solchen Leid wohlfühlen, sondern Trost bei Gott und auf diese Weise Heilung seiner Seele suchen sollen.

    In diesen ersten Beispielen ging es um Meta-Emotionen mit dis-krepanter Valenz (Freude am Mitleid, Lust am Kummer). Die vorge-schlagene Interpretation lässt sich indessen auch anhand von Meta-Emotionen mit kongruenter Valenz untermauern, die Augustinus dis-kutiert. Betrachten wir den Birnendiebstahl: Seine Scham über die Scham dafür, zu stehlen (und andere moralisch fragwürdige Dinge zu tun), war für Augustinus aus der Sicht der Confessiones eine inadä-quate negative Meta-Emotion. Denn jene Scham erster Stufe, unter der er in seiner Jugend litt, war aus der Sicht der Christlichen Moral-lehre völlig angemessen, und somit hätte er sie positiv bewerten und affektiv entsprechend positiv auf sie reagieren sollen. Und Augustinus beschreibt sein Verhalten wieder im Lichte seiner jetzigen religiösen Überzeugungen:

    „Gewiss bestraft Dein Gesetz den Diebstahl, Herr. ... Ich wollte stehlen und tat es, von keiner Not gezwungen, nur aus Mangel und Überdruss an Gerechtigkeit und zur Fütterung meiner Unbilligkeit. ... Ich wollte nicht diese Sache genießen, nach der ich beim Stehlen verlangte, sondern das Stehlen selbst und die Sünde.“49

    Betrachten wir abschließend auch nochmals die berühmte Stelle in Buch IX der Confessiones, an der Augustinus über seine Emotionen angesichts des Todes seiner Mutter Monnica nachdenkt. „Weil es mir sehr missfiel“, so schreibt er, „dass dieses Menschliche, das nach der Ordnung der Dinge und dem Los unserer Daseinsbedingung notwen-dig einmal kommt, mich so stark ergreifen konnte, schmerzte mich mein Schmerz zu weiterem Schmerz und ich quälte mich in doppelter 47 „O stultum hominem immoderate humana patientem! Quod ego tunc eram.“ (CF IV, 7, 12, 156) 48 „Ita miser eram et habebam cariorem illo amico meo vitam ipsam miseram.“ (CF IV, 6, 11, 154) 49 „Furtum certe punit lex tua, domine. ... Et ego furtum facere volui et feci nulla conpulsus egestate nisi penuria et fastidio iustitia et sagina iniquitatis. ... Nec ea re volebam frui, quam furto appetebam, sed ipso furto et peccato.“ (CF II, 4, 9, 76, 78)

  • 604 Christoph Jäger

    Trauer.“50 Augustinus berichtet hier u.a., dass er sich über seinen Kummer ärgerte. Wie passt dies zu jenem Zustand der Zerknirschung, in den Augustinus angesichts des Todes seines Freundes verfällt? Dort war davon die Rede gewesen, dass Augustinus den Schmerz, obwohl er noch so heftig war, in gewissem Sinne auch genossen hatte. Der Sinn der beiden Stellen erschließt sich, wenn man beachtet, dass der Tod Monnicas in eine Zeit fällt, als Augustinus sich bereits bekehrt hat, der Verlust des Freundes indes vorher geschah. Entsprechend ist es für den Christen Augustinus angemessen, den allzu heftigen Schmerz, der ihn angesichts des Todes der Mutter erfasst, zu missbil-ligen und sich über ihn zu ärgern. Denn dieser Tod ist erstens eine von Gott in Kraft gesetzte Bedingung menschlicher Existenz; und zweitens ist er lediglich das Ende irdischen Daseins. Als Gläubige war Monnica „in Christo zum Leben erweckt“ worden und hatte sich nur „vom Fleisch gelöst“51. Während Augustinus’ Ärger über seinen Kummer also in diesem Fall bereits eine angemessene Manifestation seines Glaubens war, war seine von amor sui getragene Lust am Schmerz im Falle des Todes seines Freundes, die Augustinus laut Diagnose in den Confessiones zeitweise sogar mehr bedeutete als der betrauerte Freund selbst, ein inadäquater, verirrter Affekt.

    5 Zusammenfassung Ich habe dargelegt, dass (i) Augustinus sich in den Confessiones an verschiedenen systematisch zentralen Stellen mit Meta-Emotionen befasst und sich (ii) eine plausible Deutung seiner diesbezüglichen Erörterungen aus der in De civitate Dei vorgelegten allgemeinen Emo-tionstheorie ergibt. Diese beinhaltet eine durch kritische Auseinander-setzungen mit der Stoa inspirierte Rehabilitation der Affekte, die diese nicht als möglichst auszurottende „Krankheiten der Seele“, sondern als prinzipiell akzeptable Bestandteile der menschlichen Natur dar-stellt. Emotionen können dabei moralisch angemessen oder unange-messen und theologisch gut oder schlecht sein, und wie sie jeweils zu bewerten sind, ergibt sich daraus, inwieweit sie bestimmten Idealen vom guten Leben, d.h. für Augustinus: caritas und amor Dei im Ge-gensatz zu amor sui, entsprechen. Die spezifischen Inhalte dieser The-se können an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Ziel der vor-liegenden Abhandlung war es vielmehr darzulegen, dass Augustinus 50 „Et quia mihi vehementer disciblicebat tantum in me posse haec humana, quae or-dine debito et sorte conditionis nostrae accidere necesse est, alio dolore dolebam dolo-rem meum et duplici tristitia mecerabar“ (CF IX, 12, 31, 474). 51 „... in Christo vivificata et ... a carne resoluta“ (CF IX, 13, 34, 478)

  • Augustinus über Emotionen und Meta-Emotionen 605

    das Verdienst gebührt, als einer der ersten großen Affekttheoretiker der abendländischen Geistesgeschichte das Phänomen der Meta-Emotionen entdeckt und, wenn auch nicht unter diesem Namen, an-satzweise beleuchtet zu haben.52

    Literatur Aristoteles (³1859): Poetik. In: Ders., Rhetorica et Poetica, hrsg. von Imma-

    nuel Bekker. Berlin, 149-184. — : Rhetorik. In: Ebd., 1-148. Augustinus, Aurelius (CD): Sancti Aurelii Augustini Hipponensis Episcopi:

    Opera Omnia Bd. 7: De civitate Dei. Paris 1861. — (CF): Confessiones/Bekenntnisse, lat./deutsch, eingeleitet, übersetzt und

    erläutert v. Joseph Bernhart. Frankfurt a.M. 1987. — (HT): Quaestionum in Heptateuchum. In: Sancti Aurelii Augustini Hippo-

    nensis Episcopi, Opera Omnia, Bd. 30/1, Paris 1845. Brachtendorf, Johannes (1997): Cicero and Augustine on the Passions. In:

    Revue des Études Augustiniennes 43, 289-308. — (2008): Augustinus – Die Ambivalenz der Affekte zwischen Natürlichkeit

    und Tyrannei In: Landweer, Hilge / Renz, Ursula (Hg.): Klassische Emo-tionstheorien von Platon bis Wittgenstein. Hamburg, 143-162.

    Brentano, Franz (1955): Psychologie vom empirischen Standpunkt. Hamburg. Cicero, Marcus Tullius (Disp): Disputationes in Tusculum, lat./deutsch, hg.

    von Olof Gigon. Darmstadt 51984. Colish, Marcia L. (1990): The Stoic Tradition from Antiquity to the Early

    Middle Ages, Bd. 2: Stoicism in Christian and Latin Thought Through the Sixth Century. Leiden et al.

    Gellius, Aulus (1952): Nocticum Atticarum / The Attic Nights of Aulus Gel-lius, lat./engl., Loeb Classical Library. London/Cambridge, Mass.

    Jäger, Christoph / Bartsch, Anne (2009): Prolegomena zu einer philosophi-schen Theorie der Meta-Emotionen. In: Merker, Barbara: Leben mit Ge-fühlen – Emotionen, Werte und ihre Kritik. Paderborn, 113-137.

    Newmark, Catherine (2008): Passion – Affekt – Gefühl. Hamburg. Niewiadomski, Józef (1986): Die Sorge um die ganze Bibel. Augustinus’

    Bemühung um den biblischen Gott des Zornes. In: Bibel und Liturgie 59, 238-246.

    — (1991): Gewaltfreiheit und die Konzeption des Totus Christus? Anmer-kungen zum Problem einer augustinischen Einheitsvorstellung. In: Bru-ning, M. / Lamberigts, M. / van Houtem, J. (Hg.): Collectanea Augustin-iana. Festschrift für T. J. van Bavel. Leuven, 567 – 574.

    — (1993): Rezension zu Aurelius Augustinus: An Simplicianus. Zwei Bü-cher über verschiedene Fragen. In: Theologisch-Praktische Quartalschrift 141, 298.

    52 Für hilfreiche Hinweise zu einer früheren Fassung dieses Aufsatzes danke ich Bruno Niederbacher.

  • 606 Christoph Jäger

    — (2000): Der Mensch Augustinus. In: Communicantes – Schriftenreihe zur Spiritualität des Prämonstratenserordens 15, 7-11.

    — (2005): Vom faszinierenden Geheimnis der Gnade – Augustinus (353-430). In: Niewiadomski, Józef / Langer, Michael (Hg.): Die theologische Hintertreppe. Die großen Denker der Christenheit. München, 196-213.

    Seneca, L. Annaeus (Ira): De Ira. In Ders.: Philosophische Schriften, lat./ deutsch, Bd. 1, hg. von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1995, 96-311.

    Thomas von Aquin (ST): Summa Theologiae, Prima Secundae. Walton, Kendall L. (1990): Mimesis as Make-Believe. Harvard.

    FormblattA5FSN_587-606_Jäger.pdf