perspektive21 - heft 14
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Brandenburische IdentitätenTRANSCRIPT
perspektive 21Brandenburgische Hefte für Wissenschaft & Politik
Heft 14 • Juli 2001
BBBB rrrr aaaa nnnn dddd eeee nnnn bbbb uuuu rrrr gggg iiii ssss cccc hhhh eeee IIII dddd eeee nnnn tttt iiii tttt ääää tttt eeee nnnn
Vorwort 3
Klaus FaberWer sind die Brandenburger? 5
Christian Maaß und Madeleine JakobKämpfen für den Traum von Tüffelland 21
Julius H. SchoepsZweckmäßigkeit und Staatsräson? 45
Pavel KarolewskiChancen des Zusammenwachsens in Europa: Übergang zu einer
Europäischen Identität 51
Prof. Dr. rer. nat. habil. Dr. h. c. Ernst SigmundWissenschaftliche technische Entwicklung
und Leitbild für die Infrastrukturpolitik 59
Prof. Dr. Helmut SeitzDemographischer Wandel und Infrastrukturaufbau
in Berlin-Brandenburg bis 2010/15 65
Benjamin EhlersWohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in Ostdeutschland 73
Inhalt
3
BrandenburgischeIdentitäten
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HerausgeberSPD-Landesverband Brandenburg
RedaktionKlaus Ness (ViSdP)
Lars Krumrey
Christian Maaß
Klaus Faber
Madeleine Jakob
Klara Geywitz
Benjamin Ehlers
AnschriftFriedrich-Ebert-Straße 61
14469 Potsdam
Telefon03 31 - 200 93 - 0
Telefax03 31 - 270 85 35
Internethttp://www.spd-brandenburg.de
DruckDruck- und Medienhaus
Hans Gieselmann, Bergholz-Rehbrücke
Satzkai weber medienproduktionen
Impressum
4
Liebe Leserinnen und Leser!
„Die Heimatlosigkeit der Macht“ ist zur
Zeit ein viel diskutiertes Buch der Poli-
tikwissenschaftler Franz Walter und
Tobias Dürr. Sie setzen sich u.a. mit der
Frage auseinander, welche Identitäten
Parteien und politische Lager nach
zunehmender Auflösung der sozialmora-
lischen Milieus in einer globalisierten
Ökonomie noch vermitteln können. Mit
dieser Ausgabe der Perspektive 21 bewe-
gen wir uns im Fahrrwasser auch dieser
Debatte, versuchen sie aber zu erweitern
und auf die Bedingungen Brandenburgs
herunterzubrechen.
In Brandenburg, aber auch in den
anderen ostdeutschen Bundesländern,
ist 12 Jahre nach Wiedererstehung des
Landes der Transformationsprozefl
immer noch nicht abgeschlossen. Der
Bezug auf die Landesidentität war für die
Märker in den Veränderungsprozessen
der vergangenen Jahre ein wesentlicher
Orientierungpunkt. Offensichtlich zu-
mindest so wichtig, dass die große Mehr-
heit der Brandenburger einen wichtigen
Modernisierungsprojekt der politischen
Klasse, der Fusion mit Berlin, eine klare
Absage erteilte.
Das Abstimmungsergebnis war quasi
ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung
Politik, dass die Menschen gerade in Zei-
ten, in denen ökonomische Prozesse Fle-
xibilisierung und Individualisierung
abverlangen, ein verstärktes Bedürfnis
nach Heimat und Identität haben. Für die
Einleitung von notwendigen Modernisie-
rungsprozessen bedeutet das, dass die
Menschen von der Politik verläßliche Ori-
entierungspunkte, die Vermittelung von
Identitäten und schlüssigen Leitbildern
verlangen. Ein SPD-General würde das
„Sicherheit im Wandel“ nennen…
Die Autoren des vorliegenden Heftes
nehmen diese Debatte aus unterschiedli-
chen Blickwinkeln auf, versuchen Um-
risse für Leitbilder zu entwickeln, rekurrie-
ren auf die Geschichte der Region, analy-
sieren Zukunftspotentiale,diskutieren die
Rolle der Sozialdemokratie und blicken
von außen auf Brandenburg. Ein Anfang
einer notwendigen Debatte, nicht mehr
und nicht weniger
Ein weites Feld, hätte ein identitätsstif-
tender Brandenburger Dichter gesagt.
Wer es aus unser Leserschaft mit
beackern will, kann seinen Beitrag gerne
an die Redaktion übermitteln. Wir freuen
uns auf ihre Reaktionen.
Die Redaktion
Vorwort
5
7
Das Thema ist weder neu noch origi-
nell. Ein „Leitbild“ – ein trotz einiger Bezü-
ge zu anderen aktuellen Debatten doch
noch unbelasteter Begriff – soll für die
regionale Politik und Präsentation gefun-
den, eine regionale Identität definiert
werden, nämlich diejenige Branden-
burgs, des „Landes Brandenburg“, wie
man im Land selbst formulieren muß, um
das Land von der Stadt Brandenburg zu
unterscheiden. Die „Mark“ und das „Mär-
kische“ sind seit 1945 aus dem staatli-
chen Sprachgebrauch verschwunden; als
Namensgeber bleiben sie heute Zeitun-
gen und Agrarprodukten vorbehalten.
Brandenburg – das Land Brandenburg –
hat im Gegensatz zur Mehrheit der ande-
ren deutschen Länder so etwas wie eine
eigene Hymne, die ein Berliner mit nicht
ganz zweifelsfreiem politischem Hinter-
grund verfaßt hat.Das Rot des Adlers,den
die Hymne besingt, läßt – wohl meist auf
Mißverständnissen beruhende – Assozia-
tionen zu, die nichts mit heraldischen Tra-
ditionen oder der Entstehungsgeschichte
des Liedes zu tun haben. Brandenburg sei
eine kleine DDR, war eine zunächst nicht
freundlich gemeinte Charakterisierung.
Andere griffen das Stichwort auf und
machten daraus ein positives Etikett. Daß
Brandenburg sich stärker an DDR-Tradi-
tionen orientiere als andere ostdeutsche
Länder, war aber, so oder so gewendet
und bewertet, nie eine rundum überzeu-
gende These.
Einige Diskussionsteilnehmer meinen,
es sei nicht die Zeit oder überhaupt keine
gute Idee, Identitätskonturen für ein Land
wie Brandenburg zu bestimmen. Das
Land stehe über kurz oder lang vor einer
Fusion mit Berlin und überdies im Schat-
ten des in jeder Hinsicht übergroßen
Preußens, zumal im Preußenjahr 2001.
Identitätsprobleme gebe es in Deutsch-
land Ost und West genug. Die Palette mit
brandenburgischen Spezifika anzurei-
chern, mache keinen Sinn. Und zudem:
„Kleine“ Identitäten wie diejenigen des
Uckermärkers oder des Spreewälders
gebe es durchaus. Kaum jemand sei der
Auffassung, zwischen diesen und der
deutschen Identität, einschließlich ihrer
östlichen Untervariante, öffne sich eine
schmerzliche Lücke. Wo das historische
Brandenburg anfange – etwa in der Alt-
mark, die heute zu Sachsen-Anhalt
gehört? – oder aufhöre – in der jetzt pol-
nischen Neumark? – , sei schon unter ter-
ritorialen Gesichtspunkten eine offene
Wer sind die Brandenburger?von Klaus Faber
Klaus Faber
Frage. Die Existenz eines deutschen
Gliedstaates mit dem Namen Branden-
burg begründe für sich allein genommen
noch keinen Bedarf, eine besondere bran-
denburgische Identität zu konstruieren.
Die Liste der Einwände ließe sich ver-
längern. Die umgekehrte Argumentati-
ons-linie führt übrigens ebenso auf ein
weites Feld: Die Wiederbelebung der
Preußentradition fördere die Bereitschaft
der Brandenburger, einer Fusion mit Ber-
lin zuzustimmen, war vor kurzem zu
hören. Falls das – kühne – Argument tra-
gen sollte, wohin würde es führen – zur
weiteren Vereinigung mit Sachsen-
Anhalt, weil, abgesehen von Anhalt, dort
die meisten Gebiete zu Preußen und
zuvor zu Brandenburg gehörten? Wo –
und wie – wären die neupreußischen
Identitätsgrenzen zu ziehen? Auch
andere stellten die ostdeutsche Territo-
rialneugliederung nach 1990 in Frage. In
der letzten Zeit wird häufig ein früherer
sowjetischer Funktionsträger zitiert, den
die Wiedererrichtung der Länder in Ost-
deutschland nicht überzeugt hatte;
Preußen sei, so sein Kommentar, eine
außerhalb Deutschlands bekannte Größe,
abgesehen etwa von Sachsen viele der
neuen ostdeutschen Länder dagegen
nicht.
Zentrum und RegionenMitterand hat in der ersten Hälfte der
achtziger Jahre die Befugnisse der in
Frankreich neugegründeten Regionen in
beachtlichem Umfang gestärkt. In er-
sten Zwischenbilanzen zu dieser für fran-
zösische Verhältnisse sehr weit gehen-
den Strukturreform waren die beträchtli-
chen Unterschiede in der Identifizierung
mit den neuen Gebietseinheiten ein
wichtiges Thema der internen Kritik. Die
Bretagne,die Provence,das Elsaß,Lothrin-
gen (zu dem nicht nur der im 19. und 20.
Jahrhundert vorübergehend deutsche
Teil gehört) oder Aquitanien waren nach
ziemlich kurzer Zeit anerkannte und
akzeptierte territoriale Einheiten gewor-
den. In der Mitte Frankreichs blieb die
Identifikation mit den neuen Regionen
jedoch häufig blaß. Die räumliche Nähe
und, damit verbunden, eine lange, unbe-
strittene Zugehörigkeit zu einem älteren
politischen Zentrum schwächen offenbar
die Identifikationslinien und behindern
ihre Neubildung. Die politisch-räumliche
Peripherie hat es in dieser Beziehung ein-
facher.
Dem Zentrum selbst, in Frankreich
Paris und die Ile de France, mangelt es in
aller Regel nicht an Identitätsstärke. Das
Land Brandenburg in seinen heutigen
Grenzen gehört in diesem Sinne aber
wohl nicht zum engeren deutschen Zen-
trum,jedenfalls nicht mit allen seinen Tei-
8
Wer sind die Brandenburger?
len. Cottbus oder Frankfurt/Oder sind,
was die historische Nähe und Distanz
anbelangt, von Berlin ungefähr genauso
weit entfernt wie etwa Halle oder Mag-
deburg. Die regionale Identitätsbildung
steht in einer derartigen Konstellation
vor einer Orientierungsfrage: Man ist
dem nationalen Zentrum und damit dem
territorialem Symbol für die größere
räumliche Einheit nahe,was die regionale
Sonderidentität schwächt, aber doch
nicht so nahe,daß man mit dem Zentrum
selbst identifiziert werden kann. Der
zitierte sowjetische Kommentar hat, mit
einer etwas groben Sonde, ein territoria-
les Identitätsproblem „entdeckt“.
DDR-PrägungenDabei spielen, was den Fall komplizier-
ter macht, auch DDR-Prägungen eine
Rolle. Walter Ulbricht hat den Kritikern
und Feinden, die ihm vorwarfen, er wolle
Deutschland spalten, in den fünfziger
Jahren entgegengehalten, das 20. Jahr-
hundert sei nicht mehr die Zeit, in der
man, wie früher unter dynastischen Ver-
hältnissen, Länder beliebig aufteilen oder
vereinen könne; Deutschland sei deshalb
nicht zu teilen. Vielleicht hat er dies
damals, selbstverständlich unter der Prä-
misse einer gesamtdeutschen DDR-Mis-
sion, auch wirklich geglaubt, im Gegen-
satz zur Situation bei seiner späteren
Behauptung, niemand habe die Absicht,
in Berlin eine Mauer zu bauen. Die
tatsächlich, mit preußisch-deutscher
Konsequenz und technischer Tüchtigkeit
vollzogene Teilung hatte zwar, zum
Erstaunen vieler deutscher Beobachter,
auch und gerade der westdeutschen,
historisch keinen Bestand. In vielem hatte
die DDR, was die politischen und sonsti-
gen Mentalitätsprägungen anbelangt,
jedoch Erfolg, was wiederum nicht er-
staunen kann oder sollte,wenn man ähn-
liche, frühere und aktuelle Situationen in
Deutschland oder in anderen Ländern
zum Vergleich heranzieht.
Zum DDR-Erfolgsbestand gehört wohl
auch die Gewöhnung an den zentrali-
sierten Staat. Für die Zeit vor 1945 kann
die Gewöhnung bis 1933 und für die ehe-
mals preußischen DDR-Gebiete in gewis-
ser Hinsicht noch viel weiter zurückge-
führt werden. Dem steht nicht etwa die
„Reichsreform“ der späten NS-Zeit entge-
gen, die eine Zergliederung Preußens
unter Einbeziehung nicht-preußischer
Gebietsteile und eine entsprechende Auf-
teilung anderer deutscher Teilstaaten
vorsah. Neben den durch militärische
Eroberung neugewonnenen, dann bald
wieder verlorenen Gebieten im Osten
und im Westen erhielten in diesem Kon-
text z. B. Thüringen mit Erfurt und Sach-
sen-Anhalt, ungefähr, ihre Gestalt – und
selbstverständlich war auch Branden-
burg, die „Mark Brandenburg“, als Territo-
rialgröße in die Überlegungen einbezo-
9
Klaus Faber
gen worden. Eine Aufwertung der kleine-
ren neuen Gebietseinheiten des NS-Staa-
tes, die in vielen Fallen, nicht immer, den
NSDAP-Gauen entsprachen, im Sinne
einer weitergehenden administrativen
Verselbständigung oder gar der Entwick-
lung einer starken regionalen Individua-
lität war aber nicht unbedingt beabsich-
tigt. Im Vordergrund stand die Schwä-
chung oder Auflösung der größeren Zwi-
scheneinheiten, der ehemaligen Staaten
im Deutschen Reich. Daß Preußen als
größter deutscher Teilstaat mit verblas-
sender rechtlicher und sozialer Gestalt
davon negativ betroffen war, macht Hit-
ler-Deutschland übrigens nicht automa-
tisch zum Feind Preußens oder Preußen
zum Hort eines verbreiteten Widerstands
gegen das NS-System. Die in dieser Frage
angelegte, heute von vielen beschriebene
Ambivalenz wird 1933 am Tag von Pots-
dam und 1944 in dem hohen Anteil von
Militärangehörigen aus preußischen
Offiziersfamilien an der Aufstandbewe-
gung des 20. Juli sichtbar – an der aber
nicht nur Preußen teilnahmen; Stauffen-
berg war z.B. kein Preuße.
Nach 1945 wurden in der damaligen
sowjetischen Besatzungszone, zum Teil,
wie geschildert, in Anlehnung an die
„Reichsreform“, neue Länder gegründet,
auch das „Land Brandenburg“ – anstelle
der „Mark Brandenburg“. 1952 schaffte
die inzwischen gegründete DDR die Län-
der wieder ab und errichtete dafür 15 klei-
nere Bezirke. Die DDR-Zentralisierung
und ihre Begründung – die Überwindung
der Folgen der „feudalen“ Epoche – lassen
nicht nur äußerlich mit der NS-Planung
verwandte Züge erkennen. Die DDR-
Bezirke waren kleiner als die Reichsgaue
in der NS-Planung und -Realität. Die Pro-
portionen der Bezirke entsprachen der
Gesamtgröße der DDR und den sich dar-
aus, unter Zentralisierungsprämissen, er-
gebenden Bedürfnissen für die Unterglie-
derung. Die DDR benötigte die Zentrali-
sierung, um als kleinerer deutscher Teil-
staat gegenüber dem größeren West-
deutschland bestehen zu können. Die
identitätsbildenden Energien sollten
nicht auf Regionen aufgeteilt werden,
die, im schlimmsten Fall, über eine ältere,
stabile Tradition und im Vergleich zur
DDR über eine beachtliche Größe verfüg-
ten; die Energien waren vielmehr im
DDR-Patriotismus zu konzentrieren.
Neugliederung und Berlin-Brandenburg-Fusion
1990 gab es verschiedene Optionen zur
Gliederung des DDR-Gebiets im wie-der-
vereinigten Deutschland. Zwei Varianten
waren – nicht in der Diskussion, aber im
praktischen Ergebnis – auszuschließen:
die Beibehaltung der alten Bezirke als
neue Länder und, mit oder ohne Berlin,
die Errichtung der DDR als neues Bundes-
land. Die DDR-Bezirke paßten nicht zur
10
Wer sind die Brandenburger?
Föderalismus-Struktur des Westens; die
Bezirksstruktur des Ostens im Westen
einzuführen, hätte in der Konsequenz
Zentralisierung bedeutet – und, ihre ver-
fassungsrechtliche Zulässigkeit einmal
unterstellt, niemals die Zustimmung von
zwei Dritteln der Stimmen im Bundestag
und im Bundesrat erhalten. Die DDR als
Bundesland hätte ebensowenig zur übri-
gen Länderstruktur gepaßt und im übri-
gen eine institutionelle Zementierung
der ost- und westdeutschen Sonderiden-
titäten zur Folge haben können.
Andere Optionen als die tatsächlich
gewählte waren vielleicht denkbar – und
wurden, als Minderheitspositionen, auch
diskutiert. Dazu gehörten die Überle-
gungen, größere Gebietseinheiten zu
schaffen, etwa Berlin und Brandenburg
sofort zu vereinen, oder „gemischte“ Län-
der, nicht nur in Berlin und künftig mit
Berlin-Brandenburg, zu bilden, z.B. zwi-
schen Schleswig-Holstein und Mecklen-
burg-Vorpommern. Vor derartigen Vari-
anten standen jedoch deutlich höhere
politische Hürden als vor der realisierten
Option mit fünf „neuen“ Ländern und
dem vereinigten Berlin, die außerdem
den Vorzug aufwies, auf schon einmal,
wenn auch nur für kurze Zeit Bestehen-
des zurückzugreifen.
Abgesehen von der Fusion zwischen
Berlin und Brandenburg werden künftig
Neuordnungsakte in Ostdeutschland
politisch nur schwer zu verwirklichen
sein. Es ist nicht erkennbar, was die neue
politische Klasse und in der Folge die Be-
völkerung etwa von Mecklenburg-Vor-
pommern jetzt noch dazu bewegen
sollte, eine Verbindung mit Berlin und
Brandenburg einzugehen. Die stärkere
Finanz- und Wirtschaftskraft eines größe-
ren Landes? Im föderativen Finanzaus-
gleichs- und Fördersystem Deutschlands
kann auch ein kleineres Land mit andau-
erndem Zuschußbedarf gut leben, wenn
es, wie etwa Bremen, geschickt operiert –
vielleicht besser als mit dem Status eines
Randgebiets in einem Flächenstaat, der
den wachsenden Bedürfnissen einer
großen Metropole gerecht werden muß.
Für das Verhältnis von Brandenburg
und Berlin gilt dies nicht in gleicher
Weise. Die Situation eines Flächenstaates
mit einem Loch in der Mitte und einem
darum herum angesiedelten Speckgürtel
wird durch besondere Problemkonstella-
tionen geprägt. Zwar gibt es auch
anderswo, z.B. im Verhältnis der öster-
reichischen Bundesländer Wien und Nie-
derösterreich, vergleichbare Territorial-
gliederungen für große Hauptstädte und
ihre Umgebung. Eine nähere Betrach-
tung der Folgen einer derartigen Grenz-
gestaltung muß aber selbstverständlich
die Kompetenzen der betroffenen Glied-
staaten in den Vergleich einbeziehen.
11
Klaus Faber
Sind diese Kompetenzen, wie in Deutsch-
land,stark,hat die Grenze größere Bedeu-
tung. Fazit: Für die Vereinigung von Berlin
und Brandenburg spricht mehr als für
den manchmal diskutierten zusätzlichen
Bund mit Mecklenburg-Vorpommern.
Man mag es bedauern oder nicht, über
die Fusion mit Berlin hinaus wird das
Land Brandenburg in der absehbaren Zeit
wohl keine territoriale Neugliederung er-
warten dürfen. Eine Neugliederung ist
nach dem deutschen Entscheidungssy-
stem jetzt nur noch als gesamtdeutsches
und nicht mehr als begrenztes ostdeut-
sches Unternehmen vorstellbar. Voraus-
setzung dafür wäre politisch die Bildung
einer Großen Koalition auf der Bundese-
bene.
Fusion und Identität; WerbeformelnKann oder sollte nach alledem Bran-
denburg mit Leitbildkonzeptionen und –
weitergehend – mit der Identitätsprä-
gung auf die Vereinigung mit Berlin war-
ten? Und welche Rolle spielt bei beiden
Aspekten die preußische Tradition?
Die kollektive Identität wird nur zum
Teil durch staatliche oder sonstige politi-
sche Aktivitäten geprägt, aber staatliche
und politische Interventionen können
durchaus die Identitätsbildung beeinflus-
sen. Das gilt auch für die regionale Iden-
tität. „Leitbilder“ für deutsche Länder zu
schaffen, bedeutet in der politischen Pra-
xis meist,bereits vorhandene oder zu ent-
wickelnde Elemente einer regionalen
Identität mit einigen Grundzügen der
staatlich-politischen Entwicklungspla-
nung zu verbinden. Manchmal werden in
diesem Zusammenhang mehr oder
weniger gelungene Formeln und Werbe-
slogans geprägt. Dazu zählen etwa das
schlichte „Wir in Nordrhein-Westfalen“
oder auch „Wir können alles, nur nicht
hochdeutsch“ (Baden-Württemberg) oder
ebenso Schlagworte und Kurzbeschrei-
bungen, die häufig die Verbindung von
regionalen – personalen, landschaftli-
chen oder sonstigen – Besonderheiten
(„Das grüne Herz Deutschlands“) mit
dem technischen Fortschritt thematisie-
ren. Auch die bekannte Kombination von
Lederhosen und Computern ist in diesem
Zusammenhang zu nennen. Die Absicht
derartiger Aussagen wird meistens hin-
reichend deutlich. In der Sache ist, wie der
Vergleich zeigt, bei diesen Versuchen Ori-
ginalität weniger gefragt als in der Form.
Wissenschaftlich-technische Kompetenz
und die daraus abzuleitende Attraktivität
für die Wirtschaft sind zentrale Botschaf-
ten.
Preußische „Last“Bei realistischer Einschätzung der Aus-
gangsbedingungen für das Land Bran-
denburg im Identitäts- und Leitbildwett-
bewerb kommt man wohl nicht umhin,
zunächst die Prägung durch das
12
Wer sind die Brandenburger?
Preußenthema aufzugreifen – was übri-
gens zum Teil das in diesem Zusammen-
hang verbreitete Unbehagen gegenüber
brandenburgischen Identitätsdebatten
erklärt. Der brandenburgische Staat, vor
langer Zeit aus der früheren Altmark-
Grenzregion gegründet, hat viel später,
als Folge und in Verbindung mit der
Reformation, die Ordensstaatsreste in
Ostpreußen durch Erbschaft erworben.
Der brandenburgische Kurfürst Friedrich
III. hat, wie wir jetzt täglich hören, vor
dreihundert Jahren diesen Besitz dazu
benutzt, sich selbst, außerhalb der Gren-
zen des Heiligen Römischen Reichs, wo
dies nicht möglich gewesen wäre, eigen-
mächtig zum König zu krönen. Dadurch
wurde er König Friedrich I. (zunächst nur)
„in“ Preußen. Die Hauptstadt des „preußi-
schen“ Staates blieb dabei die gleiche wie
diejenige Brandenburgs. Es handelte sich
im Kern um eine Umbenennung des
brandenburgischen Staates, die notwen-
dig war, um die neue Königswürde zu
nutzen.
Im 19. Jahrhundert, nach dem Sieg über
die Mehrheit der anderen deutschen
Staaten unter Führung Österreichs, gab
dieser umbenannte und beträchtlich er-
weiterte brandenburgische Staat als
„Preußen“, auf dem Weg zur Verwirkli-
chung seiner inzwischen gefundenen
deutschen Mission, wesentliche Teile sei-
ner Zuständigkeiten zugunsten des
„Norddeutschen Bundes“ auf. Dessen
„Bundeskanzler“ wurde der preußische
Kanzler Bismarck. Nach dem Sieg über
Frankreich wurde aus dem Norddeut-
schen Bund unter Einbeziehung der süd-
deutschen Staaten, wiederum mit dem
„Bundeskanzler“ Bismarck, ein „Deut-
scher Bund“, namensgleich, aber nicht
identisch mit der völkerrechtlichen Kon-
föderation „Deutscher Bund“ des Wiener
Kongresses von 1815. Dieser neue „Deut-
sche Bund“ erhielt den Namen „Deut-
sches Reich“, der Bundeskanzler Bismarck
wurde „Reichskanzler“. Preußen war im
neuen deutschen Reich ein Teilstaat, wie
schon im Norddeutschen Bund.
Eine staatliche Identitätslinie führt
danach von der Markgrafschaft Branden-
burg über das brandenburgische Kurfür-
stentum, den brandenburgisch-preußi-
schen Staat zum Norddeutschen Bund
und zu seiner Erweiterung im Deutschen
Reich. Der Name des Gründerstaates
„Brandenburg“ sank dabei immer tiefer.
1871 bezeichnete er nur noch eine Provinz
des Teilstaates Preußen im Deutschen
Reich. Die Hauptstadt Berlin stieg dage-
gen immer höher bis zur Stufe der
„Reichshauptstadt“, zur Hauptstadt des
neugegründeten, ausgeprägt monar-
chisch-föderativ gegliederten Deutschen
Reiches. Erst 1866 wurde übrigens – in Kö-
niggrätz – entschieden, daß Berlin die
deutsche Hauptstadt und die „norddeut-
13
Klaus Faber
sche“ Sprachvariante Berlins, nicht dieje-
nige von Frankfurt am Main, einer Art
Hauptstadt des 1815 gegründeten Deut-
schen Bundes, oder von Wien, das „Hoch-
deutsche“ (ursprünglich das Pendant
zum „Niederdeutschen“) werden sollte.
Erst zu diesem Zeitpunkt wurde klar, daß,
wie die Österreicher es formulierten und
manchmal heute noch die Münchener,
die „Piefkes“ aus Berlin den Ton angeben
und alle anderen Sprachvarianten als
„Dialekt“ bezeichnen können. Jede bran-
denburgische Identität,auch die jetzt neu
zu definierende, muß, ob sie es will oder
nicht, diese Berlin- als Teil der allgemei-
nen Preußen-„Last“ mittragen.
Ein unter verschiedenen Aspekten
denkbarer Versuch, das „Brandenburgi-
sche“ vom „Berlinischen“ und darüber
hinaus vom „Preußischen“ abzusondern,
wird nämlich nicht zum Erfolg führen
können. Auch die DDR-Identitätsbildung
hat sich am Ende den territorialen und
historischen Gegebenheiten angenähert
und gefügt. „Sachsens Glanz“ und
„Preußens Gloria“ waren Filmtitel-Stich-
worte für eine Vereinnahmung durch die
DDR, die Friedrich II. von Preußen, den
„Großen“, bereits einschloß. Goethe und
Schiller (abgesehen von Weimar- und
Jena-Bezügen der Herkunft und der Prä-
gung nach sonst nicht mit dem späteren
DDR-Territorium verbunden), Luther und
die Reformation sowie andere und ande-
res waren schon früher in die selbstver-
ständlich am "Positiven" orientierte DDR-
Ahnen- und Traditionsgalerie eingeglie-
dert worden. Bismarck, sagen einige,
wäre wahrscheinlich, mit Einschränkun-
gen, ebenfalls aufgenommen worden,
falls es die DDR noch für eine längere Zeit
gegeben hätte. In der Darstellung der
DDR-Archäologie war übrigens eine
Schwerpunktbildung bei den westslawi-
schen Stämmen und beim Reich der
Thüringer zu erkennen, eine letztlich kon-
sequente Konzentration angesichts der
unerfreulichen Tatsache, daß andere
denkbare Anknüpfungspunkte noch
weniger zur DDR-Grenzziehung paßten.
Geschichtspolitik und ambivalenteGeschichte
Eine Einbeziehung preußischer Traditi-
onslinien in Leitbild- und Identitätskon-
zeptionen ist für demokratisch gewählte
und verantwortliche Akteure, also etwa
für Parlament und Regierung Branden-
burgs, schwieriger als für die frühere
DDR-Geschichtspolitik. Muß sich der
demokratische Staat oder insgesamt die
Politik nicht jeder geschichtspolitischen
Tätigkeit enthalten? Nicht nur staatliche
Gedenktage oder die aktuelle Debatte
über die „68er“-Bewegung (die in
Deutschland am 2. Juni 1967 begonnen
hat) zeigen, daß dem nicht so ist. Es geht
nicht um die Frage, ob es Geschichtspoli-
tik gibt oder nicht, sondern darum, wer
14
Wer sind die Brandenburger?
an der geschichtspolitischen Gestaltung
teilnimmt. Wertepositionen und Werte,
auch diejenigen des Grundgesetzes, sind
immer mit historischen Erfahrungen und
Entwicklungen verbunden. Geschichts-
politische Enthaltsamkeit oder Neutra-
lität der Politik und des Staates sind
daher weder durchsetzbar noch wün-
schenswert, wohl aber Zurückhaltung in
denjenigen Bereichen, in denen die Politik
und noch deutlicher der Staat verschie-
dene Wertungs-und Interpretationsein-
stellungen zu akzeptieren und zu respek-
tieren haben. Auch der Staat sollte unter
bestimmten Umständen geschichtspoli-
tisch wertende Positionen jedenfalls dort
beziehen, wo dies der Wertekonsens der
Verfassung und die historische Erfahrung
erlauben oder verlangen. Relevanz erhält
diese Forderung z.B. bei der Gestaltung
der öffentlichen Gedenkkultur.
Niemand käme wohl auf die Idee, das
Gedenken an die beiden großen Revolu-
tionen der Aufklärungszeit in denjenigen
Ländern, in denen sie stattgefunden
haben, in den USA und in Frankreich, des-
halb einzuschränken oder nur noch in kri-
tischer Form zuzulassen, weil im Namen
der siegreichen Revolutionen auch zwei-
felhafte Maßnahmen durchgeführt oder
Verbrechen begangen wurden – in Frank-
reich sollen dafür als Beipiele die Terreur-
Phase oder die Unterdrückung der Auf-
stände in Lyon und in der Vendée, in den
USA die Behandlung und Vertreibung der
Loyalists angeführt werden. Was für die
Gedenktradition in diesen Fällen gilt, hat
auch für historische Ereignisse Bedeu-
tung, für die eine vielleicht weniger posi-
tive Gesamtbilanz zu ziehen ist. Inner-
halb bestimmter Grenzen haben die poli-
tisch konstituierten Gemeinschaften
durchaus das Recht – das sie in der Praxis
häufig wahrnehmen – , in der Interpreta-
tion oder Vermittlung der eigenen Ver-
gangenheit die positiven Züge und Vor-
bilder besonders hervorzuheben. Dies ist
vor allem dann unbedenklich, wenn
dabei die ins Gewicht fallenden negati-
ven Seiten nicht unterschlagen oder
weginterpretiert werden.
Frankreichs Würdigung der Résistance
ist in diesem Zusammenhang zu nennen,
wenn und soweit, wie dies heute in
Frankreich geschieht, auch die anfangs
vorhandene breite Unterstützung für die
Vichy-Regierung in die historische Schil-
derung einbezogen wird – übrigens kei-
nesfalls mit negativen Folgen für das po-
puläre Bild der Résistance. Ähnliches
könnte für den 20. Juli in Deutschland
gelten, wenn es denn, was nicht der Fall
ist, eine mit der französischen Rési-
stance-Erinnerung annähernd vergleich-
bare öffentliche Wahrnehmung und Be-
wertung des Aufstandsversuchs gäbe ( –
wie überhaupt unsere Erinnerungskul-
tur einige Merkwürdigkeiten aufweist;
15
Klaus Faber
man denke nur an die zögernde Anerken-
nung des Holocausts, der seit Hitler die
deutsche Identität mitprägt, als Thema
eines öffentlichen Gedenktages).
Der 20. Juli gehört, wie erwähnt, unter
bestimmten Aspekten auch zur preußi-
schen Geschichte, vielleicht als letzter
bedeutender Akt. Die Ambivalenz des
Vorgangs wird u.a. darin sichtbar, daß
einige der führenden Akteure, auch
Stauffenberg, 1933 zunächst das Hitler-
Regime begrüßt hatten und die Aufstän-
dischen, wie sie wußten, mit ihren Auf-
fassungen keinesfalls die Mehrheit des
Volkes repräsentierten.
Eine ambivalente Bilanz ist im übrigen
für das gesamte historisch-politische Er-
be Preußens zu ziehen ( – was wiederum
für die Brandenburgtradition Bedeutung
hat). Für die oft zitierten preußischen
Sekundärtugenden muß dies vor dem
Hintergrund der NS-Zeit nicht im einzel-
nen belegt werden. Auch die preußische
Toleranz kannte ihre nicht immer akzep-
tablen Grenzen. Die Juden wurden zwar
in der Regel nicht unmittelbar verfolgt;
Friedrich II. sah in ihrer Existenz den einzi-
gen Ansatzpunkt für einen Gottesbeweis.
Als Einwanderer oder Untertanen wur-
den ihnen aber Protestanten, möglichst
der gleichen Orientierung wie derjenigen
der Hohenzollern-Dynastie, oder, in der
zweiten Wahl, Katholiken (z. B. als Solda-
ten) vorgezogen. Antisemitische Positio-
nen konnten auch am Hof vertreten wer-
den. Treitschke bezeichnete in seinen
Schriften die Juden als „unser Unglück“
Nach der Reichsgründung erhielt der
Antisemitismus weiten Zulauf. Wilhelm
II. empfahl, in allen Schulbibliotheken
Preußens das offen antisemitisch-rassi-
stische Buch „Die Grundlagen des 19.
Jahrhunderts“ zu führen. Der Autor war
Richard Wagners Schwiegersohn Hou-
ston Stewart Chamberlain, ein antisemi-
tischer Brite, der den deutschen Nationa-
lismus förderte und nach dem I. Welt-
krieg Hitler unterstützte. In diesen Zu-
sammenhang paßt auch die antipolni-
sche Politik Preußens im 19. und im
frühen 2o. Jahrhundert vor allem in den
Provinzen Posen und Westpreußen.
Die „Peuplierung“ der dünn besiedel-
ten Gebiete von Brandenburg/Preußen
mit vornehmlich protestantischen Ein-
wanderern aus Frankreich, Holland, Salz-
burg oder Böhmen war zwar eine in ihrer
Zeit „moderne“ und gewiß nicht frem-
den-feindliche Tat.Vergleichbares geschah
aber auch anderswo, z.B. in den von den
Türken wiedergewonnenen Gebieten, die
durch Österreichs Heer und die Reich-
struppen erobert worden waren, zu denen
übrigens bis zur Zeit des „Soldatenkönigs“
auch brandenburgisch/preußische Regi-
menter gehörten. Erwünschte Einwande-
rer waren aus österreichischer Sicht aller-
16
Wer sind die Brandenburger?
dings in erster Linie Katholiken, im Notfall
auch orthodoxe Christen, darunter vor
allem Serben.
Und dennoch: Das Toleranz-Edikt Bran-
denburgs war eine Gegenerklärung zum
Edikt von Nantes. Der Name Moses Men-
delssohns – und vieler anderer in der Tra-
ditionslinie der Aufklärung und Toleranz –
hat nicht nur im Berlin-Brandenburg-
Kontext Bedeutung, aber dort eben auch.
Der älteste Sohn Maria Theresias bewun-
derte Friedrich den Großen als Moderni-
sierer und Aufklärer (jedenfalls vor den
Konfliktphasen, in die er später als Kaiser
einbezogen war). Preußen, immer noch
deutlich rückständiger als Frankreich, zog
nach seiner Niederlage gegen Napoleon
viele der deutschen Reformer an.Wilhelm
von Humboldts Universitätsreform prä-
gte für lange Zeit die deutschen Hoch-
schulen. In der Weimarer Republik wurde
Preußen als nach Bevölkerungszahl und
Fläche weitaus größter deutscher Teil-
staat von einer Regierung (unter Leitung
des Sozialdemokraten Otto Braun) ge-
führt, die bis zum Preußenschlag die
demokratische Ordnung der Republik
unterstützte – um einige Beispiele aus
der preußischen Geschichte herauszu-
greifen, denen wir auch heute noch posi-
tiv gegenüberstehen.
Argumente der Gegenbilanz wurden
bereits skizziert; sie könnten ergänzt wer-
den: Dem Staat Preußen wurde im Auflö-
sungsdekret der Alliierten vorgeworfen,
ein Hort des Militarismus gewesen zu
sein. Das kann zwar als einseitige Verkür-
zung, vor dem Hintergrund der Gesell-
schaftsentwicklung in Preußen/Deutsch-
land vor allem zur Bismarckzeit und bis
zum Ende des I. Weltkrieges aber wohl
kaum als völlig unbegreifliche, haltlose
Beschuldigung bezeichnet werden.
Föderale Balance und PreußenFür die Auflösung durch die Alliierten
gab es auch andere, nicht genannte
Gründe. Die zunächst von allen Seiten
gewünschte Schwächung einer künfti-
gen deutschen Zentralmacht wäre durch
ein Weiterleben Preußens als deutscher
Teilstaat gefährdet worden. Auch nach
den Gebietsverlusten im Osten hätte
Preußen unter den deutschen Ländern
dem territorialen Umfang nach eine her-
ausragende Position eingenommen. Jede
föderale Balance wäre dadurch, wie im
Kaiserreich und in der Weimarer Republik,
gestört worden.
Zu Preußen hätten nämlich Berlin,
Brandenburg, Schleswig-Holstein sowie
Nordrhein-Westfalen und das Saarland
(abgesehen von kleinen Ausnahmen in
den zwei zuletzt genannten Ländern),
jeweils der größere Teil von Niedersach-
17
Klaus Faber
sen, Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz
sowie schließlich Teile der heutigen Län-
der Hessen, Mecklenburg-Vorpommern,
Thüringen, Baden-Württemberg und
Sachsen gehört. Ein derartiger, über-
großer Flächenstaat wäre übrigens auch
schlecht mit der Aufteilung in Besat-
zungszonen zu vereinbaren gewesen.
Das Land Brandenburg und PreußenWas macht man, im Falle Branden-
burgs, mit einem derartigen Erbe? Aus-
schlagen oder verschweigen kann man
es, um es noch einmal zu unterstreichen,
wie andere wichtige Geschichtsphasen
mit negativen Teilen oder mit negativer
Gesamtbilanz nicht. Für die regionale
Identitätsbestimmung Baden-Württem-
bergs oder Sachsens mag dies, was
Preußen anbelangt, anders zu sehen und
zu handhaben sein. Eine Präsentation des
Landes Brandenburg ohne Preußen wäre
demgegenüber kaum vorstellbar.
Der Gestaltungsspielraum ist dabei für
Brandenburg nicht sehr groß. Die akzep-
tablen preußischen Wertepositionen der
Toleranz, der Offenheit für Einwan-
derung und Fremde sowie der Staatsloya-
lität, Sparsamkeit oder Tüchtigkeit (in
neuerem Deutsch: Effizienz) sind Orien-
tierungspunkte, auf die sich Werbung
und Selbstdarstellung konzentrieren
könnten. Die negativen Seiten, u.a. der
mangelnde Bürgersinn oder die Beto-
nung des Gehorsams, des Militärischen
und eines Überlegenheitsanspruchs,
gehören ebenso zum historischen Bild
wie an und für sich „neutrale“ Aspekte,
z.B., für die Zeit nach der Reichsgründung,
die schiere Größe Preußens, die nicht zu
einer ausgewogenen föderativen Kon-
struktion paßte.
Für die historische Forschung wird die
Durchdringung derartiger Ambivalenzen
nicht abzuschließen sein. Für die politi-
sche Debatte und vor allem die politische
Entscheidung, u.a. über die Gedenkkultur
und das brandenburgische Leitbild,
kommt eine grundsätzlich-deutsche, nie-
mals aufhörende Auseinandersetzung
aber wohl nicht in Frage. Brandenburg
und andere müssen mit einem gemisch-
ten Preußenbild leben und sich (soweit
wie möglich) überzeugend die positiven
Seiten seiner Traditionen für die Selbst-
darstellung aneignen.
Die im Lande vorhandenen fremden-
feindlichen und antisemitischen Tenden-
zen sowie die zu erwartende Einwande-
rung aus Ostmittel- und Osteuropa
geben, um aktuelle Beispiele anzuführen,
genügend Anlaß, sich auf die preußische
Toleranz- und Einwanderungsgeschichte,
auf die Traditionen des Rechtsstaats und
der Humanität zu berufen. Da sich an den
historischen Ausgangsvoraussetzungen
durch eine Vereinigung von Brandenburg
18
Wer sind die Brandenburger?
und Berlin oder durch die Verhinderung
einer derartigen Fusion nichts ändern
kann, macht es auch keinen Sinn, auf den
– noch unbestimmten – Zeitpunkt zu
warten, zu dem klar sein wird, was in der
Fusionsfrage geschieht.
Elemente des BrandenburgbildesNicht ganz so eindeutig ist die entspre-
chende Frage für die übrigen Leitbild-
und Identitätselemente zu beantworten.
Auf diesem Gebiet ist eine Differenzie-
rung notwendig. Die Berufung auf das
Vorhandene in der Landschaft, im Kul-
turerbe oder in der Wirtschaft, einschließ-
lich Landwirtschaft und Tourismus, ist
nicht originell, aber naheliegend. Hier
stellt sich auch keine ernsthafte Zeit-
punktfrage. Für die Schwerpunkte in den
Entwicklungsperspektiven des Landes
und zumal für visionäre Ausbaupläne im
vereinigten Land Berlin-Brandenburg
könnte dies anders gesehen werden. Es
gibt ohnedies kein Mittel, das ein künfti-
ges Parlament und eine künftige Regie-
rung für das vereinigte Land daran hin-
dern könnte, dazu eigene Akzente zu set-
zen. Dennoch sprechen auf diesem
Gebiet deutlich mehr Argumente gegen
Abstinenz und für ein eigenes Votum, das
jetzt und nicht erst nach der Fusion abzu-
geben ist.
Nicht nur unter taktischen Gesichts-
punkten ist zu überlegen, ob die Bürge-
rinnen und Bürger einen Anspruch dar-
auf haben, vor der Fusionsabstimmung
Konzeptionen zur künftigen Entwicklung
kennenzulernen. Viele Einzelakte der Re-
gierungs- und Legislativtätigkeit setzen
im übrigen eine Einbettung in eine län-
gerfristige Planung voraus, die nicht erst
nach der Fusion erfolgen und im übrigen
auch vor der Fusion zwischen Berlin und
Brandenburg abgestimmt werden kann –
und wird.
Falls und soweit es richtig sein sollte,
wie manche meinen, daß Brandenburg
mit dem ersten Jahrzehnt nach der
Wende eine Phase des Übergangs abge-
schlossen habe, sich von der Bewahrung
der Verhältnisse oder der Milderung des
Wandels zunehmend abwende und des-
halb neue Ziele zu definieren seien,
könnte dies ein zusätzliches Argument
dafür sein, nicht zu warten. „Übergangs-
phasen“ werden allerdings häufig unter-
schätzt, was ihre Gestaltungsfunktionen,
ihre Bedeutung für die langfristige Wei-
chenstellung oder ihre Dauer anbelangt
Die Entwicklungsplanung in Branden-
burg steht keinesfalls bei Null. Die bereits
beschlossene Leitbildbestimmung ent-
hält Ansätze, die den Zusammenhang
mit Berlin unterstreichen, u.a. unter Tou-
rismus- und Dienstleistungsaspekten so-
wie in bestimmten Komplementärfunk-
tionen z.B. in der Landwirtschaft, im Ener-
19
Klaus Faber
giebereich, bei der Entsorgung oder auf
anderen Gebieten. Die Entwicklungsbe-
schreibung für die „Fläche“, für das Land
Brandenburg vor und nach der Fusion,
muß wie die entsprechende Planung in
nahezu allen anderen Ländern ebenso
die Bereiche von Kultur,Wissenschaft und
Technik einbeziehen; dazu gehören, wie
bereits erwähnt, Tourismus- oder Ener-
gieversorgungsfragen, die Entwicklung
der Autoindustrie oder der Ausbau von
Zukunftstechnologien, z.B. auf dem Ge-
biet der Halbleiterphysik, und vor allem
der Wissenschaftseinrichtungen. In dem
zuletzt genannten Bereich sind im Ver-
gleich zu den anderen ost- und westdeut-
schen Flächenstaaten Rückstände aufzu-
holen.
Kultur, Wissenschaft und Technologie –unverzichtbare Bildfacetten
Die 1991 beschlossenen Neugründun-
gen von Hochschulen und Forschungsin-
stituten geben Brandenburg ein Poten-
tial, das in jeder Hinsicht ausbaufähig ist.
Es ist ein Pfund, mit dem gewuchert wer-
den sollte. Das gilt in gleicher Weise für
die bedeutenden brandenburgischen
Kulturdenkmale. Alle wichtigen Ausbau-
vorhaben im Wissenschaftssektor in Ber-
lin zu konzentrieren, was nach 1990 viel-
leicht einige erwartet hatten, wäre übri-
gens eine in jeder Hinsicht falsche Ent-
scheidung gewesen, wie etwa eine
Gegenüberstellung zur bayerischen
Flächenentwicklung im Verhältnis zu
München zeigt. Der brandenburgische
Wissenschaftsaufbau lag letztlich auch
im wohlverstandenen Interesse Berlins.
Der Bau von Festungen, Garnisonen,
Gefängnissen, Schlössern, Gärten und
Straßen oder die Trockenlegung von
Sumpfgebieten waren einige der sichtba-
ren Zeichen der Inbesitznahme und des
Landausbaus in brandenburgisch-preußi-
scher Zeit. Eine Gründung von Universitä-
ten und anderen Wissenschaftseinrich-
tungen erfolgte nur in Einzelfällen – was
auch etwas mit der zunächst nur lang-
sam wachsenden Größe des Landes zu
tun hatte. In späteren Phasen wurden
derartige Institutionen in größerer An-
zahl errichtet. Ihre Gründung hatte kaum
zu überschätzende positive Fernwirkun-
gen, z. B. für die Integration der verschie-
denen Landesteile sowie die politische,
kulturelle und wissenschaftlich-techno-
logische Entwicklung.
Die Identitätsvorstellungen der Bürge-
rinnen und Bürger, die Identität und das
Leitbild des Landes sind selbstverständ-
lich nicht auf einen Teilbereich, wie be-
deutend er auch immer sein mag, einzu-
grenzen. Sie umfassen alle wichtigen Prä-
gungsaspekte. Für die kurzen Werbebot-
schaften ist allerdings eine – schwierige –
Auswahl zu treffen. Kultur, Wissenschaft
und Technologie, Offen-heit für das Neue
20
Wer sind die Brandenburger?
21
und für die Begegnung sind Bildfacetten
in der Darstellung eines vereinigten Lan-
des Berlin-Brandenburg, für die in Werbe-
texten noch geeignete Formulierungen
zu finden wären, auf die in der Sache, von
der Fläche wie von der Stadt her gesehen,
aber nicht verzichtet werden kann.
Klaus Faber ist Geschäftsführender Vorsitzender des Wissenschaftsforums der Sozialde-
mokratie in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Er war von 1994 bis 1999
Staatssekretär des Kultusministeriums von Sachsen-Anhalt und von 1990 bis 1994 als
Abteilungsleiter des zuständigen Landesministeriums in Brandenburg für Wissenschaft
und Forschung verantwortlich. Er ist Mitgründer und Kuratoriumsmitglied des Moses-
Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien an der Universität Potsdam und
des Berlin-Brandenburgischen Instituts für Deutsch-Französische Zusammenarbeit in
Europa, Genshagen
23
1. EinleitungWir in Brandenburg. SPD – so warb die
brandenburgische Sozialdemokratie um
die Gunst der Wähler. Sie tat dies fast
immer mit dem Willen, Wahlen zu ge-
winnen, oft mit passablen Kandidaten,
manchmal mit guten Ideen, aber selten
mit einer festen Gewissheit darüber, was
das Wir in Brandenburg in seinem Inne-
ren ausmacht. Dieses Wir in Brandenburg
soll hier hinterfragt werden.
Für Fontane und seine Zeit schien diese
Frage einfach zu beantworten. Im Stech-
lin schildert er in einer kurzen, aber ein-
drucksvollen Passage die Begegnung des
Grafen und des alten Tuxen. Dubslav trifft
Tuxen, den alten Süffel von Dietrichs-
Ofen, auf der Heimfahrt am Ende des
Wahltags. Tuxen liegt angetrunken am
Wegesrand. Dubslav hilft ihm und nimmt
ihn ein Stück des Weges mit. Während
der Fahrt will nun der alte Stechlin wis-
sen, wen denn Tuxen gewählt habe. Die-
ser berichtet, dass er für den Sozialdemo-
kraten Torgelow gestimmt habe. Darauf-
hin lacht Dubslav: „Für Torgelow, den
euch die Berliner hergeschickt haben. Hat
der denn schon was für euch getan?“
Tuxen: „Nei, noch nich.“ Dubslav: „Na,
warum denn?“ Tuxen:„Joa, se saggen joa,
he will wat för uns duhn un is so sihr för
de armen Lüd. Un denn kriegen wi joa’n
Stück Tüffelland.“
Also fragen wir: Was ist denn nun das
„Tüffelland“ der modernen brandenbur-
gischen SPD? Ist die brandenburgische
SPD überhaupt noch in der Lage, einer
ausreichenden Anzahl von Menschen
glaubhaft zu versichern, dass sie ihnen
hilft, ihr Stück „Tüffelland“ zu bekom-
men? Es ist ein durchaus lohendes und
notwendiges Unterfangen, in unserer
Kämpfen für den Traum vom Tüffelland*Gedanken über Identität und Sozialdemokratie in Brandenburgvon Christian Maaß, unter Mitarbeit von Madeleine Jakob**
* Der Titel wurde von einem Artikel des Autors aus dem „Roten Broiler“, dem ehemaligen Rund-
brief der Jusos Brandenburg, übernommen (Jg. 3 – Nr. 2 – April 1997, S. 6). Die Anregung dazu
gab Robert Leicht mit seinem Beitrag „Ein See spiegelt die Welt“ im ZEIT-Magazin Nr. 14 auf den
Seiten 14 ff am 28. März 1997.
** Für die intensive Unterstützung bei der Endredaktion danken wir Frau Claudia Radünzel.
Christian Maaß und Madeleine Jakob
24
Zeit erneut Antworten auf diese Frage zu
suchen1. Neben vielen Gründen sei an
dieser Stelle darauf verwiesen, dass sich
„mangelndes Profil nicht dauerhaft
durch populäre Spitzenkandidaten erset-
zen“ lässt, die „eher einen Glücksfall“
(Stöss 2001, S. 31) denn einen Dauerzu-
stand darstellen. Somit stellt sich die
Frage, was denn nun Wir in Brandenburg
bedeutet und wie es die SPD den Wähle-
rinnen und Wählern erfolgreich vermit-
teln kann, trotz Matthias Platzeck für die
Zeit nach Hildebrandt und Stolpe um so
intensiver. In dem folgenden Beitrag wird
die Frage jedoch nicht aus der Sicht der
Wählers, sondern aus der der Partei
behandelt. Was denkt die SPD, dem Land
und seinen Menschen geben zu können
und zu wollen? Hat sie eine Gewissheit
darüber, für wen sie sich einsetzt? Nach-
folgend wird davon ausgegangen,dass es
hierfür keine hinreichenden Antworten
gibt.2
Der Artikel beschäftigt sich dabei ganz
ausdrücklich nicht mit materieller Poli-
tik3, sondern mit der Vermittlung von
Werten, Sinnstiftungen und Gefühlen,
letztendlich einer Identität. Somit soll er
einen Beitrag zur Suche nach einem Halt
in der unruhigen See einer gehetzten und
von Undurchschaubarkeit geprägten Zeit
leisten. Postman spricht in diesem
Zusammenhang von Erzählungen, die
„Ideale aufstellen, Verhaltensregeln vor-
geben, die Quellen von Autorität benen-
nen und durch all dies eine Dimension
von Kontinuität und Sinnhaftigkeit
erzeugen.“ (Postman 1999,S. 127).Von die-
ser Identität wird angenommen, dass sie
eine doppelte Bindungswirkung entfal-
ten soll, sowohl innerhalb der Partei als
1 Damit knüpft der Beitrag an eine Diskussion an, die bereits im letzten Heft der perspektive 21
sowohl in den Beiträgen von Stöss als auch von Dittberner angestoßen wurde. Stöss 2001, S. 17:
„Eine langfristig aussichtsreiche Position im Parteienwettbewerb setzt mithin vor allem ein
klares (und beständiges) politisches Profil voraus, …, das die Integrationskraft der Parteien
stärkt…“
2 Dies bestätigen eher die Aussagen, die sich im Landtagswahlprogramm „Es geht um Branden-
burg“ aus dem Jahr 1999 finden.„Brandenburg ist ein traditionsreiches Kulturland. … Branden-
burg ist geprägt durch den Geist von Sanssouci:Toleranz und Achtung vor der Würde des Men-
schen prägen unser Handeln.“ (SPD-Landesverband Brandenburg 1999, S. 95). Trotz des Wis-
sens um die begrenzte Qualität von Wahlprogrammen ist die sprachliche Nähe zum „Geist von
Potsdam“ zu beachten, und rein vom Ablauf der Geschichte bleibt unklar, inwieweit die spezi-
elle preußische Toleranz,die sich insbesondere nicht mit dem Geist,sondern Edikt von Potsdam
(1685) verbindet, einem „Geist von Sanssouci“ (1745 errichtet) zugeordnet werden kann.
3 Obwohl angesichts einiger Kriterien der Erfolg der materiellen Politik in Brandenburg durchaus
in Frage zu stellen ist. Hier sei u. a. auf die sehr hohe Zahl rechtsextremer Straftaten und das
geringe Wirtschaftswachstum im Land hingewiesen.
Kämpfen für den Traum vom Tüffelland
25
auch nach außen. Nach innen vor allem
deshalb, weil auch im nun zweiten Jahr-
zehnt nach Wiedergründung die in
hohem Maße Verantwortung tragende
SPD in Brandenburg mitunter eher dispa-
rat als homogen wirkt. Klare Grundwerte
und ein tragfähiges Grundverständnis
über politische Herkunft, Ziel usw. sind
nur in Umrissen zu erkennen. Eine ein-
deutige sozialdemokratische Verortung
einiger verantwortlicher Akteure in der
SPD scheint schon angesichts ihrer Ent-
wicklungs- und Karrierewege fraglich. Ein
Grund hierfür ist der in der Zeit bis ca.
1993/1994 in vielen Fällen mögliche
schnelle Aufstieg in Spitzenpositionen in
Partei, Landtag und Landesregierung bei
oft gleichzeitigem Fehlen sinnvoller
und funktionierender Auswahlverfahren.
Dass eine Wirkung nach außen erforder-
lich ist, zeigte insbesondere die Fusions-
abstimmung und das Ergebnis der letz-
ten Landtagswahlen. Beide offenbarten
eine begrenzte Bindungskraft der Partei
in die Bevölkerung hinein, trotz der
äußerst populären Spitzenpolitiker Hilde-
brandt und Stolpe.4
Erschwerend kommt die Lage im Land
hinzu. Sie ist gekennzeichnet durch große
Herausforderungen in Form einer Kom-
plexität und Fülle wirtschaftlicher und
gesellschaftlicher Probleme, die immer
wieder die begrenzte Problemlösungs-
kompetenz des politisch-administrativen
Systems aufzeigen. Darüber hinaus ist
auch für Brandenburg von einem Werte-
wandel bzw. dem Verlust alter Werte und
i. F. der Suche nach neuen und zeit-
gemäßen Werten auszugehen. Dies ist
u. a. Teil des generellen Prozesses des
Wertewandels und Werteverlustes, der in
westlichen Staaten zu verzeichnen und
Ergebnis des Transformationsprozesses
ist. Diese Suche endet in Brandenburg
nicht nur für junge Menschen des öfteren
in der Sackgasse von Desorientierung
und/oder rechter Gesinnung. Die sich
hieraus ergebenden Probleme für die
Entwicklung einer Identität mit hoher
Bindungswirkung stellen zugleich eine
große Herausforderung dar und verdeut-
lichen die Notwendigkeit eines solchen
Unterfangens. Gelingt es den demokrati-
schen Kräften nicht, ausreichend Bin-
dungswirkung zu entfalten, droht ein
4 Vielleicht erübrigt sich diese Debatte, wenn über Manfred Stolpe hinaus gedacht wird.Wer ist
dann in der Lage, sich aktiv und glaubwürdig in diese Identitätsarbeit einzubringen und wer
könnte die notwendige gesellschaftliche Bindungswirkung entfalten? Wo sind die bestim-
menden Kräfte in der SPD Brandenburgs (Landräte, Landtagsabgeordnete, Minister usw.), die
dazu in der Lage sind? Überwiegen die Gründungsväter – wie so oft in der Politik gibt es auch
hier wenige Mütter – mit ihrem religiös bestimmten Hintergrund oder die bald nachgerückte
eher technisch orientierte Intelligenz, die in der DDR zumeist in der zweiten Reihe stand und
nur wenig an historischem Kontext mitbringt. Wie kann die SPD nach Stolpe binden?
Christian Maaß und Madeleine Jakob
26
noch größerer Einfluss rassistischer und
sonstiger antidemokratischer Strömun-
gen.
Angesichts der Beschaffenheit der The-
matik versteht sich der Beitrag ganz
bewusst als Versuch, auch um methodi-
sche und inhaltliche Mängel von vornher-
ein einzugestehen,5 zudem findet die
Objektivität bei diesem Thema ihre Gren-
zen in sicher vorhandenen Geschichtspo-
litischen Prädispositionen des Autors.
Dieses Bild ist darüber hinaus zutreffend,
da aufgrund der Fülle des Materials6
lediglich ein Bruchteil, zudem subjektiven
Auswahlkriterien unterliegend, herange-
zogen werden kann. Folgende „Versuchs-
anordnung“ ist vorgesehen: Nach der
Klärung der Grundlagen (Begriffe) und
möglichen Quellen von Identität7 erfolgt
eine Auseinandersetzung mit diesen
Quellen, um abschließend darauf auf-
bauend die Konturen einer Identität8 der
Brandenburgischen Sozialdemokratie zu
umreißen.
2. Grundlagen – Begriffe,Rahmen- und Randbedingungen
2.1 Begriffe: Identität, Werte,Wertewandel
Für eine weitergehende und intensive
Beschäftigung mit dem Begriff Identität
– da in diesem Text gesellschaftliche Pro-
zesse im Vordergrund stehen, richtet sich
das Augenmerk auf kollektive Identität in
Abgrenzung zu persönlicher Identität –
wird auf die entsprechende soziologi-
sche, psychologische und politikwissen-
schaftliche Literatur verwiesen. Hier
erfolgt nur eine kurze Annäherung an die
zentrale Begrifflichkeit des Textes:
Brauchbar „erscheint ein politikwissen-
schaftliches Verständnis von kollektiver
Identität als Konstanz von Institutionen
und Symbolen staatlicher verfasster
Großgesellschaften, deren prekäre Ver-
mittlung mit den Chancen personeller
Identität jeweils historisch zu analysieren
ist.“ (Gerdes 1989, S. 348). Dieses Konzept
bietet sich insofern an, als aufgrund der
Neugründung des Landes Brandenburg
nach „Preußenschlag“, Gleichschaltung
5 Dies ist um so notwendiger, da den Autoren die ansonsten angebrachte Distanz zum For-
schungsobjekt fehlt und somit immer eine diffizile Balance zwischen empirischen Befunden
und präskriptiven Aussagen herzustellen ist.
6 Dies gilt sowohl für die kaum mehr zu überschauende Literatur zum Thema Preußen als auch
das zunehmend umfangreiche Material zur (ostdeutschen) Identität.
7 Nicht aufgriffen wird im Rahmen dieses Beitrags die speziell über ostdeutsche Identität
geführte Debatte. vgl. dazu u.a. Woderich 1999 und Reißig 1999.
8 Vgl. zum Zusammenhang zwischen beiden Identitäten u.a. Wolff-Poweska 1998, S. 27 f.
Kämpfen für den Traum vom Tüffelland
im Nationalsozialismus und demokrati-
schem Zentralismus in der DDR Institu-
tionen zahlreichen Brüchen und Verände-
rungen unterlagen, an Symbolen jedoch
mehr als reichlich vorhanden ist.
Für Hettlage sind kollektive Identitäten
u.a. Antworten auf historisch wechselnde
Umstände, in ihrem Konstruktionsvor-
gang werden bestimmte gemeinsame
Merkmale ausgewählt (vgl. Hettlage
1998, S. 15). Er spricht in diesem Zusam-
menhang auch von einem Selbstkonzept,
vom kollektiven Selbst. „Kollektive Iden-
titäten sind daher ‚imaginierte Gesell-
schaften’ und verweisen als solche auf
einen politisch-gesellschaftlichen Diskurs
zugunsten einer räumlich oder kulturell
definierten Gruppe und deren soziale
Handlungsbedingungen.“ (ebenda).
Für Identität und die Herausbildung
von Identität wird weiterhin davon aus-
gegangen, dass es sich hierbei um einen
Prozess und nicht um etwas Statisches
handelt. Veränderungen im Sinne von
Neugestaltung/Gewinnung von Identitä-
ten – „generationsweise neu erfinden“
(Hettlage 1998, S. 15) – auf der einen und
auch ein Verlust derselben auf der ande-
ren Seite sind möglich. „Das kollektive
Selbst ist kein automatisches Ergebnis
objektiver Lagen und Bedingungen …,
sondern wird erst durch einen Artikula-
tionsprozess zur Wirklichkeit. Es ist ein
Konstruktionsvorgang insofern, als Grup-
pendarstellungen der Formulierung
durch bestimmte (kollektive) Akteure
bedürfen, diese Selbstdefinitionen eine
Gruppenakzeptanz finden müssen (Ver-
innerlichungsprozess) …“ (ebenda). Hier
werden also Chancen und Potentiale für
die Gestaltung von Identitäten gesehen.
Die Brandenburgische Sozialdemokratie
soll unter Beachtung bestimmter Gren-
zen eine aktive Rolle im Formulierungs-
prozess einer Identität übernehmen.
Diese Grenzen ergeben sich zum einen
aufgrund der realen Möglichkeiten der
Beeinflussung durch eine Partei in unse-
rer Mediendemokratie.Zum anderen sind
u.a. mit Hinweis auf die Praxis in der DDR
in einem demokratischen Staat solcher
„Beeinflussung“ enge Grenzen gesetzt.
In welchem Umfang steht einer politi-
schen Partei in einem demokratischen
Staat eine solche Geschichts- und Iden-
titätsarbeit zu? Wo liegen vor allem die
Grenzen zur Manipulation? Nun erreichte
die DDR nicht die von Orwell so düster
beschriebene Qualität in der Umdeutung
von Geschichte, wie sie in totalitären
Systeme anzutreffen ist und in der
Sowjetunion Stalins in der wiederholten
Bearbeitung von Fotos und Umbenen-
nung u.a. von Städten eine groteske
Intensität annahm. Insbesondere der Ver-
such der Vereinnahmung von Luther und
Preußen durch die DDR nach vorheriger
Ablehnung – für Preußen galt sicher auch
27
Christian Maaß und Madeleine Jakob
28
Bekämpfung – zeigt, welche Beweglich-
keit im Umgang mit der Vergangenheit
erreicht wurde, wenn es nur in das
Machtkalkül der SED passte bzw. von ihr
als wichtig und notwendig zur Herr-
schaftssicherung angesehen wurde.9 10
Es kann hier also nicht darum gehen, ein
soziales Konstrukt ausschließlich zur
Herrschaftssicherung einer Partei zu
schaffen. Dabei sind die Übergänge zwi-
schen unzulässiger parteipolitischer Akti-
vität und aus normativ-demokratischer
Sicht (noch) erlaubter „Bindungsarbeit“
durchaus fließend,zudem bspw. Hettlage
davon ausgeht, dass „erfolgreich ge-
rahmte Identitätsarbeit“ darin besteht,
„den Konstruktcharakter in den Zustand
einer Naturgegebenheit zu verwandeln
und damit zu verhüllen.“ (ebenda).
Im Zusammenhang mit dem Begriff
Identität ist der Begriff Wert(e) kurz zu
beleuchten, zumal „für verbindlich gehal-
tene Werte“ zu den Baumaterialien kol-
lektiver Identitäten gehören (vgl. Hett-
lage 1998, S. 15). Dies vor allem hinsicht-
lich der daran anknüpfenden Beobach-
tung von Wertewandel bzw. Wertever-
lust.11 Wert, darunter versteht man „ins-
besondere dauerhafte Orientierungen
des Individuums in bezug auf das sozial
Wünschenswerte; in diesem Sinne besit-
zen Werte verhaltenssteuernde, aus Ver-
haltensalternativen auswählende Funk-
tion.“ (Kaase 1989, S. 1142). Anders formu-
liert heißt das: „Wert ist vor allem dann
ein Grundbegriff sozialwissenschaftli-
cher Forschung, wenn angenommen
wird, dass die dauerfähige Koordination
und Integration gesellschaftlichen Han-
delns auf der festen Geltung und breiten
Anerkennung generalisierter Präferenz-
kriterien beruhe und dass insbesondere
der Zusammenhalt ganzer Gesellschaf-
ten von einem stabilen Konsens über die
dominanten Werte bzw. das dominante
Wertsystem abhänge.“ (Weiß 1989, S.
1139). Nach Inglehart vollzieht sich in den
westlichen Industriegesellschaften ein
Wertewandel weg von materialistischen
hin zu postmaterialistischen Werten. Kla-
ges geht von einem Wandel von Pflicht-
und Akzeptanz- zu Selbstentfaltungs-
und Engagementwerten aus. Dabei steht
hier nicht zur Debatte, ob sich diese
Trends so auch in Gänze in der DDR voll-
9 Vgl. dazu insbesondere Zimmering 2000, S. 301 ff.
10 Stolpe verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf die Serie „Sachsens Glanz und Preußens
Gloria“ des Fernsehens,die nicht die erhofften Wirkungen zeigte (Stolpe 1997,S. 88).Wenn auch
an dieser Stelle etwas abseitig, doch nicht ohne gewisse Ironie lässt sich nach dem program-
matischen Auftrag des Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) fragen, der insbesondere
im Feiertagsprogramm wieder gern auf diese Produktion zurückgreift.
11 Siehe dazu u.a. die einschlägigen Schriften von Inglehart und Klages.
Kämpfen für den Traum vom Tüffelland
29
zogen. Für diesen Beitrag ist insbeson-
dere die verhaltenssteuernde Wirkung
der Werte von Bedeutung. Wenn für Teile
der Bevölkerung Brandenburgs von einer
Desorientierung, von einem Wertverlust
ausgegangen wird, besteht ein normativ
betrachtet gefährliches Vakuum. In die-
ses Vakuum scheinen in Brandenburg
rechte Kräfte durchaus „erfolgreich“ vor-
zudringen. Insofern ergibt sich für die
SPD der Auftrag zur Werte- und Identi-
tätsarbeit, um möglichst viele Branden-
burger in eine demokratisch definierte
Identität einzubinden.
2.2 Rahmen- und RandbedingungenZum einen stellt sich die Frage, ob
angesichts der durchaus wahrscheinli-
chen Fusion mit Berlin überhaupt eine
eigene/eigenständige brandenburgische
Identität notwendig ist. Inzwischen gibt
es Prognosen, die davon ausgehen, dass
der Anteil der ehemaligen Berliner an der
Umland-Bevölkerung bis 2015 auf 40 bis
50% ansteigen wird, die Grenzen verwi-
schen sich. Nicht nur aus eher subjektiver
Sicht erscheint ein vorsichtiges Ja ange-
bracht. Im Anschluss an eine Fusion brau-
chen die ehemaligen brandenburgischen
Teile des neuen Bundeslandes ein ausrei-
chendes Selbstbewusstsein, eine starke
Identität, um eine aktive Rolle spielen zu
können, die über die des Versorgungshin-
ter-, Erholungs- und Wohnumlands der
Metropole hinausgeht. Die hier skizzier-
ten Quellen einer brandenburgischen
Identität bieten zudem vielfältige An-
knüpfungspunkte für eine gemeinsame
Identität in einem neuen, gemeinsamen
Bundesland Brandenburg-Berlin.
Bevor im einzelnen auf die zumindest
ambivalente Vergangenheit Preußens
eingegangen wird, im Vorfeld eine allge-
meine, eher landsmannschaftlich be-
gründete Bemerkung: In Bayern würde es
niemand verstehen und hinnehmen,
wenn sich ein der politischen Klasse an-
gehörender Akteur intensiv von der bay-
erischen Geschichte absetzen und diese
als Wurzel für die eigene Identitäts-
findung und -bildung ausschließen wü-
rde.12 Das mag ebenso gelten für die
Baden und Schwaben und die vom Hause
Hannover bestimmten Gebiete im heuti-
gen Niedersachsen. In den neuen Bun-
desländern ist eine Rückbesinnung auf
die Geschichte vor allem in Sachsen13 und
12 Weder die aus gesamtdeutscher Sicht problematische Zusammenarbeit mit dem Frankreich
Napoleons stellt hierfür aus bayerischer Sicht einen Grund dar noch die – und diese wiegt wohl
geschichtlich deutlich schwerer – antidemokratische Haltung während der Weimarer Repu-
blik, die in der Duldung, wenn nicht Unterstützung der NSDAP und Hitlers gipfelte.
13 An dieser Stelle sei der mehr oder weniger ironisch gemeinte Hinweis gestattet, dass insbe-
sondere die sächsische Mundart spätestens seit Walter Ulbricht ganz eindeutig diskreditiert
ist.
Christian Maaß und Madeleine Jakob
30
in Thüringen zu erkennen.
Warum darf dann nicht Brandenburg
zurückgreifen, auch auf den Teil seiner
preußischen Geschichte?
3. Quellen einer Identität der SPD Bran-denburg
In diesem Artikel wird von drei wesent-
lichen Quellen14 der Erzählung der bran-
denburgischen SPD ausgegangen, die
jedoch auf eine vielfältige Art und Weise
miteinander verwoben sind. Zum einen
ist das die brandenburgisch-preußische
Geschichte allgemein. Zum zweiten ist
es das sozialdemokratisch geprägte
Preußen der Weimarer Republik und drit-
tens der sozialdemokratische Widerstand
in Brandenburg/Preußen, hier exempla-
risch in der Gestalt von Hermann Maaß.
Dass sich ein sozialdemokratischer
Widerstandskämpfer gegen das NS-
Regime als Quell einer Identität anbietet,
ist auf den ersten Blick einsichtig, inwie-
weit dies auch für die beiden erstgenann-
ten gilt, wird im nächsten Abschnitt her-
auszuarbeiten sein.
3.1 Brandenburgisch-preußischeGeschichte als Quell der Identitätder SPD Brandenburg
Brandenburg und PreußenEs gibt kein Preußen mehr. Mit Bran-
denburg und Berlin gibt es (noch?) zwei
Bundesländer auf dem Territorium der
Mark Brandenburg.15 Mit welcher Be-
rechtigung kann sich Brandenburg auf
Preußen beziehen, sich brandenburgi-
sche aus einer preußischen Tugend spei-
sen? In welchem Verhältnis stehen Bran-
denburg und Preußen? Welcher Anteil an
Preußen und an der Erinnerung an
Preußen bleibt für Brandenburg? Bei
Siedler heißt es schlicht:„Brandenburg ist
alles, was von Preußen übrig geblieben
ist“ (Siedler 2000, S. 25). Die Mark, das
Land Brandenburg sind preußisches
Kernland. Siedler schreibt dazu: „… das
Land Brandenburg mit seiner neuen
Hauptstadt Potsdam … ist also sehr alt
und, wenn man es genau betrachtet, viel
älter als das glanzvolle Preußen …“ (Sied-
ler 2000, S. 26). Am Beginn von Preußen,
einer Entwicklung, die Brandenburg/
Preußen bis ins 19. Jahrhundert hinein zur
14 Als Untergliederung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist ein allgemeiner
wesentlicher Bezugspunkt für eine Identität der brandenburgischen SPD die Identität, die
Erzählung, die Werte und Symbole der gesamten Sozialdemokratie. Hierzu sei u. a. auf das
Grundsatzprogramm der SPD verwiesen. In diesem Beitrag geht es jedoch um eine spezielle
Identität der SPD in Brandenburg.
15 Mit der Altmark gehört ein weiterer Teil dieses preußischen Kernlandes heute zum Bundesland
Sachsen-Anhalt.
Kämpfen für den Traum vom Tüffelland
31
europäischen Großmacht aufsteigen
ließ, stehen die Aufbauleistungen nach
dem gerade für Brandenburg verheeren-
den Dreißigjährigen Krieg. Der Große
Kurfürst erließ das Edikt von Potsdam
und besiegte die Schweden bei Fehrbel-
lin. Sein Sohn krönte sich als Friedrich III.
Kurfürst von Brandenburg zu Friedrich I.,
König in Preußen. Das Sanssouci Frie-
drichs des Großen steht in Potsdam, Fon-
tane setzte der Mark in seinen Wande-
rungen ein literarisches Denkmal.
Brandenburg hat neben Berlin als ein-
zig übriggebliebenes und zusammen-
hängendes territoriales Gebilde aus dem
preußisches Restbestand legitimen An-
spruch auf die Fortführung der preußi-
schen Traditionslinien. Anders als die
Rheinprovinzen oder ehemals welfischen
Territorien wurde die Mark nicht im Krieg
erobert oder Preußen als Ergebnis diplo-
matischer Händel zugesprochen. Hier
gab es keine widerstreitenden eigenstän-
digen Identitäten und keine Abwehrreak-
tionen gegen preußische Identität. Inso-
fern stehen für Brandenburg auch keine
alternativen Traditionslinien zur Verfü-
gung. Das bedeutet letztendlich nicht,
dass sich eine brandenburgische Iden-
tität nur auf Preußen bezieht. Wenn
jedoch davon ausgegangen wird, dass
Symbole eine zentrale Bedeutung für die
kollektive Identität besitzen, ist für Bran-
denburg wohl zuerst an die von Preußen
übernommenen Symbole zu denken.
Trotz aller schuldhaften Verstrickungen
und vielleicht als Wiedergutmachung für
die durch Preußen ertragenen Verluste
sollte Brandenburg selbstbewusst genug
sein, dieses Erbe in einer aufgeklärten Art
und Weise zu tragen und zu nutzen. „Die
Mark hat alles hervorgebracht … Es ist, als
ob sie sich dabei verzehrt habe. Nun ist
alles von ihr abgefallen, was ihr Bedeu-
tung, Glanz und wohl auch Unheimlich-
keit gab. Nun ist die Mark wieder auf sich
selber zurückgeworfen; Brandenburg ist
alles, was von Preußen geblieben ist.“
(Siedler 2000, S. 31). Somit kann davon
ausgegangen werden, dass eine Betrach-
tung brandenburgischer Geschichte und
Identität untrennbar mit der Preußens
verbunden ist.
Was kann, darf und soll von Preußenbleiben? 16
Was bleibt nun von Preußen und was
16 Ein gutes Spiegelbild für die Ambivalenz ist sicher die Entwicklung Fontanes – obwohl er die
furchtbaren Auswüchse in der NS-Zeit nicht mehr erleben musste –, der ohne Zweifel Preußen
in großer Zuneigung und Verehrung verbunden war und dennoch oder vielleicht gerade des-
halb die Entwicklung Preußens zum Ende des 19. Jh. intensiv kritisierte.
Christian Maaß und Madeleine Jakob
32
darf aus sozialdemokratischer17 Sicht an-
gesichts der Sozialistenverfolgung unter
Bismarck, des Imperialismus der Wilhel-
minischen Ära, des Tages von Potsdam18,
der langwierigen Unterstützung des
Nationalsozialismuses durch alte preußi-
sche Eliten von und aus Preußen in eine
brandenburgische Identität mitgenom-
men werden? Es wird und kann auf diese
Frage keine einfache und undifferen-
zierte Antwort geben: „Schicksal und
Schuld, Glanz und Versagen, helles Licht
und dunkle Schatten liegen in der
Geschichte dieses Staates näher beiein-
ander, als wohl sonst bei historischen
Entwicklungen zu beobachten ist.“ (Scho-
eps 1997, S. 265). Dies gilt u. a. auch für die
Widerstandskämpfer des 20. Juli, sofern
sie aus preußisch-adligen Familien stam-
mten, von denen nach einem letzten Auf-
bäumen des alten Preußen „ganze Ge-
schlechter des preußischen Adels, die
bekannte Träger des alten Staates waren,
nahezu ausgerottet wurden. Aber auch
ihr Opfer ist wie vieles in der Geschichte
Preußens zu spät gekommen.“ (ebenda).
Insofern kann für die Debatte über Iden-
tität von einer „Doppelgesichtigkeit“
(Schoeps 2000, S. 8) ausgegangen wer-
den.
Große Teile der konservativen Elite
waren Feinde eines demokratischen
Deutschland und haben vor Hitlers
Machtergreifung mehr oder weniger in-
tensiv gegen die Weimarer Republik ge-
arbeitet.
Dies war der negative Höhepunkt einer
Entwicklung, deren Beginn schon viel
früher begann.19 Insofern ist bei der Frage
nach der Verwendung von preußischer
Geschichte und Symbolen immer die
Ambivalenz der Entwicklung zu beach-
ten, die eine allzu einfache Übernahme
des Überkommenen ausschließt. Den-
noch ist Brandenburg/Preußen zumin-
dest eine ambivalente Entwicklung zuzu-
17 Wenn hier der Sichtweise August Bebels („Preußen als Todfeind aller Demokratie“), Wilhelm
Liebknechts (er betrachtete die Auflösung dieses Staates als erstrangige historische Aufgabe)
– vgl. Craig 2001, S. 96 – und Franz Mehrings gefolgt würde, wäre die Frage wohl kurz und bün-
dig mit einem "Nichts" zu beantworten. "Das Hauptanliegen der historischen Darstellung
Preußens durch Mehring bestand zum einen darin, den reaktionären und fortschrittshem-
menden Charakter des preußischen Staates … nachzuweisen …" (Zimmering 2000, S. 310 f).
18 Vgl. dazu u. a. die Tagebucheintragung von Joseph Goebbels (verfertigt am 22.03.1933): „Der
große Tag von Potsdam wird unvergeßlich sein, in seiner historischen Bedeutsamkeit. … Die
Fahrt nach Potsdam geht von Berlin aus durch ewig jubelnde Menschenmassen. … und Gottes
Hand steht unsichtbar segnend über der grauen Stadt preußischer Größe und Pflicht.“
19 Vgl. hierzu die Diskussion über das Ende Preußens, u.a. bei Kroll, der die Jahreszahlen 1867/71,
1918/19 oder 1932 mit gewisser Berechtigung als „Sterbedaten“ Preußens stehen lässt. Ebenso
lesenswert wie nachvollziehbar ist die Argumentation Craigs, der hinsichtlich des Endes von
Preußen von einem Prozess spricht (vgl. Craig 2001, S. 10) und somit die Debatte um ein kon-
kretes Datum auflöst.
Kämpfen für den Traum vom Tüffelland
33
billigen – Marion Gräfin Dönhoff spricht
in diesem Zusammenhang von Preußen:
Maß und Maßlosigkeit –, so dass sich hier
positive Elemente finden, die aufgegrif-
fen werden können.
Tugenden 20
Ist die Orientierung an Preußen insge-
samt kritisch zu hinterfragen, so gilt dies
ebenfalls für die preußischen Tugenden,
die nachfolgend jedoch als ein positives
Element verstanden werden,an die ange-
knüpft werden kann und soll.
Teilweise wird die Einschätzung ver-
treten, dass alle „Versuche zur Übertra-
gung „preußischer Tugenden“ auf das
nach gänzlich anderen – eben massen-
demokratischen – Prinzipien rechnende
politische System der Bundesrepublik
Deutschland“ (Kroll 2000, S. 223 f) zum
Scheitern verurteilt seien. Wohingegen
– im Gegensatz zu Zimmering – für die
DDR von einem stabilisierenden Mo-
ment ausgegangen wird. Als Begrün-
dung dafür wird auf die Ausrichtung
der Tugenden auf ein überpersönliches,
„die Einzelinteressen bündelndes Gan-
zes, auf den Staat und auf die Gemein-
schaft“ (Kroll 2000, S. 223) im Gegensatz
zur individuellen Selbstverwirklichung
im gesellschaftlichen Pluralismus mo-
derner Massendemokratien verwiesen.
In diesem Zusammenhang soll auf die
Ausführungen von Manfred Stolpe Be-
zug genommen werden, der sich dezi-
diert mit dem Verhältnis von individuel-
ler Freiheit und Selbstverwirklichung
und solidarischer Gesellschaft und
Chancengleichheit äußert und fordert,
sie auszubalancieren. So zitiert er zwar
Roman Herzog, der die Freiheit als
Schwungrad für Dynamik und Verände-
rung bezeichnet, führt aber fort: „Die
Kunst wird darin bestehen, das
Schwungrad in Bewegung zu bringen
und sich von ihm nicht überrollen zu
lassen.“ (Stolpe 1997, S. 191). Hier deutet
sich durchaus an, dass für Brandenburg
so etwas wie eine Symbiose zwischen
dem Ganzen, dem Staat, Werten wie
Solidarität usw. auf der einen und indi-
vidueller Freiheit auf der anderen Seite
gefunden werden kann und soll.21
20 Vgl. dazu u.a. von Dönhoff und Hirsch (vgl. S. 10):„Freiheit und Ordnung sind die Grundpfeiler,
auf denen sich das neue Preußen aufzubauen hat. Aus dem alten Preußen, das für alle Zeit
dahin ist, wollen wir in die Zukunft das hinübernehmen, was gut an ihm war: den schlichten
Geist ernster Pflichterfüllung und den Geist nüchterner Sachlichkeit. Durch eine schwere Zeit
muß unser Land hindurch. Das neue Preußen wird sich genau wie das alte wieder großhun-
gern müssen.“ (zit. nach Schoeps 1997, S. 256 f)
21 vgl. dazu auch von Dönhoff (1998, S. 50): „Sie alle, die großen Reformer, beschäftigte das Ver-
hältnis von Staat und Individuum. Es ging ihnen darum, den Staat, der bisher die erste Rolle
gespielt hatte, mit dem Individuum zu versöhnen … Sich der Individualität bewusst zu werden,
aber stets eingedenk zu sein, dass man auch Staatsbürger ist, war ihre Devise …“
Christian Maaß und Madeleine Jakob
Dabei schlägt das Pendel nicht derar-
tig weit in Richtung individueller Frei-
heit, so dass ein Rückgriff auf preußi-
sche Tugenden anders als von Kroll
angenommen als möglich erscheint.
Gegen den Rückgriff spricht jedoch,
dass preußische Tugenden nicht nur im
Dritten Reich pervertiert worden sind –
schon Fontane setzt sich bspw. in Schach
von Wuthenow kritisch mit der Verwen-
dung des Ehrbegriffs auseinander –, den-
noch soll an dieser Stelle über sie nachge-
dacht werden. Entscheidend für den
Bezug auf preußische Tugenden ist ihre
Einbettung in einen Gesamtrahmen von
Werten und Normen. Bietet nicht der
große Wertekanon der deutschen und
auch der internationalen Sozialdemokra-
tie als sicherer Halt der brandenburgi-
schen Sozialdemokratie die Gewähr für
einen aufgeklärten und abgeklärten
Umgang mit preußischen Tugenden? Aus
dieser Verankerung sollte die Gewissheit
erwachsen, dass ein Rückgriff auf preußi-
sche Tugenden durch die SPD nicht in
einer unreflektierten Überhöhung der
Tugenden endet oder gar umschlägt in
eine Pervertierung und Ausnutzung für
aggressive und demokratiefeindliche
Zwecke.
Sachkunde, Strenge, Sparsamkeit,Pflichtethos
Um aus der armen und rückständigen
Mark einen aufstrebenden Staat zu for-
men, gründete sich Brandenburg/
Preußen auf Sachkunde, Strenge und
Sparsamkeit. Vor allem die Strenge
konnte leicht in Grausamkeit umschla-
gen, so im Fall der Hinrichtung des Freun-
des des Kronprinzen Friedrich, doch stel-
len sie an sich betrachtet nicht Maximen
dar, an denen auch heute eine Orientie-
rung möglich ist? Sind hierin nicht Anfor-
derungen zu sehen, die an die Partei und
die Landesregierung noch stärker als bis-
her gestellt werden sollten? Strenge und
Sparsamkeit sind nachgerade unabding-
bare Wertmaßstäbe für politisches Han-
deln in Brandenburg: Strenge in erster
Linie gegenüber den Feinden von Demo-
kratie und Menschlichkeit, Strenge ver-
bunden mit Konsequenz und einem kla-
ren Blick, der nicht durch politisches Kal-
kül und falsch verstandenen Konservati-
vismus verstellt diese Feinde links wie
rechts gleichermaßen sucht, um alte Vor-
urteile zu pflegen. Große Sachkunde
könnte ganz vorzüglich mit der Reform-
freudigkeit verbunden werden, die
Preußen u.a. in der Zeit des großen Kur-
fürsten, Friedrich Wilhelms I. und Frie-
drichs II. auszeichnete und eine Stärke
Preußens auch in Krisenzeiten darstellte.
So wurden neue Wege gesucht und
gegangen, statt ängstlich den Status quo
zu verteidigen. Beides wäre ein Gewinn
für die brandenburgische Sozialdemokra-
tie und ihr Wirken in Landesregierung
und Landtag. Eine Rückbesinnung ließe
34
Kämpfen für den Traum vom Tüffelland
hier vielleicht an den Schwung anknüp-
fen, der die SPD in Brandenburg in den
sehr frühen 90er Jahren durchaus kenn-
zeichnete.
Konnte das preußische Pflichtethos
allzu leicht in übergroßen Gehorsam
umschlagen und fand in der Willfährig-
keit von Kriegsverbrechern einen negati-
ven Höhepunkt, so untergräbt das Fehlen
eines Pflichtethos das Funktionieren von
Politik und Verwaltung. Politische Verant-
wortung, politische Ämter verlangen
mehr an Einsatz als an Rücksicht auf die
eigene Person. Wird diese Sicht geteilt,
erweist sich der Fall von fehlender Sach-
kunde in Verbindung mit ebenfalls nur
unzureichend ausgeprägtem Pflichte-
thos als besonders problematisch. In der
politischen Praxis findet dies seine kon-
krete Ausprägung im Besetzthalten von
Ämtern, für die persönliche Eignung und
Anspruch nicht ausreichend vorhanden
sind.
ToleranzEin weiter positiver Ansatzpunkt
könnte die ausländischen Siedlern und
Religionsflüchtlingen gegenüber ge-
zeigte Toleranz sein. Krockow setzt sich
intensiver mit dieser Toleranz auseinan-
der. „Das preußische Problem war wohl
gleich von Anfang an, dass die Toleranz
„von oben“ auferlegt statt „von unten“
erstritten worden ist. Sie kam für die
Menschen von außen statt von innen, als
Sache nicht der Bürger, sondern der
Obrigkeit, der Kurfürsten und Könige; sie
wurde den Untertanen als ein »harter,
beinahe unbegreiflicher Zwang« aufer-
legt, sozusagen zur Probe ihres Gehor-
sams.“ (Krockow 1993,S. 49).Trotz der Ver-
ordnung, der Vernunft und Rationalität,
die ohne Zweifel (mit) konstituierend für
diese Toleranz waren, ist sie deshalb
abzulehnen? Wo gibt es heute so ver-
nünftige und weitsichtige politische Ent-
scheidungen? Wie steht denn die deut-
sche Politik heute zu dieser Frage? Verlief
die Integration nicht erfolgreich? War
nicht die Toleranz doch mehr als eine
„bloße“ Frage von Vernunft und dem Wil-
len, das eigene Land zu entwickeln? Kroll
spricht in diesem Zusammenhang von
der oft übersehenen Tatsache, „dass sich
Preußen niemals als Nationalstaat, son-
dern stets als ein die Ethnien übergreifen-
des, ja sie unter einer »höheren« Idee ziel-
bewusst aufhebendes bzw. integrieren-
des Staatswesen verstanden hat.“ Hieran
kann und sollte angeknüpft werden.
3.2 Sozialdemokratie im Preußen derWeimarer Republik
Zur Beantwortung der Frage, ob und in
welchem Umfang Preußen ein Aus-
gangspunkt für eine sozialdemokratisch
mitbestimmte Identitätsarbeit sein kann,
bietet sich ein Rückblick auf die Weimarer
35
Christian Maaß und Madeleine Jakob
36
Republik an. Ist die Erinnerung an das Kai-
serreich nach 1871 mit der Bekämpfung
der Sozialdemokratie durch Bismarck ver-
bunden – am augenscheinlichsten durch
das Sozialistengesetz, das Gesetz „wider
die gemeingefährlichen Bestrebungen
der Sozialdemokratie“ –, spielt die SPD in
der Weimarer Republik in Preußen eine
entscheidende Rolle. Der Wandel hin zur
Staatspartei zeichnete sich bereits in den
letzten Monaten des ersten Weltkrieges
und im Übergang zur Weimarer Republik
ab. Schoeps spricht in diesem Zusam-
menhang von den sozialdemokratischen
Arbeitern, die „an die Stelle der alten
Führungsschicht getreten waren und
wegen der in ihr lebenden preußischen
Disziplin dieses Staatserbe weiterzu-
führen vermochten.“ (Schoeps 1997, S.
255).
Gegen die Rückbesinnung auf die
(preußische) SPD in der Weimarer Repu-
blik könnte die insbesondere von poli-
tisch (sehr weit) links stehenden Autoren
geäußerte Kritik sprechen.22 Der SPD
wird u. a. der Verrat an der Novemberre-
volution, eine (völlige) Fehleinschätzung
der politische Lage und Untätigkeit – u. a.
im Zusammenhang mit dem Preußen-
schlag –vorgeworfen.23 Diese Debatte
kann an dieser Stelle nicht weiter nach-
vollzogen werden.
Für den Rückgriff auf diesen Abschnitt
preußisch-deutscher Geschichte und vor
allem das Wirken der SPD und ihrer zen-
tralen Akteure spricht trotz aller Fehler ihr
Wirken in dieser Zeit.„Die Sozialdemokra-
tische Partei übernahm am Ende des
ersten Weltkrieges erstmals nationale
Regierungsverantwortung und begann
mit dem Aufbau des demokratischen
Sozialstaats.“ (SPD, S. 6). Letztendlich rieb
sie sich seit 1918 im Kampf für die Demo-
kratie auf und blieb am Ende die einzige
22 Dabei setzt die Kritik zumeist bereits bei der Haltung der SPD am Beginn des Ersten Weltkrie-
ges an. Im Grundsatzprogramm der SPD heißt es dazu: „Im ersten Weltkrieg enttäuschte die
sozialdemokratische Arbeiterbewegung Europas viele in der Hoffnung, sie könne den Frieden
erzwingen. Sie entzweite sich über das Verhältnis von nationalen und internationalen Aufga-
ben der Arbeiterklasse.“ (SPD, S. 6)
23 Besonders pointiert wurde diese Kritik von Leo Trotzki vorgetragen. Seine Äußerungen aus dem
Jahr 1932 (Leo Trotzki „Der einzige Weg“) werden u. a. deshalb aufgegriffen, da er sich auch
deutlich von der unter starkem Einfluss Stalins stehenden KPD Thälmanns absetzt und die
Argumentation trotz der sehr eindeutigen Sprache differenzierter und weitsichtiger war als
u. a. die in der DDR gegen die SPD vorgebrachte.Trotzki:„Die Sozialdemokraten gaben das pas-
sive Zurückweichen vor dem Faschismus als Kampf gegen den Faschismus aus.Z,„“… sozialde-
mokratische Minister erledigt man mit einem Nasenstüber“,„ … ein beträchtlicher Teil [sozial-
demokratischer Funktionäre, d.Verf.] wird sich in der Stunde der Gefahr unters Bett verkrie-
chen.“
Kämpfen für den Traum vom Tüffelland
37
demokratische Kraft der Weimarer Repu-
blik.24 Es war Otto Wels für die SPD, der
als einziger Redner die Stimme gegen das
Ermächtigungsgesetz erhob.25 Die SPD
hatte sich dem Faschismus nicht erfolg-
reich in den Weg stellen können, die
Schuld für den Faschismus tragen jedoch
andere. Waren Bebel und Wilhelm Lieb-
knecht noch dezidiert antipreußisch (vgl.
Fn. 17), so zeichnete sich eine deutliche
Hinwendung zu Preußen bereits beim
ersten von der SPD gestellten Minister-
präsidenten in Preußen, Paul Hirsch, ab. Er
eröffnete die Sitzung des preußischen
Parlaments am 13. März 1919 u.a. mit fol-
genden Äußerungen: „Preußens Aufga-
ben sind noch nicht erfüllt. Auf den Geist
von Freiheit, der Arbeit und der Ordnung
gestützt, soll es noch einmal der deut-
schen Nation und ihrer künftigen friedli-
chen Größe dienen. Preußens beste
Eigenschaften,Arbeitsamkeit und Pflicht-
treue, braucht das neue deutsche Reich
zum Wiederaufbau. Das alte Preußen ist
tot, es lebe das neue Preußen.“ (zit. nach
Schoeps 1997, S. 256).
Im Jahr 1920 wurde Otto Braun preußi-
scher Ministerpräsident und blieb es bis
1932.„Er wurde der stärkste Exponent des
neu erwachten, freilich auch stark mit
parteipolitischen Interessen verbunde-
nen preußischen Selbstbewusstseins
traditionellen Stils. … Der Musterstaat
Preußen war in dieser Zeit die feste
Bastion der demokratischen Republik …“
(Schoeps 1997, S. 257 f). Gegen eine einsei-
tige parteipolitische Ausrichtung zugun-
sten der SPD spricht jedoch schon die
Zusammensetzung der Koalitionsregie-
rung in Preußen (zumeist SPD, Zentrum
und Deutsche Demokratische Partei
[DDP]). Eine Figur wie Otto Braun eignet
sich aufgrund ihrer Persönlichkeit beson-
ders als Identifikationsfigur. Craig be-
schreibt ihn u.a. als einen Preußen „rein-
sten Wassers“ (Craig 2001,S. 98),gradlinig
und mit der Fähigkeit ausgestattet, sich
über „dogmatisches Parteidenken zu er-
heben“ (a. a. O., S.112). Eine weitere inter-
essante Persönlichkeit der SPD der Wei-
marer Republik war der preußische
Innenminister und langjährige Berliner
24 Die SPD stand an der Spitze der demokratischen Kräfte, die – die Einschätzung der besonderen
Ambivalenz Preußens aufgreifend – auf der lichten Seite Preußens standen. Sie kämpften
ebenso konsequent für den Erhalt Preußen, wie sie sich gegen die reaktionären Kräfte – die
dunkle Seite Preußens – wandten. Letztendlich scheiterte das Projekt „demokratisches
Preußen“ unter den permanenten Angriffen reaktionärer und später nationalsozialistischer
Kräfte, in Teilen aber auch an der mangelnden Stärke der SPD, in krisenhaften Situationen
schnell und konsequent auf politische und gesellschaftliche Herausforderungen zu reagieren.
25 u.a.:„Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich
zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialis-
mus.“
Christian Maaß und Madeleine Jakob
38
Polizeipräsident Albert Grzesinski, der
ebenfalls zu den mutigen Verteidigern
der Republik zählte.26 Insbesondere seine
Entschlossenheit und sein politischer
Durchsetzungswille ließen ihn zu einem
der wichtigsten sozialdemokratischen
Politiker dieser Zeit werden. Braun, Grze-
sinski und andere verantwortliche sozial-
demokratische Politiker stellten sich
gegen das Zusammenspiel republikfer-
ner konservativer Eliten mit völkischen
Massen, gegen das Bündnis von Papen
und dem konservativen Bürgertum mit
der zutiefst menschenverachtenden NS-
Bewegung (Albrecht 1999, S. 357, 359). Die
Sozialdemokratie in Preußen hat die Ver-
antwortung dafür übernommen, die
demokratische Republik gegen alle
Widerstände zu gestalten und zu ver-
teidigen. Sie trat dabei an die Stelle eines
nicht mehr existenten parteipolitisch
organisierten fortschrittlich-liberalen
Bürgertums (Albrecht 1999, S. 358). Braun,
Grzesinski und ihre Mitstreiter bieten
sich in besonderer Weise als Vorbilder für
die heutige SPD an. Hierfür scheint der
SPD in Brandenburg jedoch zweierlei zu
fehlen: zum einen das Wissen um die
eigene Geschichte und zum anderen das
notwendige sozialdemokratische Selbst-
bewusstsein oder der Wille, diese sozial-
demokratisch-preußischen Figuren aus-
reichend zu würdigen. Dazu wäre es
erforderlich, sich innerhalb der SPD viel
stärker mit der Sozialdemokratie und
ihrer Geschichte auseinanderzusetzen.
Hierzu scheint in Teilen jedoch Kraft
und/oder Wille zu fehlen. Überhaupt
lässt sich in Teilen der SPD-Brandenburg
eine merkwürdige Distanziertheit zu den
Wurzeln und der Geschichte der Sozial-
demokratie feststellen.
Ein Rückgriff auf solche Vorbilder ver-
deutlicht zudem, dass Preußen weit
mehr war als nur die Hohenzollern und
die – um die dunkle der beiden preußi-
schen Seiten zu nehmen – reaktionären
ostelbischen Junker, die mit ihrem „Egois-
mus und Materialismus und ihrem
leichtfertigen Taktieren“ (Craig 2001, S.
119) entscheidend zum Untergang
Preußens beitrugen.
26 Vgl. grundlegend zu Grzesinski: Albrecht, Thomas (1999): Für eine wehrhafte Demokratie. Alb-
recht Grzesinski und die preußische Politik in der Weimarer Republik. Bonn. Neben seiner
Bedeutung für die uns im Rahmen dieses Artikels vor allem interessierende Frage des „sozial-
demokratischen“ Preußen als Ausgangs- und Ansatzpunkt für eine Identitätsbildung inner-
halb der brandenburgischen SPD ist Grzesinski deshalb wichtig, da er um die besondere
Bedeutung der öffentlichen Verwaltung für den Erfolg sozialdemokratischer Politik nicht nur
wusste, sondern auch dafür kämpfte. Dieses Wissen und Handeln Grzesinskis bietet ein bisher
nur unzureichend erreichtes Vorbild für eine Vielzahl heute in Landtagsfraktion und Landesre-
gierung Verantwortung tragender Akteure.
Kämpfen für den Traum vom Tüffelland
39
3.3 Hermann Maaß – Beispiel einesWiderstandskämpfers gegen denNationalsozialismus
Vor allem in den schweren Stunden der
deutschen Geschichte war es die SPD, die
sich zu (ihren) Grundwerten, zu ihren
Erzählungen bekannte. Exemplarisch da-
für steht u. a. die bereits erwähnte Rede
von Otto Wels zur Ablehnung des Er-
mächtigungsgesetzes. Nicht minder
interessant und vor allem wegen des
direkten geographischen Bezugs von
Bedeutung sind das Wirken und die Äuße-
rungen des Widerstandskämpfers Her-
mann Maaß,27 28 der seit 1928 in Babels-
berg wohnte und an den zumindest noch
der Straßenname erinnert.29 Dieser eher
formale Grund stellt jedoch eher den
Anlass als den Grund für den exemplari-
schen Rückgriff auf einige zentrale Ideale
Hermann Maaß’ als weitere Quelle einer
sozialdemokratischen und darüber hin-
aus brandenburgischen Identität dar. Für
diese Ideale stand er ganz, mit seinem
Leben ein. Aus dieser letzten Konsequenz
seines Kampfes gegen nationalsozialisti-
sche Gewaltherrschaft, für Demokratie
und Sozialismus wird er zum Vorbild für
die brandenburgische Sozialdemokratie,
gewinnen seine Ansichten eine beson-
dere Bedeutung.
Hermann Maaß stand für eine politi-
sche Haltung, die nicht die eigene Ver-
wirklichung bzw. den persönlichen Ma-
chtzuwachs in den Mittelpunkt stellte:
„Ich habe zuweilen gezweifelt, ob das
Politische oder Staatsmännische ganz das
treffen könnte, was ich als Erfüllung mei-
nes Wesens suchte. Das Machtmäßige
hat nie magnetisch auf mich gewirkt,
denn ich wusste um seine Vergänglich-
27 Hermann Maaß (23.10.1897 – 20.10.1944), bis 1933 Geschäftsführer im Reichsausschuss der
deutschen Jugendverbände, Sozialdemokrat und Widerstandskämpfer gegen den Nationalso-
zialismus, ermordet in Plötzensee unmittelbar nach seiner Verurteilung durch den Volksge-
richtshof aufgrund seiner Einbindung in den Kreis der Attentäter des 20. Juli. vgl.
Grabner/Röder (Hrsg.) 1997.
Die Konzentration auf eine Person des Widerstands gegen den Nationalsozialismus stellt eine
völlig unzulässige Verkürzung dar, sie ist jedoch aufgrund des Umfangs des Beitrages und der
Bedeutung, die den Anschauungen von Hermann Maaß zugemessen werden nicht zu vermei-
den.
28 Hermann Maaß steht zudem exemplarisch für das Leben preußischer Tugenden. Er blieb an
seinem Platz, ging trotz zweier Angebote – eines von der Harvard University und eines aus der
Schweiz – nicht ins Ausland, sondern wählte den Weg des Widerstandes in Deutschland. Zu
seinem Wesen gehörte, alles Unwesentliche, Unwahre und Unechte abzulehnen und konse-
quent seinen Weg zu gehen (vgl. Grabner/Röder (Hrsg.) 1997, S. 20).
29 Es scheint, dass es viel mehr an Erinnerung nicht mehr zu geben scheint. Die geringe Resonanz
der Potsdamer Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag von Hermann Maaß passte sich
wohl gut in das Gesamtbild ein. So berichtete seine älteste Tochter von der Tatsache, dass die
SPD die Erinnerung an Hermann Maaß „so gut wie gar nicht“ wachhalten würde.
Christian Maaß und Madeleine Jakob
40
keit.“ (zit. nach Grabner/Röder 1997, S. 12).
Insofern eignet er sich durchaus als Vor-
bild für die politische Klasse Branden-
burgs. Ohne die Bedeutung persönlichen
Ehrgeizes als Quell für die politische
Arbeit zu verkennen, werden hier doch
Relationen zurechtgerückt: hin zu einem
Mehr an Pflichterfüllung30 – dies bezieht
sich sowohl auf die persönlichen Voraus-
setzungen, d.h. die Qualifikation des Ein-
zelnen für das Amt, das er/sie anstrebt
oder ausfüllt, als auch die Ausübung des
Amtes.
Seine Werthaltungen verdeutlicht Her-
mann Maaß auch in den folgenden Zei-
len: „Seit meiner Jugend waren für mich
allgemein gültige menschliche Liebe,
Gerechtigkeit und Einsatz für die wohlge-
ordnete Gesellschaft, die auch vor Gott
bestehen könne, die treibenden Kräfte,
die mich über Familie und Beruf hinaus
zu Einsatz für Volk, Staat und Gesellschaft
drängten. Die Funktion, die Leistung auf
Grund seiner Gaben zugunsten Dritter
war mir dabei mehr wert als irgendein
Eigennutz. Nie war ich um des Amtes und
Stellung wegen bereit, es zu überneh-
men, sondern um der Leistung wegen.“
(zit. nach Grabner/Röder (Hrsg.) 1997, S.
104 f). Er brachte sich ein und opferte sich
letztendlich auf für die Gesellschaft, für
die Allgemeinheit. Er stand für den kon-
sequenten Kampf für Demokratie und
Gerechtigkeit. Seine Wurzeln hatte er im
Christentum und in praktizierter Näch-
stenliebe. Diese Werte mündeten für ihn
in das übergreifende politische Ziel, die
Wendung zum Sozialismus.
Zur Erreichung seiner Ziele spricht er
sich durchaus für einen aktiven Eingriff in
die Gesellschaft aus, spricht von einem
umfassenden Ethos, das menschliche
Unzulänglichkeiten kennt und „gruppen-
mäßige Egoismen zurückdrängt und üb-
erwindet“ (zit. nach Grabner/Röder 1997,
S. 12). Die Entwicklung des neuen Ethos
sollte u.a. durch die Stärkung der Verant-
wortung des einzelnen erreicht werden,
u.a. deshalb sein Engagement für die
politische Bildungsarbeit und Jugendar-
beit. Insbesondere dieser Ansatz der Stär-
kung lässt sein Anliegen für uns an Be-
deutung gewinnen. Geht es doch um
mehr als eine bloße Beeinflussung der
Gesellschaft, die zudem in Ansätzen auch
autoritäre Züge aufweisen könnte.
30 In einer Zeit der Mediendemokratie, in der die Kraft der Bilder die Inhalte in den Hintergrund
zu drängen scheint, der Schein bestimmt und Politik zuweilen nicht durch Problemlösungs-
kompetenz, sondern durch Spin doctors gekennzeichnet ist, gewinnt der Wert „Wesentlich-
keit“ besondere Bedeutung. Auch hierfür spricht sich Hermann Maaß aus: „Alles Unwesentli-
che, Eitle, Unwahre, Unechte muß abfallen …“ (zit. nach Grabner/Röder 1997, S. 20).
Kämpfen für den Traum vom Tüffelland
Er setzt hier auf Partizipation und
Emanzipation. Insofern lassen sich hier
Anknüpfungspunkte für unsere Zeit fin-
den, die zumindest partiell ebenfalls von
einer Orientierungslosigkeit gekenn-
zeichnet ist.
4. Identität für BrandenburgNachdem nun einige zentrale Quellen
einer Identität der Sozialdemokratie in
Brandenburg näher ausgeleuchtet wur-
den, versucht der letzte Abschnitt eine
thesenartige Zusammenfassung.
1. Identitätsarbeit/Identitätsmanage-
ment ist möglich und notwendig. Ein
solches Identitätsmanagement ist
eine zentrale strategische Aufgabe
der SPD in Brandenburg. Eine in
wesentlichen Teilen von der Sozialde-
mokratie mitbestimmte brandenbur-
gische Identität könnte zur Herausbil-
dung einer strukturellen Mehrheits-
fähigkeit der SPD beitragen. So könn-
ten Bindungen entstehen, die sich
auch in problematischen Situationen
als tragfähig erweisen. Neben partei-
politischen Erwägungen ergibt sich
die Notwendigkeit einer demokrati-
schen Identitätsvermittlung aus einer
in Teilen der brandenburgischen
Gesellschaft vorzufindenden Orien-
tierungslosigkeit, die bei einem
bestimmten Anteil der Bevölkerung
den Boden für eine stärkere Affinität
zu rechten und menschenverachten-
den Werthaltungen bereitet.
2. Ein langfristig erfolgreiches Iden-
titätsmanagement ist langfristig aus-
gelegt und beruht auf Glaubwürdig-
keit. Bloße Sonntagsreden mit Bezug
auf preußische Tugenden oder
andere Traditionslinien sind eher kon-
traproduktiv. Für die SPD Branden-
burg setzt sie ein stärkere Reflexion
u.a. von Geschichte und sozialdemo-
kratischen Werten, u.a. aufgrund der
heterogenen personellen Struktur
und programmatischer Defizite, als
Grundlage der Schärfung des eigen
Profils voraus.
3. Die brandenburgische SPD verfügt
u.a. mit den sozialdemokratischen
Werten insgesamt, der preußischen
Geschichte allgemein und dem Wir-
ken der Sozialdemokratie im Preußen
der Weimarer Republik speziell sowie
mit dem sozialdemokratischen
Widerstand gegen den Nationalso-
zialismus über ausreichende Quellen
einer gut abgrenzbaren und unver-
wechselbaren Identität, die, da sie auf
in allgemein bekannte und wirksame
Symbole zurückgreifen kann, eine
hohe Anschlussfähigkeit zur Bevölke-
rung aufweist.
4. Die SPD ist in der Lage, auch
geschichtlich belastete bzw. ambiva-
41
Christian Maaß und Madeleine Jakob
42
lente Quellen und Traditionslinien –
wie preußische Traditionen und
Tugenden – aufzugreifen, da sie diese
von negativen Assoziationen befreien
und in einen demokratischen Rah-
men einbinden kann.Damit erfüllt sie
zugleich das Bedürfnis nach Heimat
und Geschichte und entzieht der Ver-
einnahmung bestimmter Traditions-
linien in antidemokratische Bestre-
bungen den Boden.
5. Zentraler Bestandteil einer eigenstän-
digen sozialdemokratischen Identität
in Brandenburg und damit einer
brandenburgischen Identität insge-
samt ist das besondere Spannungs-
verhältnis zwischen Freiheit und Ord-
nung oder Selbstentfaltung und Ein-
ordnung in die Gesellschaft. Dieses
Spannungsverhältnis ist für die drei
hier beschriebenen Identitätsquellen
ebenso von Bedeutung wie für die
gegenwärtige aktive Politik, insbe-
sondere in Person des Ministerpräsi-
denten Manfred Stolpe.
Die Begegnung von Dubslav und Tuxen
endet mit leicht ironischen Bemerkun-
gen des alten Grafen hinsichtlich der
Rationalität der Wahlentscheidung für
die Sozialdemokratie, keineswegs jedoch
in der Form, die von einem typischen
preußischen Landadligen dieser Tage zu
erwarten gewesen wäre. Er endet mit:
„Und nun macht, dass Ihr zu Bett kommt
und träumt von „Tüffelland“. Es liegt in
der Hand der brandenburgischen SPD, ob
es ein sozialdemokratisches „Tüffelland“
geben wird.
Literatur
Wird der Text insgesamt als Versuch betrachtet, so folgt das Literaturverzeichnis die-sem Verständnis. Es wird nicht nur die im Text verwendete Literatur angeführt, son-dern darüber hinausgehende Quellen angegeben, die eine Vertiefung des Thema,quasi im Sinne eines Selbstversuchs, ermöglichen.
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Besonders zu empfehlen ist auch folgende Hörbuch-Ausgabe: T. Fontane. Der
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Kämpfen für den Traum vom Tüffelland
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Christian Maaß ist stellvertretender Vorsitzender der SPD im Havelland, Kreistags-mitglied und Vorsitzender der SPD-Fraktion in der StadtverordnetenversammlungPremnitz. Der Diplom-Politologe arbeit an der WISO-Fakultät der Universität Pots-dam. Der Autor ist nicht mit dem im Artikel erwähnten Hermann Maaß verwandt.Mail: [email protected].
Madeleine Jakob studiert Politikwissenschaft an der Universität Potsdam. Sie istMitglied im Vorstand des SPD-Ortsvereins Babelsberg.
47
Das Fußfassen der Toleranzidee in den
modernen Staaten vollzog sich im 17. und
18. Jahrhundert in einem stufenweisen
Prozeß. Erst in den Niederlanden, wo
Katholiken und Lutheraner, aber auch
Täufer, Sektierer, Spiritualisten und aus
Spanien vertriebene Juden („Marran-
nen“) eine neue Heimat fanden. Dann in
England, wo nach erbitterten konfessio-
nellen Kämpfen 1689 als Krönung der
Glorious Revolution die Toleranzakte
zustande kam,die allen religiösen Dissen-
ters außerhalb der Staatskirche volle Reli-
gionsfreiheit zusicherte, sofern sie dem
englischen König Treue schworen und die
päpstliche Gewalt ableugneten. Schließ-
lich in den Vereinigten Staaten mit ihren
„Bill of Rights“, die für Frankreich und
seine in der Revolution 1789 propagierten
„droits naturelles et inscriptibles“ zum
Vorbild wurden.
Das als Musterland religiöser Freiheit
gefeierte Brandenburg-Preußen hat zwar
tolerante Herrscher besessen wie den
Großen Kurfürsten und den späteren
König Friedrich I., die in das Land Arianer,
Socinianer, Menoniten, Juden und Huge-
notten aufnahmen. Andererseits war es
aber nicht nur der Geist religiöser Duld-
samkeit, der Brandenburg-Preußen zum
Asyl der Religionsverfolgten machte, son-
dern die Politik der Staatsklugheit, der
handfesten Interessen, die diese Einwan-
derungspolitik bestimmte. Bevölkerungs-
politische Ideen („Peuplierung“) spielten
dabei ebenso eine Rolle wie Motive finan-
zieller Natur. Von den Fremden erhoffte
sich der Kurfürst, sie würden nicht nur
loyale Untertanen sein, sondern auch die
notwendigen Gelder mitbringen, um den
gewerblichen und wirtschaftlichen Auf-
schwung des Landes einzuleiten.
In der Regel übersehen wird der Sach-
verhalt, daß die Juden im Unterschied zu
anderen, die in das Land geholt wurden,
mindere Rechte besessen haben. Das
„Edikt wegen aufgenommenen 50 Fami-
lien Schutz-Juden“ vom 21. März 1671, mit
dem der Kurfürst den Juden Niederlas-
sungsrechte mit entsprechenden Aufla-
gen gewährte, enthielt im zweiten Teil
die einschränkende Formulierung „je-
doch daß sie keine Synagogen halten“,
die kenntlich machte, daß der Duldung
der Juden dort Grenzen gesetzt waren,
wo christlicher Glaube und christliche
Zweckmäßigkeit und StaatsräsonDie Herausbildung des Toleranzbegriffs in Brandenburg-Preussenvon Julius H. Schoeps
Julius H. Schoeps
Überzeugung tangiert wurde. Die Nach-
folger des Kurfürsten, der Soldatenkönig
und der Philosoph von Sanssouci, haben
sich nicht anders verhalten. Auch sie ori-
entierten ihre Judenpolitik nicht an der
Toleranzidee und dem Prinzip der christli-
chen Nächstenliebe, sondern an den
steuer- und wirtschaftspolitischen Not-
wendigkeiten des sich herausbildenden
merkantilistischen Industriestaates.
In patriotischen Erbauungsschriften
und Schulgeschichtsbüchern ist über
Jahrzehnte der Preußenkönig Friedrich II.
als ein aufgeklärter Herrscher idealisiert
worden. In Fragen der Religionspolitik, so
heißt es immer wieder, hätte er Toleranz
walten lassen. Dieses Friedrich-Bild, das
bis heute liebevoll gepflegt und gehegt
wird, bedarf auf Grund einer kritischeren
Sicht, die wir uns inzwischen über den
König und seine Epoche angewöhnt
haben, einiger Korrekturen. So wird man
nicht mehr die berühmten Friedrich-
Zitate für sich allein nehmen, sondern
wird bemüht sein, sie an der Politik des
„Roi-Philosophe“ zu messen.
Das Marginal auf einem Eingabeakt
zum Beispiel „Die Religionen müssen alle
toleriert werden, und muß der Fiskal nur
das Auge darauf haben, daß keine der
anderen Abbruch tue; denn hier muß ein
jeder nach seiner Fasson selig werden“
oder die bekannte Replik anläßlich einer
Anfrage des Generaldirektoriums „Alle
Religionen sind gleich gut, wenn nur die
Leute, wo sie professieren, ehrliche Leute
sind“ waren Sätze und Äusserungen, die
dem Aufklärungszeitgeist entsprachen,
aber mit der Realität des preußischen
Staates und seiner Bewohner nur wenig
zu tun hatten.
Toleranz war für Friedrich II. keine Frage
der Gesinnung, sondern der Zweck-
mäßigkeit und der Staatsräson. Letztlich
waren für ihn alle Religionen „un systeme
fabuleux plus ou moins absurde“, was
wohl auch der Grund war, daß er sich
nicht zu einem Toleranzedikt hat durch-
ringen können – anders als der katholi-
sche Kaiser Joseph II., der für die Öster-
reichischen Kronlanden ein solches am 2.
Januar 1782 erließ, das gemäß der Diktion
der Zeit mit der Formel begann: „Wir,
Joseph der Zweite, von Gottes Gnaden
erwählter röm. Kaiser, zu allen Zeiten
Mehrer des Reiches, König in Germanien,
Ungarn, Böhmen usw...“
Mit Toleranz im heutigen Sinne hatte
das alles nicht viel zu tun. Selbst viele
Aufgeklärte waren nur bedingt bereit,
den Gegenüber zu akzeptieren, und zwar
so wie sich dieser selbst verstand oder
definierte. Typisch ist zum Beispiel die
Debatte um die Staatsbürgerrechte der
Juden. Man war zwar im Prinzip bereit,
Juden individuelle Staatsbürgerrechte zu
48
Zweckmäßigkeit und Staatsräson
gewähren, aber mit der Auflage, daß sie
aufhörten, Juden zu sein. In diesem
Zusammenhang wird meist die
berühmte Formulierung zitiert, die Graf
Clermont-Tonnerre in der Emanzipati-
onsdebatte der französischen National-
versammlung im Dezember 1789 äußerte
und die dann zum unumstößlichen
Credo der Gegner der Emanzipation der
Juden europaweit werden sollte: „Den
Juden als Individuen alles, den Juden als
Nation nichts“.
Trotz aller Widerstände begann die
Toleranzidee zunehmend Anhänger zu
finden. Das geschah insbesondere unter
dem Eindruck des Bildes vom „guten
Juden“, das im 18. Jahrhundert zuneh-
mend von Schriftstellern wie Johann
Gottfried Schnabel, Christian Gellert und
dem berühmten Gotthold Ephraim Les-
sing gezeichnet worden ist. Zahlreich
sind die Abhandlungen, Zeitschriftenauf-
sätze, Romane und Dramen, die Toleranz
predigten und bemüht waren, wohl-
tätige und edelmütige Juden darzustel-
len. Der „gute Jude“ war nicht nur eine
literarische Kunstfigur, sondern galt gera-
dezu als Symbol für das eigene aufge-
klärte Verhalten und ist als ein Gleichnis
begriffen worden, und zwar für den
Kampf des der Vernunft sich verpflichtet
fühlenden Bürgertums gegen alle Aus-
drucksformen von Aberglauben,Vorurteil
und Intoleranz. Noch heute ist dieses Bild
in den Köpfen.
Lessings „Nathan der Weise“ hat für
das sich formierende deutsche Judentum
eine nicht zu unterschätzende Rolle
gespielt. Das Schauspiel diente der
Selbstdefinition, war gewissermaßen ein
Orientierungspunkt, an dem nicht nur
der Toleranzbegriff festgemacht, sondern
auch die Formel für das Miteinanderum-
gehen von Juden und Christen definiert
werden konnte. Die Parabel von den drei
vom Vater den Söhnen ausgehändigten
Ringen lehrte, daß Gott-Vater dem Juden,
dem Christen und dem Muselman in
ihrer geschichtlichen Religion jeweils den
echten Ring gegeben habe und jede der
drei monotheistischen Religionen Gottes
Offenbarung gegenwärtig und zu re-
spektieren sei. Das wurde zu einer Bot-
schaft, die von einer Generation auf die
nächste weitergegeben wurde. Die Ver-
ehrung gegenüber dem Autor des „Nat-
han“ führte dazu, daß es im deutsch-jüdi-
schem Bürgertum zu einem Lessing-Kult
kam, der manche seltsame Blüte hervor-
gebracht hat.
Fatalerweise haben die Zeitgenossen
jedoch nicht bemerkt oder es vielleicht
auch nicht bemerken wollen, daß Les-
sings Konzeption in sich brüchig war,
denn letztlich relativierte sie die Wahr-
heit. „Oh so seid ihr alle drei betrogene
Betrüger!“, äußert bekanntlich in Les-
49
Julius H. Schoeps
sings „Nathan“ der Richter. „Eure Ringe“,
so verkündete er weiter, „sind alle drei
nicht echt. Der echte Ring ging vermut-
lich verloren. Den Verlust zu ersetzen, ließ
der Vater diese drei für einen machen“. So
weit, so gut.
Den Juden mit und nach Lessing ging
es aber nicht um die Doppelbödigkeit in
der Lessingschen Ringparabel, die Gene-
rationen von Literaturwissenschaftlern
beschäftigt und manche von ihnen zu
gewagten Interpretationen angeregt hat.
Wichtiger war ihnen die uns Heutigen
vielleicht etwas vordergründig erschei-
nende, aber seit dieser Zeit mit dem
Namen Lessings verbundenen Botschaft,
daß der moderne Mensch vor der Frage
gestellt ist,„ob er den Raum der geistigen
Freiheit festhalten will, den ihm die
Generation von 1800 erkämpft hat, als sie
den Weg vom Dogmenstreit zum Glau-
bensgespräch bahnte und damit eine
neue Einschätzung auch des religiösen
und weltanschaulichen Gegners durch-
setzte“ (Hans-Joachim Schoeps).
An dieser Stelle sei dem tiefverwurzel-
ten Irrglauben entgegengetreten, die
Aufklärung sei per se aufgeklärt gewe-
sen. Davon kann überhaupt keine Rede
gewesen sein. Zahlreiche Aufklärer waren
ausgemachte Judengegner. Männer wie
Montesquieu, Rousseau, Diderot und vor
allem Voltaire sahen in den Juden zwar
nicht mehr die Christusmörder und
Feinde des Menschengeschlechts, wie
das jahrhundertelang geschehen war,
aber dafür waren sie der Ansicht, die
Juden seien gefährliche Vertreter des
Aberglaubens, des mittelalterlichen Den-
kens, das es zu überwinden gelte.
Auch der vielgerühmte Kant, der eine
Reihe jüdischer Schüler hatte, und zuge-
gebenermaßen große Stücke auf den
Berliner Philosophen Moses Mendels-
sohn hielt, war nicht frei von antijüdi-
schen Vorurteilen. Kam er auf Juden und
Judentum zu sprechen, dann sprach er
wie ein Kirchenmann des Mittelalters,
der den Juden jede Daseinsberechtigung
absprach. An verschiedenen Stellen sei-
nes opus empfiehlt Kant sogar eine „Eut-
hanasie des Judentums“, dessen einzige
Chance es sei, sterbend im Christentum
aufzugehen.
In seiner „Anthropologie“, in der Kant
die Juden „Palästiner“ nennt, unterstellt
er ihnen „Wuchergeist“ und bezeichnet
sie als eine "Nation von Betrügern". Es ist
sicher nicht der antisemitischste Text der
Weltliteratur, wie das der Wiener Philo-
soph Otto Weininger meinte, aber er läßt
doch erkennen,daß Kant und andere Auf-
klärer an die Grenzen ihrer Bemühungen
dort stießen, wenn von ihnen gefordert
oder verlangt war, sich von überkomme-
nen Bildern und Vorurteilen zu befreien.
50
Zweckmäßigkeit und Staatsräson
Dazu waren die meisten nicht in der Lage.
An der Einstellung gegenüber den
Juden und gegenüber Judentum läßt sich
im übrigen feststellen, ob diejenigen, die
sich Ende des 18. Jahrhunderts für aufge-
klärt hielten, tatsächlich aufgeklärt
waren oder nicht. Diejenigen, die es
waren, und Aufklärung nicht nur als Lip-
penbekenntnis begriffen, schlossen in
ihre Bemühungen alle Menschen ein,
gleichgültig ob es sich um Christen, Mos-
lems, Heiden oder Juden handelte. Sie
kämpften nicht nur gegen die Fesseln des
Dogmatismus, sondern gegen alle For-
men mittelalterlichen Aberglaubens.
Weder Staat noch Kirche, meinten sie,
hätten das Recht, den einzelnen auf
irgendwelche religiöse, weltanschauliche
oder moralische Überzeugungen festzu-
legen.
Es dürfte eines der bleibenden Verdien-
ste des Berliner „Weltweisen“ Moses
Mendelssohn gewesen sein, gerade die-
sen Sachverhalt in seinem Buch „Jerusa-
lem oder über religiöse Macht und Juden-
tum“ problematisiert zu haben. Bei sei-
nem Ersterscheinen 1783 erregte das
Buch Aufmerksamkeit und wurde
sogleich zum Tagesgespräch in den Berli-
ner Salons. Daß ein rechtloser Jude das
Recht in Anspruch nahm, sich für seine
unterdrückten Glaubensbrüder einzuset-
zen, war schon ein ungewöhnliches
Ereignis. Staunen und Bewunderung
aber erregte es, daß ausgerechnet ein
rechtloser Jude es wagte, freimütig das
Verhältnis von Staat und Kirche zu erör-
tern sowie für die Prinzipien Gewissens-
freiheit, Gerechtigkeit und Toleranz ein-
zutreten.
Dem Staat gestand Mendelssohn zwar
das Recht zu, in bestimmten Fällen einzu-
schreiten, aber nur dann, wenn die ethi-
schen und sozialen Grundlagen des Staa-
tes gefährdet, die Staatsautorität durch
Atheismus, Epikureismus oder Fanatis-
mus in Frage gestellt sein sollte.
Grundsätzlich war er der Ansicht, der
Staat habe in Fragen der Religion eine
Haltung der Neutralität einzunehmen.
Auch die Kirche dürfe sich nicht der
Staatsgewalt bedienen, meinte Mendels-
sohn. Gesinnungen, Meinungen und
Überzeugungen sollten weder durch den
Staat noch durch die Kirche irgendwelche
Einschränkungen erfahren: „Grundsätze
sind frei, Gesinnungen leiden ihrer Natur
nach keinen Zwang, keine Bestechung.
Weder Kirche noch Staat haben also das
Recht, Grundsätze und Gesinnungen der
Menschen irgend einem Zwang zu unter-
werfen“.
Wenn Mendelssohn für religiöse Dul-
dung und gegenseitige Toleranz warb,
dann hatte er die Lage seiner Glaubens-
brüder im Blick und deren Forderung
nach politischer Emanzipation und ge-
51
Julius H. Schoeps
52
sellschaftlicher Anerkennung. Dem Staat
wollte er bei der Durchsetzung dieser For-
derung keine besondere Rolle zugewie-
sen wissen. Das ist insofern verständlich,
als der Staat zur Zeit Mendelssohns der
Gegner war, der die geforderten Rechte
verweigerte. Drei Generation später sah
das anders aus. Die rechtliche Gleichbe-
rechtigung war jetzt erreicht und seitens
des deutschen Judentums wurde im
Staat nicht mehr der Gegner, sondern der
Beschützer gesehen. Ihm wies man die
Funktion zu, als Garant für Gewissens-
freiheit, Gerechtigkeit und Toleranz auf-
zutreten.
Hitler und die Nazis haben diese Idee
ad absurdum geführt und das Vertrauen
der deutschen Juden in den deutschen
Staat auf das Gröblichste mißbraucht.
Julius H. Schoeps ist seit 1992 Professor für Neuere Geschichte (Schwerpunkt: deutsch-
jüdische Geschichte) und Direktor des MMZ an der Universität Potsdam
53
Was ist europäische Identität?Die Entstehung von kollektiven Iden-
titäten ist ein langwieriger Prozeß, der
gewöhnlich durch soziale Praxis und
soziale Beeinflussung (Ideologie) zu-
stande kommt. Im Fall Europas ist dieser
Prozeß besonders kompliziert, wofür sich
drei Gründe anführen lassen. Einerseits
spielen nationale Identitäten in Europa
weiterhin eine wichtige Rolle, was den
Nationalstaat zur primären Solidaritäts-
sphäre macht. Zweitens fallen die iden-
titätsschaffenden Ressourcen der EU, die
auf Solidarität basieren, bescheiden aus.
Diese Bescheidenheit betrifft dabei weni-
ger den Umfang der Solidaritätsleistung
als ihre Form. In der EU dominiert näm-
lich eine instrumentelle Solidarität der
Ausgleichszahlungen und Paketgesch-
äfte. Drittens erzeugt die EU (vor allem
auf der supranationalen Ebene) Diskrimi-
nierungseffekte, welche die asymmetri-
sche Machtverteilung zwischen den jetzi-
gen Mitgliedern und den Beitrittskandi-
daten noch verstärken.
Der Nationalstaat bleibt der primäre
Solidaritätsrahmen der Gesellschaft, weil
die nationalen Verpflichtungen vor allem
politischer Natur sind. Sie ergeben sich
dabei nicht nur aus dem wie auch immer
psychologisch definierten Zusammen-
gehörigkeitsgefühl, sondern vor allem
daraus, daß demokratisch organisierte
Nationalstaaten eine nationale Solida-
rität auf eine legitime Art und Weise
erzwingen können. Die ‘Produktion’ der
kollektiven (politischen) Identität hat
somit viel mit demokratischer Kontrolle
der politischen Entscheidungen zu tun.
Natürlich basiert eine kollektive Identität
auch auf einer Gerechtigkeitsvorstellung,
welche die Form der Solidarität konkreti-
siert.
Die anspruchsvollen Ideale der „Erfah-
rungs-, Erinnerungs-, und Kommunikati-
onsgemeinschaft scheinen sich in der EU
kaum erfüllen zu lassen. Der Erinne-
rungssgemeinschaft EU fehlt heute die
raison d’être der 50er Jahre, sie war
damals mentale Folge des Zweiten Welt-
krieges. Die EU von heute ist kein exklusi-
ves Instrument der Friedenssicherung.
Als friedensfördernd gilt mittlerweile
Chancen des Zusammenwachsens inEuropa: Übergang zu einer EuropäischenIdentität?von Pavel Karolewski
Pavel Karolewski
jedes System von Demokratien, dies auf-
grund der empirisch gestützten These,
daß Demokratien keinen Krieg gegenein-
ander führen. Auch die Erfahrungsge-
meinschaft EU, bezogen auf Wohlfahrt
und niedrige Arbeitslosigkeit, steht
bereits seit länger als zehn Jahren unter
Druck. Am weitesten ist die Kommunika-
tionsgemeinschaft EU entwickelt, ange-
sichts der Tatsache, daß die Institutionen
der EU regelmäßigen und extensiven
Kommunikationsaustausch zwischen
europäischen Akteuren (hauptsächlich
allerdings Eliten) erlauben. Die Kommu-
nikationsgemeinschaft reicht jedoch für
die Herausbildung einer europäischen
Identität nicht aus. Dieses Konzept unter-
stellt nämlich, daß Individuen ‘identisch’
werden, wenn sie intensiv miteinander
kommunizieren, was eine wirklichkeits-
fremde Annahme ist . Darauf hat kürzlich
auch Michael Zürn („Regieren jenseits
des Nationalstaates“) aufmerksam ge-
macht. (Ist damit nicht aber die Ausbil-
dung eines Gruppenbewußtseins ge-
meint? Ist das so unrealistisch?)
Osterweiterung und europäische Identität
In Anbetracht der schwachen Gemein-
schaft in der EU sowie angesichts des
demokratischen Defizits der EU bleibt die
Beachtung bzw. Übernahme des acquis
communautaire durch die EU-Mitglieder
und Kandidaten als einzige identitätsstif-
tende Grundlage der EU übrig. In bezug
auf die Kandidatenländer wird die Über-
nahme des acquis viel strenger beachtet.
Das ergibt sich daraus, daß die Anwen-
dung der europäischen Regelungen in
den Mitgliedstaaten nur stockend voran-
kommt. Die Mitgliedstaaten erfüllen
ihren Verpflichtungen in bezug auf den
Binnenmarkt nicht nur unzureichend,
beispielsweise wurden die Verpflichtun-
gen von Lissabon 2000 bislang nur teil-
weise realisiert. Bis Ende Juni 2001 wer-
den es die EU-Mitglieder allenfalls schaf-
fen, 20 der 36 für diesen Termin verein-
barten Entscheidungen umzusetzen. Der
größte Nachzügler ist Frankreich, das-
selbe EG-Gründungsmitglied, das so
gerne seine Funktion als Integrationsmo-
tor hervorhebt. Ungefähr 12% der
europäischen Regelungen werden durch
ein oder mehrere Mitgliedsländer nicht in
Kraft gesetzt. Dieses Defizit wird nun
sogar als Argument für eine bedingungs-
lose Übernahme des acquis durch die
Kandidatenländer verwendet. Einerseits
werde nämlich damit die Symbolik des
europäischen Besitzstandes entspre-
chend gefördert und andererseits die
Durchsetzung des Europarechts in den
alten Mitgliedstaaten motiviert. Die
damit einhergehende Ungleichbehand-
lung der Mitglieder und der Kandidaten
erscheint, vorsichtig ausgedrückt, proble-
matisch.
54
Chancen des Zusammenwachsens
Identität beinhalte nicht nur gemein-
same Werte und das Gefühl der
Zugehörigkeit (passive Identität), son-
dern auch die Fähigkeit zur nicht-instru-
mentellen Solidarität (aktive Identität?),
das gilt vor allem für Krisen. Instrumen-
telle Solidarität, welche in der EU vor-
herrscht, basiert auf dem Prinzip des Aus-
tausches von Ressourcen und Leistungen.
Einzelne Integrationsschritte in der EU
werden meist mit dem Mechanismus der
Ausgleichszahlung erreicht, hierfür war
Nizza der Gipfel im Wortsinne. Die
europäische Verteilungssolidarität hat
also einen instrumentellen Charakter,
weswegen die heutige EU stark der Durk-
heimschen mechanischen Gemeinschaft
ähnelt, die auf Riten (bedingungslose
Übernahme des acquis communautaire)
sowie einer kostspieligen Initiation (z.B.
Leistungsbilanzdefizite der Kandidaten
zugunsten der alten Mitglieder) begrün-
det ist. Durch die den Kandidaten zusätz-
lich entstehenden Kosten sollte bei die-
sen Loyalität erzeugt werden (Hirsch-
man), nicht zuletzt im Hinblick darauf,
daß machtpolitisch benachteiligte Ak-
teure an einem Projekt mit asymmetri-
scher Machtverteilung teilnehmen sol-
len. Die europäische Union ist ein funk-
tionales Gebilde, durch welches Länder
wie Frankreich und Deutschland ihre
nationalen Interessen besser durchset-
zen können als durch unilaterales Han-
deln. Die EU als Zweckverband bietet
somit keine Grundlage für eine aktive
Identität.
Ähnlich verhält es sich bezüglich der
Übernahme des Besitzstandes der EU.
Dahinter versteckt sich das Projekt der
sozial und ökologisch verträglichen
Erweiterung, welches vor allem die Ent-
stehung und Konsolidierung einer neuen
Peripherie innerhalb der EU fördern wird.
Dies läuft gegen die Idee einer auf Solida-
rität basierenden EU, welche als Grund-
lage einer europäischen Identität dienen
könnte, und ist vielmehr aufs engste mit
dem Projekt des Kerneuropa verbunden,
welches für die Herausbildung einer
europäischen Identität kaum förderlich
ist. Das Konzept des Kerneuropa von
Joschka Fischer läßt sich nur vor dem Hin-
tergrund des Konzeptes der Peripherie
verstehen. Länder, die nicht zum Kern
gehören, sind zwangsläufig Teil der Peri-
pherie. Wenn aber betont wird, daß der
Unterschied zwischen Kern und Periphe-
rie nicht groß sein darf, dann stellt sich
automatisch die Frage: Wozu überhaupt
ein Kern? Das Konzept des Kerneuropas
stellt automatisch, ohne daß dies beab-
sichtigt sein muß, eine Bedrohung für die
europäische Identität dar, weil es die
Spaltung zwischen dem wohlhabenden
Kern und der pauperisierten Peripherie
fortsetzt oder gar vertieft. Ein Kerneuropa
kann sehr leicht zum Ausschluß Osteuro-
pas führen, was den Sinn und Zweck der
Osterweiterung in Frage stellt.
55
Pavel Karolewski
Ähnliche Ausschlußvorschläge wurden
Anfang der 90er Jahre unterbreitet. Vor
dem Hintergrund der Hoffnung integrati-
onsfreudiger westeuropäischer Staaten,
daß die Integration im Club der am wei-
testen fortgeschrittenen Mitglieder ver-
tieft wird, wurden Osteuropa wenig
ambitionierte Angebote europäischer
Integration unterbreitet, unter anderem
die damalige KSZE und die europäische
Konföderation von François Mitterrand.
Das Inkrafttreten der Regelungen der
EU im Bereich des Arbeits- und Umwelt-
schutzes wird zu einer Belastung für die
Unternehmen der Kandidatenländer
werden. Die Durchsetzung der Umwelt-
standards wird die Beitrittsländer mit
ungefähr 150 Milliarden DM belasten,
welche von der EU nur im Bruchteil getra-
gen werden. Dies betrifft vor allem kleine
und mittlere Unternehmen, ihnen wer-
den zusätzliche Ausgaben aufgebürdet,
die ihre Konkurrenzfähigkeit kaum
erhöhen. Bestenfalls wird dies Entlassun-
gen der Arbeitnehmer, schlimmstenfalls
den Bankrott dieser Unternehmen zur
Folge haben. Dies wird vor allem für Polen
zu einem ernsten Problem, wo die
Arbeitslosigkeit heute bereits fast 16%
beträgt, und was die Frage der Konkur-
renzfähigkeit der polnischen Unterneh-
men nicht nur akademisch erscheinen
läßt.
Von den neuen Regelungen für Osteu-
ropa werden vor allem westeuropäische
Unternehmen profitieren, die entspre-
chende Technik für den Umweltschutz
herstellen. Demzufolge ist angesichts der
gewachsenen Importe eine Verschlechte-
rung des Leistungsbilanzdefizites dieser
Länder, insbesondere Polens, zu erwarten.
Dies könnte zu einer Destablisierung
führen, weil die Einnahmen aus der Priva-
tisierung der Staatsbetriebe bald zu Ende
sind. Selbst die Europäische Kommission
konzediert, daß die größte Bedrohung für
die Stabilität der polnischen Volkswirt-
schaft in dem hohen Leistungsbilanzdefi-
zit liegt. 94% des Defizits wurden im letz-
ten Jahr durch die privatisierungsbeding-
ten ausländischen Transfers, darunter
43% durch die Privatisierung der polni-
schen Telekom, gedeckt. Mit den sinken-
den Privatisierungseinnahmen wird es
für Polen allerdings immer schwieriger,
das finanzielle Gleichgewicht des Staates
zu halten. Dies zeigt die Widersprüchlich-
keit (und die Kontraproduktivität - weg-
lassen) der europäischen Erweiterungs-
strategie. Einerseits wurde die Fähigkeit
der Kandidaten, den Wettbewerbskräften
standzuhalten, vorausgesetzt. Anderer-
seits wird gerade durch die Übernahme
vieler Regelungen des acquis commun-
autaire diese Fähigkeit unterminiert.
56
Chancen des Zusammenwachsens
Welche Identität nach der EU-Osterweiterung?
Für eine europäische Identität, die
nichtinstrumentelle Solidarität impli-
ziert, gibt es heute in der EU keine Anzei-
chen. Die Diskussion über die Übergangs-
fristen zeigt dies deutlich. Die Weigerung
Deutschlands und Österreichs in dieser
Frage, trotz eindeutiger Negativgutach-
ten über Massenmigration, relativiert bis
zu einem gefährlich Grad den grundle-
genden Wert der Integrationsidee (Nie-
derlassungsfreiheit). Abgesehen davon
wird hier die fehlende Bereitschaft zur
Solidarität signalisiert. Die Aufnahme
mittelosteuropäischer Arbeitssuchender
wäre dabei ein deutliches Zeiches der
Solidarität. Eine solche Forderung klingt
jedoch im heutigen europäischen Kon-
text fast höhnisch. Insbesondere die Dro-
hungen Österreichs (bei einer sehr niedri-
gen Arbeitslosenquote) mit einer Block-
ade der Osterweiterung zeigen un-
mißverständlich,daß die nichtinstrumen-
telle Vorstellung einer europäischen Soli-
darität bis auf weiteres utopisch bleibt. In
einer solidarischen EU, von der allzu oft
gesprochen und geschrieben wird, hätte
die Hilfe für Regionen und Staaten in Kri-
sen Priorität. Die 16%-ige Arbeitslosigkeit
ist eine immense Belastung für den bei-
trittswilligen Transformationsstaat Po-
len. Die Aufnahme polnischer Arbeitneh-
mer durch Deutschland und Österreich
würde die sozialen Verpflichtungen des
polnischen Staates etwas verringern
sowie möglicherweise auch die Kosten
für die Umschulung reduzieren.
Diese Frage betrifft die Sphären der
Gerechtigkeit und Solidarität. Wenn man
davon ausgeht, daß Europa (und nicht
Amerika oder Asien oder Afrika) die
primäre Solidaritätssphäre der EU sein
soll (und gerade dies versteckt sich in
dem Postulat der europäischen Identität),
dann müßte dies auch praktische Konse-
quenzen haben.
Die gleichzeitige Öffnung Deutsch-
lands und Österreichs bezüglich der
High-Tech-Fachleute wird zur Drainage
der Humanressourcen aus den Kandida-
tenländern führen, was die periphäre
Lage dieser Länder noch vertiefen wird.
Dabei wird das Prinzip der Fairneß ver-
letzt, da die hochqualifizierten Arbeit-
nehmer aus Kandidatenländern unter
Nutzung nationalstaatlicher Ressourcen
ausgebildet wurden. Demnach erinnert
die europäische Politik der Übergangsfri-
sten an eine Form der ‘beggar-thy-
neighbour’-Taktik, durch welche die Kan-
didatenstaaten immer weiter in eine
periphäre Lage gedrängt werden.
Die heutige EU erinnert trotz eines
bestimmten Grades an Supranationalität
in vielerlei Hinsicht an ein System atomi-
sierter Akteure (im Sinne von Hannah
Arendt), in dem Solidarität instrumentali-
57
Pavel Karolewski
siert wird. So spricht sich zwar Spanien
gegen die Übergangsfristen für Kandida-
tenstaaten aus, aber nur, weil es sich
dadurch die Weiterzahlung der Struktur-
fondgelder sichern möchte. Auch
Deutschland gelingt es, die Europäische
Kommission aus wahlpolitischen Überle-
gungen zu instrumentalisieren. Es er-
scheint kaum zufällig, daß die Kommis-
sion die deutschen Forderungen nach
Übergangsfristen für die Freizügigkeit
widerspruchslos übernommen hatte.
Weil atomisierte Staaten aufeinander-
prallen, wird eine Abwehrpolitik der
Nationalstaaten gegen konfligierende
Interessen anderer Staaten wahrscheinli-
cher. In solcher Situation bleibt die Vor-
stellung einer europäischen Identität nur
Wunschdenken.
Wie wenig über die Werte der europäi-
schen Integration reflektiert wird, zeigt
die Argumentation des Erweiterungs-
kommissars bezüglich der Kapitalbewe-
gungsfreiheit. Diese bilde eine Grundlage
der EU und dürfe mit allzu langen Über-
gangsfristen nicht eingeschränkt wer-
den. Diese Sicht ist nicht nur problema-
tisch, sondern auch gefährlich, da sie den
Eindruck des kapitalistischen Elitismus
verstärkt (das Kapital im Gegensatz zur
Arbeit mußte man nie für die Idee der EU
begeistern). Die Kapitalbewegungsfrei-
heit wird überbetont, die Niederlas-
sungsfreiheit ignoriert. Wie bedeutsam
jedoch eine ‘bevölkerungsorientierte`
Europapolitik ist, zeigen die Proteste in
Seattle, Zürich und Quebec. Dies sind
keine Zufälle, sondern Anzeichen des
Phänomens eines sich formierenden
Widerstandes gegen die als ungerecht
begriffene Internationalisierung. Diese
Proteste illustrieren deutlich, daß der Ort
der Demokratie und Verantwortlichkeit
in integrierten und globalisierten Räu-
men unterbestimmt bleibt. Die Antiglo-
balisierungsbewegung ist möglicher-
weise der Anfang einer ähnlichen Ent-
wicklung in Europa. Die Grundlage dafür
stellen atomisierte, ignorierte und verär-
gerte Individuen dar, die auf der Suche
nach Sicherheit (welche in der sogenann-
ten Postmoderne ein Knappgut ist) sind.
Die Tatsache, daß die Sinnhaftigkeit der
EU heute noch nicht ernsthaft in Frage
gestellt wird, ist auf die Nachwirkung des
permissive consensus aus der Zeit des
Kalten Krieges zurückzuführen. Dazu
kommt noch die beschränkte Möglich-
keit der Artikulation der Unionsbürger.
Nur in wenigen Staaten wurden die Bür-
ger über europäische Projekte um Akzep-
tanz gebeten. Mit der Osterweiterung
wird sich das verändern.
Im Augenblick verfügt die EU über
keine belastbare europäische Identität,
die Diskriminierungseffekte erlauben
würde. Die Frage, ob die EU die Osterwei-
terung überdauern wird, und zwar nicht
58
Chancen des Zusammenwachsens
59
wegen der institutionellen Ineffizienzen,
sondern vor allem wegen der fehlenden
europäischen Solidarität, ist keinesfalls
nur akademisch.
Pavel Karolwski studierte an der Universität Potsdam, promovierte bei Prof. Dr. Heinz Kle-
ger zum Thema „Funktionalismus oder Föderalismus“ und ist wissenschaftlicher Mitarbei-
ter am Lehrstuhl für politische Theorie.
Lässt man sich eine Aufstellung über
die wichtigsten Industriestandorte zu
DDR-Zeiten im heutigen Brandenburg
geben, dann kommen einem unmittelbar
die Worte Fontanes in den Sinn: „Ich bin
die Mark durchzogen und habe sie rei-
cher gefunden als ich zu hoffen gewagt
habe.“
Es gab die petrochemische Industrie in
Schwedt, die Braunkohle in der Lausitz
und die Textilindustrie in Cottbus, Forst
oder Spremberg, die auf eine schon lange
Tradition zurückblicken konnte. In ähnli-
cher Tradition standen die Glaskombi-
nate in Döbern. Schwermaschinenbau
gab es in Lauchhammer, die Stahlindu-
strie hatte ihre Standorte in Eisenhütten-
stadt aber auch in Brandenburg an der
Havel und die Halbleiterindustrie in
Frankfurt/Oder. Es ließen sich noch eine
ganze Reihe weiterer Beispiele aufzählen.
So wenig war dies gar nicht, das meiste
ist jedoch während der Wende wegge-
brochen und nur wenig überlebte in stark
reduzierter Form.
Es gab schon früher Beispiele des Zer-
falls einer Region, denkt man an das
Ruhrgebiet oder an das Saarland und den
Wegbruch der Kohle- und Stahlindustrie.
Dort wurde der Umbruch durch den Auf-
bau einer neuen Industrie, einer besseren
und innovativen Wirtschaft geschafft. Als
Initialzündung für diese Entwicklung
wurde eine große Zahl von Hochschulen
gegründet,die High-Tech-Firmen mit auf-
bauten bzw. erst in die Region zogen.
Ähnliches plante – und ich denke damals
sehr gut beraten – nach der Wende die
Brandenburger Regierung.
Es wurde eine Hochschullandschaft
mit neuen Hochschulen, davon 3 Univer-
sitäten, dezentral verteilt über das Land
geschaffen, die als Motor für die Region
und deren Entwicklung wirken sollen.
34.400 flächenbezogene Studien-
plätze wurden geplant, gerade für soviel
Studenten, wie an einer mäßig großen
Universität studieren. Bezogen auf die
Bevölkerungszahlen ist dies zwar die
geringste Studienplatzdichte in ganz
Deutschland, aber die Idee war gut und
die Lehr- und Forschungsschwerpunkte
61
Wissenschaftliche technische Entwicklungund Leitbild für die InfrastrukturpolitikProf. Dr. rer. nat. habil. Dr. h. c. Ernst Sigmund
Prof. dr. rer. nat. habil. Dr. h. c. Ernst Sigmund
wurden auf die Charakteristika der ver-
schiedenen Regionen abgestimmt.
Positive Anschauungsbeispiele gibt es
weltweit zu genüge, das Ruhrgebiet
wurde schon erwähnt, das bekannteste
Beispiel, das in aller Munde ist, ist Kalifor-
nien und das viel gepriesene Silicon Val-
ley, aber genauso muss Holland z. B. mit
der Region Eindhoven und seiner techni-
schen Universität erwähnt werden.
Die Brandenburger Hochschulen
haben ihren Auftrag angenommen und
mit viel Pioniergeist und Enthusiasmus
den Aufbau begonnen. Von der ersten
Minute an wurden Studenten immatri-
kuliert, es wurde gelehrt, geforscht und
es wurde die partnerschaftliche Zusam-
menarbeit mit der Wirtschaft gesucht. Es
gab keine mehrjährige Schonfrist wie es
sonst bei Hochschulgründungen üblich
ist. Jeder, der die klassische Hochschul-
landschaft und deren Zeitskalen kennt,
und der weiß, dass von der Idee eines
Studienganges bis hin zum ersten Absol-
venten etwa 7 Jahre vergehen, der weiß
auch, dass in den 10 Jahren der Existenz
der Brandenburger Hochschulen eine
Erfolgsstory geschrieben wurde.
Das Land Brandenburg ist jedoch nicht
konsequent. Die Hochschulen sind wie in
keinem anderen Bundesland unterfinan-
ziert und die positive Aufwärtsentwick-
lung stagniert in vielen Bereichen. Etwa
20.000 der geplanten Studienplätze sind
erst gebaut und es gibt Stimmen von Per-
sonen, die sogar Wert darauf legen, dass
man sie ernst nimmt,wenn sie sagen,das
Land hätte sich mit seinen Hochschulen
übernommen.
Untersucht man die Wirkung der
Hochschulen in den Regionen, so kommt
man zu ganz beeindruckenden Resulta-
ten, für die man jedoch erst den Blick des
Betrachters öffnen muss. Es sind drei
Bereiche, in denen sich die Wirkung des
Regionaleinflusses der Hochschulen ver-
deutlicht. Dies sind:
• der direkte Kaufkraftzufluss durch die
Mitarbeiter der Hochschule, durch die
Studenten, die vielen Gäste, die Aktivitä-
ten in und um die Hochschule herum
• der Wertzuwachs an Humankapital
durch die Arbeit der Hochschule und
damit die Zunahme der Attraktivität der
Region
• die Sicherung und der Aufbau von
innovativen Arbeitsplätzen durch Bera-
tung und Weitergabe von Wissen und
Erfahrung an Partner in der Wirtschaft,
durch Unterstützung von Firmengrün-
dungen und Firmenansiedlung.
Die Hochschulen haben sich in der Zwi-
schenzeit durch ihre Aktivitäten ein Netz-
werk von Zusammenarbeit und Partner-
62
Wissenschaftliche technische Entwicklung und Leitbild für die Infrastrukturpolitik
schaften aufgebaut, wie es keine andere
Institution besitzt bzw. besitzen kann.
Unter den 9 Hochschulen des Landes
ist die Brandenburgische Technische Uni-
versität in Cottbus (BTU) die einzige tech-
nische Universität in Brandenburg. Sie ist
eine Neugründung und konnte völlig neu
strukturiert aufgebaut werden. So etwas
ist nur bei Neugründungen möglich und
von großem Vorteil, wenn man sieht, wie
schwer und kaum machbar sich die
Hochschulen – und dies sowohl im Osten
als auch im Westen – verändern lassen.
Die BTU hat naturwissenschaftliche
und technische Ausrichtungen mit Lehr-
und Forschungsschwerpunkten, die
einen Bezug zur Region besitzen.
In der Forschung werden zur Zeit etwa
300 Projekte bearbeitet, die von außerhalb
finanziert bzw. mitfinanziert werden und
die ein Gesamtvolumen von über 90 Mio.
DM haben. In den letzten Jahren flossen
durch diese Projekte immer zwischen 20
und 25 Mio.DM pro Jahr in den Hochschul-
haushalt ein. Dies entspricht etwa einem
Viertel des Haushaltes, der bei etwas über
90 Mio.DM liegt.Eine Relation,die die Uni-
versität in die Gruppe der erfolgreichen
Einrichtungen in Deutschland bringt. Und
dies nach nur 10 Jahren der Existenz. Etwa
ein Drittel der Forschungsprojekte kom-
men aus der freien Wirtschaft.
Repräsentativ für alle Brandenburger
Hochschulen sollen hier ein paar Bei-
spiele aufgezeigt werden. Das Energie-
Ressourcen-Institut (ERI) arbeitet mit der
Unterstützung der großen Energieunter-
nehmen wie der VEAG, der LAUBAG und
anderer im Bereich der Energietechnik. Es
werden Verbrennungsverfahren entwick-
elt bzw. weiterentwickelt wie z. B. das
druckaufgeladene Wirbelschichtverfah-
ren, es werden Filtersysteme untersucht,
die Biogasproduktion aus nachwachsen-
den Rohstoffen wird genauso studiert
wie die Solartechnik oder der Einsatz von
Brennstoffzellen.
Auf dem Gebiet der Materialforschung
haben sich in Cottbus zwei Schwer-
punkte etabliert, nämlich einerseits die
Halbleitersysteme und andererseits die
Leichtbauwerkstoffe.
Bei den Halbleitersystemen wird sehr
eng und erfolgreich mit dem IHP, der
Innovations for High Performance/Micro-
electronics GmbH in Frankfurt/Oder, mit
der gemeinsam ein Joint Lab gegründet
wurde, aber auch mit anderen außeruni-
versitären Forschungseinrichtungen und
Firmen zusammengearbeitet.
63
Prof. dr. rer. nat. habil. Dr. h. c. Ernst Sigmund
In diesem Bereich wurde ein sehr
attraktiver Studiengang über Halbleiter-
technologie entwickelt,um sicher zu sein,
dass für die Industrie die nötigen Nach-
wuchskräfte ausgebildet werden.
Bei den Leichtbauwerkstoffen wird die
Herstellung und Bearbeitung neuer
Materialien, wie z. B. metallische Werk-
stoffe Magnesium und Titanlegierungen
erforscht, aber auch Verbundwerkstoffe
und Kunststoffe, Polymere werden unter-
sucht. Es bestehen hier ganz enge Koope-
rationen mit der Industrie, praktisch der
gesamten Automobilindustrie aber auch
mit Firmen wie Thyssen, Eko-Stahl oder
Rolls Royce bzw. der Firma BASF und
anderen Firmen auf dem Kunststoffsek-
tor. Diese Aktivitäten werden über die
gemeinnützige GmbH Panta Rhei koordi-
niert und erarbeitet.
Die erarbeiteten Projekte und Entwick-
lungsschwerpunkte müssen sehr genau
mit den neuesten technologischen Ent-
wicklungen der Wirtschaft aber auch auf
die Möglichkeit und Bedürfnisse der
Region abgestimmt sein. Es ist ganz
wichtig für eine Hochschule, aber auch
für ein Land, Alleinstellungsmerkmale zu
erhalten. Nur dies gibt langfristig Sicher-
heit und Stabilität. Für die Region Cottbus
ist es jetzt schon abzusehen, dass dies
Konsequenzen bei der Ansiedlungsent-
scheidung großer Firmen haben wird.
Nimmt man an, dass die BTU Cottbus
durch ihre Projekte und Aktivitäten etwa
800 High-Tech-Arbeitsplätze initiiert, und
diese Zahl ist sehr realistisch, dann
fließen durch diese und die Sekundärar-
beitsplätze dem Staat jährlich Steuern in
der Größenordnung des BTU Haushaltes
zu. Rechnen wir hierzu auch noch die
durch unsere Studenten und Mitarbeiter
in die Region gebrachte Kaufkraft, dann
ist dies mindestens noch einmal das 1 1/2
–fache des BTU Haushaltes.
Diese Beispiele ließen sich für die
Hochschule noch beliebig fortsetzen.
Was ist notwendig, was können wir
noch mehr tun?
Für ein Land und seine positiven Stan-
dortfaktoren ist einer der wichtigsten
Punkte die Ausbildung des Nachwuchses,
der Arbeitskräfte. Es müssen attraktive,
zukunftsorientierte Studiengänge und
ein breitgefächertes Weiterbildungsan-
gebot in Absprache mit der Wirtschaft
angeboten werden. Um die Zukunft
bestehen zu können, ist ein wichtiges Ziel
die Internationalisierung der Hochschu-
len.
Internationale Studiengänge mit Eng-
lisch als Unterrichtssprache müssen ver-
stärkt eingerichtet und die Zahl der aus-
ländischen Studierenden muss weiter
64
Wissenschaftliche technische Entwicklung und Leitbild für die Infrastrukturpolitik
65
gesteigert werden, was im übrigen
neben einem faszinierenden, multikultu-
rellen Klima unter anderem auch zu einer
Qualitätssteigerung in den Studiengän-
gen führt.
Unsere Gesellschaft geht in raschen
Schritten von der klassischen Industrie-
gesellschaft in eine Kommunikations-
und Wissensgesellschaft über. Für das
Wissen wird es im Internet-Zeitalter
keine Ländergrenzen mehr geben und
ausländische Partner müssen verstärkt in
die tägliche Arbeit integriert werden.
Dem eigenen Nachwuchs, den Landes-
kindern muss das notwendige Wissen
zur Bewältigung der neuen Herausforde-
rungen der Zukunft vermittelt werden
und das Land muss den übergroßen
Schritt von einer nicht mehr leistungs-
fähig gewesenen Industriekultur in das
neue Zeitalter von Internet und High-
Tech schaffen.
Dies kann nur in enger Kooperation
aller Partner, der Wissenschaft, der Wirt-
schaft und der Politik geschehen. Die wis-
senschaftliche technische Entwicklung
des Landes muss zum Leitbild auch für
die Infrastrukturpolitik werden.
Prof. Dr. Ernst Siegmundist Präsident der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus.
67
Die Studie thematisiert drei zentrale
Fragestellungen, die für die künftige Ent-
wicklung in Berlin-Brandenburg von
besonderer Bedeutung sind: Die Konse-
quenzen aus dem starken Geburtenein-
bruch in der Nachwendezeit in Ost-
deutschland, die aus den Migrationsströ-
men in der Region Berlin-Brandenburg
resultierenden demographischen und
ökonomischen Effekte sowie den Stand
der Anpassungsprozesse beim Aufbau
der Infrastruktur.
ÖkonomischeEntwicklung/Arbeitsmarkt
• Das Land Brandenburg ist durch
extreme sozio-ökonomische Disparitäten
zwischen den berlinfernen und berlinna-
hen Räumen gekennzeichnet. Diese
Disparitäten haben in den letzten Jahren
in der Tendenz eher zugenommen.
Während in den peripheren Räumen von
1995 bis 1999 nahezu 14% der Arbeits-
plätze abgebaut wurden, blieb die
Beschäftigung im Berliner Umland weit-
gehend stabil und die wachstumsstärk-
sten Regionen im Berliner Umland konn-
ten sogar Beschäftigungsgewinne von
über 20% verzeichnen.
• Insgesamt gingen in Berlin im Zeit-
raum von 1995 bis 1999 ca. 10,4% und in
Brandenburg ca. 9,3% der Arbeitsplätze
verloren. Während in Brandenburg der
Arbeitsplatzabbau nahezu ausschließlich
auf die Bauwirtschaft und den Bereich
der Gebietskörperschaften begrenzt war,
haben in Berlin alle industriellen Bereiche
Jobs abgebaut. Die aus der Wiederverei-
nigung und dem Zusammenbruch der
Demographischer Wandel undInfrastrukturaufbau in Berlin-Brandenburg bis 2010/15:Herausforderungen für eine strategischeAllianz der Länder Berlin und BrandenburgZusammenfassung der zentralen empirischen Befunde und derwichtigsten Schlussfolgerungen der im Auftrag des Unternehmerverban-des Brandenburg erstellten Studie Vorgelegt im März 2001.
von Prof. Dr. Helmut Seitz
Prof. Dr. Helmut Seitz
Ostwirtschaft in Berlin resultierenden
sektoralen Änderungen mit erheblichem
Beschäftigungsabbau sind aber inzwi-
schen weitgehend abgeschlossen.
• Die sektoralen Entwicklungstenden-
zen in Berlin und im Berliner Umland zei-
gen, dass sich innerhalb der Region
bereits deutliche Tendenzen zu einer res-
sourcenorientierten interregionalen
Arbeitsteilung abzeichnen. Während sich
im Umland insbesondere flächen- und
logistikintensive Industrie- und Handels-
betriebe ansiedeln, entwickeln sich in
Berlin die höherwertigen Dienstleistun-
gen,aber auch zukunftsorientierte Unter-
nehmen im Technologie- und hightech-
Bereich des Verarbeitenden Gewerbes.
• Bereits jetzt pendeln mehr als
120.000 Brandenburger zur Arbeit nach
Berlin und mehr als 53.000 Berliner in das
benachbarte Brandenburg. Vergleiche
mit Stadtregionen in Westdeutschland
lassen erwarten, dass diese Pendlerver-
flechtungen mit zunehmender Integra-
tion des Wirtschaftsraumes in der
Zukunft noch erheblich an Intensität
gewinnen werden.
Bevölkerung/Migration• Während die anderen neuen Länder
in den nächsten 10 Jahren mit einem
Bevölkerungsverlust von ca. 7% rechnen
müssen, wird die Bevölkerungszahl in
Berlin-Brandenburg in diesem Zeitraum
weitgehend auf dem derzeitigen Niveau
stabil bleiben.
• Allerdings wird die weitgehend sta-
bile Gesamtbevölkerungsentwicklung in
der Region von erheblichen regionalen
Verschiebungen der Bevölkerungsvertei-
lung und der Altersstruktur, insbes. im
Land Brandenburg, begleitet. So werden
die berlinfernen Regionen im Land Bran-
denburg bis zum Jahr 2015 weitere ca. 11%
ihrer Bevölkerung verlieren, während die
berlinnahen Regionen durch Zuwande-
rungen aus Berlin ein Bevölkerungs-
wachstum von über 20% erreichen wer-
den.
• Die intensiven Migrationsbewegun-
gen zwischen Berlin und Brandenburg
führen zu einer zunehmenden sozio-öko-
nomischen Integration der Region. Die
auch in Zukunft zu erwartenden Wande-
rungsbewegungen von Berlin in das
Brandenburger Umland werden dazu
führen, dass in den nächsten 10 bis 15 Jah-
ren der Anteil ehemaliger Berliner an der
Bevölkerung im Umland auf 40% bis 50%
ansteigen wird. Dies wird zu einer starken
Zunahme von Berufs-, Ausbildungs- und
Schulpendlern führen,was es erforderlich
macht, gerade in den Berührungsräumen
der beiden Länder die Kapazitäten der
Verkehrssysteme anzupassen.
• In Brandenburg wird besonders der
starke Einbruch der Geburten in den
68
Demografischer Wandel und Infrastruktur in Berlin-Brandenburg bis 2010/15
Nachwendejahren und in etwas schwä-
cherer Form auch in Berlin in den näch-
sten Jahren zu einem dramatischen Rück-
gang der Bevölkerungsanteile und der
absoluten Anzahl junger Menschen
führen. Dieser Rückgang wird sich wel-
lenförmig durch das gesamte Ausbil-
dungssystem, angefangen von den allge-
meinbildenden Schulen über die berufli-
che Ausbildung bis hin in die Hochschu-
len ziehen.
Schulbereich• In Berlin-Brandenburg wird der Rück-
gang der Schulabsolventenzahlen, und
damit auch der Ausbildungs- und Studi-
enplatzbewerberzahlen, deutlich gerin-
ger ausfallen als in den anderen neuen
Ländern. So werden in Brandenburg die
Absolventenzahlen allgemeinbildender
Schulen um ca. 40% und in Berlin um ca.
18% zurückgehen, während in den ande-
ren Ländern ein Rückgang von ca. 50% zu
erwarten ist. Allerdings wird es in Bran-
denburg zu einer erheblich differenzier-
ten Entwicklung zwischen den berlinfer-
nen Regionen und dem Umland kom-
men. Während im berlinnahen Raum die
Schülerzahlen nur um ca. 20% sinken
werden, ist in den peripheren Regionen
von einem Rückgang von mehr als 60%
auszugehen.
• Der Rückgang der Schülerzahlen und
der Umstand, dass sich diese auch bei
einer Normalisierung der Geburtenraten
nicht wieder auf das hohe Niveau der
Vorwendezeit bewegen werden, stellt
insbesondere das Land Brandenburg vor
große Herausforderungen im Bereich der
Schulinfrastruktur.
• Die intensiven Migrationsbewegun-
gen zwischen Berlin und dem stadtna-
hen Umland machen eine zukünftig noch
engere Planung und Abstimmung im
Schulbereich, insbesondere in den
Berührungsräumen der beiden Länder,
erforderlich, die auch zu Kosteneins-
parungen genutzt werden kann.
Ausbildungsmarkt• Der erhebliche Nachwendegeburten-
knick in Brandenburg sowie im Ostteil
Berlins wird in ca. 5 Jahren als Rückgang
von Hauptschulabsolventen und damit
auch Berufsausbildungsbewerbern erst-
mals auf dem Arbeitsmarkt spürbar sein
und sich bis zum Jahr 2010 beschleunigt
fortsetzen.
• Sowohl in Berlin als auch in Branden-
burg ist der Ausbildungsmarkt in erhebli-
chem Umfang durch arbeitsmarktpoliti-
sche Maßnahmen beeinflusst, wobei
davon auszugehen ist, dass nahezu jeder
zweite neu besetzte Ausbildungsplatz
direkt oder indirekt staatlich gefördert
ist.
69
Prof. Dr. Helmut Seitz
• Die demographisch bedingte deutli-
che Entspannung auf dem Ausbildungs-
markt wird angebots- und nachfragesei-
tig zu Anpassungen führen, die in erheb-
lichem Umfang den absehbaren Rück-
gang bei der Ausbildungsplatzbewerber-
zahl kompensieren werden. Zu erwarten
ist eine Rückführung der aktiven Arbeits-
marktpolitik am Ausbildungsmarkt
sowie ein verändertes Ausbildungsver-
halten der Schulabgänger. Auch der
Abwanderungsdruck junger Menschen
aus den neuen Ländern wird nachlassen.
• Allerdings ist davon auszugehen, dass
die zu erwartenden Anpassungen der
Marktteilnehmer auf dem Ausbildungs-
markt nicht ausreichen werden, den
demographisch bedingten Nachfrage-
einbruch vollständig auszugleichen.
Daher besteht durchaus die Gefahr – ins-
besondere bei anziehender Konjunktur –,
dass es in der Region nach den Jahren
2008/2010 in einigen Bereichen einen
Mangel an Nachwuchskräften mit beruf-
licher Ausbildung geben wird, wovon
besonders weniger attraktive Berufsfel-
der und mittelständische Betriebe in der
Region betroffen sein werden.
Hochschulbereich/Jungakademikerar-beitsmarkt
• Mit noch größerer zeitlicher Verzöge-
rung als auf dem Ausbildungsmarkt wer-
den sich auch spürbare Rückgänge bei
den Einschreibungen an den Fachhoch-
schulen und Universitäten und mit wei-
terer Verzögerung bei den Fachhoch-
schul- und Universitätsabsolventen ein-
stellen. So ist in Ostdeutschland nach
dem Jahr 2007 mit einem erheblichen
Rückgang der Anzahl der Studienanfän-
ger zu rechnen, der sich in den Folgejah-
ren bis auf 50% des gegenwärtigen
Niveaus belaufen wird. Auf dem Jungaka-
demikerarbeitsmarkt werden diese
Effekte aber erst gegen Ende des hier
betrachteten Zeitraums, also ab den Jah-
ren 2013 - 2015 spürbar sein.
• In Brandenburg wird der Rückgang
der Studentenzahl aber deutlich geringer
sein als in den anderen Ostflächenlän-
dern. In Berlin, dessen Studienplätze zu
ca. 50% von Studenten aus anderen Bun-
desländern und dem Ausland besetzt
sind, wird die Hochschulabsolventenzahl
weniger von der demographischen Ent-
wicklung in der Stadt, sondern mehr von
der Studienplatzkapazität und damit der
Finanzierung der Berliner Hochschulen
determiniert.
Insgesamt gesehen ist somit zu erwar-
ten, dass der starke Geburtenknick in den
neuen Ländern auf dem Ausbildungs-
markt mit großer Wahrscheinlichkeit nur
in wenigen Bereichen zu einer spürbaren
Verknappung des Arbeitsangebots füh-
ren wird. Effekte auf den Jungakademi-
70
Demografischer Wandel und Infrastruktur in Berlin-Brandenburg bis 2010/15
71
kerarbeitsmarkt werden erst mit noch
größerer zeitlicher Verschiebung wirk-
sam, wobei in Berlin durchaus die
Befürchtung besteht, dass ein mangel-
haftes Angebot von Hochschulabsolven-
ten mehr durch die Finanzlage der Hoch-
schulen, als durch demographische Ent-
wicklungen bestimmt wird.
Infrastruktur• Im Hinblick auf die Verbesserung der
Anbindung der Region an das nationale
und internationale Verkehrsnetz (Auto-
bahnen, Schienenfernverkehr) wurden in
den vergangenen 10 Jahren große Ver-
besserungen erreicht.
• Immer noch große Defizite sowohl in
Berlin als auch Brandenburg gibt es noch
in den Infrastrukturbereichen die in der
unmittelbaren Verantwortung der bei-
den Länder liegen. Schätzungen nach der
Wende gingen davon aus, dass das Infra-
strukturanlagevermögen der Ostflächen-
länder nur bei ca. 40% des Westdurch-
schnitts lag, während für Gesamtberlin
mit einer Ausstattung von ca. 60% des
westdeutschen Vergleichswertes (Durch-
schnitt von Bremen und Hamburg)
gerechnet wurde.
•Wie in allen anderen neuen Ländern
ist auch in Brandenburg der Infrastruk-
turaufbauprozess bereits erheblich abge-
schwächt. Untersuchungen des DIW
kommen zum Ergebnis, dass Branden-
burg bis zum Ende des Jahres 1999 ein
Infrastrukturanlagevermögen hatte, das
bei lediglich ca. 60% des westdeutschen
Vergleichswertes lag. In Berlin ist der
Angleichungsprozess bzgl. der in der
Finanzierungsverantwortung des Landes
liegenden Infrastruktur sogar nahezu
gänzlich zum Stillstand gekommen.
• Es gibt aber nicht nur im Hinblick auf
das Niveau der Infrastrukturausstattung,
sondern auch bei der Struktur des Infra-
strukturanlagevermögens Defizite, da
gerade in Bereichen, die für die Fortent-
wicklung der Wirtschaft von zentraler
Bedeutung sind, wie z.B. im Verkehrsbe-
reich, nur unterdurchschnittliche Anpas-
sungserfolge zu verzeichnen sind.
• Das erheblich gestiegene und auch in
Zukunft weiterhin ansteigende Flugga-
staufkommen ist mit den vorhandenen
Kapazitäten nicht mehr zu bewältigen, so
dass dem Ausbau des Flughafens Berlin-
Schönefeld zum Flughafen Berlin-Bran-
denburg International eine hohe Priorität
einzuräumen ist und der Fertigstellungs-
zeitpunkt 2007 eingehalten werden
muss.
Strategische Ausrichtung der Politik inBerlin-Brandenburg
• Die größten Herausforderungen, die
aus dem Nachwendegeburtenknick und
Prof. Dr. Helmut Seitz
auch aus der regionalen Umverteilung
von Bevölkerung und Jobs in der Region
Berlin-Brandenburg resultieren, sind die
notwendigen Anpassungen infrastruktu-
reller und personeller Art in den betroffe-
nen öffentlichen Aufgabenbereichen, wie
allgemeinbildende Schulen, berufliche
Schulen und Hochschulen.
• Die erheblichen regionalen Disparitä-
ten im Land Brandenburg und der weiter-
hin von Berlin ausgehende Siedlungs-
druck auf das Umland werden insbeson-
dere in den Berührungsräumen der bei-
den Länder längerfristige Wirkungen hin-
terlassen, die beide Länder vor schwierige
Aufgaben stellen. Die Langfristigkeit der
Wirkungen und die Konzentration der
Effekte auf die Berührungsräume erfor-
dern eine intensivere länderübergrei-
fende Koordination und Planung im
Bereich der allgemeinbildenden und
beruflichen Schulen. Dies ist auch vor
dem Hintergrund knapper öffentlicher
Kassen eine Notwendigkeit, da sich durch
gemeinsame Aufgabenwahrnehmung
Kosten sparen lassen.
• Die regionalen Disparitäten in der
demographischen und ökonomischen
Entwicklung im Land Brandenburg stel-
len die Gesamtregion vor große Heraus-
forderungen. Eine langfristige und insbe-
sondere nachhaltige Verbesserung der
Standortgunst und damit der Entwick-
lungschancen der peripheren Regionen
ist nur erreichbar, wenn sie durch eine
massive Offensive im Bereich der Ver-
kehrsinfrastruktur aus den Schattenräu-
men des Verkehrs herausgeführt und
besser an das überregionale und natio-
nale Verkehrsnetz angebunden werden.
• Berlin und sein Umland stehen weni-
ger in einer Konkurrenzsituation zueinan-
der sondern vielmehr in einer Komple-
mentaritätsbeziehung, die es erforderlich
macht, die Politik in beiden Ländern noch
intensiver als bisher miteinander abzu-
stimmen und zu verzahnen.
• Völlig losgelöst von der geplanten
Fusion der beiden Länder müssen sich
Berlin und Brandenburg als einen
gemeinsamen Wirtschaftsraum begrei-
fen,der in seiner Gesamtheit mit anderen
deutschen und west- aber auch osteu-
ropäischen Regionen konkurriert. Die
ökonomische Integration der beiden Teil-
räume setzt Synergieeffekte frei, die dazu
führen,dass die Region insgesamt stärker
und wettbewerbsfähiger als die Summe
der Stärke und Wettbewerbsfähigkeit der
beiden isoliert betrachteten Teilregionen
ist. Um diese Effekte zum Vorteil der
Menschen in der Region zu entwickeln
und zu stärken, müssen die beiden Län-
der eine strategische Allianz eingehen
und die Gesamtregion im Standortwett-
bewerb bestmöglichst positionieren.
72
Demografischer Wandel und Infrastruktur in Berlin-Brandenburg bis 2010/15
73
• Die zunehmende Bedeutung von
Wissen und Humankapital als Standort-
und Wettbewerbsfaktor und die Entwick-
lungsdefizite im Bereich der Infrastruktur
müssen von der Politik zum Anlass
genommen werden, Qualifikation und
Infrastruktur als die zentralen strategi-
schen Einflussvariablen der Zukunftsent-
wicklung der Region zu betrachten. Dies
macht es erforderlich, im Bereich der
Schulen und Hochschulen ein ausrei-
chendes Angebot zu sichern und zu
finanzieren und die öffentlichen Haus-
halte stärker in Richtung investiver Mit-
telverwendung umzustrukturieren.
• Im Hinblick auf die noch immer
großen Defizite beim Infrastrukturauf-
bau muss die Region weitere Hilfe des
Bundes (in Sachen Soli II) und der finanz-
starken Westländer (in Sachen Länderfi-
nanzausgleich) einfordern, um den Infra-
strukturaufbauprozess auch in Zukunft
fortsetzen und die Infrastrukturdefizite
abbauen zu können. Weder Berlin noch
Brandenburg oder ein anderes der neuen
Länder kann die hierzu notwendigen Mit-
tel aus eigener Kraft aufbringen
Die Studie kann gegenKostenerstattung (25,- DM) beiProf. Dr. Helmut Seitz angefordertwerden unter:
Tel.: 0335-5534 611Fax: 0335-5534 610
Prof. Dr. Helmut Seitz ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, insbesondere
Wirtschaftstheorie (Makroökonomie) an der Europauniversität Viadrina Frankfurt/Oder
75
Unter der Leitung des ehemaligen Leip-
ziger Oberbürgermeisters Hinrich Leh-
mann-Grube hat eine vom Bundesbau-
minister eingesetzte Kommission einen
Bericht erarbeitet, der zu den wohnungs-
wirtschaftlichen Strukturproblemen in
Ostdeutschland analystisch Stellung ni-
mmt und Vorschläge zur Lösung dersel-
ben unterbreitet.
Die Analyse ist interessant, da sie von
einigen Vorurteilen Abschied nehmen
muß. Der Leerstand von gegenwärtig 1
Million Wohnungen in Ostdeutschland
wurde im wesentlichen nicht durch den
Wegzug von Menschen von Ost- nach
Westdeutschland verursacht. Vielmehr
ist eine Ursache der Wegzug aus den
Kernstädten in die Umlandgemeinden.
Die großen brandenburgischen Städte
kennen den Zustand. Hier wird ein Erbe
der DDR sichtbar, da innerhalb von zehn
Jahren ein Aufholprozeß der Ostdeut-
schen stattgefunden hat, für den sich die
Westdeutschen vierzig Jahre Zeit lassen
mußten. So ist zu erklären,der z. B. die Alt-
stadt von Brandenburg a. d. Havel immer
noch massiv mit Leerstand zu kämpfen
hat, während in den Gemeinden um
Brandenburg herum die Siedlungen mit
Einfamilienhäusern gewachsen sind.
Ein weitere Feststellung ist, daß ein
Drittel des Wohnungsleerstandes in der
Altbausubstanz, die in der Zeit bis 1918
gebaut wurden, zu finden ist. Diese Häu-
ser wiesen schon zu DDR-Zeiten einen
mangelhaften Zustand auf. Weitere zehn
Jahre sind nunmehr vergangen,ohne daß
an ihnen werterhaltende Maßnahmen
vorgenommen wurden. Insofern ist es
zwangsläufig so, daß der Zustand sich
derart verschlechtert hat, daß ein Groß-
teil dieser Wohnungen nicht am Woh-
nungsmarkt angeboten werden kann. Im
Gegensatz dazu steht die Feststellung,
daß die zwischen 1949 und 1990 gebau-
ten Wohnungen einen Leerstand von 8 %,
der in diesem Zusammenhang als mode-
rat einzustufen ist, aufweisen.
Exemplarisch für den wohnungswirt-
schaftlichen Strukturwandel in Ost-
deutschland ist die „Platte“. Der Leer-
stand in industriell gefertigten Wohnun-
gen kann regional bis zu 30 % liegen,
Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandelin Ostdeutschlandvon Benjamin Ehlers
Benjamin Ehlers
weist aber im Gegensatz zu den Altbau-
substanzen, die vor 1918 errichtet wur-
den, erhebliche regionale Unterschiede
auf. Während der Abriß von industriell
gefertigten Wohnungen in Schwedt bun-
desweit die Nachrichtensendungen fül-
lte, verfügt das im Nachbarkreis gelegte
Eberswalde über ein Neubaugebiet, das
von den Bewohnern angenommen wird.
Das Vorurteil, daß die „Platte“ flächen-
deckend Leerstandsprobleme mit sich
bringt, ist somit – im Gegensatz zur bis
1918 geschaffenen Altbausubstanz –
nicht mehr aufrechtzuerhalten.
Das Ergebnis der Analyse stellt sich für
die Kommission wie folgt dar: „Viele
Städte drohen (…) auseinander zu bre-
chen. Sie zerfallen in Fragmente aus lee-
ren Altbaugebieten, konsolidierten, in
neuer Pracht wieder erstandenen Kern-
bereichen, halbleeren durch Abriß schru-
mpfenden Plattenbausiedlungen – vor
allem dort, wo die DDR-Industrien zu-
sammengebrochen sind – und in große,
neue Einfamilienhaussiedlungen. Ein
Ende ist nicht abzusehen, denn er aus
DDR-Zeit überkommene Wohnungsbe-
stand ist zu einseitig zusammengesetzt.“
Für die Zukunft heißt dies, daß die Poli-
tik auf drei Vorgänge reagieren muß. Die
Altbausubstanz wird sich bei der gegen-
wärtigen Lage eher verschlechern. Dies
insbesondere deshalb, da der Wohnungs-
leerstand innerhalb der nächsten 15 Jahre
auf schätzungsweise 2 Millionen Woh-
nungen ansteigen wird. Bauwerke, die
schon über zehn Jahre leerstehen, wer-
den dem Konkurrenzdruck von Neubau-
ten, die weniger Bau- und damit Finan-
zierungsrisiken aufweisen, kaum stand-
halten. Neben dem Kostennachteil der
über Jahre leerstehenden Altbausub-
stanz, der sich nur auf die Baukosten
bezieht, kommt noch verschärfend hinzu,
daß der Bau des Eigenheims auf der „grü-
nen Wiese“ durch die öffentliche Hand
bevorzugt gefördert wird. Die Kommis-
sion schlägt deshalb vor, die staatliche
Förderung für den Neubau zu vermin-
dern und für die Investition in vorhan-
dene Bausubstanz zu erhöhen. Somit
könnten durchaus noch Häuser mit Alt-
bausubstanz zur Wohnungsnutzung her-
angezogen werden.
Dies wird allein aber nicht das Leer-
standsproblem lösen. Die Kommission
spricht für alle Wohnungstypen – also
nicht vorrangig für industriell gefertigte
Wohnungen – den Vorschlag aus, daß
Abrißprogramme aufgestellt werden
müssen. Diese Programme müssen staat-
lich gefördert werden, da die Wohnungs-
baugesellschaften sie finanziell nicht tra-
gen werden können. Der Abriß ist durch-
aus im öffentlichen Interesse, da Wohn-
gebiete mit gehäuft leerstehenden Woh-
nungen weitere soziale Probleme an sich
76
Wohnungswirtschaftlicher Strukturwandel in Ostdeutschland
77
ziehen. Zudem stellt sich auch die Frage
nach der baulichen Sicherheit der zerfal-
lenden Häuser.
Die Kommission redet nicht einem
planlosen Abriß das Wort. Vielmehr regt
die Kommission dazu an, die Abrißpro-
gramme mit städtebaulichen Zielstellun-
gen zu verbinden, um der Stadtentwick-
lung neue Impulse zu geben. Letzteres ist
insbesondere für brandenburgisch Stä-
dte wie Schwedt und Eisenhüttenstadt
von Belang, da sie durch die industriell
gefertigten Wohnungsbau stark geprägt
sind.
Abschließend bleibt festzuhalten, daß
die Kommission unter ihrem Vorsitzen-
den Lehmann-Grube eine wichtige Arbeit
geleistet hat. Insbesondere die Analyse
ist lesenswert, da sie den politischen
Handlungsbedarf für die nächsten zehn
Jahre festlegt. Die Vorschläge bedürfen
einer intensiven Prüfung. Sie konnten
auch nicht alle hier dargestellt werden.
Teilweise greifen sie in detaillierte gesetz-
liche Regelungen ein. Diskutiert werden
muß die politische Frage, wie dem Woh-
nungsleerstand begegnet werden kann.
In diesem Zusammenhang muß sich die
Politik eine Meinung zu der Abrißproble-
matik und der Änderung der Förderpro-
gramme zur Erlangung von Wohnungsei-
gentum bilden, da beide Fragenkomplexe
die Möglichkeit zur politischen Steue-
rung geben.
Den Bericht der Kommission „Woh-
nungswirtschaftlicher Strukturwandel in
den neuen Bundesländern“ gibt es in
einer Kurz- und einer Langfassung. Sie
können jeweils über das Bundesministe-
rium für Wohnen und Verkehr abgerufen
werden.
Benjamin Ehlersist Rechtsanwalt und Mitglied im Beirat des Forum Ostdeutschland.
78
Notizen
Notizen
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Notizen
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Notizen
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Zeit
gesc
hic
hte
Gabriele Schnell
Ende und Anfang
Chronik der PotsdamerSozialdemokratie 1945/46 – 1989/90200 Seiten, Paperback, 19,80 DMISBN 3-933909-05-8
Gabriele Schnell schreibt diespannungsvolle Geschichte der Pots-damer Sozialdemokratie in den Jahren
des Umbruchs: Der Kampf gegen die Zwangsvereinigung1945/46 und der mutige Neubeginn 1989/90. Eine umfangrei-che Material- und Dokumentensammlung ergänzt ihre Darstel-lung.
Benjamin EhlersWer, wenn nicht wir!
10 JahreJunge Sozialdemokraten in der DDRmit einem Vorwort von Manfred Stolpe208 Seiten, Paperback, 19,80 DMISBN 3-933909-07-4
»Die ostdeutsche SPD kann es sichlangfristig nicht erlauben, junge Men-schen ausschließlich fürHandlangerdienste zu verwenden. Sie müssen Freiräume fürihre eigenen politischen Themen erhalten. Nicht zuletzt mußihnen auch institutionell eine Chance eingeräumt werden. ...Insofern können es sich junge Menschen erlauben, etliche Jahreauf ihre Chance in der Politik zu warten; ob sich die SPD die-ses Abwarten leisten kann, ist mehr als fraglich.«
BENJAMIN EHLERS
10 JAHRE
JUNGE SOZIALDEMOKRATEN
IN DER DDR
mit einem Vorwort von Manfred Stolpe
Wer, wenn nicht wir!
k a i w e b e r m e d i e n p r o d u k t i o n e ns c h l a a t z s t r a s s e 6 · 1 4 4 7 3 p o t s d a m
f o n 0 3 31 - 2 8 0 0 5 0 9 · f a x 2 8 0 0 5 1 7e - m a i l : i n f o @ w e b e r - m e d i e n . d e
Bislang erschienen:
1. Zukunft der brandenburgischen Hochschulpolitik*
2. Sozialer Rechtsstaat*
3. Informationsgesellschaft*
4. Verwaltungsreform*
5. Arbeit und Wirtschaft*
6. Rechtsextremismus*
7. Brandenburg – die neue Mitte Europas
8. Was ist soziale Gerechtigkeit?
9. Bildungs- und Wissensoffensive
10. Zukunftsregion Brandenburg
11. Wirtschaft und Umwelt
12. Frauenbilder
13. Kräfteverhältnisse – brandenburgisches Parteiensystem
SPD-Landesverband Brandenburg, Friedrich-Ebert-Straße 61, 14469 Potsdam
PVSt, DPAG, Entgelt bezahlt, A47550
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