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Page 1: Ostermann Casos
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Eberhard Ostermann

Die Filmerzählung Acht exemplarische Analysen

Wilhelm Fink Verlag

Page 3: Ostermann Casos

PVA

2007.

4868

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und

Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und

andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten.

© 2007 Wilhelm Fink Verlag, München Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn

Internet: www.fink.de

Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-4562-9

n [ Bayerische f\ r S] /1/1/1 Staatsbibliothek

' U 4 I 71/11 München

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INHALT

EINLEITUNG 7

I CASTAWAYUND DIE KRISE DER ARBEITSGESELLSCHAFT 13

Die Handlungsfolge 13 Zwei Welten 15 Die Regression des Helden 17 Die Umkehr 20 Die Grenzen der Versöhnung 21 Ein scheinbar offenes Ende 25

II MYSTIC RIVER ODER DIE ABWESENHEIT DES VATERS 29

Handlungsverlauf und Figurenpersonal 29 Die Stigmatisierung des Opfers 33 Der Angriff auf den Vater 35 Die Restitution der patriarchalen Ordnung 37 Ein alternatives Modell 41

III DIE RELIGION DER LIEBE IN BREAKING THE WAVES 45

Das narrative Programm 46 Die Sakralisierung der Liebe 50 Das weibliche Selbstopfer 53 Geschlossenheit statt Ironie 57

IV DIE UNBEWUSSTEN QUELLEN DER KREATIVITÄT

IN SWIMMING POOL 61

Die Darstellung eines innerpsychischen Geschehens 61 Zur psychoanalytischen Filmdeutung 63 Die Begegnung mit dem ödipalen Ich 66 Die Wiederbelebung des Psychodramas 69 Der Mord und seine Vertuschung 73

V THE SWEET HEREAFTER ODER DAS LEBEN

NACH DEM TRAUMA 79 Die offene Erzählstruktur 79 Der Unfall und sein Pendant 82 Der Versuch einer metaphysischen Indienstnahme des Rechts 85 Der Einzelne und das Kollektiv 89 Die Sage vom Rattenfänger 93

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6 INHALT

VI LIEBE ODER EHE? DAS PROBLEM DER PARTNERWAHL IN BIRTH 95

Die Hauptelemente det Filmerzählung 96 Die Rückkehr des romantischen Liebesobjekts 98 Narzisstische Liebe 101 Die Abspaltung des Phantasmas 105 Objektive Gründe der Gefühlsverwirrung 110

VII SOZIALE UND ÄSTHETISCHE VERUNSICHERUNG IN CACH£ 113

Die Umkehrung des Thrillers 113 Soziale Spannungen 119 Die moralische Verantwortung 121 Die Subversion des bloßen Beobachtens 125

VIII TASTE OF CHERRY- EINE ALLEGORIE DER ZERRISSENHEIT 131 Ein Romanheld auf dem Weg in die epische Welt 131 Der Tod als zweideutiges Handlungsziel 135 Potenzielle Helfer 138 Die Zuspitzung des Widerspruchs 143

LITERATURVERZEICHNIS 147

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I EINLEITUNG

Dieses Buch enthält Interpretationen einzelner Spielfilme. Es fragt danach, wie diese Filme strukturiert sind und was sie bedeuten. Die Fragestellung ist nicht selbstverständlich. Man kann mit gutem Recht bezweifeln, ob man Filme über­haupt interpretieren soll. Interpretieren heißt, im mindesten, etwas mit anderen Worten ausdrücken, als es gesagt worden ist. Der Film aber ist ein primär visuel­les Ereignis, das nicht auf Fixierung in der Sprache angelegt ist. Wie kein anderes Medium vermag er Bilder, Töne und Sprache zu einer sinnlich-suggestiven, auch spannungsvollen Einheit zu verdichten, deren Wirklichkeitsnähe die Sprache als digitales Medium nicht erreicht. Das Kinoerlebnis ist zudem per se flüchtig. Eine Einstellung folgt der anderen und setzt sich an deren Stelle. Nicht selten beruht die Wirkung eines Films darauf, dass er in seinem Ablauf subtile Mittel entfaltet, die der Zuschauer bewusst nicht, zumindest nicht in ihrer Fülle und in ihrem Zusammenspiel, wahrnehmen kann. Sie in der Analyse zu benennen, bedeutet gleichsam, den Film gegen den Strich zu bürsten, gegen seine Strategie der Ver­führung und emotionalen Überwältigung anzuarbeiten. Hinzu kommt, dass Fil­me das Ergebnis eines komplexen Herstellungsvorgangs sind, an dem viele Perso­nen und Interessen, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, beteiligt sind. Man denke nur an den Prozess systematischer Überarbeitung, den in Hollywood Drehbücher durchlaufen müssen, um sich zu vergegenwärtigen, dass es nicht immer Sinn macht, die Bedeutung eines Films in dem schöpferischen Gestal­tungswillen eines Regisseurs verankern zu wollen.

Es hat nicht unmaßgebliche Autoren gegeben, die sich gegen eine Interpretati­on von Filmen ausgesprochen haben, am pointiertesten wohl die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag. In ihrem berühmten Angriff auf das Interpretieren verwahrte sie sich dagegen, der sinnlichen Unmittelbarkeit des Films mit inter-pretatorischen Anstrengungen zu begegnen, die sie als einen Akt der Gewalt ge­gen das Kunstwerk begriff. Walter Benjamin sah mit dem Medium Film eine neuartige Rezeptionshaltung aufkommen, die sich nicht mehr deutend vor dem Werk versammelt und in dieses gedanklich eindringt, sondern sich von ihm zer­streuen lässt.' Er sah darin das bedeutendste Zeichen für einen grundlegenden Wandel im Umgang mit ästhetischen Objekten. Und es gibt eine, vornehmlich psychoanalytisch argumentierende Richtung der Filmtheorie, die von der Analo­gie zwischen Traum und Film ausgeht. Für sie bietet der Film, jenseits seiner se-

1 Vgl. Susan Sontag, »Gegen Interpretation (1964)«, in: S. S., Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, deutsch von Mark W. Rien, München, Wien 1980, S. 14f.

2 Vgl. Walter Benjamin, »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936)«, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1,2, Frankfurt a.M. 1974, S. 466.

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8 EINLEITUNG

mantischen und symbolischen Qualitäten, dem Zuschauer vor allem die Mög­lichkeit einer regressiven, narzisstischen Erfahrung, wenn er sich, zur Passivität gezwungen, im Dunkel des Kinoraums den Filmbildern mit identifikatorischer Lust hingibt. Aus dieser Sicht stellt der Zusammenhang der Bilder, also ihre er­zählerische Ordnung, ein sekundäres Phänomen dar, vergleichbar der Folge, in der sich die Halluzinationen im Traum willkürlich aneinander reihen. Folglich erscheint die Frage nach dem Sinn des Ganzen vernachlässigenswert. Eine solche Einschätzung mag schließlich empirisch durch die Beobachtung bestätigt werden, dass sich in neueren Kinoproduktionen vielfach, man denke nur an The Matrix oder an die Verfilmung des Herrn der Ringe, die spektakelhaften Elemente auf Kosten der narrativen Strukturen verselbstständigen, wodurch das Kino zu seinen frühen Anfängen als Jahrmarktsattraktion zurückzukehren scheint.

Trotz dieser Einwände soll im Folgenden interpretiert werden. Grundüberle­gung ist, dass Filme nach wie vor ein ausgezeichnetes Medium ästhetischer Erfah­rung sein können, indem sie uns auf ihre spezifische Art etwas über die Welt, in der wir leben, mitteilen. Diese Erfahrung stellt sich nur deshalb ein, weil sich Filme verstehen lassen und weil sie verstanden werden wollen, und sie lässt sich intensivieren, indem wir versuchen, sie noch besser zu verstehen. Das setzt vor­aus, dass wir sie in ihrer je individuellen Einheit, als Werke, zu begreifen versu­chen. Der Begriff des Werks hat eine lange Geschichte, in deren Verlauf er ideo­logisch überladen und entsprechend heftig wieder entzaubert wurde. Ein Film, wie auch ein literarischer Text, kann sicher nicht zureichend als unmittelbarer, in sich geschlossener Ausdruck eines autarken Schöpfungswillens aufgefasst werden. Gerade Filme und insbesondere solche des Mainstream-Kinos reproduzieren häufig bereits vorhandene formale und inhaltliche Muster, die sie variieren und vielfältig umgestalten. Aber auch, wenn wir den einzelnen Film in seinem Kon­text betrachten, der ihn in vielerlei Hinsicht bedingt, bleibt die Idee des Werks doch als Begriff für seine immanente Vermittlungsstruktur, an der sich die aktu­elle Wirkung auf den Zuschauer entzündet, hintergründig wirksam. Sie bildet die regulative Idee, im Hinblick auf die sich die eigentümliche Gestalt eines Films erfassen lässt.

Die deutende Aufmerksamkeit richtet sich zunächst, um es ganz allgemein zu sagen, auf symptomatische Aspekte der Form, etwa auf Wiederholungen, auffälli­ge Gegensatzpaare oder irritierende Momente der Handlung, die das Verstehen erschweren. Auf diese Weise lässt sich Material sammeln, um die Beziehungen zu rekonstruieren und zu schematisieren, die die Elemente untereinander eingehen, indem sie, auch in einer transitorischen Kunstform wie dem Film, gleichzeitig zu­sammenwirken. Eine Aussage über die Funktion der einzelnen Bestandteile lässt sich jedoch erst machen, und dies ist eine hermeneutische Grundtatsache, wenn man das Ganze in den Blick rückt. An einem Punkt der Interpretation müssen

3 Gemeint sind die Arbeiten von Jean-Louis Baudry und Christian Metz. Siehe hierzu die Über­sicht von Hermann Kappelhoff, »Kino und Psychoanalyse«, in: Moderne Film Theorie, hrsg. von Jürgen Felix, Mainz 2002, S. 130-159.

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EINLEITUNG 9

wir es wagen, über die Rekonstruktion der Struktur hinauszugehen und diese an einen außerhalb ihrer selbst liegenden Kontext, beispielsweise an einen sozialhis­torischen Sachverhalt oder ein psychologisches Modell, anzuschließen. Die innere Organisation eines Films lässt sich als ganze nur dann erklären, wenn man sie als Darstellung eines solchen, wie auch immer gearteten Referenzobjekts begreift. Darin liegt schließlich die Bedeutung eines Films. Es versteht sich, dass eine Aus­sage über diesen Zusammenhang immer eine Hypothese bleiben wird, die es sich gefallen lassen muss, dass man sie an ihrem Gegenstand überprüft. Aber nur auf diese Weise kann die ästhetische Kommunikation, auf die es ankommt, in Gang kommen. Die folgenden Analysen einzelner Filme sind also als Deutungsange­bote zu verstehen, die das Nachdenken, das Gespräch, die Auseinandersetzung mit ihnen anregen sollen - nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Filme sind multidimensionale Phänomene, die sich auf verschiedenen Ebenen beobachten und beschreiben lassen, angefangen bei der Bildkomposition, den Lichtverhältnissen und der Farbgebung über die Schnittfolge, das Spiel der Schauspieler und die Musik bis hin zu den Handlungsverläufen und der Aktuali­sierung von Genres oder literarischen Vorlagen. Alle diese Momente ergeben zu­sammen erst die Gesamtwirkung eines Films auf den Zuschauer. Die folgenden Bemerkungen zu einzelnen Spielfilmen konzentrieren sich gleichwohl im wesent­lichen auf die narrative Ebene und ziehen die übrigen Aspekte nur gelegentlich zur Stützung der Argumentation heran. Im Mittelpunkt steht die Filmerzählung. Damit ist natürlich nichts gesagt gegen die Thematisierung der visuellen Eigen­schaften, der darstellerischen und auditiven Merkmale oder der intertextuellen Bezüge eines Films. Maßgeblich für das Folgende ist die Überlegung, dass die Handlung, der Mythos im aristotelischen Sinne, in einem Spielfilm die entschei­dende, weil einheitsstiftende Umschaltstelle bildet zwischen den Mikroelementen seiner Struktur und ihrer Darstellungsfunktion, an der sich die Werkhaftigkeit des Films erweist. Filme erzeugen Emotionen nicht unmittelbar, sondern indem der Zuschauer Situationen und Handlungen kognitiv erfasst und bewertet, die es folglich zu analysieren gilt. Auch handlungsarme, stark reflexive Filme, die sich von einer kontinuierlichen, im Blick auf das Erzählte scheinbar neutralen Erzähl­weise unterscheiden, lassen sich noch als Erzählung, wenn auch als Abweichung von einem konventionalisierten Muster beschreiben. Gegenstände der narrativen Analyse von Filmen, wie sie im Folgenden praktiziert wird, sind unter anderem die Organisation von Ort und Zeit des Geschehens, die Erfindung der Figuren, ihre Ziele, ihre Bewegungen und Interaktionen, die Verknüpfung der Erzählein­heiten, die Realisierung von Erzählschemata, die Handhabung der Motive und vieles mehr. Die hier vorgelegten Einzelinterpretationen zielen jedoch nicht auf die Veranschaulichung einer Theorie der Filmerzählung, wie sie an anderer Stelle bereits ausgearbeitet worden ist. Sie sind in keiner Weise deduktiv als Beleg für eine vorgängige Theorie zu verstehen, auch und gerade nicht, wenn im Einzelfall zur Erläuterung des semantischen Gehalts eines Films immer wieder auf theoreti-

4 Siehe die grundlegende Studie von David Bordwell, Narration in thefiction film, Madison 1985.

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10 EINLEITUNG

sches Wissen zurückgegriffen wird. Beispielhaft sollen sie sein allein im Hinblick auf eine Praxis des interpretatorischen Umgangs mit Filmen, die darauf zielt, ihre Individualität möglichst prägnant herauszuarbeiten, um auf diese Weise ihrer spezifisch ästhetischen Natur gerecht zu werden. Im Vergleich zu Texten der Filmkritik und zu Analysen, wie man sie in praktischen Ratgebern für Drehbuch­autoren findet, gehen sie viel mehr in die Tiefe. Im Unterschied zur Filmkritik, die den Ausgang einer Handlung aus pragmatischen Gründen verschweigen muss, beziehen sie in ihre Argumentation auch das Ende eines Films mit ein, das für sein Verständnis zumeist von besonderem Gewicht ist.

Ein Wort zur Auswahl der Filme. Die einzelnen Analysen sollen, wie gesagt, keine weiterführende, über den jeweiligen Film hinausgehende These belegen, weder im filmtheoretischen oder filmhistorischen noch in einem anderen Sinne. Es geht hier also nicht darum, repräsentative Beispiele des postmodernen Films, des Autorenkinos, eines bestimmten Genres oder einer bestimmten Thematik zu erläutern. Dementsprechend ist die Auswahl der besprochenen Filme durchaus subjektiv und vergleichsweise äußerlich. Es werden einerseits nur solche Filme be­sprochen, von denen der Autor meint, dass sich eine eingehendere Beschäftigung mit ihnen nicht nur lohnt, sondern geradezu verblüffen kann, wenn man am En­de sieht, was an formaler Raffinesse und thematischen Bezügen in ihnen steckt und was man beim ersten Anschauen übersehen hatte. Andererseits werden, um eine gewisse, wenn auch begrenzte Aktualität wahren und ein möglichst großes Interesse der Leser, auch der nichtcineastischen, voraussetzen zu können, nur Filme jüngeren Datums behandelt, in denen der Zuschauer die zeitgenössische Realität wiedererkennt. Dennoch decken die folgenden Kapitel eine gewisse Bandbreite, was die formale und inhaltliche Ausrichtung der Filme betrifft, ab. So finden sich im Folgenden ebenso Interpretationen von Melodramen wie von Kriminalfilmen oder Psychothrillern. Es werden Filme erörtert, die sich mit ganz unterschiedlichen, immer aber zentralen Begriffen unserer gegenwärtigen Kultur, wie etwa »Arbeit«, »Familie«, »Religion« oder »Sexualität«, in Verbindung bringen lassen. Und es kommen sowohl Filme des so genannten Kunstkinos zur Sprache, die deutlich von der Handschrift ihres Regisseurs geprägt sind, wie auch Filme, die im Rahmen bewährter Erfolgsmuster für ein Massenpublikum geschaffen wurden, deren Komplexität jedoch bisweilen unterschätzt wird.

Im einzelnen werden die folgenden Spielfilme besprochen: Cast Away (Kapitel I), ein viel gesehener Unterhaltungsfilm, der als Mischung von Abenteuerfilm und Melodrama Krisenerfahrungen in der Arbeitswelt zu einer interessanten Ge­schichte verdichtet, Mystic River (Kapitel II), ein Kriminalfilm mit tragischen Elementen, der den Wandel in der Familienstruktur widerspiegelt, Breaking the Waves (Kapitel III), eine provokante filmische Heiligenlegende, die Fragen auf­wirft im Hinblick auf das Verhältnis von Liebe und Religion in der Gesellschaft, Swimming Pool (Kapitel IV), ein raffiniertes filmisches Erzählstück über die psy­chischen Voraussetzungen der Kreativität, The Sweet Hereafier (Kapitel V), eine tiefschürfende, auf verschiedenen Ebenen lesbare Reflexion über die Folgen einer traumatischen Erfahrung für eine Gemeinschaft, Birth (Kapitel VI), eine verblüf-

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EINLEITUNG 11

fende Geschichte, die den alten Konflikt zwischen Liebe und Ehe neu erzählt und auf seine sozialen Gründe hin durchschaubar macht, Cache (Kapitel VII), ein Film, der die Strukturen des Thrillers nutzt, um an das moralische Verantwor­tungsgefühl des Zuschauers zu appellieren, Taste ofCherry (Kapitel VIII), ein he­rausragendes Beispiel des iranischen Kinos, das schlaglichtartig die mentalen Ver­hältnisse in einem arabischen Land im Übergang zur Moderne beleuchtet.

Dem Leser sei empfohlen, sich vor der Lektüre eines Kapitels den entspre­chenden Film zunächst anzuschauen und dies anschließend zu wiederholen, wo­bei er die Möglichkeiten der DVD für ein genaues und distanziertes Sehen nut­zen sollte. Für die Mühe, die dies kostet, wird er durch das intellektuelle Vergnü­gen, das er hoffentlich dabei empfindet, entschädigt werden.

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I CASTAWAYUND DIE KRISE DER ARBEITSGESELLSCHAFT

Cast Away (USA 2000, Regie: Robert Zemeckis) ist eine interessante Kombinati­on aus Abenteuerfilm und Melodrama. Das abenteuerliche Schicksal des moder­nen Robinson, der auf einer einsamen Insel um sein Überleben kämpft, wird ein­gebettet in die traurige Geschichte eines Liebespaares, dem die Erfüllung seiner Liebe versagt bleibt. Feiert der Abenteuerfilm gemeinhin die Stärke und Überle­genheit des zumeist männlichen Helden, der sich in feindlicher Umgebung be­währen muss, so zielt das Melodrama auf Anstachelung und Freisetzung leiden­schaftlicher Affekte, indem es den Verzicht, den die Gesellschaft den Liebenden abverlangt, thematisiert. Die Verbindung beider Konzepte führt im Film Cast Away zu dem eigentümlichen Effekt, dass hier die Selbsterhaltung des Helden durch das melodramatische Element in ein seltsam zweideutiges Licht gerückt wird und dadurch selbst zum Anlass von Rührung und Tränen wird.

Die Handlungsfolge

Der Film zeichnet sich durch eine klare, lineare und kausal motivierte Hand­lungsfolge aus, die keinerlei Verständnisschwierigkeiten bereitet. Er besteht, wie die meisten klassischen Hollywoodfilme, aus vier größeren Einheiten (Akten), die jeweils durch Wendepunkte, an denen die Handlung eine andere Richtung nimmt, getrennt sind.

Die Exposition macht zunächst vertraut mit Chuck Noland, dem einzigen Protagonisten des Films, seiner beruflichen Tätigkeit und seinem persönlichen Umfeld. Sie zeigt ihn als einen sympathischen, aber auch ehrgeizigen Mann aus dem weißen amerikanischen Mittelstand, der die Firmenphilosophie seines Ar­beitgebers FedEx »Wir leben oder sterben nach der Uhr« (We live or we die by the clock) kritiklos verinnerlicht hat. Über sein Gefühlsleben erfahren wir, dass er eine Freundin namens Kelly hat und diese demnächst heiraten möchte. Damit ist das erste Handlungsziel, die line of romance, benannt. Der Einleitungsteil liefert zudem wichtige Informationen, die im weiteren Verlaufe der Handlung von Be­deutung sein werden. In einer Art Prolog wird die Flügelkünstlerin Bettina Peter-son vorgestellt, die zum Schluss als potenzielle Nachfolgerin Kellys fungiert. Die Urkunden in Chucks Wohnung zeigen an, dass er ein erfahrener Segler ist und

5 Entgegen der verbreiteten Ansicht von einem Drei-Akte-Schema weist Kristin Thompson über­zeugend nach, dass der mittlere Akt zumeist aus zwei Teilen besteht, so dass man insgesamt auf vier größere Einheiten kommt. Vgl. Kristin Thompson, Storytelling in the New Hollywood. Un-derstanding classical narrative technique, Cambridge, Mass., und London 1999.

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machen so sein späteres umsichtiges Vorgehen bei der Vorbereitung und Ausfüh­rung seiner Abreise von der Insel plausibel. Als bedeutsam wird sich auch erwei­sen, dass er gelegentlich unter Zahnschmerzen leidet. Die Exposition führt da­rüber hinaus die wichtigsten Motive des Films ein. Es sind dies die Taschenuhr, die Chuck von Kelly zu Weihnachten erhält, das Paket von Bettina Peterson, das ihn auf der Insel daran erinnert, in sein früheres Leben zurückzukehren, sowie das Flügelsymbol, dessen Sinn ihm erst allmählich aufgehen wird. Mit dem Flugzeug­absturz und der Strandung von Chuck Noland kommt die Exposition zum Ab-schluss.

Die zweite längere Handlungssequenz bringt zusätzliche Verwicklungen, in­dem nun ein weiteres, genauer gesagt zwei weitere Handlungsziele auftauchen, deren Erreichen unabdingbare Voraussetzung für die Verwirklichung des ersten Zieles, die Vereinigung mit Kelly, ist: Chuck muss überleben, und er muss eine Möglichkeit finden, wieder nach Hause zu gelangen. Mit den an den Strand ge­spülten Paketen erscheinen einige Handlungselemente (Schlittschuhe, Videobän­der, ein Kleid, ein Volleyball), die innerhalb des tropischen, kulturfernen Kon­textes zunächst deplaziert erscheinen, von denen jedoch nach und nach auf ver­blüffende Weise positive Wirkungen ausgehen. Der zweite Akt steht überwiegend im Zeichen des Überlebenskampfes der Hauptfigur. Er endet mit der Selbstex­traktion des Zahnes und der ihr folgenden Ohnmacht Chuck Nolands. War der Zahnschmerz erstmals in einem kurzen Telefonat, das Chuck von Moskau aus mit Kelly führte, erwähnt worden, so wird nun mit der Extraktion die letzte Brücke zur Vergangenheit gekappt und dadurch signalisiert, dass der Held an ei­nem Nullpunkt angelangt ist.

Der dritte Akt bereitet die Lösung der Probleme vor. Er setzt nach dem Zeit­sprung, mit dem der Film vier Jahre übergeht, ein. Das bedeutet, dass der ent­scheidende mittlere Wendepunkt im Film nicht gezeigt wird. Er bildet stattdes­sen, so lässt sich vermuten, sein geheimes Sinnzentrum. Chuck macht hier offen­sichtlich eine Erfahrung, die es ihm erlaubt, von nun an konstruktiv sein Fort­kommen von der Insel zu betreiben. Sinnfälliger Ausdruck hierfür ist das an den Strand gespülte Bruchstück einer Blechtoilette, das ihn, richtig verwendet, in die Lage versetzt, die Insel zu verlassen. Er wird es später als ein Geschenk der Flut bezeichnen. Die dritte längere Sequenz entwickelt zwar die Voraussetzungen für das Finale der Geschichte, sie enthält jedoch auch spannungssteigernde und den Handlungsablauf verzögernde Momente. Es kommt erneut zu Schwierigkeiten und Enttäuschungen, wie dem schmerzlichen Verlust Wilsons. Chuck muss unter Zeitdruck handeln und fast scheitern, bevor er dann doch gerettet wird. Mit der Entdeckung Chuck Nolands durch das Containerschiff endet dieser Abschnitt des Films. Chuck hat sein zweites und drittes Handlungsziel erreicht.

Den dramatischen Höhepunkt des Films bildet sodann die Rückkehr des Heimkehrers, die ihrerseits in der tränenreichen Trennung von Kelly gipfelt, womit auch die line of romance, die erste Handlungslinie, an ihr, allerdings ne­gatives Ende gelangt. Hieran an schließt sich das Gespräch mit dem Freund Stan, in dem das Erlebte durchgesprochen und dadurch die Möglichkeit gegeben wird.

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es reflexiv zu verarbeiten. Ein kurzer Epilog schließlich nimmt die an dieser Stelle ein wenig düster gewordene Gefühlslage zugunsten einer heiteren Stimmung zu­rück. Er bringt nochmals Bettina Peterson ins Spiel und lässt neue Perspektiven für den Protagonisten erahnen, ohne doch in dieser Hinsicht schon eindeutig zu werden.

Die Einheit des Films beruht im wesentlichen auf der Zielorientiertheit des Helden, auf Handlungslinien mit deutlich markierten Anfangs- und Endpunkten sowie auf kausalen Ursache-Wirkungs-Ketten. Die Kontinuität des Erzählens wird zudem auf bewährte Weise durch die rekurrente Verwendung von Motiven und natürlich durch dialogische sowie optisch-akustische Bindeglieder zwischen den Einstellungen unterstützt. Hier sei nur als Beispiel erwähnt, dass der nicht sichtbare Vibrationsalarm des Beepers, der Chuck vom Weihnachtsessen zur Ar­beit zurückruft, für den Zuschauer zuvor dadurch verständlich gemacht wird, dass sich ein Freund in anzüglicher Weise darüber mokiert, dass Chuck wohl mit einem vibrierenden Beeper ins Bett gehe. Auf analoge Weise wird der weiträumi­ge Schnitt vom dritten zum vierten Akt, von dem auf dem Floß dahintreibenden, beinahe geretteten Chuck zu Kelly, die den Anruf entgegennimmt, der ihr mit­teilt, dass Chuck lebt, durch dessen Ruf nach Kelly vorbereitet, wobei zudem eine Soundbrücke zum Einsatz kommt: wir hören bereits das TelefonkJingeln, obwohl wir noch Chuck auf seinem Floß sehen. Derartige dramaturgische Mittel dienen der größtmöglichen Nachvollziehbarkeit des Erzählten. Abweichungen von die­sem Prinzip bilden lediglich die bereits erwähnte visuelle Aussparung des zentra­len Wendepunkts sowie das relativ offene Ende der Geschichte - zwei Aspekte, die folglich besondere Beachtung verdienen.

Zwei Welten

Der Einfachheit und Klarheit des Handlungsverlaufs entspricht die ebenso klare binäre Struktur der Wirklichkeit, in der sich die Geschichte abspielt. Zwei Berei­che stehen sich zunächst scheinbar unversöhnt gegenüber: die Sphäre der Gesell­schaft und die der Natur, die Welt des Melodramas und die des Abenteuers.

Der gesellschaftliche Raum wird beherrscht durch den Primat ökonomischer Zwecksetzungen, dessen auffälligstes Kennzeichen die Diktatur der entfremdeten Zeit ist. Diese äußert sich nicht nur als zeitliche Durchstrukturierung der Ar­beitsprozesse, sondern als Anpassung des gesamten Lebensrhythmus an vorgege­bene, systembedingte Zeitschemata. Hintergrund ist die ökonomische Globalisie­rung, wie sie im Film als Einzug eines westlichen Unternehmens in das einstmals sozialistische Russland thematisiert wird. Das beiläufig gezeigte Abschrauben ei­ner Gedenkplatte für Lenin von der Wand eines Moskauer Hauses verdeutlicht den historischen Übergangszustand. Der Film suggeriert einen Zusammenhang zwischen der globalen Ausbreitung des Kapitalismus und einer zugespitzt ver­dinglichten Zeitorientierung. Ein Effekt der Globalisierung ist das Ende der räumlichen Expansionsmöglichkeit des Kapitalismus mit der Konsequenz, dass

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sich der Konkurrenzdruck nochmals verstärkt und weitere Rationalisierungs- und Beschleunigungsmaßnahmen nach sich zieht. War Zeit immer schon, aus öko­nomischer Sicht, Geld, so wird die Ausrichtung auf den Takt der Uhr nunmehr zur Bedingung für das wirtschaftliche Überleben. In den Worten Chuck No-lands: »Das heißt, wir haben noch drei Stunden und vier Minuten, bis die Pakete sortiert sein müssen. Das ist die Zeit, die uns bleibt. Das ist die Frist, die uns bleibt, bevor uns dieser verfluchte, gnadenlos tickende Sklaventreiber aus dem Business katapultiert« (That means, we've got three hours and four minutes before the end of the day's package sort. That's how long we have. That's how much time we have before this pulsating, accursed, relentless task master tries to put us out of business). Es ist zudem bezeichnend, dass der Film nicht die Pro­duktionssphäre mit ihren Maschinen und Fließbändern in den Blick rückt, son­dern mit FedEx, wie auch später mit dem Containerschiff, das Chuck Noland rettet, das Transportwesen als Bezugspunkt der Geschichte wählt, deutet dies doch indirekt auf eine allgemeine Tendenz des fortschreitenden, sich weiter transformierenden Kapitalismus hin. An der Bewegung und Verteilung der Wa­ren noch beteiligt, werden die Subjekte für deren Herstellung, letztlich jedoch für sämtliche Arbeitsvorgänge, die sich mit technischen Mitteln automatisieren las­sen, mehr und mehr überflüssig. Damit wird aber auch die psychische Konditio­nierung funktionslos, die sie in das System eingepasst und für seine Zwecke ver­fügbar gemacht hatte.

In sozialer Hinsicht erweist sich die Vorherrschaft ökonomischer Zweckratio­nalität, wie sie die gesellschaftliche Realität von Cast Away kennzeichnet, als Zwang der Individuen, ihr Leben durch planendes, koordinierendes und auf­schiebendes Handeln weitgehend an sachlichen, von außen vorgegebenen Erfor­dernissen auszurichten. Dieser Disziplinierungseffekt greift bis auf die Körper durch, deren Anschluss an eine, heute schon wieder überholte, Kommunikations­technologie jederzeitige Erreichbarkeit und flexible Einsetzbarkeit ermöglicht. In diesem Zusammenhang offenbart auch der Witz, dass Chuck mit dem Beeper ins Bett geht, eine tiefere Wahrheit, verweist er doch auf die den Subjekten abver­langte Triebregulierung und -Verdrängung, wozu auch passt, dass Chucks und Kellys Liebesleben durch den Terminkalender bestimmt wird. Die an sich harm­lose Wette um die Frage, wie lange es dauern wird, bis jemand auf ihre ausste­hende Verehelichung zu sprechen kommt, veranschaulicht allerdings, dass die Charaktere in Cast Away die Logik des Systems freiwillig übernommen, dass sie das Denken in Zeitschablonen und Deadlines zu ihrem eigenen gemacht haben.

Bildet die Unterwerfung unter das Diktat der Zeit im Film den sinnfälligsten Ausdruck für den Zustand der gesellschaftlichen Ordnung, so wird diese inner­halb der dort herrschenden Ideologie durch die Betonung nahezu grenzenloser Handlungsfähigkeit und Machbarkeit überhöht. Chuck Noland charakterisiert die Zeitsphäre ausdrücklich als jene, in der sich Geschichte ereignet: »Kriege wurden gekämpft und Nationen gestürzt in 87 Stunden. Vermögen gemacht und verschwendet« (Wars have been fought and nations toppled in 87 hours. For-tunes made and squandered). Kehrseite dieser Hervorkehrung des zielstrebigen

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Handelns, die ihrerseits das Prinzip technisch-konstruktiver Rationalität verab­solutiert, ist, dass sie den Zufall, die Anfälligkeit und Endlichkeit des Körpers, die Entmächtigung des Subjekts durch natürliche Grenzen, den Tod radikal ver­drängt.

Folglich bringt der Film diese Aspekte im Naturraum der Insel, auf die es Chuck Noland verschlägt, konsequent zur Geltung. Unüberwindbare Abge­schlossenheit des Raumes, spontanes, nicht kalkuliertes Auftreten körperlicher und affektiver Impulse, scheiternde Handlungen, Todesnähe und vor allem na­türlich die Abwesenheit jeder gesellschaftlich erzeugten Zeitstrukturierung kenn­zeichnen diesen Ort. Die Hitze, die hier herrscht, ist nicht nur klimatisches Phä­nomen, sondern zugleich einleuchtendes Zeichen für die Nähe zum inneren Be­reich des Stoffwechsels, zu den primären, lebenserhaltenden Abläufen der Natur, und damit auch für den diametralen Gegensatz zur lebensfeindlichen Kälte der ökonomisch verdinglichten Kulturwelt, die zu Anfang nicht ohne Grund im Winter gezeigt wird.

Auch die Kameraführung und die Montage verdeutlichen die Aufteilung des semantischen Raums von Cast Away. Während der Film im ersten Teil durch ra­sche Schnittfolgen und beweglichen Kameraeinsatz das Eingebundensein des Helden in die Hektik seines von äußeren Zwängen dominierten Alltags unter­streicht, verlangsamt sich auf der Insel das Tempo. Auffallend ist diesbezüglich besonders jene überaus lange Einstellung, in der Chuck Noland erstmals die Insel erkundet, indem er von Strand zu Strand geht: Nachdem er sich, Pakete auf­sammelnd, zunächst auf die fest positionierte Kamera zubewegt hatte und von ihr in einem Schwenk ein Stück weit begleitet worden war, verschwindet er links aus dem Bild, und der Kamerablick erkundet nun selbständig den Horizont, bis No­land, von rechts kommend, wieder ins Bild aufgenommen wird und seinen Gang beendet. Der Eindruck, den diese Einstellung hervorruft, ist nicht nur eine deut­liche Retardierung des Zeitgefühls im Vethältnis zu den zuvor gezeigten Sequen­zen, sondern auch eine Verstärkung des Naturraums, seiner Selbständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber dem Subjekt.

Die Regression des Helden

Betrachten wir nun den Protagonisten auf seinem Weg. Chuck Noland tritt zu­nächst auf als Agent der Zirkulationssphäre, ja als deren Propagator, wenn er vor russischen Mitarbeitern wider die Sünde der Zeitverschwendung predigt. Allen­falls sein sprechender Name lässt vermuten, dass die Integration in das System, dass die Verwurzelung in dem gesellschaftlich-ökonomischen Feld, nicht so fest ist, wie es scheint.

Erste Irritationen treten auf, als er mit dem Leid seines Freundes Stan kon­frontiert wird, der hier, wenn auch von Chuck noch unverstanden, die Rolle des Mentors übernimmt, der den Helden auf seine Reise vorbereitet. Chucks Hilflo­sigkeit angesichts der Krebserkrankung von Stans Frau, von der Kamera in Groß-

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18 CASTAWAYÜND DIE KRISE DER ARBEITSGESELLSCHAFT

aufnähme eingefangen, geht über in ein halbherziges Hilfsangebot, mit dem er das Problem an andere weitergeben und einer technisch-wissenschaftlichen Lö­sung zuführen möchte. Doch gerade dieser Verdrängungsakt offenbart, dass sich der Tod als unbeherrschbares Faktum nicht negieren lässt und die scheinbare Souveränität des Subjekts zu untergraben in der Lage ist. Vergleichbares gilt auch für das Motiv der Zahnschmerzen. Diese zeigen an, dass sich der Körper, entge­gen der Funktionalisierung für äußere Zwecke, sein eigenes Recht nehmen und spontan in dysfunktionaler Weise bemerkbar machen kann.

Die Grenzüberschreitung in die Zone der Natur wird eingeleitet durch das symptomatische Ablegen der Armbanduhr in der Bordtoilette des Flugzeugs, dem das ebenso bezeichnende Abziehen des Pflasters und die Aufmerksamkeit auf die kleine Wunde am Finger folgt. Die Zeitplanung hat von nun an ihr Recht verlo­ren, und die Natur, auch diejenige im Subjekt, kehrt zurück. Ist die gesellschaftli­che Welt von Cast Away geprägt durch fortgeschrittene Entkörperlichung im Sinne der Marginalisierung und Ruhigstellung von Körpern, so steht der In­selaufenthalt im Zeichen einer Wiederkehr des Körpers sowie seiner verdrängten und tabuisierten Aspekte. Wir sehen Chuck Noland beim Urinieren, beim Ver­scharren seiner Exkremente. Wir sehen das Blut, das aus seinen zahlreichen Wunden austritt und sich mit Meerwasser mischt. Wir sehen, wie er sich ekelt vor der aufgedunsenen Leiche des Piloten und vor dem schleimigen Inhalt der Krebse, die zu verzehren er gezwungen ist. Das Auftreten dieser Erscheinungs­formen der kreatürlichen Dimension menschlicher Existenz geht einher mit einer zunehmenden Naturalisierung des Protagonisten, die allerdings weder in einen versöhnten, paradiesischen Zustand noch zu einem Robinsondasein führt.

Schon der Flugzeugabsturz ist nicht vergleichbar mit Robinson Crusoes Schiffbruch. Dieser war Nebeneffekt, Begleiterscheinung des neuzeitlichen Aus­breitungsprozesses europäischer Kultur und ließ den Schiffbrüchigen an die Grenze der zivilisierten Welt geraten, wo er sich behauptete. Dagegen stürzt Chuck Noland irgendwo in einem ortlosen Zwischenraum ab. Entsprechend fin­det auf der Insel auch keine Kulturarbeit, keine Selbstermächtigung des Subjekts statt, das sich kraft seiner Vernunft die Natur auf Distanz hält und zunutze macht. Chuck Nolands Anwesenheit auf der Insel ist vielmehr deutlich von Re­gression bestimmt, und dies in einem doppelten Sinne: phylogenetisch als Rück­weg in einen menschheitsgeschichtlich archaischen, primitiven Kulturzustand und ontogenetisch als tendenzielle Rückkehr in ein vorgeburtliches Sein, als Ent-differenzierung und Wiedervereinigung mit der als mütterlich qualifizierten Na­tur.

Die Stationen der kulturgeschichtlichen Rückentwicklung sind leicht zu er­kennen: Verwendung primitiver Werkzeuge wie des Faustkeils, Erfindung der Technik des Feuermachens, Versorgung mit Nahrung durch Fischen und Aul­sammeln von Früchten, Bewohnen einer Höhle, schließlich äußerste Verwilde­rung in einer fast animalischen Existenzform. Bezeichnend für den rückschrei­tenden Verlauf dieses Weges ist, dass Chuck Noland sich sein Essen zunächst mithilfe des Feuers zubereitet, am Ende aber seinen Fisch doch roh verschlingt.

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Die Szene, in der er der an den Strand gespülten Blechtoilette mit einem Speer zu Leibe rückt, zitiert die staunend-ängstliche Haltung des Wilden im ersten Kon­takt mit der Zivilisation.

Noch deutlicher als dieser Rückschritt auf frühere Kulturstufen ist die psy­chisch-soziale Regression, die der Protagonist durchlebt. Am Anfang des Vor­gangs steht der symbolische Verzicht auf eigene Vaterschaft und Familie und da­mit auf den gewöhnlichen Abschluss der Selbstwerdung. Der Film veranschau­licht dies dadurch, dass Chuck den toten Piloten Albert Miller mit einem Famili­enfoto beerdigt und sich anschließend mit ihm identifiziert, indem er seine Schuhe anzieht. Rückgehend in der Individuation führt dieser Prozess zu jenem wichtigen Moment in der Biographie des Subjekts, in dem dieses sich im Blick des anderen erkennt und dergestalt in seiner Einheit erlebt. Dabei kommt dem personifizierten Volleyball Wilson, der nur noch wie von Ferne an Robinsons Freitag erinnert, eine entscheidende Funktion zu. Hervorgegangen aus einem spontanen Wutausbruch Chucks, der sich bei dem Versuch, Feuer zu machen, an der Hand verletzt hatte, vereinigt das in den Blutabdruck gezeichnete Gesicht Wilsons die affektiv-körperliche und die reflexiv-geistige Dimension des Subjekts und steht so für dessen innere Kommunikation mit sich selbst. Erst nachdem unter dem »Blick« Wilsons Chucks Affektgleichgewicht zurückgekehrt ist, ver­mag er, erfolgreich zu handeln. Der Erfolg bewirkt mit dem Tanz um das selbst entfachte Feuer einen jubilatorischen Akt, der auf das Triumphgefühl verweist, welches das Kind erlebt, wenn es sich, die symbiotische Beziehung mit der Mut­ter verlassend, erstmals als integriertes Ganzes imaginiert. Der Unterschied zur normalen psychischen Entwicklung ist allerdings, dass dieser Vorgang im Film als vorübergehende Phase in einem rückläufigen Prozess dargestellt wird. Den nächs­ten Schritt bildet folglich die Rückkehr in einen intrauterinen Kontext, wie ihn die Höhle mit dem spaltartigen Eingang, mit der in ihr fließenden, lebensspen­denden Quelle und den an die Wand gemalten Bildern des Begehrens evoziert.

Am Ende steht, nach der Selbstextraktion des Zahns, ein todesähnlicher, be-wusstloser Zustand, an den sich schließlich eine Art Wiedergeburt anschließt, wie sie Chuck im Gespräch mit Stan andeutet, als er davon spricht, dass er sich nach seinem gescheiterten Selbsrmordplan wie in eine »warme Decke« eingewickelt gefühlt habe. Entscheidend ist dabei, dass diese Regression vom Protagonisten keineswegs lustvoll, sondern als Schwächung seiner Autonomie erlebt wird und bei ihm Trauer, ja depressive Gefühle hervorruft. Man denke hier nur an Chucks verhärmtes Gesicht und seine lustlose Mimik beim Verschlingen des Fischs. Das Subjekt genießt nicht etwa die Auflösung seiner Ich-Strukturen, sondern es rich­tet die freigesetzten narzisstischen Impulse gegen sich selbst, was am Ende den Suizidplan entstehen lässt. Dessen versuchte Ausführung ist die, freilich nur ver­bal im Gespräch mit Stan übermittelte, Schlüsselstelle der gesamten Filmerzäh­lung. Die Selbstnegation des Helden, der sich umbringen möchte, wird ihrerseits negiert und versetzt ihn in einen Zustand absoluter Hilflosigkeit, wie sie etwa ein Säugling erfährt. »Ich war machtlos auf der ganzen Linie. Und dann war es, als würde sich auf einmal eine warme Decke über mich legen« (I had power over

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nothing. And that's when this feeling came over me like a warm blanket). (Man beachte die lange Sprechpause, die Chuck Noland zwischen diesen beiden Sätzen lässt!) Erst die Depotenzierung bewirkt die moralische Transformation des Prota­gonisten und leitet die Umkehr ein. Aus dem hölzernen Dummy, mit dem er das Seil für den Selbstmord testen wollte, wird - mit deutlicher Anspielung auf den gekreuzigten Christus - das Signal eines um Hilfe rufenden Menschen, der seiner unauflöslichen Einbindung in den Naturzusammenhang schmerzhaft gewahr wurde und nun wieder in die Welt zurückgeholt werden kann.

Die Umkehr

Deutlichster Ausdruck für die neue Situation ist Chuck Nolands verändertes Verhältnis zur Zeit, nachdem ihm die Wellen ein potenzielles Segel in die Hände gespielt haben. Später, im Gespräch mit Stan, gerät dessen Wanduhr genau in dem Moment in den Blick der sich um Chuck drehenden Kamera, als er von der Entdeckung des Segels berichtet. Dies bedeutet jedoch keineswegs, dass er sich mit der Aussicht auf ein selbständiges Verlassen der Insel schlagartig wieder im alten FedEx-Zeitrhythmus befindet. Zwar muss er nun von neuem seine Zeit be­rechnen, denn es wird darauf ankommen, den günstigsten Augenblick für die Ab­reise zu nutzen. Die knapp bemessene Frist erfordert eine genaue zeitliche Ab­schätzung des eigenen Leistungsvermögens und führt insgesamt wieder zu einer Beschleunigung des Handelns. Aber diese erneute Temporalisierung des Le­bensrhythmus geschieht jetzt mit Rücksicht auf den jahreszeitlichen Wechsel der Strömungen und Winde. Die FedEx-Zeit war eine entfesselte Zeit, die ohne Rücksicht auf die innere und äußere Natur des Subjekts aus der Eigendynamik des wirtschaftlichen Systems hervorgegangen war. Demgegenüber denkt und handelt Chuck nun im Rahmen zyklischer Zeitstrukturen, das heißt mit Bezug auf wiederkehrende Ereignisse der Natur und also immer noch in ihrem Hori­zont. Dies ermöglicht ihm nunmehr auch, seine frühere, völlig undistanzierte Einstellung zur herrschenden Zeitideologie mit Ironie zu betrachten.

Derart geläutert, tritt er den Rückweg in die Gesellschaft an, der sich überaus schmerzhaft gestaltet. Als das Floß die Brandung überwindet, setzt erstmals die, später an den entscheidenden Stellen wiederholte, Filmmusik ein, deren ebenso elegisches wie suggestives Thema nicht nur die Trauer des Helden betont, son­dern auch mit der ihr zugrunde liegenden Sehnsucht nach Auflösung der Ich­grenzen, nach Rückkehr in einen differenzlosen Einheitszustand, assoziiert ist. Dies zeigt sich besonders am Ende des Films, wenn die Musik während des Ab­spanns das Rauschen der Wellen in sich aufnimmt. Der Blick des aus der Mee­restiefe auftauchenden und in sie wieder verschwindenden Wals wirkt wie ein letzter Abschiedsgruß der Natur, die das Subjekt aus sich entlässt. Schmerzlich ist für Chuck Noland vor allem die Trennung von Wilson, der Verkörperung seiner inneren Stimme, die ihm den Austausch mit den eigenen Wünschen und Gefüh­len ermöglicht hatte. Der Verlust Wilsons veranschaulicht die Abspaltung von

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Ichanteilen, die das Subjekt als Preis für den Wiedereintritt in die Zone der Normen und Gesetze zu zahlen hat. Als Wilson, für Chuck unerreichbar, davon-treibt, äußert dieser zum ersten Mal jenes »I'm so sorry«, in dem sich sein Schmerz über den unwiederbringlichen Verlust des geliebten Gegenstandes, zu­gleich aber auch über den irreversiblen Verzicht auf eigene Sinnmöglichkeiten artikuliert. Er wird diesen Satz - und dies ist ein schönes Beispiel für den Trans­fer von Motiven innerhalb des Films - noch zweimal wiederholen, gegenüber dem Freund Stan, den er beim Tod seiner Frau hatte im Stich lassen müssen, und gegenüber Kelly, von der er sich trotz seiner Liebe zu ihr trennen wird.

Bevor Chuck an Bord des Containerschiffs gehen kann, um die Grenze zur Kulturwelt, nunmehr in umgekehrter Richtung, zu überschreiten, muss er noch­mals, zum dritten Mal, eine Entmächtigung seines Willens erleiden. Das erste Mal scheiterte er, als der Flugzeugabsturz mit einem Schlag seine Pläne durch­kreuzte. Der zweite Entzug von Handlungsfähigkeit richtete sich gegen deren letzten verbliebenen Rest, gegen den Willen zur Selbstzerstörung, und bewirkte den entscheidenden Sinneswandel. Nun jedoch lässt Chuck, nach dem Abschied von Wilson zutiefst entmutigt, die Ruder ins Meer gleiten und wird, so hat es den Anschein, gerade deshalb, gerade weil er sich den Wellen anheimgibt, geret­tet. Offensichtlich soll hier suggeriert werden, dass die Natur selbst als Handelnde in das Geschehen eingreift, um das Überleben der Figur sicherzustellen. Lässt sich daraus der Schluss ziehen, der Film wolle insgesamt die Annahme stützen, dass eine Fehlentwicklung im Bereich der Gesellschaft, dass die ökonomische Über-formung sozialer und psychischer Strukturen durch ein vorübergehendes Über­gewicht im Bereich der Natur kompensiert bzw. sogar rückgängig gemacht wer­den kann? Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, als wie weitgehend man die Reintegration Chuck Nolands in die Gesellschaft auffasst.

D i e G r e n z e n der V e r s ö h n u n g

Für den Heimkehrer ist die Welt, in die er zurückkehrt, nicht mehr die, die er verließ, und auch nicht die, nach der er sich während seiner Abwesenheit gesehnt hatte. Nicht nur ist die Zeit in der Heimat nicht stehen geblieben, auch er selbst sieht die Welt aufgrund seiner Erfahrungen in der Fremde mit anderen Augen. Im Film lässt bereits die Aufschrift »Ex Fed« auf zwei Tassen in dem Flugzeug, das Chuck Noland nach Hause bringt, die Distanzierung von der alten Berufs­rolle vermuten. Auf dem Flughafen in Memphis wird er nicht als Mittelpunkt oder Teil der ihn erwartenden Menge gezeigt, sondern erst, als er sie bereits hin­ter sich hat. Was wir zudem sehen, ist die kommentierte Fernsehaufzeichnung seiner Ankunft, also die mediale, öffentliche Aufbereitung und Einordnung des Falles, die seiner Einzigartigkeit und subjektiven Bedeutung für den Betroffenen niemals gerecht werden kann. Auch die Art, wie Chuck nach dem Ende der Wie­dersehensfeier den Hummer und das Feuerzeug am Büffet betrachtet, zeigt an, dass die Erinnerung an das Vergangene in ihm noch präsent ist, dass sie in seine

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Wahrnehmung des Gegenwärtigen und Alltäglichen mit einfließt und diesem so seine Selbstverständlichkeit nimmt.

Maßgeblich für die abschließende Positionierung des Protagonisten im Erzähl­raum von Cast Away ist das Ende der Liebesgeschichte. Die Trennung von Kelly macht zunächst deutlich, dass Chuck die gesellschaftliche Ordnung anerkennt. Der Film lässt keinen Zweifel daran, dass die Familie die Keimzelle und das Fundament der ökonomischen Ordnung bildet, und er liefert auch einen Anhaltspunkt dafür, dass sich Letztere ideologisch nicht etwa als Herrschaft der Tauschabstraktion, son­dern als eine Erweiterung familiärer Strukturen darstellen möchte. So äußert Chucks Vorgesetzter Fred Smith in seiner Ansprache, dass die »FedEx-Familie« fünf ihrer Söhne verloren habe, von denen nun einer zurückgekehrt sei, das heißt, er interpretiert Chucks Geschichte nach dem Schema des verlorenen Sohnes. Die Unantastbarkeit der Familie in der Gesellschaft beruht natürlich darauf, dass sie den institutionellen Rahmen für das Aufziehen der Kinder bildet. Chuck selbst weist darauf hin, indem er Kelly rät, noch mehr Kinder zu bekommen. Für die noch kinderlose Kelly waren die Scheidung von ihrem ersten Ehemann und der Partnerwechsel zu Chuck noch kein Problem gewesen. Wenn jedoch Chuck und Kelly nach der Geburt von Kellys Tochter ihre gegenseitigen Neigungen ausgelebt hätten, hätte dies nicht nur Kellys Familie zerstört, sondern letztlich die gesamte ge­sellschaftliche Ordnung in Frage gestellt. Diese Logik bedeutet freilich für die Sub­jekte, die sich ihr zu unterwerfen haben, einen schmerzhaften Einschnitt, der im Film entsprechend beweint wird und den emotional nachzuvollziehen dem Zu­schauer nachdrücklich, bis hin zum Einsatz von Regen als Tränenstimulans, ans Herz gelegt wird. Anders als im tragisch endenden Liebesfilm, soll nicht das ro­mantische Ideal der Liebe überhöht, sondern es soll die Entsagung, die die Gesell­schaft den Subjekten auferlegt, kathartisch durchlebt werden.

Dabei liegt der melodramatischen Struktur im Kern, wie in anderen Beispielen des Genres auch, eine zeitliche Inkongruenz zugrunde. Die Liebenden verlieren sich, weil der eine von ihnen für einen begrenzten Zeitraum gleichsam aus der Zeit fällt, so dass der andere ihn für tot hält und eine neue, sozial verankerte, nicht mehr auflösbare Bindung eingeht. In Casablanca liegt diese Bindung noch vor dem Kennenlernen der Liebenden und wird durch den vermeintlichen Tod des Ehemanns zeitweise außer Kraft gesetzt, bis sie sich nach dessen Rückkehr er­neut geltend macht. Dabei sind es, nebenbei bemerkt, nicht Kinder, sondern die vom Ehemann repräsentierten politischen Ideale, die dessen Stellung sakrosankt machen. In anderen Filmen lernen sich die Liebenden erst kennen, nachdem be­reits mindestens einer von beiden eine Beziehung eingegangen ist, oder der Al­tersunterschied ist von vornherein zu groß, das heißt sozial nicht tragbar. In je­dem Fall bewirkt der melodramatische Anachronismus, dass der Grund für die Nichterfüllung der Liebe, für die notwendige Einschränkung des eigenen Begeh­rens, nicht einzelnen Personen oder gesellschaftlichen Mächten zugerechnet wer­den kann, sondern als schicksalhaft erlebt wird. Dem entspricht in Cast Away üb­rigens die nur scheinbar nebensächliche Bemerkung Kellys über das Football-team, das den Super Bowl nur um »ein Yard, ein lausiges Yard, ganz am Schluss«

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(one lousy yard, right at the end) verfehlte, spielt sie doch damit, in dem Augen­blick, da sich die Nähe zu Chuck wieder einstellt, indirekt auf jenen entscheiden­den Zufall an, der ihr gemeinsames Glück im letzten Moment verhinderte. Es ist der Zufall, der den Subjekten im nachhinein als das Schicksal erscheint, als wel­ches ihnen die Ordnung des Sozialen gegenübertritt.

Dass Chuck diese Ordnung anerkennt, indem er seine Ansprüche auf die Ge­liebte zurücknimmt, bedeutet allerdings auch, dass er sich von einer Vereinnah­mung seines Begehrens durch die Gesellschaft distanziert. Darin unterscheidet er sich von Kelly, die verzichtet, um die an sie als Mutter gerichteten Erwartungen zu erfüllen. Dieser Sachverhalt lässt sich auch an dem zentralen Motiv der Ta­schenuhr, die den Helden auf seiner Reise begleitet, veranschaulichen. Die Uhr mit dem Porträt Kellys verbindet symbolisch den Bezirk des zeitlich durchorgani­sierten und koordinierten gesellschaftlichen Lebens, also die Sphäre der Pflicht, der herrschenden Normen und der Ökonomie, mit dem Bereich der Liebe und des körperlichen Begehrens. Ausschlaggebend ist, dass damit keine Versöhnung beider Seiten dargestellt, sondern eine klare Hieraichie festgelegt wird, denn das Porträt hat gegenüber der zeitanzeigenden Funktion der Uhr nur eine nebenge­ordnete, ornamentale Bedeutung. Auf der Insel beginnt - einhergehend mit der Naturalisierung und dem dadurch hervorgerufenen inneren Wandel des Protago­nisten - eine Trennung beider Elemente. Die Zeitfunktion setzt aus, die Uhr bleibt stehen, aber das Porträt behält weiterhin seine repräsentierende Funktion, drückt sich doch darin Chucks inneres Bild von Kelly aus, das er im übrigen auch als Fotograf selbst gemacht hat. Heimgekehrt, gibt er die Uhr zurück, indem er darauf hinweist, dass sie als Erbstück in den Kontext der Familie, also der gesell­schaftlichen Reproduktion gehört. Berechtigterweise behält er jedoch das Porträt bei sich, da es ausschließlich seinen subjektiven, unveräußerlichen Anteil an der Liebesbeziehung betrifft. Mit der symbolischen Befreiung der Liebe vom Primat der Zeit ist auch Chuck Noland zuletzt wieder freigestellt. Äußerer Beleg hierfür ist das Auto, das Symbol für individuelle Bewegungsfreiheit und soziale Mobili­tät, das er seinerseits von Kelly, gleichsam im Gegenzug für den Empfang der Uhr und als Zeichen der wiedererlangten Autonomie, zurückerhält. Wohin ten­diert nun der Protagonist nach dem Abschluss der Haupthandlung?

Zu Beginn des Epilogs sehen wir ihn in seinem Wagen auf dem Weg zu Betti­na Peterson. Die Kamera übernimmt kurz seinen während der Fahrt nach vorne gerichteten, in die Landschaft eindringenden, dann seitwärts schweifenden Blick und unterstreicht so seine offene, dem Neuen zugewandte Haltung. Auf dem Beifahrersitz liegt ein Volleyball. Es ist nicht mehr der mit dem eigenen Blut be­malte Wilson, stattdessen ein neuer, noch nicht aus seiner Verpackung herausge­löster Ball, der an den Ersteren aber noch erinnert. Dies scheint zu besagen: Die Eindämmung psychischer und körperlicher Subjektanteile, die mit dem Rückge­winn einer stabilen und sozial akzeptablen Ichidentität verbunden ist, kann zwar nicht rückgängig gemacht, wohl aber kann der Kontakt zu den inneren, sprachlo­sen Instanzen wachgehalten und auf diese Weise eine zu starke Instrumentalisie­rung und Fixierung des Ichs verhindert werden.

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Neben dem Volleyball liegt das Paket mit den aufgemalten Flügeln, das Chuck als einziges auf der Insel ungeöffnet ließ und mit dem es offensichtlich eine be­sondere Bewandtnis hat. Man wird die Bedeutung dieses Motivs aufschließen können, wenn man es als strukturelles Gegenstück zum Motiv der Taschenuhr begreift. Wie die Uhr geht das Paket mit dem Protagonisten den Weg über die semantische Grenze von Cast Away und kehrt mit ihm in den Ausgangsbereich zurück. Sein Sinn aber ist ein ganz anderer. Das Paket war zunächst von Bettina Peterson als Liebesgabe an ihren Mann in Moskau gedacht, der sich dort, wie sich vermuten lässt, aus beruflichen Gründen aufhielt. Es war Ausdruck ihrer Zunei­gung für ihn, die er allerdings nicht mehr erwiderte. Folglich kam das Paket beim Empfänger nicht an, sondern landete auf Chuck Nolands Insel. Dort erfuhr es eine Umfunktionierung, indem es Chuck, der von seiner Bedeutung für Bettina nichts wusste, als letztes verbliebenes Bindeglied zur Gesellschaft diente. Für ihn war es mit seiner Aufgabe als Angesteliter eines Paketdienstes, also mit beruflicher Pflicht, Verantwortung und Selbstdisziplin, verbunden. Abstrakt gesagt: Das Pa­ket fungiert anfangs als Zeichen subjektiver Neigung, der die Anerkennung durch den anderen und damit auch die mögliche Einbindung in die Gesellschaft versagt ist. Es dient danach, genau umgekehrt, als Ausdruck gesellschaftlicher Orientie­rung ohne Rücksicht auf subjektive Neigung. Entscheidend ist, dass Chuck das Paket selbst und an die Absenderin zurückbringt. Dadurch wird aus dem bezie­hungslosen Nebeneinander der beiden Momente ein Miteinander. Denn Chuck hätte das Paket kurzerhand an einem Schalter wieder in das Transportsystem ein­geben, und er hätte es auch erneut an den ursprünglich gedachten Empfänger senden können. Indem er es aber selbst Bettina Peterson, die es aufgegeben hatte, überbringt, ist sein Handeln nicht nur sachlich im Sinne beruflicher Pflichter­füllung, sondern auch emotional motiviert. Gefühle der Dankbarkeit mischen sich hinein. Darin manifestiert sich die neue Einstellung Chuck Nolands, der nunmehr die Seite der Natur und die Seite der Gesellschaft in sich vermittelt hat, nachdem sie am Anfang in einem ungleichen Verhältnis zueinander gestanden hatten.

Signifikant, und keineswegs nur ein retardierendes Erzählmoment, ist im übri­gen, dass er Bettina Peterson nicht sogleich an ihrer Haustür antrifft, sondern ihr später auf der Straße begegnet. Denn erst der Abschluss der Paketrückgabe ohne direkte Anschlusshandlung macht unzweifelhaft klar, dass die Rückgabe ohne Hintergedanken um ihrer selbst willen geschah, und dies wiederum verdeutlicht die Läuterung des Helden, die nun selbst als Voraussetzung für die Möglichkeit einer neuen Beziehung verstehbar wird. Dass Bettina Peterson nicht einfach Kelly ersetzt, sondern mit der gewandelten inneren Haltung Chucks verbunden ist bzw. diese spiegelt, lässt der Film schon durch die räumliche Situierung ihres Wohnsitzes erkennen. Bettinas Ranch somewhere in the middle of nowhere, ir­gendwo in der endlosen Weite von Texas gelegen, erinnert einerseits an Chucks Insel im Ozean, andererseits ist sie doch zugänglich für andere Menschen und damit weltoffen, was zusammengenommen auf eine mittlere Position zwischen Natur und Kultur oder, anders gesagt, am Rande der Gesellschaft verweist.

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Aber vor allem ist es natürlich das von der Künstlerin produzierte und bereits am Anfang des Films bedeutsam eingeführte Flügelsymbol, das ihre Stellung und letztlich auch den Punkt kennzeichnet, auf den sich Chuck Noland hinbewegt. Denn Flügel, auch wenn sie wie »Engelsflügel«' erscheinen mögen, stehen für das Fliegen, für die Möglichkeit, Hindernisse zu überwinden, Grenzen zu über­schreiten, also für Freiheit. Diese Funktion können sie jedoch nur ausüben, weil sie als Paar zusammenwirken und mithin durch ein vereinigendes Element zu­sammengehalten werden, das hier durch die drei Ringe symbolisiert wird. So wie Chuck Noland die Insel nur verlassen konnte, weil er das Segel an seinem Floß befestigte, so soll dies wohl bedeuten, dass eine gelungene Identität weder auf dem Wege radikaler Auflösung von Ichstrukturen, als Rückfall in den Naturzu­stand, noch als bedingungslose Unterwerfung unter die Gesetze der Gesellschaft und ihre Zwecke, sondern nur innerhalb einer relativ offenen Subjekteinheit möglich ist, die eine flexible Interaktion zwischen den verschiedenen Dimensio­nen des Ichs erlaubt. Freiheit nicht ohne und auch nicht trotz, sondern durch Bindung.

E i n sche inbar offenes E n d e

Dennoch schließt sich der Kreis im Film nicht mehr. Die Lücke, die Kelly hin­terlassen hat, bleibt bestehen. Am Schluss sieht man Chuck Noland auf einer Kreuzung, seinen Blick nach und nach in alle vier Himmelsrichtungen wendend, bis er zuletzt — innehaltend — wieder dorthin schaut, wohin soeben Bettina Peter-son auf einem, übrigens auffallend hell erscheinenden Weg, gefahren war. Nicht nur befindet sich Chuck an einem Kreuzungspunkt seines Lebens, er scheint sich diese Tatsache auch ausdrücklich bewusst zu machen. Warum bricht die Erzäh­lung hier ab, obwohl der Film doch zuvor die Richtung, in die es weitergehen soll, deutlich gemacht hatte? Eine neue Liaison der Hauptfigur hätte das Gewicht dessen, was sie zuvor hatte erleiden müssen, geschmälert, aber entscheidend ist si­cherlich etwas anderes. Es soll der Eindruck entstehen, dass der Protagonist Handlungsfreiheit besitzt, dass er selbst in der Lage ist, sich so oder so zu ent­scheiden. Somit markiert nicht die zuvor anvisierte mittlere Position zwischen Kultur und Natur das Ende des Films, sondern der Hinweis, dass der Einzelne sich für sie frei entscheiden kann. Damit sind wir abschließend bei der Frage an­gelangt, warum eine solche Geschichte überhaupt erzählt wird.

Zeitgeschichtlicher Hintergrund von Cast Away'isx., dies war bereits angedeutet worden, die forcierte Modernisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse, wie sie die westlichen Industriegesellschaften am Anfang des einundzwanzigsten Jahr-

6 Als »angcl wings« bezeichnet der Drehbuchautor William Broyles die Flügel. Vgl. William Broy-les Jr., Cast Away. A Newmarket Shooting Script, New York 2000, S. 1. Die darin angedeutete metaphysische Dimension verfolgt Marianne Skarics in ihrer Analyse des Films. Vgl. Marianne Skarics, Popularkino als Ersatzkirche? Das Erfolgsprinzip aktueller Blockbuster, Münster 2004, S. 283-314.

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hunderts prägt. Diese Gesellschaften verstehen sich einerseits als Arbeitsgesell­schaften, die von ihren Mitgliedern ein hohes Maß an Disziplin und identifikato-rischer Anpassung verlangen, um sie in den ökonomischen Prozess zu integrieren. Ihnen droht jedoch andererseits infolge technischer Rationalisierungen die Arbeit und damit genau jenes Moment, an dem sich ihr Selbstverständnis orientiert, auszugehen. Der Film Cast Away verdeutlicht, indem er melodramatische und abenteuerliche Erzählelemente miteinander verschränkt und zu einer exemplari­schen Geschichte verdichtet, die Folgelasten dieses verhängnisvollen Vorgangs für die Subjekte. Die Geschichte handelt von einem Mann, der schlagartig aus dem Arbeitsprozess herausfällt und darauf mit Depression und Regression reagiert. Dahinter steht die Erfahrung, dass die psychische Infrastruktur, die im Zuge der ökonomischen Kolonisierung des Subjektiven als verdinglichte Zeitorientierung, als Aufschub und Verdrängung von Triebwünschen entstanden ist, einmal funk-tionsios geworden, destruktive Energien freisetzen kann, die die Einheit der Sub­jekte bedrohen. Der Film bietet jedoch eine Lösung für das Problem an. Der Ein­zelne soll sich selbst neu ausrichten, indem er eine ausgewogenere und flexiblere Identität aufbaut, die sich zur Naturseite hin öffnet. Diese Lösung bleibt freilich individualistisch und unterstellt, dass es nur eine Frage des eigenen, freien Wil­lens ist, wer man sein will und wie man leben möchte. Sie lässt die gesellschaftli­chen Strukturen unangetastet und wirkt insofern beschwichtigend auf die, die unter ihnen zu leiden haben.

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KULTUR Melodrama

+Zeit

soziale, berufliche Identität

(Prolog! Bettina Pelerson

NATUR Abenteuer

-Zeit

ö

* ö (LAW

Chuck als hedEx-

Angestellier

Chuck & Kelly

Taschenuhr

Zahnschmerzen

^4. Gespräch mit Stan

(l.Wer»

(2.Akt)

(I.Akt!

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Am Flughafen

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(3. Wen.

Uhr ••— Trennung von Kelly —•• Liebe

Gespräch mil Sian

< Epilog I I 0

Betlina Peterson

epunkt)

1 Erzäh 11 ticke.

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Wiedergeburt

, (2. Weodep.)|

Blechsegel

Abschied von Wilson

ung

Tschifl'

lepunkl)

(Schema /um Handlungsverlauf von Casi Awayi

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II MYSTIC RIVER ODER DIE ABWESENHEIT DES VATERS

Handlungsverlauf und Figurenpersonal

Clint Eastwoods Film Mystic River (USA 2003) thematisiert die Rolle der Gewalt in einer sich wandelnden amerikanischen Gesellschaft. Die irritierende Botschaft des Films lautet, dass Gewalt nicht nur die gesellschaftliche Ordnung bedroht, sondern dass sie zugleich jene Kraft ist, die sie in ihrer Krise zusammenhält. Der Film handelt einerseits als Kriminalfilm von der rationalen Aufklärung eines Ver­brechens, wobei er die psychologischen Motive und die sozialen Aspekte seiner Entstehung aufdeckt. Andererseits bringt er tragische Strukturelemente ins Spiel, die das Geschehen - darauf deutet bereits der Titel - als dunkel und unausweich­lich, ja als schicksalhaft und insofern als jeder rationalen Kontrolle enthoben er­scheinen lassen.

Als Kriminalfilm berichtet Mystic River von der schrittweisen Aufklärung eines Mordes. Zu diesem bekannten detektivischen Modell gehören das Sammeln, die Gewichtung und Verknüpfung von relevanten Daten sowie deren richtige Inter­pretation, die schließlich die Überführung und Verhaftung der Täter durch die Po­lizei ermöglicht. Geschickt werden Spuren, auch falsche Spuren gelegt, um die Aufmerksamkeit und Neugier des Zuschauers zu wecken, um Erwartungen aufzu­bauen und gegebenenfalls zu enttäuschen. Dabei folgt der Film einer wohlüberleg­ten, kumulativen Spannungsökonomie, indem er sein Material mit Unterbrechun­gen und Verzögerungen so ausbreitet, dass die Spannung zum Ende hin mehr und mehr ansteigt, um sich schließlich in einer überraschenden Wendung zu entladen.

Diese klare, lineare und analytische Struktur wird jedoch dadurch kompliziert, dass mit der Aufdeckung des Verbrechens zugleich die Entstehung eines neuen Verbrechens einhergeht. Dabei ergeben sich die Akteure entweder offen ihren Leidenschaften oder unterliegen doch zumindest Impulsen, die sie sich selbst oder anderen einzugestehen kaum in der Lage sind und deren Folgen sie nicht übersehen. Strukturell macht sich dies bemerkbar, indem die Vorgeschichte zu­nehmend ihre Bedeutung für das Geschehen entfaltet. Der Verlauf der Handlung ist hier insgesamt kreisförmig, führt er doch an einen Punkt, der dem Ausgangs­zustand vergleichbar ist. Überdies skizziert der Film ansatzweise eine Neben­handlung, durch welche die geschilderten Vorfälle eine Spiegelung erfahren. Trotz dieser recht komplexen Struktur, die auf dem Höhepunkt der Geschichte in Form einer dramatischen Parallelmontage zu einer Engführung der gegensätz­lichen Handlungsstränge führt, lassen sich die größeren Handlungseinheiten deutlich voneinander unterscheiden.

Die Exposition dient vorab der Einführung des Handlungsortes Boston bzw. eines bestimmten Stadtteils von Boston, in dem sich die späteren Ereignisse ab-

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spielen werden. Sie macht mit den drei männlichen Hauptfiguren Dave Boyle, Jimmy Markum und Sean Devine bekannt, die zunächst als Kinder auftreten. Die profilierte Stellung von Jimmy Markum als Anführer und als jemand, der be­reit ist, Verbote zu übertreten, wird bereits deutlich. Mit der Entführung von Dave Boyle durch zwei Päderasten enthält die Exposition darüber hinaus eine ab­geschlossene Erzählung, die zwar mit der Selbstbefreiung des Entführten endet, die jedoch ihre Spuren hinterlässt, was durch das Bild der in den Beton geritzten Namen sinnfällig gemacht wird. Dieses Motiv, und damit das Fortwirken der vergangenen Geschehnisse in der Erzählgegenwart, wird denn auch sogleich nach dem Zeitsprung von gut fünfundzwanzig Jahren, mit dem der zweite Akt ein­setzt, in Erinnerung gebracht.

Diese zweite Sequenz begründet zunächst mit der Entdeckung des Mordes an Jimmy Markums Tochter Katie die beiden zentralen Handlungsziele des Films: die Suche nach dem Täter und die Vergeltung für den Mord. Sie hat zudem die Funktion, die erwachsenen Charaktere in ihrem familiären und beruflichen Um­feld zu zeigen und dadurch kenntlich zu machen sowie langsam den Verdacht auf Dave Boyle zu lenken. Dieser Teil, in dem auch die Nebenhandlung um Sean Devine und seine Frau Lauren einsetzt, endet mit jener Szene, in der Jimmy Markum die schmerzhafte Wahrheit vom Tod seiner Tochter erfährt.

Der dritte Akt verstärkt die zuvor angelegten Tendenzen. Während die Polizis­ten ihre Nachforschungen anstellen, ohne schon entscheidend weiter zu kommen, und während Dave Boyles Rolle zunehmend fragwürdiger erscheint, steigert sich bei Jimmy Markum das Bedürfnis nach Rache. Eine Wende tritt erst ein, als er nach dem Hinweis der Savagebrüder offensichtlich beginnt, Dave zu verdächtigen. Von nun an ist klar, dass die Bemühungen von Sean und Jimmy konträr verlau­fen, und es stellt sich die Frage, wer von beiden als erster ans Ziel gelangen wird.

Die vierte längere Sequenz beantwortet diese Frage auf spektakuläre Weise, in­dem zunächst die wahren Zusammenhänge der Tat nach und nach enthüllt wer­den, die endgültige Aufdeckung des Sachverhalts durch den Bruder des einen der beiden Täter dann aber mit der Gegenüberstellung von Jimmy und Dave am Mystic River verschränkt wird. Die Wahrheit gelangt zwar ans Licht, kann aber das neue Verbrechen nicht verhindern. Auf die Verhaftung der Täter folgt der Mord aus Rache, mit dem der Film seinen aufwühlenden Höhepunkt erreicht, so dass nunmehr beide Handlungslinien abgeschlossen sind.

Der fünfte und letzte Akt dient der Reflexion des zuvor Gesehenen. Er kon­frontiert anfangs Jimmy mit der Wahrheit und bietet sodann durch Annabeths Rede eine Möglichkeit, sie zu verarbeiten und anzunehmen. Zudem bringt er den Konflikt zwischen Sean und Lauren zu einem versöhnlichen Ende, wodurch ei­nerseits, nach dem düsteren Finale der Haupthandlung, das Affektgleichgewicht der Zuschauer wiederhergestellt wird, andererseits die Ereignisse in einem ande­ren Licht erscheinen. Schließlich deutet der Film mit der Parade eine politische Dimension der Geschichte an.

Mit Boston, der Hauptstadt von Massachusetts, wählt der Film nicht nur eine der geschichtsträchtigsten amerikanischen Großstädte als Kontext der Filmer-

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Zählung, sondern auch einen Ort, der in den letzten Jahren einen tiefgreifenden und erfolgreichen Modernisierungswandel vollzogen hat. Einstmals ein wichtiger Seehafen, war Boston im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine bedeutende Indus­triestadt, die von der Arbeitskraft der hier angesiedelten, vor allem irisch­katholischen Einwanderer lebte. Heute gründet der Wohlstand Bostons auf dem Fortschritt der Informationstechnologie, auf Finanzdienstleistungen sowie auf den renommierten Forschungs- und Bildungseinrichtungen der Region. Das ver­schlafene Arbeiterviertel Buckingham, jener fiktive Stadtteil, in dem sich die düs­tere Handlung von Mystic River abspielt, scheint auf den ersten Blick von dieser Entwicklung unberührt. Triste Mietwohnungen und schlichte Einfamilienhäuser, vor denen Autos parken, Eckläden, kleine Geschäfte und Kneipen prägen das überschaubare Bild dieses Teils der Stadt, in dem nach wie vor die Kirche eine wichtige Rolle spielt, in dem nachbarschaftliche Kontakte und verwandtschaftli­che Bindungen das Leben bestimmen. Der Film signalisiert allerdings, so schon in einer Bemerkung Dave Boyles über den Anstieg der Mietpreise, der mit dem Zuzug zahlungskräftiger Yuppies einhergeht, dass der gesellschaftliche Wandel nicht an der Grenze des Stadtviertels halt macht. Mehrmals nähert sich die Ka­mera im Flug dem Mystic River und der über ihn gespannten Brücke, die von den Fiats von Buckingham zum gegenüberliegenden Stadtteil führt. Bildet die Brücke ein Stück der kulturellen Ordnung, die zwischen unterschiedlichen, nicht nur räumlich getrennten Niveaus und Interessen der Gesellschaft zu vermitteln hat, so steht der Fluss für die unter der Oberfläche der Kulturwelt liegende Na­tur, die im Film, besonders eindringlich in der Schlusseinstellung, als ebenso un­einsehbare wie unergründliche Tiefenschicht markiert ist.

Polizei, Kirche und, als tragende Säule, die Familie sind in Mystic River die Bastionen, die die Gesellschaft gegen die sie von innen bedrohenden Kräfte der Natur, das heißt gegen unkontrollierte Aggression und ungezügelte Sexualität, er­richtet hat. Diese Kräfte, die jederzeit in der scheinbar heilen bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Welt zutage treten können, sind mit der Sphäre des Wilden und Animalischen, mit räumlicher Tiefe und Dunkelheit verbunden: Mitten in der domestizierten Natur des Stadtparks kommt es in der verlassenen Bärengrube zum Mord. Hundebeilen verstärkt die Drohungen des Entführers, als dieser Dave Boyle in den Wagen zwingt. Das Bild eines Polizeihundes kündigt die Ankunft des aufgebrachten Vaters an, der schon den Tod seiner Tochter erahnt. In einem dunklen Keller wird Dave gefangen halten, bevor er, wie es heißt, den Wölfen entkommt. Später wird er sich in der Rolle des Glühwürmchens sehen, dessen Reich die Dunkelheit ist. In der Nacht ereignen sich die Morde, und nachts ge­hen die Savagebrüder, die sich als Fledermäuse bezeichnen, ihren dunklen Ge­schäften nach.

Den Durchbruch der dunklen, wilden und animalischen Seite der Wirklich­keit sucht der Film auf das Versagen der familiären Ordnung zurückzuführen und dabei zugleich als Folge einer grundlegenden Umgestaltung einstmals ge­schlossener patriarchaler Lebensverhältnisse verständlich zu machen. Daher der Rückgriff auf das tragische Handlungsmuster, mit dem sich gemeinhin die Auflö-

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sung, nicht aber die Integration sozialer Strukturen verbindet, und daher auch der gezielt konstruierte Gegensatz zwischen der traditionellen Lebenswelt des Kleine-Leute-Viertels Buckingham und der sich forciert modernisierenden Me­tropole Boston. Entscheidend ist die unumkehrbare Verschiebung der Machtver­hältnisse innerhalb der Geschlechterordnung, die die Männer zwingt, sich lang­fristig als Väter und Ehemänner in einer neuen Rolle zurechtzufinden. Das The­ma wird beiläufig bereits zu Beginn der Haupthandlung am Beispiel des irritier­ten, buchstäblich aus der Spur geworfenen Autofahrers angedeutet, der auf der Brücke aus Wut einen tödlichen Crash verursacht, nachdem er sich von einem anderen Mann geschnitten glaubt. Vor allem jedoch ist es die Verschränkung der Lebenswege dreier ehemaliger Freunde, die als zentrale Strukturidee des Films in der Lage ist, die Dynamik des Vorgangs sichtbar zu machen

Im Mittelpunkt des Geschehens steht Jimmy Markum. Fest verwurzelt in sei­nem Viertel, das er nie verlassen hat, hat er zwar seine kriminelle Vergangenheit aus Sorge um die Tochter gegen eine bürgerlich-legale Existenz eingetauscht, den Kontakt aber zu den kriminellen Freunden und damit zur Sphäre der unzivili-sierten Natur nie abgebrochen. Es ist gerade die Nähe zu diesem Bereich, die Be­reitschaft zur Normübertretung und zur Gewalt, der Mangel an sublimierter Ag­gression, der die Männlichkeit und die Autorität Jimmys innerhalb seines Umfel­des begründet. Ihm zugeordnet sind die zwillingsgleichen, von einer gebärfreudi­gen Mutter in die Welt gesetzten Savagebrüder, die schon ihr Name und dass sie ihre kriminelle Leidenschaft mit unverhohlener Lust ausleben, in den Raum au­ßerhalb der sozialen und rechtlichen Ordnung versetzt. Auch die Tatsache, dass sie stets doppelt auftreten, verbreitet Schrecken und macht sie im übrigen als strukturelle Wiederholung der beiden Verbrecher erkennbar, denen Dave Boyle als Kind in die Hände fällt.

Verkörpert Jimmy Markum den Vertreter der alten, schwindenden Ordnung, die auf natürliche oder quasinatürliche Bindungen beruht, und folgt sein Han­deln dem Muster des tragischen Helden, der einer verhängnisvollen Täuschung unterliegt, ohne allerdings am Ende unterzugehen, so repräsentiert Sean Devine den Rechtschaffenen, den Statthalter des abstrakten Gesetzes, der sich der tragi­schen Handlung in ihrer Entwicklung zur Katastrophe hin, wenn auch vergeb­lich, entgegenstellt. Im Unterschied zu Jimmy hat Sean das Viertel verlassen, sich von seinen Ursprüngen entfernt und studiert, so dass er den Typ des sozialen Aufsteigers darstellt, an dem die Mobilität der Gesellschaft sichtbar wird. Die ge­gensätzliche Position der beiden Männer könnte deutlicher nicht herausgestellt werden, als durch die beiden Frauen, die ihnen an die Seite gestellt sind. Wäh­rend Annabeth ihren Mann in seiner traditionellen Rolle als unangefochtenes Oberhaupt der Familie bestätigt, konfrontiert Lauren Sean mit dem Anspruch auf eigene Autonomie und zwingt ihn, diesen Anspruch anzuerkennen, so dass er sich in seinem Verhältnis zur Frau neu positionieren muss. Jimmy Markum und Sean Devine vertreten somit zwei unterschiedliche Formen von Männlichkeit in­nerhalb einer sich transformierenden Geschlechterordnung: eine noch mögliche und eine sich schon abzeichnende.

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Demgegenüber gerät Dave Boyle aufgrund der Ereignisse am Anfang des Films in eine uneindeutige Stellung zwischen den Geschlechtern, weshalb an ihm der Preis, den die Transformation der Verhältnisse kostet, demonstriert werden kann. Dies zeigt sich schon daran, dass er als Einziger die Bindung zu seiner Partnerin verliert, die ihn zuerst verlässt und dann verrät. Weder kann er sich in der alten Ordnung behaupten - vielmehr fällt er ihr zum Opfer - , noch kann ihn die neue Ordnung, weil sie noch zu schwach ist, retten. Im Modell der Tragödie, das der Film aufgreift, verkörpert er den Ausgeschlossenen, Zurückgewiesenen, der um Hilfe fleht und deshalb unser Mitleid erweckt. Um die eigentümliche Stellung Dave Boyles in der Gesamtstruktur von Mystic River zu verstehen, muss man sich vorab die wesentlichen Aspekte seiner Entführung, wie sie in der Exposition ge­schildert wird, klar machen.

Die Stigmatisierung des Opfers

Dem Verbrechen geht die Szene voraus, in der die drei Jungen ihre Namen in eine frisch zementierte Platte des Bürgersteigs ritzen. Dieser Vorgang lässt sich als spielerischer Versuch der Selbstdarstellung und Selbstbehauptung und damit als Ausdruck der beginnenden Individualisierung der Kinder verstehen. Er stellt jedoch zugleich eine, wenn auch geringfügige Normübertretung dar, die den Täter als sanktionierende Gewalt auf den Plan ruft. Der Entführer tritt nicht nur als vermeintlicher Polizist, also als Statthalter von Recht und Ordnung, sondern vor allem als strafende väterliche Instanz auf, die an das Gewissen der Kinder ap­pelliert. Die zweideutige Rede von »meinen Bürgersteigen« (my sidewalks) soll ihnen die Reichweite seiner Macht, die vom Privaten bis auf das Öffentliche ausgreift, suggerieren. Auffallend ist, dass im Film die Väter von Jimmy Markum und Sean Devine auftauchen, Dave Boyle aber offensichtlich von seiner Mutter allein erzogen wird. Mehrfach fragt der Entführer nach den Müttern der Jungen und gibt vor, mit Dave zu dessen Mutter fahren zu wollen, um mit ihr zu sprechen. Wenn man sich nun noch vergegenwärtigt, dass sexueller Missbrauch von Kindern in der Realität überwiegend nicht, wie im Film, außerhalb der Fa­milie stattfindet, sondern zumeist inzestuöser Natur ist und in der Mehrzahl der Fälle von Vätern an ihren eigenen Töchtern begangen wird, so liegt der Schluss nahe, dass hier eigentlich das Versagen der Familie, genauer gesagt die Abwesen­heit des Vaters als zugleich schützende und erziehende Instanz gemeint ist, die in der Geschichte durch das Vergehen eines Stellvertreters des Vaters ausgedrückt wird.

Zudem signalisiert der Film durch das Kreuz auf dem Ring und später auch an der Halskette des zweiten Entführers, dass hinter dieser Krise der Familie auch eine Krise der sakralen Ordnung steht. Dabei ist es offensichtlich nicht der Ver­lust des Glaubens, der die Tat hervorbringt, da ja der Täter durch das Kreuz als gläubig, wenn nicht sogar als Vertreter der Kirche ausgewiesen ist, sondern viel­mehr die Schwäche der im Glauben gründenden Moral, die das Verbrechen nicht

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verhindern kann. Darin mag im übrigen auch eine Anspielung auf aktuelle Ver­fehlungen in der anglikanischen Kirche liegen.

Der sexuelle Missbrauch als solcher wird im Film ausgespart bzw. nur durch wenige Bilder und Hinweise angedeutet. So sind die Handschellen am Gürtel des Täters wohl nicht nur Bestandteil seiner Tarnung als Polizist, sondern deuten auch einen Zusammenhang von Sexualität und Macht, von Unterwerfung und Lust an, wobei das Ungleichgewicht zwischen Täter und Opfer, wobei die Un­terlegenheit des Kindes indirekt auf die Schwäche der sich an ihm vergehenden Männer verweist. Aufschlussreich ist, dass dieses Motiv später, in einer anzügli­chen Bemerkung von Sean Devines Partner über die erotischen Qualitäten ihrer Kollegin - er bezeichnet ihre Brüste oder Schenkel als Handschellen - umgewer­tet wird, insofern hier der Mann sich als jemand imaginiert, der die Stärke der ihm überlegenen Frau als lustvoll erlebt.

Die subjektiven Folgen des Verbrechens sind für Dave Boyle verheerend. Die Erfahrung, dem Willen anderer schutzlos ausgesetzt zu sein, zerstört das Gefühl der eigenen Kontrollfähigkeit und erzeugt eine traumatische Situation vollkom­mener Hilflosigkeit, aus der er sich, wie er später gegenüber Celeste berichtet, nur dadurch zu retten vermag, dass er sich ein zweites Ich, den Jungen, der den Wöl­fen entkam, erfindet. Ebenso desaströs wie diese innere Spaltung sind die sozialen Auswirkungen der Tat, die nicht nur den Täter, sondern auch das Opfer mit ei­nem Bann belegt. Dabei spielt auch die Tatsache, dass Vergewaltigungsopfer zu­meist Frauen sind, eine wichtige Rolle, so dass der Missbrauch nicht zuletzt einen Akt der Verweiblichung darstellt, der Dave Boyles sexuelle Identität als Mann auch nach außen hin für andere untergräbt. In der Vorstellung von Vampiren, die mit ihrem Biss das Blut ihrer Opfer infizieren, so dass diese selbst künftig als Vampire durch die Welt geistern müssen, verdichtet sich für ihn der Schrecken psychischer Traumatisierung und sozialer Stigmatisierung: »Es ist wie mit Vampi­ren, wenn Du sie in Dir drinhast, wirst du's nie wieder los« (Once it's in you it stays). Einmal von der Gewalt des Verbrechens heimgesucht, kann sich das Sub­jekt innerlich nie mehr von der Erinnerung an die traumatische Situation befrei­en, einmal mit dem Verdrängten und Geächteten in Kontakt geraten, kann es den Verdacht, selbst ein Teil von ihm zu sein, nicht mehr abschütteln.

Folglich lässt sich der Mord, den der erwachsene Dave in einem Zustand psy­chischer Unzurechnungsfähigkeit oder zumindest reduzierter Schuldfähigkeit an dem Pädophilen begeht, als verzweifelter Versuch verstehen, sich von den Lang­zeitfolgen der Tat zu befreien, wozu schließlich auch die Angst gehört, vollends von den Mächten, die ihn bedrängen, überwältigt und damit selbst zum Täter zu werden.

Insgesamt verhindert das Verbrechen, dass Dave Boyle eine stabile und klar konturierte Identität ausbildet. Sinnbild hierfür ist, dass sein Name anders als der seiner Freunde nur halb in den Beton geschrieben wird und somit auch nur als halber die Zeit überdauert. So bleibt seine Rolle ambivalent. Einerseits wird er, wie man erfährt, noch in der Schule zum erfolgreichen Sportler und tritt er als treusorgender Vater eines Sohnes sowie als ein Mann auf, der durchaus in der La-

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ge ist, sich gegen andere Männer zu behaupten, ja diese sogar gezielt in die Rolle des passiv erleidenden, gleichsam weiblichen Gegenübers zu drängen. So demon­striert er seine Überlegenheit über Sean während des Verhörs mit dem Satz »but your' someone's bitch, aren't you, Sean« (wörtlich: aber du bist die Hure von ir-gendjemandem). Andererseits bleibt an ihm der Makel desjenigen hängen, den das Verbrechen, das er zufällig erleiden musste, zu einem gebrandmarkten und gebrochenen Menschen gemacht hat, ein Makel, der sich ihm bis in die Körper­haltung, bis in die Mimik und die gedämpfte Redeweise eingeschrieben hat. Es ist gerade diese Uneindeutigkeit Dave Boyles als die eines Erwachsenen, der von dem Trauma seiner Kindheit gezeichnet ist, und eines Mannes, der mit Zügen ausgestattet ist, die dem Klischee nach eher weiblich sind, die sein Profil schwächt, die seine Mitmenschen daran hindert, ihn in seiner sozialen Rolle ein­deutig zu verorten und die ihn dadurch prädestiniert, erneut zum Opfer eines Verbrechens zu werden.

Der Angriff auf den Vater

So widersprüchlich die Haltung von Dave Boyle erscheint, so unzweideutig ist die Position, die Jimmy Markum im Erzählraum von Mystic River einnimmt. Verweist die Vorgeschichte der Haupthandlung, wie gezeigt, auf die Schwächung der väterlichen Instanz innerhalb eines sich auflösenden Familienverbandes, so repräsentiert Jimmy Markum nun im Gegenzug den starken Vater, der das Zen­trum der Familie bildet und ihre Geschlossenheit garantiert. Er ist die uneinge­schränkte Autorität innerhalb einer Gemeinschaft, die durch klare Rollenvertei­lung geprägt ist, die durch starke affektive Bindungen zusammengehalten wird und die in Ansätzen sogar noch, da die Familienmitglieder zum Teil im Geschäft mitarbeiten, eine wirtschaftliche Einheit darstellt. Wie man aus der Bemerkung des Schwiegervaters schließen kann, der ihn nach dem Tod der Tochter als »Mann von altem Schrot und Korn« (real old-school man) bezeichnet, um ihn an seine familiären Verpflichtungen zu erinnern, beruht diese Stellung innerhalb der Familie offensichtlich darauf, dass er die Merkmale traditioneller Männlichkeit -Zielstrebigkeit, Entschlossenheit, Mut, Kompromisslosigkeit - eindeutig verkör­pert, und es ist aufschlussreich, dass er diese Eigenschaften seiner Person selbst explizit gegen die reduzierte Männlichkeit Dave Boyles hervorhebt. So weist er im ersten Gespräch mit den Polizisten nach der Identifizierung von Katies Leiche, scheinbar unmotiviert, darauf hin, dass er, um seine erste Frau Marita anzuspre­chen, Mumm haben musste, den er nicht gehabt hätte, wenn er anstelle Daves in das Auto des Entführers eingestiegen wäre. Kehrseite dieser männlichen Härte und Stärke ist die Unfähigkeit, Gefühle der Schwäche oder Trauer zu artikulie­ren, und auch diesbezüglich ist es bezeichnend, dass es ihm am Abend nach dem Mord erst dann gelingt, um Katie zu weinen, als Dave auf der Veranda er­scheint und er sich ihm, also einem bereits ins Weibliche tendierenden Mann, öffnet.

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Der Film verdeutlicht Jimmy Markums Selbstverständnis als Familienvater beispielhaft an seinem besonderen Verhältnis zur Tochter Katie. Die heikle Natur dieser Vater-Tochter-Beziehung manifestiert sich schon darin, dass, im Sinne ei­ner Verdeutlichung durch Verstärkung und eines strukturellen Pendants zur Ab­wesenheit von Daves Vater, die leibliche Mutter fehlt, wodurch es zu einem Übergewicht des Vaters kommt, der zunächst die Fürsorgeaufgaben der Mutter mit übernehmen muss. Gründet die Macht des Vaters objektiv auf der Schutz­funktion, die er für seine Tochter übernimmt, so erlebt er dies subjektiv als Zu­stand einer quasisymbiotischen Einheit mit seinem Kind. In seiner Erinnerung an die Rückkehr aus dem Gefängnis, als Katies Mutter gerade gestorben war, sieht er sich mit Katie isoliert inmitten einer feindseligen Umgebung, »als wären wir die beiden letzten Menschen auf der Welt, vergessen, unerwünscht« (the last two people on earth. You know, forgotten, unwanted). Und auch später noch, im Rückblick auf ihr letztes Zusammensein, glaubt er, in Katies Blick die kindliche Furcht erkannt zu haben, ihn wie einst die Mutter zu verlieren, obwohl sie, schon längst erwachsen, faktisch im Begriff war, mit ihrem Geliebten fortzugehen. Da mit dem Glauben an die Schutzbedürftigkeit der Tochter auch die eigene Stel­lung und Macht als Vater zusammenhängen, reagiert er gereizt auf alles, was diese Illusion stören könnte. Dies gilt bereits für die schwache Kritik der Stiefmutter am Lebenswandel Katies, als sie am Morgen nicht zur Arbeit erscheint, es gilt aber vor allem natürlich für jeden potenziellen Liebhaber der Tochter, da dessen Auftauchen eine Schwächung der väterlichen Macht bedeutet. Im Moment, da die Tochter sich vom Vater zu lösen beginnt, wird dieser zum Konkurrenten des Liebhabers. Daran mag auch erinnern, dass Jimmy Katies Leiche zum Abschied mit ihrem Kleid schmückt, so als wolle er damit nicht nur die zärtliche Liebe ei­nes Vaters, sondern auch die erotischen Gefühle eines Liebhabers zum Ausdruck bringen. Sehr erhellend in dieser Hinsicht ist zudem Katies Bemerkung gegen­über ihrem Geliebten Brendan, nachdem dieser sie gefragt hatte, was ihr Vater tun würde, wenn er sähe, dass er sie küsst: »Er erschießt dich, dann bringt er dich um« (Shoot you and then kill you). In dieser auf den ersten Blick absurden For­mulierung drückt sich, übrigens in einer Vorwegnahme der späteren »zweifachen Tötung« Daves durch Jimmy, er wird zunächst mit dem Messer traktiert und dann erschossen, sehr genau die Wut des Vaters aus, der sich als Hüter der Se­xualität seiner Tochter sieht. Es ist die Wut dessen, der das, was er als Übergriff auf die Tochter versteht, als Angriff auf sich selbst begreift, und die zugleich blind ist, da es ihm nicht auf das Objekt seiner Erregung oder auf die von ihm bewirk­ten Effekte, sondern ausschließlich auf die Freisetzung der Emotion ankommt.

Der Mord an Katie, auch sie wird das Opfer eines unkontrollierten Gewalt­ausbruchs, auch sie wird erschossen und dann erschlagen, bedeutet schließlich ei­nen radikalen Angriff auf die Autorität des Vaters und damit auf die Ordnung, in deren Zentrum er steht. Die dem Mord folgende Handlung lässt sich insgesamt als Versuch verstehen, diese Ordnung wiederherzustellen, auch wenn der Versuch seinerseits irrationalen Impulsen folgt und eine Missachtung von staatlichem Recht und christlicher Moral impliziert.

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Die Restitution der patriarchalen O r d n u n g

Bereits während der Kommunionfeier für Jimmys zweite Tochter deutet sich die Abkehr nicht zwar vom Glauben, wohl aber von dessen moralisch verpflichten­dem Gehalt an. In dem Augenblick, da der Priester in der Kirche den Leib Chris­ti präsentiert, wendet sich Jimmy, der das drohende Unheil zu ahnen scheint, nach hinten um in die Richtung, in der das Verbrechen geschehen ist. Soll das Sakrament der Kommunion an Jesu Christi letztes Abendmahl vor der Kreuzi­gung erinnern und dadurch zugleich die Präsenz Jesu bzw. der von ihm verkör­perten Heilsbotschaft in der Gemeinschaft der Gläubigen wach halten, so kün­digt diese Abwendung des Protagonisten von dem Geschehen am Altar einen Rückfall in einen gleichsam vorchristlichen, archaischen Zustand entfesselter Lei­denschaften an, an dessen Ende eine weitere Opferung stehen wird. Auf beein­druckende Weise inszeniert der Film die Pose des aufgebrachten Vaters, der im Moment, da die Befürchtung zur Gewissheit wird, überwältigt von seinen Ge­fühlen, nur durch mehrere Männer gebändigt werden kann. Angetrieben von sei­nen Affekten, geht er sodann den Weg der Selbstjustiz, die jenseits staatlich legi­timierter Gewalt auf die private Kompensation des Schadens abzielt und dabei zugleich die Ansprüche des Kollektivs, das heißt der Sippe, der Familie, geltend macht. So schwört er an Katies Leichnam Rache für ihren Tod — der Täter soll dasselbe Schicksal erleiden wie das Opfer - , um im nächsten Augenblick, als ihn der Bestatter fragt, was er gesagt habe, die trauernde Familie ins Spiel zu bringen.

Die Frage stellt sich, warum ausgerechnet Dave Boyle ins Visier der so in Gang gesetzten Leidenschaften gerät. Um diese Frage zu beantworten, muss man sich klar machen, dass der Mord an Katie als Angriff auf die Bastion des Vaters und Familienoberhaupts, von der Logik der Geschichte her gesehen, das heißt im Sinne einer Verschiebung und Verdichtung der Thematik, nichts anderes dar­stellt als ein verstärktes Zeichen für jene Destrukturierung der sozialen Ordnung, die bereits den Hintergrund für das Verbrechen an dem Kind Dave Boyle abge­geben hatte. Diese Destrukturierung, im Kern die Schwächung des Vaters inner­halb der Familie, löst Aggressionen aus, die sich ihr Objekt suchen müssen, soll die soziale Ordnung nicht als ganze dauerhaft gefährdet werden. Da Dave nun einerseits aufgrund der erlittenen Stigmatisierung mit dem, was die Gesellschaft verdrängt und aus sich ausgrenzt, verbunden wird und andererseits innerhalb der Gesellschaft aufgrund der eigenen Schwäche selbst kein Gewicht behaupten kann, wird er zum Sündenbock, an dem sich die Gewaltimpulse entladen.

Die Inszenierung lässt die Tat als strukturelle Wiederholung des ersten, ur­sprünglichen Verbrechens erkennbar werden und macht dadurch die Zirkelhaf-tigkeit des Vorgangs deutlich. So verweist schon die Szene, in der Dave in das Auto der Savagebrüder einsteigt, bis in die Details der Körperbewegungen zurück auf jene andere Szene am Anfang des Films, in der er sich zu seinen Entführern in den Wagen begibt. Die Art und Weise, wie er von Jimmy zu einem falschen Ge­ständnis gezwungen wird, wie seine verworrene und bruchstückhafte Rede von der Tötung des Kinderschänders erst unter der Todesdrohung in eine erfundene,

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aber plausible Erklärung für den Mord an Katie umschlägt, offenbart, dass Jimmy seine eigenen Aggressionen so lange auf Dave projiziert, bis dieser die ihm zuge­dachte Rolle übernimmt und schließlich, mit dem Hinweis auf die verlorene Ju­gend, ein Motiv für die Tat formuliert, das seine wahren Gefühle mit dieser Rolle scheinbar in Einklang bringt. Dass Jimmy, während Dave noch von dem Jungen in sich selbst spricht, dem er die Tötung des Pädophilen zuschreibt, durch nichts so sehr in Rage gebracht wird, wie durch das Wort »Junge«, lässt erahnen, wie sehr er dadurch an eigene, nicht realisierte Subjektmöglichkeiten erinnert wird, die einstmals, vor der Entführung, als er selbst noch ein Junge war, mit denen von Dave Boyle identisch waren. Indem Jimmy Dave umbringt, grenzt er sich von diesen Möglichkeiten ab, die ihn zu einem anderen, zum Beispiel weniger männlichen Mann hätten werden lassen können, wenn er sie nicht verdrängt hätte und zu dem harten Mann geworden wäre, zu dem er geworden ist. Dem entspricht auch, dass unmittelbar vor dem ersten Gewaltakt mit dem Messer nicht etwa, wie man sich hätte vorstellen können, nochmals Katie erwähnt wird, für deren Ermordung Dave doch immerhin büßen soll. Stattdessen betont Jimmy ausdrücklich, dass nicht er, sondern Dave damals in das Auto des Entführers eingestiegen sei. Dann sticht er zu. Auch der Satz, mit dem er Dave endgültig in den Tod schickt, ist verräterisch: »Ich hab's ja gesagt, Dave. Sterben musst du nun mal allein« (It's like I said Dave. This part you do alone). Da er diese For­mulierung zuvor auf den einsamen Tod seiner Frau Marita bezogen hatte, kommt ihr an dieser Stelle strukturell die Funktion zu, Dave in die Position der sterbenden Frau zu versetzen, was man als weiteren Beleg dafür werten kann, dass Jimmy mit der Ermordung Daves vor allem seine Männlichkeit zu behaupten sucht.

Auf dem Gipfel der Spannung greifen die beiden Verhörszenen, das heißt die Gegenüberstellung von Dave und Jimmy sowie die Befragung des stummen Ray junior durch seinen Bruder Brendan, ineinander. Diese Parallelisierung hat si­cherlich nicht nur eine spannungssteigernde Funktion, insofern sie die Auflösung des Falles verzögert bzw. die Beantwortung der Frage, ob das unschuldige Opfer noch gerettet werden kann, aufschiebt. Sie verdeutlicht auf dem Wege der Wie­derholung und der Kontrastierung darüber hinaus einen zentralen inhaltlichen Aspekt des Films, der im übrigen auch, darauf wird noch zurückzukommen sein, im Rahmen der Nebenhandlung zwischen Sean und seiner Frau Lauren verhan­delt wird. Es ist dies das Thema der Gewalt als Ersatz für Sprache bzw. als Folge von Sprachunfähigkeit. Sowohl in der Konfrontation zwischen Jimmy und Dave wie auch in der zwischen Brendan und Ray junior steht ein Stärkerer einem Schwächeren gegenüber, und der Stärkere will den Schwächeren zu einer be­stimmten Aussage zwingen. Der Unterschied besteht für den Zuschauer darin, dass Jimmy eine falsche Annahme durchsetzen will, während Brendan die Wahr­heit auf seiner Seite hat. Im Hinblick auf Letztere ist das Ergebnis jedoch iden­tisch: die Wahrheit hat keine Chance. Weder kann sich Dave bei Jimmy Gehör verschaffen, noch gelingt es Brendan, seinen Bruder dazu zu bewegen, den Na­men Katies auszusprechen. Darin offenbart sich, abgesehen von der extremen

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Verzerrung der Kommunikationssituation, dass Gewalt keine Alternative zur Sprache darstellt, da sie für die Stimme des anderen unzugänglich ist und ihr kei­nen Raum lässt.

Inwiefern nun dieser Rückgriff auf Gewalt anstelle sprachlicher Mitteilung mit dem Aspekt der Männlichkeit und der verfehlten Vaterschaft, verstanden nicht als biologische Tatsache, sondern als eine mit der Mutter gemeinsam zu über­nehmende Erziehungsverantwortung für die Kinder, zusammenhängt, zeigt sich am Fall des stummen Ray. Bereits seine Mutter hatte diesbezüglich gegenüber den Polizisten unwissentlich den Nagel auf den Kopf getroffen, als sie einen, für sie allerdings verblüffenden, Konnex zwischen der Redseligkeit ihres Mannes und der Stummheit des Sohnes konstatierte: »Der Vater konnte die Klappe nicht hal­ten, aber sein Sohn ist stumm. Ja, ja, das Leben ist schon fair« (Father couldn't shut up, but his son's a mute. Oh, yeah, life's fucking fair). Weil der Vater den Mund nicht halten konnte und seinen Kumpan verriet, der ihn daraufhin tötete, wurde sein Sohn stumm. Weil die Vaterstelle bei der Erziehung des Sohnes unbe­setzt blieb, wuchs er einseitig unter der Obhut der Mutter auf, das heißt aus­schließlich im Zeichen emotionaler mütterlicher Zuwendung, jedoch ohne die väterliche Instanz, die ihn in die sprachlich-symbolische Ordnung hätte einweisen müssen und die ihm somit erst die sprachliche Artikulation seiner Gefühle er­möglicht hätte. Auf diese psychische und mithin nicht physische Ursache für Rays Stummheit deutet indirekt auch Brendans Bemerkung hin, dass er wisse, dass Ray eigentlich doch sprechen könne. Ist schon die Vaterlosigkeit Ray Juniors eine Folge sprachloser Gewalt unter Männern, so erzeugt sie ihrerseits Sprachlo­sigkeit, aus der am Ende erneut Gewalt hervorgeht. Denn nur zum Teil lässt sich der Mord an Katie, wie Sean im nachhinein vermutet, als unbeabsichtigte Folge eines Spiels mit der Waffe verstehen. Dies mag für den Mittäter gelten, wobei zudem noch jugendliche Verwahrlosung sowie Angst vor Entdeckung mit im Spiel gewesen sein mögen. Es gilt jedoch nicht für den stummen Ray, der sein Opfer in rasender Wut mit dem Hockeyschläger tötet und dadurch seine Ver­zweiflung über den Verlust des geliebten Bruders zum Ausdruck bringt, die er offen nicht mitteilen kann. Darin wiederholt sich im übrigen auch jene Unfähig­keit der Gefühlsartikulation, wie sie zuvor an Jimmy Markums anfänglichem Unvermögen, um seine ermordete Tochter zu weinen, erkennbar geworden war.

Der Gang, den Jimmy Markum als tragischer Held in Mystic River geht, trägt Züge der Geschichte des Ödipus. Je weiter er auf seinem ihm durch das Gesetz der Familie auferlegten und insofern unvermeidbaren Weg der Vergeltung voran­schreitet, desto mehr nähert er sich der Einsicht in seine eigene schuldhafte Ver­strickung in die Tat. Dies deutet sich bereits an, als er sich nachts allein auf der Veranda den Kopf darüber zermartert, worin seine Mitschuld am Tode Katies liegen könne, die er dunkel schon erahnt. Im Moment der Erkenntnis, die Anagnorisis folgt im Film unmittelbar auf die Katastrophe, offenbart sich gleich­zeitig sowohl diese Schuld am Tod der Tochter, die er auf sich geladen hat, als er dem späteren Mörder den Vater nahm und dadurch dessen Familie zerstörte, wie auch der verhängnisvolle Fehler, den er beging, als er mit Dave einen Unschuldi-

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gen tötete - ein Fehler, der deshalb verhängnisvoll ist, weil in seiner Folge erneut ein Sohn ohne Vater aufwachsen muss, weil sich durch ihn der Teufelskreis der Gewalt, die neue Gewalt erzeugt, fortsetzen wird. Im Film wird diese Einbindung der Figuren in ein übergeordnetes Geschehen, dass sie weder durchschauen noch beherrschen, als Rede vom grausamen Zufall oder von Gott, der kassiert habe, thematisiert. Mehrfach ist auch die Rede davon, dass jeder der drei Freunde in das Auto des Entführers hätte einsteigen können und somit jeden das Schicksal Daves hätte treffen können. Die sich darin äußernde tragische Denkform ent­spricht einer statischen und geschlossenen Gesellschaftsordnung, in der die Kon­flikte als unvermeidbar und naturgegeben erscheinen.

Dem entspricht, dass sich die Akteure zwar in ihrem Verhalten vom christli­chen Glauben abwenden, ihr Handeln aber keineswegs selbst als areligiös verste­hen. So begreift Jimmy die Hinrichtung des Sündenbocks Dave als einen Akt ri­tueller Waschung, der nicht nur den Täter, sondern auch das Opfer einschließt: »Wir begraben hier unsere Sünden, Dave. Wir waschen uns davon rein« (We bu-ry our sins here, Dave. We wash them clean). Er sieht sich dabei, wie einst, als er den Vater des stummen Ray aus Rache tötete, von Gott beobachtet, der sein Verhalten zwar missbilligt, aber zugleich auch hinnimmt wie das eines triebge­steuerten jungen Hundes, der nicht anders kann. Auch die Tatsache, dass er ein tätowiertes Kreuz auf dem Rücken trägt, fügt sich in dieses Schema, obwohl sie zunächst irritiert. Da Jimmy Markum nicht der Geopferte ist, sondern derjenige, der das Opfer an dem anderen vollzieht, liegt hier offensichtlich eine bewusste Umkehrung der christlichen Symbolik vor, die auf den gekreuzigten und wieder auferstandenen Christus und damit auf die Idee einer Versöhnung von Mensch und Natur verweist. Die Umkehrung dieses Sinns, zu der auch passt, dass der Tätowierte die Tätowierung selbst nicht sehen kann, verbindet demgegenüber Jimmy Markum mit dem einen der beiden Entführer von Dave Boyle, der eben­falls durch das Kreuz markiert ist. Offenbarte dessen Tat, dass die religiöse Ord­nung den Ausbruch von Gewalt und animalischer Sexualität nicht verhindern kann, so fungiert das Kreuz im Fall Jimmy Markums als Zeichen dafür, wie sich die Gesellschaft gegen diese Kräfte der Natur, wenn sie einmal ausgebrochen sind, zu behaupten sucht. So wie sich die Menschen in dem Horrorfilm, den sich Dave Boyle anschaut, mit Kreuzen gegen die Vampire zu schützen versuchen, so dient die Ermordung Daves, die einer öffentlichen Kreuzigung gleichkommt, der Abwehr und der Verdrängung jener Mächte, die das Sozialgefüge in seinem In­nern bedrohen. Indem Dave von Jimmy vor den Augen von dessen Freunden getötet und sein Leichnam anschließend in den Mystic River geworfen wird, kann die Aggression an einem Außenseiter abreagiert und schließlich mit seinem leblosem Körper symbolisch in einen Naturraum außerhalb der Gesellschaft ver­bannt werden.

7 Zur Theorie des Sündenbocks, die sich hier anbietet, vgl. das Buch von Rene Girard Das Heilige und die Gewalt, 3. Auflage, Frankfurt a.M. 1999.

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Alles in allem führt die Ermordung Dave Boyles deshalb, obwohl sie den Keim für neue Konflikte in sich birgt, nicht zu einer Destabilisierung, sondern zur Wiederherstellung der sozialen Ordnung, die durch den Mord an Katie, der zu­gleich ein Angriff auf die Stellung Jimmy Markums als Vater gewesen war, aus den Fugen geraten war. Dieser Effekt zeigt sich folglich am deutlichsten inner­halb der Familie. Anstatt ihm wegen des folgenschweren Fehlgriffs Vorhaltungen zu machen, gibt sich Annabeth nach dem Geständnis Jimmys als seine Komplizin zu erkennen, die um sein Vorgehen gewusst hat. In ihrer Rede beschwichtigt sie die Selbstzweifel ihres Mannes und hebt dessen übergroße Liebe hervor, die nicht nur die Familie vereine und schütze, sondern sein Handeln geradezu unfehlbar mache. Indem sie Jimmys angestammte Position als pater familias dergestalt aus­drücklich und bedingungslos bekräftigt, präsentiert sie sich selbst als starke, selbstsichere Frau, die deshalb stark sein kann, weil sie in ihrer subalternen Rolle von der Stärke des Mannes profitiert. Wie die Andeutung des auf diese Huldi­gung folgenden Beischlafs verdeutlicht, liegt darin auch die erotische Attraktivität des Mannes begründet. Insofern Annabeth Jimmy zudem als Herrscher nicht nui der Familie, sondern auch der Stadt imaginiert, vollzieht sie den Schritt von der Familie zur politischen Struktur, die somit nicht modern als Produkt sich wech­selseitig beeinflussender Kräfte, sondern traditionell als Ausdehnung der elemen­taren, familiären Sozialverhältnisse erscheint: Wie der Mann in der Familie un­eingeschränkt regiert und dabei von seiner Gefährtin unterstützt wird, so soll er auch im Staat dominieren und dabei aus seiner festen, emotional verankerten Stellung innerhalb der Familie Kraft schöpfen können. Im Motiv der Parade, in der sich die städtische Gemeinschaft feiert und ihrer gemeinsamen Geschichte vergewissert, unterstreicht der Film abschließend diese politische, rückwärts ge­wandte Dimension des Geschehens und signalisiert zugleich die, zumindest vor­läufige Auflösung aller Konflikte. Auffallend ist, dass auch Celeste, die Frau Da­ves, die ihren Mann verraten hatte, ihren Platz in der solchermaßen restituierten Ordnung von Mystic River wiederfindet. Signalisiert ihr Blickwechsel mit der strahlenden Annabeth zunächst Verzweiflung und äußerste Irritation, so stimmt sie am Ende in den allgemeinen Jubel mit ein und begrüßt ihren auf einem Wa­gen vorbeifahrenden Sohn Michael, so als huldige sie damit ihrerseits einem künftigen Herrscher.

Ein alternatives Modell

Die Geschichte von Dave Boyle und seiner Ermordung durch Jimmy Markum bringt den Teufelskreis der Gewalt an den Tag, den die patriarchale Gesellschaft in ihrem Niedergang entfaltet. Betrachten wir nun die Nebenhandlung um Sean Devine und seine Frau Lauren, in der sich eine Alternative zu diesem desaströsen Vorgang abzeichnet. Die dtei Telefonate, die Sean mit Lauren fuhrt, deuten in Bruchstücken eine Ehekrise an, die sich folgendermaßen rekonstruieren lässt: Lauren hatte Sean, obwohl sie schwanger war, verlassen, nachdem dieser sie von

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sich gestoßen hatte, weil sie ein Verhältnis mit einem anderen Mann hatte. Offen bleibt, ob sie ein Kind von dem anderen oder von Sean erwartet. Am Anfang der Krise steht also die vom Mann unabhängige sexuelle Aktivität der Frau, die von Sean als Schwächung seiner Position erlebt wird. Darauf deutet die spätere For­mulierung »I pushed you away« hin, die eine Gewaltandrohung impliziert oder doch zumindest die Möglichkeit, dass Lauren das Verhalten ihres Mannes in die­sem Sinne verstehen musste. Die Tatsache, dass Sean auf die Avancen einer Kol­legin nicht eingeht, macht aber recht früh deutlich, dass er die Ehe mit Lauren grundsätzlich nicht in Frage stellt. Manifester Ausdruck der Ehekrise ist die Sprachlosigkeit Laufens, die strukturell mit der Stummheit Ray Juniors korres­pondiert und auf eine tiefgreifende Kommunikationsstörung zwischen den Ehe­partnern verweist. Dass es dabei vor allem um das Versagen des Mannes geht, dass also eigentlich Sean derjenige ist, der infolge der durch die Frau erlittenen Kränkung nicht sprechen kann, deutet sich bereits an, als Seans Kollege nach dem ersten Anruf Laurens vermutet, sie sage nur deshalb nichts, weil sie darauf warte, dass Sean zu sprechen anfange. Während des zweiten Telefonats mit Lau­ren beginnt er, seine Sprache wiederzufinden, indem er zunächst an Laurens Stelle spricht, sich selbst Fragen stellt, die sie stellen könnte, sich also, wenn auch erst zögerlich, in ihre Lage einzufühlen versucht. Der dritte Anruf signalisiert schließlich den Bewusstseinswandel, insofern Sean nun zugibt, einen Fehler be­gangen zu haben: »Es tut mir Leid. Ich möchte, dass du das weißt. Ich hab' dich vertrieben« (I'm sorry. I need you to know that. I pushed you away). Während das Beharren auf dem eigenen Standpunkt, während der Versuch, die eigene Po­sition mit Gewalt durchzusetzen, wie im Falle Brendans und Jimmys, die Stimme des anderen notwendig verfehlen muss, veranlasst Seans Eingeständnis des eige­nen Fehlverhaltens und seines Bedauerns darüber die Frau zum Sprechen. Die Überwindung der Artikulationsunfähigkeit führt zur Versöhnung. Wohl nicht von ungefähr bringt Lauren eine Tochter zur Welt, und ebenso wenig zufällig er­hält diese den Namen Nora, das heißt, in Anspielung auf Ibsens berühmtes Stück, den einer emanzipierten, sich aus männlicher Bevormundung befreienden Frau. Dass Sean dieses Kind als seines annimmt, obwohl die biologische Vater­schaft, zumindest für den Zuschauer, nicht geklärt ist, lässt vermuten, dass es ihm nicht auf die Reproduktion seiner selbst in dem Kind, sondern auf dessen behü­tete Zukunft in einer vollständigen Familie ankommt. Insgesamt stellt die im Film nur fragmentarisch erzählte Geschichte von Sean und Lauren somit in An­sätzen ein Gegenmodell dar zur fatalen Restitution patriarchaler Herrschaft, wie sie in der Haupthandlung erzählt wird. Die Schwächung männlicher Macht führt hier nicht zu deren demonstrativer Wiedereinsetzung, sondern letztlich zur Aner­kennung der Stärke der Frau und zu einem partnerschaftlichen Konzept gemein­samer Verantwortung für das Kind.

Gleichwohl endet der Film nicht mit dieser Perspektive, sondern lässt sie le­diglich neben der anderen, die den Blick freilegt auf die interne Dynamik der alt­hergebrachten Machtverhältnisse, bestehen. Weder kann sich der durch Sean an­gedeutete gesellschaftliche Wandel im Film schon durchsetzen, noch darf sich

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Jimmy in seiner wieder gefestigten, traditionellen Rolle als Mann endgültig sicher fühlen. Darauf verweist auch das sicherlich irritierendste Zeichen von Mystic River, der symbolische Schuss, den Sean während der Parade auf Jimmy abgibt und der, als Geste spielender Kinder, zurückführt zum Ausgangspunkt der Ereig­nisse, als sich die Wege der beiden Freunde noch nicht getrennt hatten. Der an­gedeutete Schuss lässt sich einerseits, vor allem, wenn man die darauf folgende Geste Jimmy Markums mitberücksichtigt, als Ausdruck der Komplizenschaft unter Männern verstehen. Dazu passt, dass sich Jimmy anschließend die Sonnen­brille aufsetzt und sich damit äußerlich auf eine Position zurückzieht, in der er als individuelle Person nicht mehr fassbar ist. Mit gleichem Recht kann der Schuss jedoch auch als Ankündigung aufgefasst werden, dass Sean den Mörder Daves ei­nes Tages doch überführen wird und dass folglich die Tage des durch ihn reprä­sentierten Konzepts patriarchaler Alleinherrschaft gezählt sind. Die Doppeldeu­tigkeit lässt sich interpretatorisch nicht auflösen und muss mithin als gewollt und sinnvoll verstanden werden. Sie verdeutlicht die Gleichzeitigkeit zweier hetero­gener Tendenzen und somit den gesellschaftlichen Übergangszustand, auf den das komplexe Erzählmodell von Mystic River ausgerichtet ist.

Fassen wir zusammen: Historischer Kontext des Films ist eine grundsätzliche Verschiebung innerhalb der Geschlechterverhältnisse zugunsten der Frauen, die als Teil einer fortschreitenden Modernisierung der Gesellschaft angesehen werden muss. Diese lässt sich allgemein und schlagwortartig als Umwandlung der Indus­triegesellschaft in eine Informationsgesellschaft bezeichnen und macht sich be­sonders rasant in Boston, der Stadt, die den konkreten Hinteigrund des Films bildet, bemerkbar. In der Vorgeschichte thematisiert der Film die negativen Sei­ten des sozialen Wandels als Abwesenheit des Vaters in der Familie, deren Folgen Gewalt und Verbrechen sind. Darauf antwortet die Geschichte in ihrem Haupt­teil mit der Etablierung einer starken väterlichen Instanz, die jedoch ihrerseits, unter Druck, katastrophale Folgen zeitigt und am Ende selbst neue Vaterlosigkeit erzeugt. Dabei veranschaulicht der Handlungsverlauf zugleich die Rolle des stig­matisierten Außenseiters, der die Aggressionen der anderen auf sich zieht und ableitet und dadurch zu einer Beruhigung der Verhältnisse beiträgt. Schließlich deutet die Filmerzählung in der Nebenhandlung fragmentarisch eine gelungene Transformation der Geschlechterordnung an, die das geschlossene und tragische Verlaufsmodell der Haupthandlung relativiert, ohne sich jedoch schon vollends gegen das Gewicht der überkommenen Lebensweise durchsetzen zu können.

8 Der Roman von Dennis Lehane, der dem Film zugrunde liegt, ist in diesem Punkt eindeutig, in­sofern er die Gegenspielerrolle Seans aus der Innenperspektive der Figur unmissverständlich her­vorhebt und auch insgesamt Sean gegenüber Jimmy noch deutlicher als den Fortschrittlicheren und Aufgeschlosseneren erscheinen lässt. Vgl. Dennis Lehane, Mystic River, New York 2001 (Dt.: Mystic River, Berlin 2004.)

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III DIE RELIGION DER LIEBE IN BREAKING THE WAVES

Der Film Breaking the Waves (Dänemark 1996, Regie: Lars von Trier) ist in der Lage, ebenso heftige wie gegensätzliche Reaktionen beim Zuschauer auszulösen. Die herzzerreißende Geschichte einer tiefreligiösen und überaus gutherzigen jun­gen Frau, die gegen alle Widerstände für ihre Liebe kämpft und zuletzt sogar freiwillig in den Tod geht, um ihren Geliebten zu retten, weckt entweder unser Mitleid oder bewirkt, tritt man einen Schritt zurück und vergegenwärtigt sich das Übertriebene und Sentimentale der Handlung, ungläubiges Kopfschütteln. Ge­schickt und zugleich provozierend verknüpft der Regisseur die Themen der Reli­gion, der Moral und der Sexualität, so dass es auf den ersten Blick nicht einfach ist zu entscheiden, welcher dieser Aspekte der zentrale des Films ist oder ob es überhaupt einen solchen gibt. Handelt es sich etwa, wie von Trier gesagt hat, um einen Film über das Gute und über Menschen, die alle nur Gutes wollen, oder um Gefühlskino, das in erster Linie die Affekte des Publikums hervorkitzeln möchte? Man könnte es sich einfach machen und auf die postmoderne Haltung des Regisseurs verweisen, der mit seinem Stoff nur spielt, um am Ende die Kon-struiertheit und Scheinhaftigkeit selbst unserer innersten und intimsten Gefühls­regungen zu erweisen. Aber selbst, wenn dies seine Absicht gewesen sein sollte, so hängen die Gefühle doch mit der Geschichte und ihrer Bedeutung zusammen, die auch als Spielmaterial einen eigenen Wirklichkeitswert besitzen, so dass es sich lohnt, sie ernst zu nehmen.

Die intensive Wirkung des Films beruht zu einem Großteil auf der unge­wöhnlichen und raffinierten Handhabung seiner formalen und technischen Mit­tel, die oft kommentiert worden ist. Auffallend ist die durchgängige Verwen­dung der Handkamera, die Verwackelungen und Unscharfen in Kauf nimmt und so den Eindruck des Unkontrollierten und Zufälligen erzeugt. Dem entsprechen die elliptische, in kleineren Sequenzen gegen die Kontinuität verfahrende Monta­ge sowie das spontan wirkende Spiel der Schauspieler, das im Falle der Hauptfi­gur, wenn sie mehrfach direkt in die Kamera blickt, sogar die Ebene der Fiktion zu durchbrechen scheint. Die Kamera macht sich über weite Strecken als ein in das Geschehen integrierter Beobachter bemerkbar, der sich selbst erst orientieren muss, was durch die, besonders in der ersten Hälfte des Films häufigen Reiß­schwenks und die verzögerte Schärfeneinstellung angezeigt wird. In erzählerischer Hinsicht hat dies zur Folge, dass die Distanz zu dem Dargestellten stark reduziert

9 Vgl. Lars von Trier, »Director's note. This film is about >good<«, in: Breaking the Waves. Kopen­hagen 1996, S. 20-22.

10 Siehe etwa Lars-Olaf Beier, »Respektvolle Nähe, pulsierende Lebendigkeit. Die bewegende Ka­mera in Breaking the Waves«, in: Kamerastile im aktuellen Film. Berichte und Analysen, hrsg. von Karl Prümm, Marburg 1999, S. 139-148.

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wird. Indem der Film nicht nur auf seine medialen Bedingungen verweist, son­dern diese zugleich auch in die erzählte Welt mit aufnimmt, entsteht der Effekt des Unmittelbaren, Nichtkonstruierten. Diese dokumentarisch anmutende, im Ergebnis aber illusionssteigernde Strategie verbindet sich zudem mit Stilelemen­ten, die ein hohes Kunstwollen verraten: So unterstreicht der symmetrische Bild­aufbau, etwa in den Kirchenszenen, die Gegensätze in der Figurenkonstellation. Auch die Symbolik der Farben, der gezielte Einsatz der Beleuchtung, die Klei­dung der Schauspieler und die Musik haben eine stimmige semantische Funkti­on. Und selbst die ausgeklügelte, mit großem technischen Aufwand betriebene Aufbereitung des Filmmaterials fügt sich in das wohldurchdachte Erscheinungs­bild des Films, der insgesamt also experimentelle, strukturoffene, und konstruktiv vereinheitlichende Verfahrensweisen in sich vereint.

Betrachtet man demgegenüber nun die erzählte Geschichte und sieht dabei zunächst einmal von ihrem Inhalt ab, so fällt auf, dass sie als ganze sehr einfach strukturiert ist und sich vom Muster des traditionellen Erzählkinos nicht ent­fernt. Die Handlung wird überwiegend linear erzählt. Sie ist übersichtlich, ver­ständlich, hat einen klaren Anfang und einen eindeutigen Schluss. Sie enthält überdies Elemente des Wunderbaren und folgt einem archetypischen Erzählmo­dell, das der Regisseur mit einem dänischen Märchen, einer Version des Sternta­ler, in Verbindung gebracht hat. " Die Frage stellt sich, in welchem Verhältnis der komplexe und ambitionierte Erzählstil zu dieser einfachen und geschlossenen Ge­schichte steht. Soll der Wahrheitsgehalt der märchenhaften Erzählung durch die suggestive Erzählweise untermauert oder soll der Märchenglaube des Zuschauers am Ende bloßgestellt werden? Die Beantwortung dieser Frage wollen wir zu­nächst zurückstellen, bis wir uns ein genaueres Bild vom Sinn der Geschichte ver­schafft haben.

Das narrative Programm

Breaking the Waves besteht aus insgesamt sieben Kapiteln, einschließlich eines kurzen Prologs und eines längeren Epilogs. Die einzelnen Kapitel sind durch kur­ze Zwischenbilder untergliedert, die in ihrer Künstlichkeit und Statik in Kontrast stehen zu dem übrigen Geschehen, dessen Rezeption sie gleichwohl durch bildli­che und sprachliche Verweise lenken. Fasst man die dargestellten Vorgänge, un­abhängig von der Kapiteleinteilung, anhand der zentralen Wendepunkte in län­gere Sequenzen zusammen, so ergibt sich folgendes Bild hinsichtlich der Hand­lungsfolge:

Der Film beginnt medias in res, indem er die Hauptfigur Bess McNiell in ei­ner Befragung durch die Ältesten ihrer Gemeinde zeigt. Sogleich wird der sich

1 1 Vgl. Heike Parplies, »Unbefangenheit und artistisches Kalkül. Zum visuellen Konzept von Breaking the Waves«, ebd. S. 161-174.

12 Vgl. Stig Björkmann, Trier über von Trier. Gespräche mit Stig Björkmann. Hamburg 2001. S. I63f.

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anbahnende Konflikt zwischen der Protagonistin, die sich anschickt, einen Frem­den, den von einer Bohrinsel stammenden Arbeiter Jan, zu heiraten, und ihrem streng religiösen Umfeld deutlich. Die sich anschließende Darstellung der Hoch­zeit und der Hochzeitsfeier hat zunächst orientierunggebende Funktion, indem sie mit den Hauptakteuren und ihrer unterschiedlichen Art zu leben bekannt macht. So verdeutlicht insbesondere das Trinkduell zwischen Terry, einem Freund Jans, und einem der Ältesten die den Film tragende Grundopposition zwischen der sinnenfrohen und diesseitigen Welt Jans und der durch Askese und Selbstdisziplin bestimmten Lebensform der Dorfgemeinschaft. Die Ansprache von Bess' Schwägerin Dodo setzt den Zuschauer über einen grundlegenden, für die nachfolgende Handlung entscheidenden Charakterzug der Hauptfigur in Kenntnis: ihre rückhaltlose Güte, die keine Grenzen kennt. Die einleitende Se­quenz, die sich vom Prolog bis fast zum Ende des zweiten Kapitels erstreckt, zeigt sodann im wesentlichen, wie Bess nach der Hochzeit mit Jan die Sexualität ken­nen lernt und darüber hinaus eine selbstbewusstere und weltoffenere Haltung gewinnt, was etwa an ihrer Kritik am kirchlichen Redeverbot für Frauen oder an ihrem Staunen beim Kinobesuch erkennbar wird.

Die zweite längere Sequenz setzt an dem Punkt ein, da sich durch die Ankün­digung der bevorstehenden Abreise Jans ein erster Schatten auf das Glück der Liebenden zu legen beginnt. Während der dramatische Abschied von Jan und die Telefonate zwischen Bess und Jan den intensiven und erotischen Charakter ihrer Beziehung veranschaulichen, offenbaren vor allem die Gespräche bzw. Selbstge­spräche, die Bess mit Gott führt, das Handlungsziel, das sie verfolgt: Sie will er­reichen, dass Jan zu ihr zurückkehrt. Mit dem Unfall auf der Bohrinsel erfüllt sich dieser Wunsch, wenn auch auf überraschende Weise. Nunmehr geht es nicht mehr für Bess darum, Jan bei sich zu haben, sondern sie muss dafür sorgen, dass er überlebt. Die hoffnungsfrohe Situation am Ende der Einleitungssequenz hat sich in ihr Gegenteil verkehrt.

Der dritte und längste Teil des Films deckt sich fast zur Gänze mit dem vier­ten, fünften und sechsten Kapitel. Er handelt einerseits von Jans Gesundheitszu­stand, der sich zunehmend verschlechtert, und andererseits von Bess' immer un­erbittlicher werdenden Versuchen, ihn zu retten, wodurch sie mehr und mehr in Isolation gerät. Von zentraler Bedeutung ist jene Szene, in der Jan Bess auffor­dert, sich einen Geliebten zu suchen, da sich dadurch das Handlungsziel durch einen expliziten Auftrag an die Hauptfigur konkretisiert. Die dritte Handlungs­einheit endet mit Jans Unterschrift, mit der er die Einwilligung in die Einweisung seiner Frau in eine psychiatrische Klinik gibt. Bess ist nun vollständig auf sich selbst und ihren Glauben zurückgeworfen.

Den Höhepunkt des Films bildet das siebte Kapitel, das als »Bess sacrifice« an­gekündigt wird. Es beginnt mit Bess' erster Fahrt zu dem Schiff, auf dem sie von einem sadistischen Kapitän misshandelt wird; es beinhaltet zudem ihre Versto­ßung aus der Gemeinde sowie die symbolische Steinigung durch die Kinder des Dorfes, und es endet mit dem hochpathetischen Tod der Heldin im Kranken­haus.

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Von großer Bedeutung für das Verständnis des Films ist schließlich der Epilog, da er die Konsequenzen der vorausgegangenen Ereignisse aufzeigt und eine Deutung des Geschehens unterbreitet. Die Befragung von Dr. Richardson hat die Funktion, das Handeln der Hauptfigur durch einen Zeugen als durch und durch moralisch auszuweisen und zugleich den Verdacht der Geisteskrankheit von der Protagonistin zu nehmen. Das abschließende Glockenwunder signalisiert zuletzt eine religiöse Lesart der Geschichte und macht damit im nachhinein auch die Heilung Jans als Folge eines durch die Heldin bewirkten göttlichen Eingreifens verständlich.

Zeitlich ist die Handlung in den siebziger Jahren angesiedelt, was etwa an der eingespielten Musik oder an der Kleidung der Akteure zu erkennen ist. Durch diese Situierung in der jüngeren Vergangenheit wird zum einen auf eine Zu­kunftsperspektive verzichtet, so dass sich der geschlossene und legendenartige Charakter der Geschichte, den sie durch den abschließenden Tod der Hauptfigur ohnehin besitzt, verstärkt. Zum anderen bleibt die Bedeutung der Ereignisse, weil sie noch nicht allzu lange zurückliegen, auch für die Gegenwart gegeben. Die Vorgänge spielen sich in einer entlegenen Gegend in einem kleinen Fischerort an der Westküste Schottlands ab, inmitten einer rauen und unwirtlichen, gerade noch bewohnten Landschaft. Geographischer Hintergrund ist somit, allgemein gesagt, die Grenze von Zivilisation und Natur, die von einer expandierenden Moderne, dafür steht beispielhaft die Ölplattform, immer weiter verschoben wird, um die natürlichen Ressourcen auszubeuten. Jan, der, wie es an einer Stelle heißt, gewusst hat, dass das Ol weiter im Norden zu suchen ist, erscheint als eine Art Vordenker dieses technisch-ökonomischen Prozesses.

Grundlegend für das narrative Programm von Breaking the Waves ist der Ge­gensatz zwischen der traditionellen, in sich geschlossenen Lebenswelt des Dorfes und der durch Jan und seine Freunde repräsentierten Moderne. Auf der einen Seite haben wir es mit einer statischen, hierarchisch strukturierten und patriar-chalen Sozialstruktur zu tun, die auf festen religiösen, im Text der Bibel veran­kerten Prinzipien ruht. Dabei ist es vor allem die leibfeindliche Haltung der Menschen, die sie - man denke nur an die dunkle Kleidung, die freudlose und düstere Mimik der Ältesten oder an ihren Verzicht auf Kirchenglocken — kenn­zeichnet und die als Kehrseite ihrer Ausrichtung auf eine jenseitige Welt verstan­den werden muss. Diese orthodoxe, männlich dominierte Dorfgemeinschaft kontrastiert auf der anderen Seite mit einer sie umgebenden, individualistisch und materialistisch orientierten Gesellschaft, für die der religiöse Glaube keine verpflichtende oder einschränkende Kraft mehr besitzt. Der Film kehrt stattdes­sen besonders, so etwa auf der Hochzeitsfeier, aber auch in einigen Szenen auf der Bohrinsel, die lustbetonte Lebenseinstellung Jans und seiner Freunde hervor, die vorrangig im Hier und Jetzt leben und ihre Leidenschaften spontan und unge­hemmt ausleben. Innerhalb dieser Umgebung besitzt die Dorfgemeinschaft den Status einer sich nach außen abgrenzenden Enklave, die mit ihrer Umwelt in friedlicher Koexistenz existiert, was sich erst durch die Heirat eines Gemeinde­mitglieds mit einem Fremden zu ändern scheint.

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Welchen Sinn kann die Konfrontation so gegensätzlicher Welten haben, wenn man einmal unterstellt, dass es nicht ausschließlich auf den dramaturgischen Ef­fekt, den allein schon der Niveauunterschied mit sich bringt, ankommt? Wohl kaum wird es die Kritik an einer geistig rückständigen, im Film selbst schon als marginal gekennzeichneten Lebensform sein, da eine solche Kritik für sich ge­nommen keine besondere Relevanz beanspruchen könnte. Aber auch die Glorifi­zierung des modernen Lebensstils auf Kosten einer längst überholten, allenfalls exotisch wirkenden Art zu leben wäre wenig überzeugend. Anscheinend zielt der Film stattdessen auf eine irgendwie geartete Vermittlung der beiden Sphären. Und in der Tat scheint es einen tiefer liegenden Zusammenhang zwischen der Gemeinde mit ihrer weitabgewandten, den Freuden des Lebens entsagenden Haltung und der übrigen, materialistisch denkenden Welt mit ihrer Ethik der in­dividuellen Lusterfüllung zu geben. Die puritanische Lebensform, wie sie in der Gemeinde praktiziert wird, ist, historisch gesehen, nichts anderes als die Keim­zelle jenes alles durchdringenden und alles entwertenden kapitalistischen Akku­mulationsprinzips, das im Ergebnis die moderne pluralistische Lebenswirklichkeit hervorbrachte, die ohne oberste sinnstiftende Instanz auskommen muss und von deren zweischneidigen Segnungen auch die nichtreligiösen Akteure des Films be­troffen sind. Hier ist an die bekannte These Max Webers über die motivationalen Antriebsenergien des Kapitalismus zu erinnern. Danach war es eben jene, im Film thematisierte innerweltliche Askese, das heißt die im Protestantismus aus religiösen Gründen geforderte Triebregulierung und Triebverdrängung, die es verhinderte, den durch Arbeit angehäuften Profit zu verschwenden, so dass statt­dessen die Anhäufung und Vermehrung des Kapitals selbst zum eigentlichen Le­bensideal werden konnte und ein umfassender, technisch-industrieller Umge-staltungsprozess in Gang gesetzt wurde, der inzwischen längst seine anscheinend unkontrollierbare Eigendynamik entfaltet hat. So gesehen stehen sich in Breaking the Waves nicht etwa zwei unversöhnliche, weil gänzlich fremde Gesellschaftsfor­men, sondern zwei Stufen ein und derselben Entwicklung gegenüber, eine, mit der sich der frühkapitalistische Anfang assoziieren lässt, und eine späte, die der vorläufigen Endphase entspricht.

Und so gesehen durchschreitet die Protagonistin, indem sie mit ihrer Hochzeit über die innere semantische Grenze des Films hinausgeht, gewissermaßen im Zeitraffer einen Prozess von Jahrhunderten. Auf diese Weise gelingt es dem Film nicht nur, einen nicht unwesentlichen Aspekt dieses historischen Langzeitvor­gangs, nämlich den Struktur- und Funktionswandel der Liebe, durch extreme Komprimierung und Pointierung zu verdeutlichen, sondern dieser Wandel wird zugleich auch, indem die Hauptfigur Elemente des Ausgangs- und des vorläufi­gen Endzustands miteinander zu versöhnen versucht, auf seine problematischen Seiten hin beleuchtet. Bess McNiell lässt sich erzähllogisch als ein typischer Trickster verstehen, der eine anfängliche Mangelsituation - die Diskrepanz zwi-

13 Zu diesem Begriff siehe Claude Levi-Strauss, Strukturale Anthropologie I, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1967, S. 247-250.

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sehen einer in Gott vertrauenden, jedoch sinnenfeindlichen Lebensform und ei­ner hedonistischen, jedoch metaphysisch entzauberten Welt - durch Neutralisie­rung der Gegensätze über verschiedene Stufen hinweg zu beheben versucht. Dies erklärt auch die eigentümliche, schwer fassbare Doppelnatur der Figur, die Kon­träres, eine irrationale, passive und altruistische Haltung mit einer rationalen, konstruktiven und egoistischen Seite bruchlos in sich vereint und deshalb in der Lage ist, in beiden Welten aufzutreten. Sie ist eine bedingungslos liebende, arglos gute Person, die gleichwohl nicht zögert, sich rigoros über die Regeln der gelten­den Moral hinwegzusetzen, und eine erwachsene Frau mit einem kindlichen Ge­müt, die sich mehr und mehr in einen wahnhaften Zustand hineinsteigert, dabei jedoch zielstrebig und wohlüberlegt vorgeht. Je nachdem, aus welchem Blickwin­kel man dieses Verhalten betrachtet, erscheint es als fragwürdig oder als positive Auszeichnung. Es kommt allerdings darauf an, es zunächst einmal als Ausdruck seiner erzählerischen Funktion, der Aufhebung der ursprünglichen Spannungssi­tuation, zu sehen.

D i e Sakra l i s ie rung de r Liebe

Dass die in orthodoxem Glauben erzogene Bess den lebensfrohen, physisch prä­senten Arbeiter Jan heiratet, von dem sie sagt, dass er ein großartiger Liebhaber sei, kommt einem emanzipatorischen Akt gleich, der ihre Sinne aus dem Kerker einer sie disziplinierenden Kirchenmoral befreit. Dies wird bereits in der Anfangs­sequenz unterstrichen, indem sie nach der Befragung durch die Ältesten aus der Kirche ins Freie hinaustritt. Die Liebe öffnet buchstäblich Ohren und Augen. Bess' Einstellung zur Musik, ihre Wertschätzung der Kirchenglocken, ihre kind-lich-staunenden Blicke im Kino zeigen dies an. Die Liebe erschließt ihr zudem und vor allem den Zugang zu einem bisher aufgesparten Bereich der eigenen Körperlichkeit, zur Sexualität. In ebenso beindruckenden wie behutsamen Bil­dern wird gezeigt, wie sich Bess in der Deflorarionsszene zunächst noch zaghaft, doch in froher Erwartung dieser Erfahrung öffnet, um dann später, wenn sie mit Jan schläft, die sexuelle Lust als ein beglückendes und intensives Erlebnis für sich zu entdecken. Auffallend ist, dass die Beziehung zwischen Bess und Jan keine Vorgeschichte hat, weder im konservativen Sinne einer Anbahnung durch die Familie, was innerhalb der Dorfgemeinschaft naheliegend gewesen wäre, noch im modernen Sinne als zufällige Begegnung oder als allmähliches, freiwilliges Ken­nenlernen. Der Film beginnt mit der Namensnennung des Mannes, den sich die Frau aus individueller Neigung heraus gewählt hat und den sie gegen die skepti­sche und ablehnende Haltung der Gemeinschaft verteidigt. Bildet die Sexualität den Kern dieser Liebesbeziehung, so ist doch an keiner Stelle im Film von deren möglichen Folgen die Rede, das heißt, das Sexuelle wird von dem Gedanken der Fortpflanzung und damit von seiner sozialen Bedeutung völlig abgekoppelt. Die

14 Vgl. Beier (s. Anm. 10), S. 144.

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Liebe erscheint dergestalt als reines, im körperlichen Begehren verankertes, aso­ziales Faktum. Sie widersetzt sich nicht nur den Forderungen des Kollektivs, son­dern sie kümmert sich überhaupt nicht um die Meinungen und Erwartungen der anderen. Als Bess zögert, Jan am Telefon zu sagen, dass sie ihn liebt, fordert er sie auf, ihm ihre Liebe zu gestehen und niemals damit aufzuhören, gleichgültig, was die anderen über sie sagen. Und später, als Bess' Sehnsucht nach Jan unter der Trennung übergroß zu werden droht, gesteht sie sich bzw. ihrem Gott ein, dass es ihr egal ist, dass man Jan auf der Bohrinsel brauche.

Entscheidend ist nun, wie der Film diesen Absolutismus der leidenschaftli­chen, romantischen Liebe, der eine moderne Erscheinung ist, mit der traditions­gebundenen religiösen Einstellung der Protagonistin verbindet. Bess' Gott ist ein patriarchaler Gott, der die strengen Normen ihrer Gemeinschaft - Fleiß, Gehor­sam, Tugendhaftigkeit bis zur Selbstverleugnung - repräsentiert. Nicht ohne Grund hat Bess im Film keinen eigenen Vater mehr, verstärkt sich doch dadurch die väterliche Autorität ihres Gottes, den sie selbst stets als »Vater« anspricht. Die Zwiegespräche, die sie in sich verändernder Stimmlage mit diesem Vatergott führt, geben dem Zuschauer Einblick in das Selbstverhältnis einer jungen Frau, die sich so sehr von einer übergeordneten moralischen Instanz, die sowohl straft als auch liebt, getragen weiß, dass dies noch ihre intimsten Wünsche, die jenseits jeder moralischen Forderung liegen, mit einschließt. So bleibt die erotische Liebe für Bess in ihrer Liebe zu Gott aufgehoben, während Letztere zugleich nahtlos von diesem auf den Geliebten übergehen kann. Unmittelbar nachdem sie von Jan gefragt worden ist, mit wem sie denn, als sie noch allein war, gesprochen habe, sehen wir Bess zum ersten Mal im Gespräch mit ihrem Gott. Dies suggeriert nicht nur, dass bisher dieser Gott, das heißt das personifizierte väterliche Über­ich, Bess' einziger intimer »Gesprächspartner« gewesen ist, sondern auch, dass sich Jan, weil er nun ebenfalls Zugang hat zum Innenraum ihrer geheimsten Ge­fühle, diese Rolle künftig mit Gott teilt und also für Bess selbst eine gottähnliche Stellung einnimmt. Eine Schlüsselstelle in dieser Hinsicht ist jene Szene, in der sich Bess, noch während sie mit Jan schläft, für das Geschenk der Lust, nach oben blickend, bei Gott bedankt, um gleich darauf, als Jan sie fragt, was sie gesagt habe, ihren Dank auf Jan zu übertragen. Der Dank gilt somit sowohl dem Ge­liebten als auch Gott. Religiöse und erotische Empfindungen gehen ineinander über.

Was ist der Hintergrund dieser merkwürdigen, auf den ersten Blick anachro­nistisch wirkenden Sakralisierung des Erotischen bzw. dieser Erotisierung des Sa­kralen in Breaking the WaveP. Merkwürdig ist diese Vermischung von Religion und Eros deshalb, weil sich die Liebe unter modernen Bedingungen längst aus dem institutionellen Rahmen der Religion, wie im übrigen auch des Staates und der Moral, herausgelöst hat. Die Religion spielt faktisch keine Rolle, zumindest keine verpflichtende Rolle mehr für die Partnerbindung. Ehen sind Liebesehen, die frei aufgrund subjektiver Zuneigung geschlossen und ebenso frei, wenn diese Grundlage nicht mehr existiert, ohne Rücksicht auf moralische Prinzipien wieder aufgelöst werden, und zwar im Namen eines individualistisch verstandenen Lie-

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besideals. Andererseits ist es gerade diese Entkoppelung von Religion und Liebe, und damit kommen wir dem Sinngehalt der im Film gezeigten Vorgänge näher, die es ermöglicht, dass die Liebe selbst zu einer Art Religion werden konnte. In dem Maße, in dem sich die Überzeugungskraft der Religion in der modernen Ge­sellschaft verflüchtigte, konnte sich ihr Erfahrungsgehalt auf andere Bereiche ver­lagern, so auch auf die Liebe, mit der sich heute, wie einst mit dem Heiligen, das Erlebnis des Außeralltäglichen und Grenzüberschreitenden verbindet. Die Liebe ist gleichsam die letzte verbliebene Utopie, die dem Individuum Souveränität ge­genüber den Zwängen einer übermächtigen, entfesselten Ökonomie verspricht, die alle Lebensbereiche durchdringt. In der gefühlsmäßigen, nur durch die Spontaneität der Triebe getragenen Begegnung zwischen Mann und Frau stiftet die Liebe ohne jedes Kalkül einen gesteigerten, symbiotischen Zusammenhang, der auf ein Jenseits zur Sphäre der alles beherrschenden Zweck-Mittel-Beziehungen zu verweisen scheint. Solchermaßen kommt ihr der Status einer er­lösenden oder zumindest Erlösung versprechenden, »irdischen Religion« ' zu, die in der spätmodernen Gesellschaft an die Stelle des traditionellen Glaubens getre­ten ist. Problematisch ist diese profane Religion allerdings schon deshalb, weil ihr' die Aufgabe zufällt, eine Situation zu kompensieren, von der sie selbst erst in ihrer Funktion als quasireligiöse Utopie hervorgebracht wurde. Von daher erscheint es nicht zufällig, dass sich in Breaking the Waves Bess' leidenschaftliche Liebe zu Jan schlagartig in dem Augenblick steigert, da sich Jan von ihr entfer­nen muss, um seinen beruflichen Pflichten nachzukommen, und vor allem, dass die entscheidende Wende des Films durch einen Arbeitsunfall herbeigeführt wird.

Dieser Unfall ist, objektiv gesehen, nichts anderes als eine alltägliche Begleiter­scheinung der technisch industriellen Ausbeutung der Natur, von der die Gesell­schaft zehrt, eine geringfügige Störung eines ansonsten reibungslos ablaufenden Prozesses, in dem den beteiligten Subjekten die Rolle austauschbarer Funktions­elemente zugewiesen ist. In subjektiver Hinsicht stellt er dagegen eine drastische Form dei Erfahrung von Konüngenz dar, wie sie die transzendenzlose, gottverlas­sene Lebenswirklichkeit der Moderne auszeichnet und wie sie in Bess' Welt, wo noch die Vorsehung herrscht, nicht möglich ist. Dass der Unfall den Betroffenen lähmt, dass er ihm zeitweise das Sprachvermögen raubt und ihn an den Rand des Todes bringt, kann als sinnfälliger, überdeutlicher Ausdruck verstanden werden sowohl für die brutale Härte, die mit der Zumutung einer derart negativen, in ih­rer Faktizität letztlich nicht rationalisierbaren Erfahrung verbunden ist, wie auch für die vollständige Einbindung des Subjekts in ein übergeordnetes, ökonomisch geleitetes Geschehen, in dem der Einzelne mit seinen Sinnansprüchen nicht mehr vorkommt. Der Wunsch des gelähmten Jan, Bess solle sich einen Geliebten su-

15 Vgl. hierzu Eva Illouz, Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Ka­pitalismus, Frankfurt a.M., New York 2003.

16 Ulrich Beck, »Die irdische Religion der Liebe«, in: Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim, Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M. 1990, S. 222-266.

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chen und mit anderen Männern schlafen, erscheint auf den ersten Blick unwahr­scheinlich und extrem. Betrachtet man ihn jedoch unter dem Aspekt dieser voll­ständigen Entmächtigung, zeigt er sich in einem anderen Licht.

D a s we ib l i che Selbstopfer

Im Film werden einige Gründe genannt, die Jan veranlasst haben könnten, von Bess einen solchen Liebesdienst zu verlangen: die fortschreitende Krankheit, der verwirrende Einfluss der Medikamente, Rücksicht auf Bess, die er von sich selbst durch eine List befreien will, indem er nur vorgibt, etwas aus Eigeninteresse zu wollen, von dem er weiß, dass sie es aus Liebe zu ihm tun wird. Auch wenn einige dieser Gründe psychologisch plausibel erscheinen, so deutet der Film doch an, dass es Jan letztlich auf den Rückgewinn seiner eigenen Handlungsfähigkeit, die nicht zuletzt ein wesentliches Element seiner Männlichkeit ist, ankommt.

An seinem Geburtstag schenkt Bess Jan ein Kinderspielzeug und versetzt ihn damit auch symbolisch in die Position eines unmündigen und geschlechtslosen Kindes, in der er sich faktisch bereits befindet. Daraufhin versucht er verzweifelt, sich das Leben zu nehmen, um dann, als ihm selbst dies nicht gelingt, nochmals den Gedanken eines anderen Liebhabers für Bess an sie heranzutragen. Hatte er zunächst noch, in der Anfangszeit seiner Erkrankung, versucht, seine sexuellen Triebe zu verdrängen, indem er Bess aufforderte, weite, ihren weiblichen Körper kaschierende Kleidung zu tragen, so erscheint das Sexuelle nunmehr, wenn nicht als Ausweg aus der Paralyse, so doch als letzter verbliebener, irreduzibler Rest ei­ner nicht verdinglichten Existenz. Und bildete die Sexualität bereits vor dem Unfall den Mittelpunkt der symbiotischen, auf sich selbst konzentrierten Bezie­hung zwischen Jan und Bess, so steigert sich diese Freisetzung der Sexualität nochmals, indem sie nun nicht nur von dem Gedanken an Zeugung, sondern selbst vom Körper desjenigen abgelöst wird, für den sie ihre revitalisierende Kraft entfaltet. Es ist allein die Vorstellung, dass Bess in seinem Sinn agiert, mithin also die Verfügungsgewalt über die Sexualität der Frau, die Jan am Leben erhält. In­dem sich Bess freiwillig, weil sie von der rettenden Wirkung ihres Handelns auf­grund ihres unumstößlichen Glaubens überzeugt ist, dem Willen Jans unterwirft, trägt sie sein Begehren nach außen. Dadurch aber gerät sie in die Rolle eines Tauschobjekts unter Männern und erleidet somit ihrerseits jenen verdinglichten Objektstatus, aus dem sie Jan zu befreien versucht. Während sie anderen Män­nern Lust verschafft, bewahrt sie zugleich, so suggeriert es jedenfalls der Hand­lungsverlauf, ihren Geliebten vor dem Tod.

Die Sexualität in Breaking the Waves trägt deutlich Züge des Exzessiven. Sie nimmt an Heftigkeit und Grausamkeit im Laufe der Handlung zu. Sie löst sich aus ihrer ursprünglichen Verankerung in der Ehe, überschreitet die Grenze des sozial Zulässigen und dringt bis in den Bereich der Perversion vor. Bereits die Entjungferungsszene auf der Damentoilette widerspricht der Konvention einer romantischen Hochzeitsnacht und leitet solchermaßen die Entfesselung der sexu-

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eilen Impulse ein, die dann in den erotischen Telefongesprächen zwischen Jan und Bess ihre Fortsetzung findet. Dass Bess in der Folge, nach dem Unfall, ver­sucht, Dr. Richardson zu verführen, um Jans Wunsch zu erfüllen, liegt insofern nahe, als sie dadurch zunächst noch ihre Liebe zu Jan auf einen Stellvertreter übertragen kann, zu dem sie bereits ein besonderes Vertrauensverhältnis besitzt. Dabei handelt sie gleichwohl im Auftrag Jans und begreift, wie auch in den fol­genden Szenen, ihr Vorgehen als einen Dienst an Jan, der somit stets Grund und eigentliches Objekt ihres Handelns ist. An einer späteren Stelle, als Richardson ihr sagt, dass er sie liebt, weil er sie damit wachrütteln will, wird er denn auch von ihr schroff zurückgewiesen. Auch in der Busszene wird deutlich, dass Bess sich für Jan prostituiert, indem sie eine zuvor von ihm geäußerte Phantasie in die Tat umsetzt. Im Bus überschreitet sie allerdings insofern eine Grenze, als sie dort erstmals eine sexuelle Handlung in einem öffentlichen Raum an einem wahllos ausgewählten Fremden vollzieht und sich dabei, wie die nachfolgende Szene ver­deutlicht, erheblich überwinden muss. Derart erbarmungslos gegen sich selbst handelnd, angetrieben allein von einer ins Sakrale gesteigerten Liebesauffassung, wird sie zur Hure und gerät schließlich auf dem Schiff in eine sadistische Szene, die die Ausgangskonstellation wiederholt. Auch hier ist es ein Mann, der daraus sexuellen Gewinn zieht, dass er eine Frau zum Geschlechtsverkehr mit einem an­deren zwingt. Während der Zwangscharakter der Situation schon durch die am Anfang der Sequenz gezeigte Pistole erkennbar ist, wird die Verbindung von Macht, Gewalt und Lust zusätzlich unterstrichen, indem ein Vorgesetzter seinen Untergebenen für seine Zwecke missbraucht und zuletzt, in einem brutalen, be­strafenden Gewaltakt, seine Lust buchstäblich in den Körper der Frau ein­schreibt. Am Ende ihres Weges, auf dem Bess McNiell Schritt für Schritt in Zo­nen tabuisierter Sexualität vordringt und sich dabei über bestehende moralische Schranken hinwegsetzt, steht konsequenterweise der Tod als rückhaltlose Aufgabe ihrer Person und als äußerste Form exzessiver sexueller Verausgabung.

Man kommt nicht umhin, die weibliche Sexualität in Breaking the Waves als masochistisch zu bezeichnen, geht mit ihr doch die Selbstverleugnung, letztlich die Selbstauslöschung der Protagonistin einher. Angesichts dessen erscheint es um so verstörender, ja als geradezu skandalös, dass der Film diesen Vorgang mit einer erlösenden Bedeutung auszustatten scheint, indem er in seiner Darstellung des Geschehens den sexualmagischen Glauben der Hauptfigur übernimmt. Voraus­setzung hierfür ist allerdings zunächst, dass sich Bess von der fundamentalisti­schen Glaubensauffassung ihrer Gemeinde und damit von dieser selbst emanzi­piert. Der Prozess vollzieht sich in mehreren Etappen. Er deutet sich an in der Kritik, die sie gegenüber dem Großvater am Redeverbot für Frauen in der Kirche äußert, und manifestiert sich im Folgenden darin, dass sie die Warnung des Pries-

17 Zu diesem Verständnis von Sexualität als grenzüberschreitende Kraft siehe: Georges Bataille, Der Heilige Eros, Frankfurt a.M. 19/9.

18 Als Beispiel für die feministische Kritik an dem Film siehe die dezidierte Argumentation in dem Aufsatz von Alyda Faber, »Redeeming sexual violencc? A feminist reading of Breaking the Waves«, in: Literature and Theology 17/1, 2003, S. 59-75.

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ters, der sie vom rechten Weg abgleiten sieht, bewusst missachtet. Als dieser ihr häufiges Fernbleiben beim Gottesdienst bemängelt und den Zorn Gottes herauf­beschwört, schaltet sie kurzerhand, anstatt zu antworten, den Staubsauger ein und zeigt damit deutlich, dass sie ihrer subjektiven Überzeugung zu folgen gewillt ist, sich also vom religiösen Ethos ihrer Gemeinschaft distanziert. Zum endgülti­gen Bruch kommt es, als sie in aufreizend ordinärer Aufmachung und schon ge­zeichnet von der Misshandlung auf dem Schiff während der Messe die Kirche betritt. Diese Szene ist schon insofern signifikant, als Bess dadurch die Zeichen einer nonkonformen, ekstatischen Sexualität in die triebgereinigte Sphäre des Re­ligiösen hineinträgt. Gegen das eiserne Gesetz einer von Männern beherrschten Gesellschaft ergreift sie sodann als Frau das Wort und begeht damit einen geziel­ten Regelverstoß, wobei sie den abstrakten Buchstabenglauben der Gemeinde in Frage stellt und mit ihrem konkreten Verständnis von Liebe konfrontiert. Indem sie die Liebe zum Wort für unmöglich erklärt und durch die Liebe zum einzel­nen, leibhaftigen Menschen ersetzt, formuliert sie explizit jene individualistische Transformation des Glaubens, in dem das metaphysische mit dem erotischen Be­dürfnis verschmilzt. Daraufhin folgt der Ausschluss aus der Gemeinschaft mit al­len Folgen der sozialen Isolierung und Ächtung, bis hin zur angedeuteten Steini­gung durch die Kinder, die ihre Aggressionen stellvertretend für das Kollektiv ausagieren, und bis hin zur absichtlich unterlassenen Hilfeleistung des Priesters, der im Namen der herrschenden Moral moralisch versagt.

Durch ihr Verhalten verliert Bess nach und nach nicht nur in der Gemeinde jeglichen Rückhalt, sondern gerät auch außerhalb so sehr in Isolation, dass sie ge­zwungen ist, ihre innere Überzeugung gegen alle anderen, am Ende sogar gegen den, den sie retten will, durchzusetzen. Der Film legt großes Gewicht darauf, diese gesteigerte subjektive Glaubensgewissheit und das daraus folgende sexuelle Han­deln in einem religiösen Sinne aufzuwerten. Dies geschieht im wesentlichen auf zweifache Weise: zum einen durch die Hereinnahme wunderbarer Elemente in die Erzählung, die das Geschehen zu einer überrealen Sphäre in Bezug setzen, zum anderen durch intertextuclle Verweise, die es auf einen biblischen Prätext hin er­kennbar machen. Bereits die der Busszene nachfolgende Sequenz ist in dieser Hin­sicht interessant. Nachdem sich Bess im Zwiegespräch mit ihrem Gott in der Rolle der von Jesus besonders geliebten Sünderin Maria Magdalena sieht und sich sol­chermaßen den strafenden Vatergott in einen liebenden, ihr Verhalten billigenden umdeutet, taucht plötzlich und unvermittelt ein Hase auf, der an dieser Stelle wie ein Gotteszeichen fungiert, das ihre Selbstdeutung bestätigt. Vor allem ist es na­türlich die Art und Weise, wie der Film die Leidensgeschichte der Hauptfigur mit dem Leiden und Tod Jesu in Verbindung bringt, die einen höheren Sinn ihres Handelns suggeriert. Die Parallelen zwischen der Geschichte Bess McNiells und der Passion Christi sind offensichtlich und schon mehrfach hervorgehoben wor­den. Wie Jesus steht auch Bess einer patriarchalen Gesellschaft gegenüber, die auf

19 Vgl. die Diskussion der theologischen Aspekte von Breaking the Waves durch Joachim Valentin, Reinhold Zwick und Dietmar Regensburger in dem Band Gewaltige Opfer. Filmgespräche mit

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der strengen Einhaltung schriftlich festgelegter Gebote besteht. Ein Ideal tätlicher Liebe predigend, das sie auch selbst praktiziert, indem sie sich nicht scheut, Kon­takt mit Außenstehenden und in Verruf Geratenen aufzunehmen, untergräbt sie wie jener die autoritären Strukturen dieser Gesellschaft. Auch Bess wird vor ihrem Tod verspottet und verhöhnt, ringt einsam mit sich selbst um ihre Entscheidung, wird von einem der ihren verraten und zweifelt am Ende an der Richtigkeit und am Sinn ihres Tuns. Noch auf dem Sterbebett äußert sie, dass alles falsch gewesen sei. Und auch die spätere Entwendung ihres Leichnams durch eine Gruppe von Männern verweist auf die biblische Erzählung. Stellt man nun, wie es diese Bezüge nahe legen, eine Analogie her zwischen Bess' Tod und dem Kreuzestod Jesu, so er­scheint sie folglich als eine Märtyrerin, die sich wie Jesus freiwillig opfert, um das zerschnittene Band zwischen Gott und den Menschen wiederherzustellen.

Ein solches Verständnis der Geschichte wird zudem durch die Ereignisse, die den Schluss der Handlung bilden, untermauert. Von einem aufgeklärten Stand­punkt aus betrachtet oder psychologisch gesehen, könnte man Bess' Annahme, dass sie mit ihren Opfergängen auf das Befinden ihres Mannes einwirken, ihn so­gar vor dem Tod retten kann, als eine Form magischen Denkens bezeichnen, wie es für Naturvölker, für kultische Praktiken im Voodooglauben oder für eine Zwangsneurose typisch ist. Der Handlungsverlauf, insbesondere der Schluss des Films, der für eine integrative Sicht seiner einzelnen Elemente von entscheidender Bedeutung ist, lässt jedoch eine solche Deutung nicht zu. Schon die Parallelmon­tage zwischen Bess' sexuellen Rettungsaktionen und den Szenen im Krankenhaus erweckt den Anschein oder lässt zumindest die Möglichkeit offen, dass ihr Ver­halten tatsächlich Einfluss auf Jans Gesundheitszustand haben könnte. Auch die Sequenz, in der Dodo, während Bess zum zweiten Mal zu dem Schiff fährt, am Krankenbett Jans für ihn betet und sich anschließend mit Dr. Richardson einig ist, dass ein Überleben Jans einem Wunder gleichkäme, hat die Funktion, eine über­natürliche Lösung der Geschehnisse plausibel zu machen. Derart vorbereitet, sieht man sich genötigt, die Heilung Jans als ein echtes Wunder aufzufassen. Dieses Wunder weist einerseits strukturell auf den Unfall zurück, den es als ein ebenso unwahrscheinliches Ereignis zurücknimmt; es entspricht andererseits dem bibli­schen Bezugstext, auch wenn die Wiederauferstehung der Protagonistin durch die Heilung eines Gelähmten ersetzt wird. Das finale, auf Bess' Seebestattung folgende Glockenläuten soll schließlich die letzten noch möglichen Zweifel ausräumen und eine religiöse Deutung der Geschichte endgültig durchsetzen. Es fungiert somit als eine verstärkende und zugleich abschließende Metapher.

Da das Glockenmotiv bereits am Anfang der Handlung eingeführt wird, lässt sich an ihm zudem die Gesamttendenz des Films zusammenfassend erläutern. Zu Beginn wird das Fehlen der Glocken im Kirchturm der Gemeinde von Jans Freund Terry, von Jan selbst und von Bess bemängelt, was man als Hinweis zu verstehen hat sowohl auf das sinnliche Defizit der streng auf das Jenseits fixierten

Rene Girard und Lars von Tier, hrsg. von Leo Karrer, Charles Martig und Eleonore Näf, Köln 2000.

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Dorfbewohner wie auch auf das Bestreben, den Gegensatz zwischen religiösen und sinnlichen Bedürfnissen zu überwinden. Dann tauchen die Glocken zweimal in profaner Funktion auf dem Fährboot auf, mit dem Bess zu dem Schiff fährt, auf dem sie sich misshandeln und schließlich tödlich verletzen lässt. Das Glok-kenläuten kündigt dabei jeweils den freiwilligen Übertritt der Hauptfigur in eine Gefahren- bzw. Todeszone an und verleiht ihm dadurch, vergleichbar etwa mit dem rituellen Läuten während der Eucharistiefeier, ein besonderes Gewicht. Am Ende des Films sehen wir die Glocken außerhalb des Kirchturms in den Wolken über der Bohrinsel, das heißt erneut in Verbindung mit einer höheren, transzen­denten Sphäre, diesmal jedoch in einem entgrenzten Raum ohne Bindung an ei­nen konkreten Ort oder eine bestimmte Gesellschaft. Da eine natürliche, wissen­schaftlich erklärbare Ursache für das Läuten zuvor ausdrücklich durch den Blick auf den Radarschirm ausgeschlossen wird, bleibt kein anderer Schluss möglich als der, dass hier eine göttliche Manifestation vorliegt, und zwar eine solche, die au­ßerhalb jeder institutionellen oder sozialen Rahmung zustande gekommen ist. Und da zudem Bess' Streben und Handeln, wie gezeigt, eng mit dem Glocken­motiv verbunden ist, wird zugleich suggeriert, dass die Freisetzung dieser wunder­samen epiphanischen Erscheinung und somit die Möglichkeit einer religiösen Erfahrung für die im Grunde heidnischen Männer auf der Bohrinsel eine Folge des Lebens und Sterbens von Bess ist, dass sie sich mithin für diese Erfahrung der anderen geopfert hat. Schließlich drückt sich darin auch eine Art Heiligsprechung der Protagonistin aus, so als sei sie in den Himmel aufgefahren und sende von dort eine Nachricht aus.

Damit hat die Filmerzählung ihr Programm eingelöst, die Versöhnung einer religiösen, asketischen mit einer hedonistischen, ursprünglich areligiösen Le­bensform. Dies war möglich geworden, weil die Heldin den Weg gegangen war von der einen in die andere Welt und dort eine Veränderung herbeigeführt hatte. Dass sie selbst unterging, bedeutet einerseits, dass der Rückweg in die Ausgangs­situation, das heißt die Rückkehr in eine überwundene historische Phase, unwi­derruflich verbaut ist. Es signalisiert jedoch andererseits die Möglichkeit einer Heilung der durch Kontingenz und Verdinglichung gezeichneten Moderne. Die­se Heilungschance beruht auf dem Opfer der Hauptfigur, das die anderen in Kontakt bringt mit einem Zeichen göttlicher Offenbarung und also eine religiöse Einstellung auch unter modernen, individualistischen Lebensbedingungen be­wirkt. Es ist dies, um es noch einmal deutlich zu sagen, das Opfer einer Frau, die sich aus Liebe freiwillig männlicher sexueller Gewalt unterwirft, um ihren Ge­liebten physisch und seelisch zu erlösen.

Geschlossenheit statt Ironie

Wie ernst soll man nun diese Botschaft nehmen? Will uns der Film wirklich von der heilsamen, ja heilsstiftenden Wirkung eines weiblichen Selbstopfers überzeu­gen oder zeichnet sich auf irgendeine Weise ab, dass er im Gegenteil den ideolo-

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gischen Charakter dieses erotischen Erlösungsglaubens, seine Einbindung in ei­nen gesellschaftlichen Machtzusammenhang kenntlich machen will, der letztend­lich ebenso patriarchale Züge trägt wie die antiquierten Verhältnisse, mit denen er im Film kontrastiert? Ersteres wäre tatsächlich starker Tobak, Letzteres setzte voraus, dass es im Film Hinweise gibt, die einen Btuch in der Darstellung und somit eine Relativierung ihres Aussagegehalts anzeigen. Solche Hinweise könnten etwa Ironiezeichen sein, die dem Eingeweihten signalisieren, dass das Ganze so gerade nicht gemeint ist, sondern im gegenteiligen Sinne zu verstehen ist. Aber derartige Signale lassen sich, auch bei genauester Betrachtung, nicht finden.

Die Affektregie des Films verhindert vielmehr jede emotionale Distanz zu dem Geschehen. Sie nutzt das große Gefälle zwischen gut und böse, zwischen rück­ständig und modern, das die soziale Welt der Erzählung bestimmt, im Sinne ei­ner geschickten Sympathielenkung zugunsten der Hauptfigur und mit dem Ziel einer Bekräftigung ihres Tuns. Ebenso befördert die Ästhetik des Authentischen, die der Film in seiner Kameraarbeit, Montage und Schauspielerführung so ein­drucksvoll in Szene setzt, nicht etwa die Freiheit des Zuschauers, sich reflexiv so oder so zu dem Dargestellten zu verhalten, sondern sie steigert dessen Suggestiv­kraft. Angesichts dieser Überwältigungsstrategie, die ganz auf die irrationalen Im­pulse der Filmwirkung setzt, bleiben allenfalls noch die Zwischenbilder, um einen distanzierenden, ernüchternden GegenefTekt zu erzeugen.

In der Tat stellen sie eine Unterbrechung des Erzählkontinuums dar, dessen Fortgang sie verlangsamen und von dem sie sich aufgrund ihres artifiziellen Cha­rakters, der eher an romantische Landschaftsbilder des 19. Jahrhunderts denken lässt, abheben. Schaut man sich diese Einschübe allerdings genauer an, so muss man feststellen, dass sie der Gesamttendenz des Films mitnichten widersprechen. Die eingefügten Textzeilen weisen nach Art von Kapitelüberschriften auf das Kommende voraus, das sie zum Teil auch in einem bestimmten Sinne auslegen. So wird etwa im siebten Zwischenbild Bess' bevorstehender Tod als ihre Opfe­rung (sacrifice) angekündigt. Auch auf der Bildebene ergeben sich Übereinstim­mungen mit der Geschichte. In den panoramaartigen, berückend schönen Bil­dern dominiert die Natur, die in kräftigen, berauschenden Farben präsentiert wird. Menschen kommen nicht vor, lediglich Fahrzeuge, die sich wie Punkte, anfangs fast nicht wahrnehmbar in einer überdimensionalen Landschaft bewegen. Im ersten Bild sehen wir den Hubschrauber, der Jan bringt, aus den Wolken auftauchen, wodurch sogleich die gottähnliche Position, die Jan für Bess ein­nimmt, angedeutet wird. Das zweite Bild zeigt ein Haus am Meer als Symbol für das Projekt eines gemeinsamen Hausstandes der Eheleute, dessen Scheitern folg­lich im fünften Bild durch die Ruine eines Hauses angezeigt wird. Das dritte Bild kündigt die berufsbedingte Trennung der Liebenden an, indem es den Arbeitsort Jans, die Bohrinsel, zeigt. Besonders interessant ist das vierte Bild, das zunächst das Dorf unter einem wolkenverhangenen Regenhimmel wiedergibt, um auf die zunehmend ausweglosere Lage einzustimmen, dann jedoch, vor diesem düsteren Hintergrund, einen Regenbogen sich auftun lässt und somit durch ein Versöh­nungssymbol, das zwischen oben und unten, zwischen Himmel und Erde ver-

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mittelt, bereits auf die künftige Lösung der Krise hindeutet. Im sechsten Bild se­hen wir ein Auto auf einer Straße in die Berge fahren, was man als Hinweis auf den aufsteigenden, in den Himmel führenden Weg der Protagonistin verstehen könnte. Das siebte Bild schließlich zeigt ein aus dem Hafen auslaufendes Boot während eines Sonnenuntergangs, der folglich nicht nur den zu erwartenden Tod von Bess vorwegnimmt, sondern auch schon den Gedanken ihrer Himmelfahrt anklingen lässt. Das achte und letzte Bild enthält mit der Brücke nochmals ein Versöhnungssymbol und gibt durch den Brückenbogen den Blick frei auf eine paradiesisch anmutende Landschaft als Zeichen für die erreichte Harmonisierung der Gegensätze. Die eingeschobenen Sequenzen bieten demnach keinen Anhalts­punkt für eine kritische Auseinandersetzung mit den dargestellten Vorgängen und vor allem nicht mit der Art, wie sie im Film bewertet werden. Auch die ein­gespielten Musikstücke haben diesbezüglich keinerlei kontrastierende oder ver­fremdende Funktion. Somit dienen die Zwischenbilder insgesamt, obwohl bzw. weil sie den Handlungsablauf unterbrechen, als ein zusätzliches Mittel, das den in der Geschichte propagierten erlösenden Sinn des weiblichen Opferhandelns nochmals unterstreicht. Dem entspricht im übrigen auch, dass im Schlussbild, das die Glocken über der Bohrinsel zeigt, die realistische Ebene der Spielhand­lung und die symbolische Ebene der Kapitelanfänge miteinander verschmelzen. Die Zwischenbilder sind insofern besonders raffiniert, als sie den Zuschauer da­durch zwar zeitweise von der überwältigenden Kraft der übrigen Bilder entlasten, dass sie ihm Raum für lyrisch-assoziative Empfindungen bieten, aber selbst diesen Raum auf subtile Weise mit Bezügen anreichern, die die zweifelhafte Botschaft des Films untermauern.

So müssen wir zuletzt konstatieren, dass der Film Breaking the Waves ein voll­kommen geschlossenes Kunstwerk ist, dessen Geschlossenheit durch die Auf­nahme scheinbar heterogener Strukturelemente sogar noch gesteigert wird. Aber gerade weil der Film dem Betrachter weder emotional noch rational einen Aus­weg lässt, fordert er ihn zu einer Stellungnahme heraus. Der Zuschauer muss selbst entscheiden, ob ihn die rührselige Geschichte einer Frau, die sich aus in­brünstiger Liebe für ihren Mann opfert und dafür in den Himmel auffahren darf, überzeugt oder nicht, ob er in dieser modernen Heiligenlegende" eine rückwärts gewandte Männerphantasie des Regisseurs sehen will oder die Kritik an einem totalitären Wirklichkeitszusammenhang, der derart geschlossen ist, dass in ihn sogar noch die Utopie einer die Verhältnisse transzendierenden, quasireligiösen Liebe integriert ist. Entscheiden muss er auch, wenn er Letzteres zu erkennen meint, ob eine solchermaßen verschlüsselte Kritik den ideologischen Gehalt die­ser Utopie entlarvt oder ob sie ihn am Ende reproduziert und weiterträgt. Indem der Zuschauer sich diese Fragen stellt und am Film überprüft - und es ist dessen

20 Zur literarischen Gattung der Heiligengeschichte, wie sie der Film aktualisiert, insbesondere zur Bedeutung des posthumen Wunders und zur Feststellung »tätiger Tugend« im Kanonisationspro-zess siehe das Kapitel »Legende« in: Andre Jolles, Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 1974, S. 23-61.

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Leistung, ihn durch seine formale Strategie dazu zu nötigen - , findet er einen re­flexiven Zugang nicht nur zu seinen eigenen Gefühlen, sondern auch zu den Ein­stellungen, die ihnen zugrunde liegen.

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IV DIE UNBEWUSSTEN QUELLEN DER KREATIVITÄT

IN SWIMMINGPOOL

Die Darstellung eines innerpsychischen Geschehens

Eine erfolgreiche englische Krimiautorin, Spezialistin für Morde und Ermittlungen, befindet sich in einer schöpferischen Krise. Auf Anraten ihres Verlegers reist sie, um Abstand zu ihrer Arbeit zu gewinnen, in dessen Haus nach Südfrankreich. Dort trifft sie überraschend auf seine Tochter, von der sie nichts gewusst hatte. Das Verhältnis der Frauen zueinander ist zunächst angespannt. Doch als die Verlegerstochter einen ihrer zahlreichen Liebhaber im Affekt erschlägt, hilft ihr die Autorin bei der Beseiti­gung der Leiche und anschließend auch bei der Vertuschung des Mordes. Daraufhin kehrt sie mit neuem Elan nach England zurück und präsentiert ihrem Verleger ein Buch, in das sie ihre gerade gewonnenen Eindrücke hat einfließen lassen.

Es spricht nichts dagegen, Francois Ozons Film Swimming Pool (Frankreich 2002) als Geschichte eines, wenn auch merkwürdigen Ferienaufenthalts und eines nicht minder mysteriösen Mordes aufzufassen. Die Handlung ist in sich geschlos­sen, sie wird weitestgehend chronologisch erzählt und enthält kaum Brüche, sieht man einmal von der Schlusssequenz ab. Die dargestellte Welt entspricht ontolo-gisch dem, was auch in der Welt des Zuschauers als möglich und notwendig ange­sehen wird. Wer sich an den Plot und seine realistische Oberfläche hält, hat keine Schwierigkeiten, den Film als eine kausal motivierte Abfolge von Ereignissen, wie sie im normalen Leben durchaus vorkommen können, zu verstehen. Allerdings muss er, so verfahrend, über einige irritierende Momente hinwegsehen, wirft der Film doch eine Reihe von Fragen auf, wie beispielsweise die folgenden: Warum tö­tet die junge Frau ihren Liebhaber? Was meint sie damit, als sie der Autorin sagt, dass sie es für deren Buch getan habe? Warum stammt das Mordopfer aus Lacoste, wo sich das Schloss des Marquis de Sade befindet? Warum ist die Tochter des Gärtners zwergenhaft und grauhaarig? Welche Bedeutung haben die zahlreichen Symbole, die der Film immer wieder in den Blick rückt? Im Lichte dieser Fragen, die sich noch durch weitere vermehren ließen, stellt sich der Film nicht nur als eine Kriminalgeschichte mit überraschenden Wendungen, sondern auch als ein intel­lektuelles Rätsel dar, dessen Lösung eine reizvolle Aufgabe sein kann.

Versuchen wir, diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, indem wir uns zu­nächst eine Übersicht über das Handlungsgerüst verschaffen. Die Erzählung ver­läuft kreisförmig; sie kehrt zum Schluss an ihren Ausgangspunkt zurück, so dass man von einer Ringkomposition sprechen kann. Der Endzustand hebt den An-

21 Zu diesem Begriff siehe: Viktor Sklovskij, »Der Aufbau der Erzählung und des Romans (1929)«, in: V. S., Theorie der Prosa, hrsg. und aus dem Russischen übersetzt von Gisela Drohla, Frankfurt a.M. 1966, S. 63.

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6 2 DIE UNBEWUSSTEN QUELLEN DER KREATIVITÄT IN SW1MMING POOL

fangszustand in sich auf und kehrt ihn um. Die Einleitungssequenz informiert über das Problem der Protagonistin Sarah Morton, die ihre Lust am Schreiben von Kriminalgeschichten verloren hat. Man sieht sie in London zusammen mit ihrem Verleger John, zu dem sie offensichtlich eine mehr als geschäftliche Bezie­hung unterhält, außerdem kurz an der Seite ihres alten Vaters. Der Hauptteil be­ginnt mit der Zugfahrt in den Luberon, wo Sarah, um ihre Krise zu überwinden, in Johns Haus neue Kräfte sammeln will, dabei jedoch erst einmal nach gewohn­ter Manier fortfährt, indem sie einen weiteren Krimi ihrer Dorwell-Reihe be­ginnt. Dieser Teil endet mit dem Auftauchen Julies. Der dritte Akt, die Phase der Handlungsentwicklung, zeigt, wie sich Sarah von Julie gestört fühlt, wie sie sie aus der Distanz beobachtet, auskundschaftet und auf subtile Weise bekämpft. Dieser Vorgang gewinnt eine neue Qualität, als sie ihr ursprüngliches Schreib­projekt unterbricht und einen Text über Julie beginnt. Er gipfelt darin, dass sie ihre Kontrahentin am sexuellen Verkehr mit dem Kellner Frank hindert. Der daraus entstehende Mord an Frank, die Schlüsselsequenz des Films, wird zu­nächst ausgespart. Der vierte Akt, in dem der Film an Spannung zulegt, setzt da­mit ein, dass Sarah Zeichen eines Verbrechens entdeckt zu haben glaubt und dann auch tatsächlich entdeckt. Ihr Ziel scheint es nun zu sein, Julie eine Schuld nachzuweisen. Als ihr dies gelungen ist, setzt sie jedoch alles daran, ihre Mitbe­wohnerin vor jedem Verdacht zu bewahren, zuletzt sogar, indem sie mit dem al­ten Gärtner Marcel schläft, um zu verhindern, dass er auf die Leiche Franks stößt. Der Schlussteil beginnt mit der Verabschiedung von Julie und führt zuguterletzt zu John zurück, dem Sarah nunmehr in alter Frische und mit gestärktem Selbst-bewusstsein gegenübertritt.

Worin könnte der Hebel bestehen, mit dessen Hilfe sich diese einerseits schlüssige, andererseits undurchsichtige und dunkle Geschichte dem Verstehen öffnen lässt? Ein Ansatzpunkt mag der Titel sein. Denn der Swimmingpool ist nicht nur die zentrale Lokalität im Film, in der und um die herum sich die Figu­ren bewegen, sondern auch die einheitsstiftende Metapher für den Film selbst. Das bedeutet, dass Eigenschaften des Swimmingpools, wie er im Film als Teil der Kulisse gezeigt wird, in einem übertragenen Sinne auch Eigenschaften des Films sind. Was den Pool kennzeichnet, ist vor allem der Gegensatz bzw. die Gleichzei­tigkeit von Oberfläche und Tiefe. So wird er zu Anfang und dann nochmals im weiteren Verlauf der Handlung von einer schwarzen Folie wie von einer Haut bedeckt. Wer sich in ihn hineinbegeben will, muss diese Schicht erst entfernen. Bemerkenswert ist, dass im Pool mehr getaucht, als geschwommen wird. Er ist aber nicht nur der Ort des Einstiegs und Hinabtauchens in eine tiefere Zone, sondern auch des Übergangs in ein anderes, flüssigeres Medium, in dem die oben herrschenden Gesetze nur noch eingeschränkt und auf andere Art zur Geltung gelangen. Bezieht man dies nun auf den Film als ganzen, so liegt der Schluss na­he, dass auch er durch die realistische, wiedererkennbare Welt, die er entwirft, und durch die in ihr agierenden Figuren auf einen tiefer liegenden Bereich jen­seits der sichtbaren Vorgänge abzielt. Dieser Bereich, so steht zu vermuten, ist psychischer Natur. Es handelt sich um das Reich des Unbewussten. Ausgehend

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DIE UNBEWUSSTEN QUELLEN DER KREATIVITÄT IN SWIMM1NG POOL 6 3

von dieser Vermutung, soll der Film im Folgenden einer tiefenpsychologischen Interpretation unterzogen werden. Die uns dabei leitende Hypothese lautet, dass der Film Swimming Pool nicht nur seinen Ausgang von einer psychischen Krise nimmt, die sich als Schaffenskrise darstellt, sondern insgesamt den Verlauf einer solchen Krise einschließlich ihrer Lösung abbildet. Der Film soll also als Darstel­lung innerpsychischer Vorgänge mithilfe psychoanalytischer Begriffe entziffert werden, wobei wir uns an zentralen Begriffen der Lehre Sigmund Freuds orientie­ren. Diese Vorgehensweise beruht auf einigen Prämissen, die vorab kurz skizziert seien."

Zur psychoanalytischen Filmdeutung

Einen Film psychoanalytisch deuten, heißt, ihn als ganzen in Bezug setzen zu ei­nem inneren psychischen Geschehen. Dieses Unterfangen hat grundsätzlich nichts mit der Auffassung zu tun, derzufolge es während der Rezeption eines Films beim Zuschauer zu einer regressiven Lockerung der Ichfunktionen kommt, die mit der Freisetzung unbewusster Impulse im Traum vergleichbar ist. Voraus­gesetzt wird nicht eine Ähnlichkeit zwischen der Filmrezeption und dem Traum, sondern zwischen diesem und dem Film als Werk. In Analogie zur Traumdeu­tung werden die im Film dargestellten Ereignisse und ihre Verknüpfung als ver­schlüsselte Manifestationen einer ihnen zugrunde liegenden psychischen Tiefen­schicht aufgefasst. Es ist das grundlegende Prinzip der Traumdeutung, wie Freud sie in seinem bahnbrechenden Werk konzipiert hat, den Traum als individuelles Produkt eines konstruktiven geistigen Herstellungsvorgangs verstehen zu wollen. Der Sinn eines Traums lässt sich demnach nicht aus allgemeinen Vorannahmen über den Zusammenhang der Wirklichkeit ableiten oder in einem Symbollexikon nachschlagen, sondern nur dadurch ermitteln, dass man seine individuelle Struktur erfasst und aus dieser das ihr zugrunde liegende Material in Umkehrung der Traumarbeit erschließt. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei insbesondere auf das Verfahren der Verdichtung, bei dem zwei oder mehrere Vorstellungen des latenten Trauminhalts oder Teile solcher Vorstellungen zu einer neuen Einheit zusammengezogen werden, sowie auf das Verfahren der Verschiebung, bei der ei­ne Vorstellung durch eine andere, die mit ihr assoziativ verknüpft ist, ersetzt wird." Auf diese Weise deckt sich die Traumdeutung in der Tendenz mit der ver­stehenden Aneignung eines literarischen Textes oder eines filmischen Werks. Die so genannten Traumsymbole stellen in dem Zusammenhang eine Ausnahme dar, da sie in ihrer Form und in ihrem Gehalt invariant und also gerade kein Ergebnis

22 Oliver Fahle lässt in seiner Deutung die psychische Dimension des Films außer Acht und sieht in ihm vor allem ein Spiel mit der eigenen Fiktionalität. Vgl. Oliver Fahle, Bilder der Zweiten Mo­derne, Weimar 2005, S. 126-139.

23 Vgl. Sigmund Freud, »Die Traumdeutung«, in: S. F., Gesammehe Werke. Chronologisch geord­net, unter Mitwirkung von Marie Bonaparte hrsg. von Anna Freud, Bd 2/3, 7. Auflage, London u. Frankfurt a.M. 1987, S. 283-315.

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der Traumarbeit sind, die erst die eigentümliche Gestalt eines Traums entstehen lässt.

Der Film kann nicht, anders als die erzählende Literatur, die darin geradezu ihre genuine Leistung entfaltet, in die Köpfe seiner Figuren hineinschauen. Will er psychische Vorgänge veranschaulichen, so muss er diese dramatisieren, das heißt in Form von Handlungen seiner Figuren zum Ausdruck bringen. Die Figu­ren sind dann als Träger psychischer Kräfte aufzufassen. Sie sind Teilrepräsenta­tionen der Psyche eines Subjekts, das sich in ihnen gewissermaßen selbst begeg­net. Eine wichtige Annahme der Psychoanalyse ist es, dass sich die Psyche im Laufe der Zeit entwickelt und dass frühkindliche familiäre Erfahrungen einen prägenden Einfluss auf die Biographie eines Menschen haben. An dem Film Swimming Pool fällt auf, dass in ihm mehrere Töchter und Väter auftreten. Zur Töchterreihe gehören die Protagonistin Sarah Morton, Johns Töchter Julie und Julia sowie die Tochter Marcels. Die Väterreihe bilden Sarahs Vater, John, Mar­cel und in gewisser, noch zu erläuternder Weise auch Julies älterer Liebhaber. Es hat den Anschein, als wolle der Film mit dieser Häufung von Vater- und Toch­terfiguren verschiedene Stufen und Varianten der Vater-Tochter-Beziehung spie­geln. Da dieses Thema in der Psychoanalyse im Rahmen der Lehre vom Ödipus­komplex abgehandelt wird, kommen wir nicht umhin, uns einige wesentliche Aspekte dieser Lehre, die ein Kernstück der Freudschen Psychoanalyse bildet, zu vergegenwärtigen.

Die höchst spekulative Theorie vom Ödipuskomplex will, unter anderem, er­klären, wie wir zu vollständigen Subjekten werden, indem wir eine Geschlechts­identität ausbilden. In einem bestimmten Alter, etwa zwischen vier und sechs Jahren, weitet das Kind, so die Theorie, seine erwachenden genitalen Triebwün­sche auf den gegengeschlechtlichen Elternteil aus, was mit heftigen, sowohl eroti­schen als auch aggressiven Gefühlen verbunden ist. Beim Jungen entsteht der Wunsch nach einer sinnlichen Beziehung mit der Mutter und zugleich Hass auf den Vater, den er als Konkurrenten erlebt und ausschalten möchte. Das Mädchen wünscht sich entsprechend, beim Vater an die Stelle der Mutter zu treten und diese zu vernichten. Was schließlich zur Überwindung der ödipalen Krise führt, ist die so genannte Kastrationsdrohung, die man als eine Phantasie des Kindes zu verstehen hat. Der Junge imaginiert die Kastration als mögliche Vergeltung für seine inzestuösen und aggressiven Wünsche, so dass er sich veranlasst sieht, diese Wünsche zu verdrängen und sich mit dem Vater und seiner Rolle zu identifizie­ren. Beim Mädchen tritt zwar an die Stelle der Kastrationsangst die Furcht vor genitaler Verletzung, die dazu führt, dass es sich die von der Mutter verkörperte Geschlechtsrolle zu eigen macht, aber auch in seinem Falle ist der Vater aus­schlaggebend, insofern auch das Mädchen die Drohung als vom Vater ausgehend erlebt. Freuds Lehre vom Ödipuskomplex spiegelt solchermaßen eine patriarchale Gesellschaft, in der der Vater das Gesetz und die symbolische Ordnung repräsen­tiert. Dabei macht die Theorie zudem plausibel, wie das Gewissen in Form des Über-Ichs als dauernde Repräsentanz der Eltern im Subjekt entsteht und wie auf-

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grund dessen überhaupt der Übergang von der Abgeschlossenheit der Familie zur Gesellschaft möglich ist.

Was hat nun die Lehre vom Ödipuskomplex mit dem Thema der Kreativität bzw. der Erlahmung schöpferischer Kräfte zu tun, vom dem die Handlung im Film Swimming Pool ausgeht? Der Theorie zufolge werden die ödipalen Wünsche mit der Bewältigung des Ödipuskomplexes verdrängt, das heißt, sie werden voll­ständig vergessen. Sie brechen dann zu Beginn der Pubertät noch einmal kurz auf, um schließlich, im Normalfall, durch die Wahl eines Partners endgültig überwunden zu werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die ödipale Grundsitua­tion, die sich in je verschiedenen familiären Konstellationen ausprägt und zu un­terschiedlichen Triebschicksalen führt, lebensgeschichtlich keine Bedeutung mehr hat. Das Gegenteil ist der Fall. Die Verdrängung schließt die Möglichkeit einer Verlagerung des Verdrängten ein. Wenn die sexuelle Energie ersatzweise auf ein kulturell höher stehendes Objekt übertragen wird, spricht man von Sublimie-rung, die also eine Zielverschiebung ist. Den infantilen Wünschen wird in ver­kappter Form nachgegeben, aber zugleich so, dass es den Forderungen der Au­ßenwelt entspricht. So liegt es in der Logik der Lehre vom Ödipuskomplex, die­sen nicht nur als Quelle für Neurosen und andere pathologische Phänomene an­zusehen, bei denen sich die unbewussten Wünsche in negativer oder zerstöreri­scher Weise bemerkbar machen, sondern in ihm auch den Ursprung künstleri­scher Kreativität zu vermuten. Dieser Gedanke wird uns in das Zentrum unseres Films führen.

Wenn im Folgenden in diesem Sinne auf die Ödipustheorie zurückgegriffen werden soll, um mit ihr Aspekte des Films Swimming Pool zu erläutern, so soll dies freilich nicht heißen, dass es Ziel des Films sei, die Theorie und ihre Bedeu­tung für das Thema der Kreativität zu veranschaulichen, ja nicht einmal, dass der Regisseur dieser Theorie anhängt. Konstatieren lässt sich lediglich, dass die Film­erzählung mit den Bestandteilen der Ödipustheorie, die ja ihrerseits eine Erzäh­lung ist, operiert, um auf ihre eigenständige, filmische Weise Vorgänge des Un­bewussten und Voraussetzungen der Kreativität zu verdeutlichen. Es kann also nicht darum gehen, eine ödipale Situation im Film bloß nachzuweisen; vielmehr soll der Film unter Zuhilfenahme des Freudschen Konzepts in seiner individuel­len Gestalt beschrieben werden. Das psychoanalytische Modell bietet sich dabei als ein Schema an, mit dessen Hilfe sich signifikante Elemente des Films registrie­ren und sortieren lassen.

Wir haben nun genug Material zusammen, um unsere eingangs geäußerte all­gemeine These über den Sinn des Films zu konkretisieren. Die These lautete, um sie noch einmal zu wiederholen, dass der Film Swimming Pool eine psychische Krise in ihrem Verlauf veranschauliche. Im Lichte der Ödipustheorie können wir nun genauer sagen, dass er zeigt, wie die Protagonistin Sarah Morton ihre Schreibkrise dadurch überwindet, dass sie sich dem ödipalen Trauma erneut aus­setzt und im Zuge dessen jene Kräfte zurückgewinnt, aus der sich ihr Schreiben speist. Betrachten wir diesen Vorgang im einzelnen.

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D i e B e g e g n u n g m i t d e m öd ipa len Ich

Eine der ersten Einstellungen des Films zeigt die Schriftstellerin in der U-Bahn, wo sie von einer Leserin aufgrund eines Fotos erkannt wird. Von ihr angespro­chen, leugnet sie, die zu sein, für die sie gehalten werde. Es müsse sich um eine Verwechslung handeln (»a case of mistaken identity«). Anscheinend besteht eine Diskrepanz zwischen ihrem inneren, authentischen Ich und ihrem Rollenich als Autorin. Sarah Morton ist nicht mehr in der Lage, sich selbst in der Person wie­derzuerkennen, die andere in ihr sehen. Die sich anschließende Sequenz bei ih­rem Verleger John macht deutlich, dass der Grund für diese Identitätskrise nicht eine Fehleinschätzung ihrer zumeist weiblichen Leserschaft ist, sondern auf einer Schwächung ihrer Motivation beruht, die von dem Verhältnis zu ihrem Vater bzw. zu dessen Stellvertreter abhängt. In ihrer Beziehung zu John mischen sich offensichtlich in der Weise zärtlich-erotische und professionell-schriftstellerische Absichten, dass Johns emotionale Zuwendung eine Bedingung für Sarahs literari­sche Produktivität ist. Dass es sich dabei um ein der Vater-Tochter-Beziehung analoges Verhältnis handelt, wird schon daran erkennbar, wie Sarah ihrem Verle­ger nachlassende Aufmerksamkeit vorwirft und wie sie um seine Anerkennung buhlt, indem sie seine Wertschätzung ihrer Texte erst einfordert und dann hin­terfragt, um sie erneut einfordern zu können. Symptomatisch ist auch ihr Ver­halten gegenüber dem anderen, aufstrebenden Autor Terry Long, den sie wie ei­nen jüngeren Bruder als Konkurrenten um die Liebe des Vaters behandelt, wobei sie ihn sinnigerweise als einen »kleinen Scheißer« (little shit) verbal infantilisiert und damit, psychoanalytisch gesprochen, kurzerhand in die anale Phase zurück­versetzt. Es wird deutlich, dass Sarahs Unfähigkeit zu schreiben, wie sie selbst bemerkt, keine Frage des inspirierenden Plots ist, sondern durch die Schwächung der Vaterinstanz begründet ist. Mehr als bezeichnend ist in dieser Hinsicht die kurze Sequenz in ihrer Wohnung, wo sie ihren schlafenden, allem Anschein nach schon körperlich hinfälligen Vater betrachtet. Man vergegenwärtige sich nur einmal, dass diese Szene für den Fortgang der Handlung keinerlei wichtige In­formationen enthält, also eigentlich überflüssig ist, um sich ihren Stellenwert für den Gesamtsinn des Films klarzumachen. Gemäß der Sublimierungsthese stellt das Schreiben eine Umlenkung und Transformation der ursprünglich auf den Vater gerichteten libidinösen Energien dar und erfolgt also im Zeichen des väter­lichen Über-Ichs. Die Kritik Sarahs an ihrem väterlichen Verleger und, mehr noch, die tatsächliche Hinfälligkeit ihres wirklichen Vaters, sind nicht der Anlass, sondern erzähllogisch gesehen nur deutlicher Ausdruck für die innerpsychische Tatsache, dass sich die ödipale Dynamik von Verliebtheit in den Vater, Verdrän­gung und Sublimierung im Falle der Protagonistin erschöpft hat. Dass Sarah ih­rem Vater die Brille abnimmt, kann man, so gesehen, als ein Signal für einen Richtungswandel in ihrem Handeln auffassen. Was nun geschehen wird, ist nicht für die Augen des Vaters bestimmt. Es führt zunächst von ihm weg.

Der folgende, in Südfrankreich spielende Hauptteil des Films wird eingeleitet durch einen gleitenden, traumartigen Übergang der Szenen. Noch während Sarah

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auf der Fensterbank ihrer Londoner Wohnung, in der sie allein mit ihrem Vater lebt, über ihre Situation nachsinnt, hört man die Geräusche des Zuges, mit dem sie kurz darauf, eine Zigarette rauchend, ihren Zielbahnhof erreichen wird. Die Soundbrücke hat dabei wohl nicht nur eine handlungsverknüpfende Funktion, sondern sie soll das Folgende als Darstellung eines inneren Geschehens kenntlich machen. Mit der Reise in den Luberon ruft der Film eine ganze Reihe von Di­chotomien auf, die die Gesamttendenz der Handlung unterstreichen: Norden versus Süden, oben versus unten, kalt versus warm, England versus Frankreich, einschließlich der diese Länder betreffenden Klischees über das Wetter, das Essen und die Lebensart, also auch: Regen versus Sonnenschein, schlechtes versus gutes Essen, Steifheit und Verklemmtheit versus Freizügigkeit und Savoir-vivre. Allge­mein gesagt, führt der Weg die Protagonistin näher an den Bereich des Körpers, der Triebe und des Unbewussten, das sich rationaler Kontrolle entzieht, heran.

Allerdings setzt dieser Prozess nicht sogleich ein, sondern beginnt zögerlich. Die Schriftstellerin ist zu Anfang bemüht, auch in dem neuen Kontext auf die gewohnte Art weiterzuleben. So versucht sie, ihrem fiktiven, männlichen Alter Ego, dem Kommissar Dorwell, die Stange zu halten, und beginnt eine neue Ge­schichte über ihn. Erst durch Julies unvorhergesehene Ankunft in der Nacht, als sich Sarah, bei offenem Fenster schlafend, scheinbar schon ihrer Umgebung zu öffnen scheint, ändert sich schlagartig die Situation. Die Begegnung erinnert an Freuds bekannte Formulierung, dass das Ich nicht mehr Herr im eigenen Hause sei. Bemerkenswert ist, wie das Aufeinandertreffen der beiden Frauen raumse­mantisch inszeniert wird. Sarah, eine Gefahr witternd, steigt von oben, mit einem Lampenfuß bewaffnet, die Treppe hinunter und stößt unten auf die völlig über­raschte Julie. Der Lampenfuß darf in diesem Falle getrost und ohne damit das, was oben zur Problematik von Traumsymbolen gesagt wurde, zurückzunehmen, als Phallussymbol identifiziert werden, verweist er doch auf das patriarchale Über­ich, in dessen Auftrag seine Trägerin agiert. Dass Sarah plötzlich Julie als eine ihr bis dahin unbekannte Bewohnerin des Hauses entdeckt, lässt sich so verstehen, dass sie unversehens mit einer Vorstufe ihres eigenen Ichs konfrontiert wird. Denn um nichts anderes handelt es sich bei Julie. Sie repräsentiert Sarahs eigenes ödipales Ich, das heißt ihr Ich innerhalb des Ödipus-Komplexes. Für diesen Be­fund sollen später noch weitere Belege beigebracht werden. Mit der Entdeckung Julies, und insofern ist die phallische Waffe durchaus angebracht, öffnet sich für Sarah der Zugang zu einem seit langem verschlossenen Bereich ihrer Psyche, ein Bereich, der nicht nur mit Schuldgefühlen und Angst, sondern auch mit einem geheimen, nicht zugelassenen Begehren verbunden ist. Von Julie geht deshalb für Sarah sowohl eine Verlockung wie auch eine Bedrohung aus. Erstere ist mit un­terdrückten sexuellen Wünschen, Letztere mit der Kastrationsphantasie verbun­den, in der sich die Anerkennung der väterlichen Macht innerhalb der symboli­schen Ordnung manifestiert. Grundsätzlich besteht die Handlung des Films nun darin, dass Sarah der Verlockung, wenn auch unter Widerständen, ein Stück weit nachgibt, um dann den Akt der Verdrängung erneut und um so heftiger zu voll­ziehen. Ihre Entwicklung ist deshalb zunächst rückwärts gewandt auf Julie (ihre

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eigene Vorstufe) gerichtet. Demgegenüber schreitet Julie, von Sarah angetrieben, in ihrer Entwicklung voran. Am Ende steht für sie die Bewältigung des Ödipus­komplexes, in dem sie gewissermaßen stecken geblieben war.

Der Film veranschaulicht diese Verschränkung gegenläufiger Tendenzen auf sehr kunstvolle Weise und so subtil, dass es nicht leicht fällt, die einzelnen Fäden zu entwirren. Das wichtigste Anschauungsmittel ist ihm dabei das Handeln der beiden Hauptfiguren, die wechselweise in gegensätzliche Positionen gebracht werden, wobei sich die eine, Sarah, zunächst passiv beobachtend und die andere, Julie, aktiv verhält, dann jedoch Sarah das Heft des Handelns in die Hand nimmt und Julie zu ihrem Objekt macht. Nicht minder bedeutsam sind der ausgeklü­gelte Gebrauch und der Transfer sinnfälliger Motive, mit denen der Film ope­riert, um die Vorgänge mit Bedeutung aufzuladen. Und aufschlussreich ist schließlich auch, wie er, zumindest stellenweise, die Bild- und die Tonebene ver­schiebt, um die Perspektive Sarahs und Julies zu überlagern und dadurch ihre la­tente Identität anzudeuten. Schauen wir uns als nächstes, auch um den Preis späterer Redundanz, einige der wichtigsten Motive im einzelnen an, bevor wir sie anschließend im Kontext der Handlung verorten.

In einer Szene, noch zu Beginn ihres Aufenthalts in Johns Haus, sehen wir Sa­rah Morton, wie sie vor ihrem Computer sitzt, in ihr Notizbuch schaut und nachdenkt. Nachdem ihr Blick auf ein marmornes Ei gefallen ist, das sich als De­koration auf einem Schränkchen im Zimmer befindet, beginnt sie zu tippen. Das Ei, traditionell ein Fruchtbarkeitssymbol, stellt in diesem Zusammenhang wohl ein Zeichen der schöpferischen Phantasie dar, die das literarische Werk entstehen lässt. Ihm semantisch entgegengesetzt ist das Kreuz, das Sarah anfangs von der Wand ihres Zimmers entfernt, das jedoch mehrfach noch im Laufe des Films, auch als Schmuckstück, auftaucht. Es handelt sich hier wohl nicht um ein primär religiöses Symbol, sondern um ein Zeichen der Anwesenheit des väterlichen Über-Ichs, vergleichbar etwa dem Auge Gottes, das sich in einem gewissen Sinne als eine Externalisierung der innerpsychischen Kontrollinstanz verstehen lässt, wie sie mit der Verinnerlichung der elterlichen Moral entsteht. Im Hinblick auf das Kreuz deutet der Film demnach den Stand bzw. den Grad der Unterwerfung unter die vom Vater repräsentierte symbolische Ordnung an. Da das Ei als Zei­chen der individuellen Schöpfungskraft und das Kreuz als Zeichen der Ordnung konträr zueinander stehen, wird es darauf ankommen, beide zueinander ins rich­tige Verhältnis zu bringen. Eine ähnliche Dichotomie wie zwischen dem Ei und dem Kreuz besteht zwischen den Farben blau und rot. Blau markiert im Film, so in Gestalt der Benutzeroberfläche des Computers, der Notizhefte Sarahs oder als Einfärbung ihres Zimmers, dessen Wände und Tür, obwohl eigentlich weiß, zeitweise deutlich blau erscheinen, den männlichen Bereich der Sprache und der Fiktion, während rot weiblich und sexuell konnotiert ist. Man denke etwa an das Kleid von Julies Mutter, an die Farbe der Wände in Julies Zimmer, an die Luft­matratze, an die Überdecke von Sarahs Bett oder an die Mohnblume am Pool. Man könnte sagen, dass rot mit der Erhitzung der Phantasie korrespondiert, wäh­rend blau für die Abkühlung des Heißen und seine Transformation in Sprache

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steht. Der Swimmingpool, dessen zentrale Bedeutung immer wieder auch durch akustische Signale hervorgehoben wird, ist überwiegend blau; er kann aber auch rote Elemente wie die Luftmatratze aufnehmen. Das entspricht seiner Stellung als Übergangszone und Eintrittspforte in den Bereich der verdrängten unbewussten Impulse. Ausgiebig macht der Film von dem Spiegelmotiv Gebrauch, das wohl im weitesten Sinne mit der Frage der Identität zusammenhängt, und zwar sowohl im Sinne einer erkennbaren sozialen Identität der Schriftstellerin, die ihr Inneres im Text für andere entäußert, als auch im Sinne einer möglichen Einheit unter­schiedlicher Ichanteile. So sieht man erstmals Sarah im Spiegel, als sie Julies Ta­gebuch exzerpiert, also in die Rolle der Autorin zurückfindet. Später spiegeln sich Sarah und Julie gemeinsam im Spiegel und im Wasser des Pools. Von besonderer Bedeutung ist schließlich die Rolle, die der Film dem Essen und den Nahrungs­mitteln beimisst, nutzt er doch dieses Thema, um mit seiner Hilfe die innere Entwicklung Sarahs zu veranschaulichen. Wir werden darauf, wie auch auf die anderen Motive, bei Gelegenheit zurückkommen.

Die Wiederbelebung des Psychodramas

Wie gestaltet sich nun Sarahs Annäherung an die Position Julies? Julies Anwesen­heit im Haus bedeutet für Sarah nicht nur eine lästige Störung, sondern insofern eine regelrechte psychische Gefahrensituation, als sich in Julies Erscheinen die unwillkürliche Rückkehr der missbilligten Triebwünsche ankündigt. Dass sich Sarah das rote Kleid, das sie im Schrank entdeckt, anhält und dass sie das Kreuz von der Wand nimmt und weglegt, signalisiert von Beginn an ein zaghaftes He­rantasten an den von Julie repräsentierten Bereich. Auch die Tatsache, dass sie John, nachdem Julie eingetroffen ist, nicht mehr erreichen kann - ein erstes Te­lefonat hatte er bereits abrupt beendet - zeigt an, dass sich die Ereignisse nicht mehr unter der Kontrolle des Vaters bzw. seiner psychischen Repräsentanz ab­spielen. Dabei fällt auf, dass Julie, gemäß ihres anfänglichen Entwicklungsstan­des, Zufriedenheit über das Fernbleiben Johns äußert, während Sarah entspre­chend mit Wut reagiert.

Das erste Gespräch zwischen Sarah und Julie am Swimmingpool verdeutlicht die unterschiedliche Ausgangslage der beiden Frauen und damit, im weiteren Sinne, die gegensätzlichen Kräfte, die in Sarahs Psyche miteinander kämpfen. Ju­lie sieht in dem Pool einen, wenn auch schwachen Abglanz des Ozeans, mit dem sie das Gefühl, »dass man jederzeit den Boden unter den Füßen verlieren und mitgerissen werden könnte« (to be swept away) verbindet. Sie nennt ihn eine langweilige große Badewanne, die »kein Gefühl der Unendlichkeit« (no feeling of infinity) erlaube. Demgegenüber äußert Sarah ihren Ekel über den Schmutz und die im Pool wimmelnden Bakterien, von denen sie sich fernzuhalten beabsichtigt. Während also Julie den Pool mit dem Gedanken an Entgrenzung, Ichüber­schreitung und Ichauflösung, also gleichsam mit der Rückkehr in einen präödi-palen Zustand, assoziiert, beharrt Sarah auf Distanz, Reinheit und Selbstkontrol-

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le. Es ist genau diese Haltung, die ihre Position als Schriftstellerin auszeichnet, wie im weiteren Verlauf des Gesprächs deutlich wird. Anstatt Liebesromane zu schreiben, erfindet sie Krimis, in denen es um Morde und polizeiliche Untersu­chungen geht. Anstatt dem weiblichen Begehren Sprache zu verleihen, schreibt sie im Auftrag ihres männlichen Verlegers, der sie dafür entlohnt. Ironischerweise hatte er zu Anfang gesagt, dass sie sich über Geld nicht beklagen dürfe, da sie ja darin schwimme. Es ist auch höchst aufschlussreich zu sehen, dass genau in dem Augenblick, da Julie gegenüber Sarah von der Gefahr spricht, im Ozean von den Wellen mitgerissen zu werden, die Kamera erstmals Julies Narbe in den Blick rückt und damit andeutet, dass sich Sarah nunmehr der verdrängten Kastrati­onsphantasie bzw. ihres Äquivalents zu erinnern genötigt sieht.

Der Prozess der Annäherung Sarahs an Julie und damit ihr Zurückgehen in die ödipale Situation vollzieht sich schrittweise. Ein eindrucksvolles Beispiel für den zögerlichen Beginn des Vorgangs ist die Szene, in der sie heimlich Julie beim Sex mit ihrem Liebhaber beobachtet. Man sieht zunächst das Spiegelbild des Paares in der Fensterscheibe, dann Sarah, wie sie die beiden durchs Fenster beobachtet, wobei das Bild deutlich durch das Zeichen des Kreuzes dominiert wird. Die nächste Einstellung vergrößert den Bildausschnitt und rückt die Beobachterin dadurch vom Kreuz weg. Man sieht nun, wie Julie, die Sarah bemerkt hat, den Blick erwidert, woraufhin Sarah, ertappt, in die Dunkelheit zurückweicht, um sich in der nächsten Sequenz, wie einst Odysseus bei den Sirenen, die Ohren zu verstopfen und die Sexgeräusche nicht mehr an sich heranzulassen. Der nächste Schritt wird eingeleitet durch den Hinweis des Kellners Frank auf das nahe Schloss des Marquis de Sade in Lacoste. Dieser Hinweis ist signifikant, verweist er doch auf den Zielpunkt der folgenden Handlungen, die in einer sadistisch­erotischen Strafaktion münden werden. Sarah wird die passive Rolle der Voyeu-rin, in der sie als Trägerin des männlichen Blicks auftritt, allmählich aufgeben; sie wird sich mehr und mehr den verdrängten Wünschen überlassen, um schließlich in einem zugleich aggressiven und lustvollen Akt die Kontrolle zurückzugewin­nen. Dass es so kommen wird, dies wird indirekt bereits durch ihren Besuch der Schlossruine von Lacoste angedeutet. Sarah beginnt nun, ihr Schreibprojekt zu vernachlässigen. Sie verzichtet auf Ohrenstöpsel und lässt die Geräusche, die Julie und ihre Liebhaber verursachen, auf sich einwirken. Den entscheidenden Durch­bruch enthält die Sequenz, in der sie Marcel, Julie und deren älteren Liebhaber von ihrem Zimmer aus beobachtet. Hatte sie diesem Bekannten Julies gerade noch auf dessen Frage, wo das Mädchen sei, vielsagend mit der Gegenfrage »Wel­ches Mädchen?« geantwortet, so als könne auch sie mit seiner Frage gemeint ge­wesen sein, so führt die folgende Szene am Pool unmittelbar in die ödipale Kon­stellation hinein. Man sieht aus der Perspektive Sarahs, wie Julie ihren Freund

24 In ihrem wirkungsmächtigen Aufsatz über den männlichen Blick im Kino beschreibt Laura Mul-vey diesen Vorgang unter anderem am Beispiel der Filme von Alfred Hitchcock. Vgl. Laura Mul-vey, »Visuelle Lust und narratives Kino (1973)«, in: Texte zur Theorie des Films, hrsg. von Franz-Josef Albersmeier, 5. Auflage, Stuttgart 2003, S. 389-408, hier S. 402-405.

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mit Marcel bekannt macht und ihn dann hinter einen Busch zieht, woraufhin Marcel den beiden, zögerlich und ein wenig widerstrebend, folgt. Da nun Marcel neben John und Sarahs leiblichem Vater eine weitere Personifikation der Vaterin­stanz ist, wird erstens klar, dass Julies Interesse nicht nur auf den Liebhaber, son­dern gleichzeitig auch auf den eigenen Vater gerichtet ist, und dass zweitens Sarah sich, indem sie dies, allem Anschein nach beifällig, zur Kenntnis nimmt, auf die Position Julies zubewegt. Die besondere Bedeutung dieser Szene wird dadurch hervorgehoben, dass sie offensichtlich der Auslöser für die Wende in Sarahs litera­rischer Arbeit ist. Denn im Anschluss an sie beginnt Sarah sogleich ihren Text über Julie, was man so verstehen kann, dass sie sich nun gezielt den anfangs noch gemiedenen und als bedrohlich empfundenen infantilen Triebwünschen aussetzt. Wie um dies zu unterstreichen, schwenkt die Kamera, nachdem sie die energisch tippende und durch das Gesehene offenbar beflügelte Sarah gezeigt hat, kurz auf ihr Bett mit den zwei Kopfkissen. Sarah fängt nun an, sich in Julie einzufühlen. Indem sie ihre Sachen durchwühlt, ihre Tagebuchaufzeichnungen auswertet und ihren Slip als eine Art Stimulans in ihrem Zimmer behält, gewinnt sie allmählich ihre Inspiration zurück. Konsequenterweise begibt sie sich endlich selbst in den Pool und macht sich dadurch zum Begehrensobjekt für Marcel, wie gesagt einer Repräsentation des Vaters. Die Szene, in der sie am Pool liegend von dem über ihr stehenden Marcel betrachtet wird, weist zurück auf eine ähnliche, allerdings sexuell noch eindeutigere Szene mit Julie und Frank und signalisiert so die Aus­tauschbarkeit der Akteure.

Man kann den gesamten Vorgang auch daran festmachen, wie Sarahs Essens­verhalten sich nach und nach ändert. Essen und Trinken sind im Film nie nur bloße Nahrungsaufnahme, sondern immer auch Ausdruck psychischer Befind­lichkeit und eine Möglichkeit, um die, zunächst gestörte, dann gelingende Kommunikation zwischen Julie und Sarah zu veranschaulichen. Der Film entfal­tet eine breite semantische Skala der Speisen und Getränke. Auf deren einer Seite erscheinen sie als Genussmittel, als Objekte körperlicher, oraler Befriedigung, die der sexuellen unmittelbar benachbart ist. Nicht ohne Grund ist das spätere Mordopfer Frank ein Kellner. Auf der entgegengesetzten Seite stehen sie im Dienste der geistigen Selbstkontrolle und der Wahrung einer festen, ihrer selbst mächtigen Ich-Identität. Gleich zu Anfang des Films sehen wir Sarah in einem Pub, wo sie ihren Ärger über die unangenehme Begegnung in der U-Bahn mit einem Whiskey hinunterspült. Das Getränk hat hier also eine betäubende Funk­tion; es soll das psychische Gleichgewicht der Autorin wiederherstellen. Im da­rauf folgenden Gespräch mit John assoziiert sie Frankreich zwar spontan mit Es­sen (»I like frog's legs«). Dennoch ernährt sie sich dort anfangs von Quark, Me­lonen und Cola Light, was man als Zeichen ihrer Selbstdisziplin und ihrer Ar­beitsmoral zu verstehen hat. Entsprechend bleibt sie im Restaurant beim Tee und trinkt nur morgens zur Aufmunterung Kaffee. Im Gegensatz dazu signalisieren Julies Hinterlassenschaften auf dem Küchentisch ein ungezügelt lustbetontes Verhalten, durch das Sarah, man denke an den übersüßten Quark, den sie wieder ausspucken muss, so sehr aus der Fassung gebracht wird, dass sie diese erst nach

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einem ausgiebigen Mahl im Restaurant zurückgewinnt, woraufhin ihr Blick übri­gens prompt auf Frank fällt. Interessant ist die Szene, in der sie nach ihrer Rück­kehr ins Haus den Whiskey, den Julie offenbar mit Sarahs Cola gemischt hatte, in den Schrank zurückstellt, gewissermaßen als Hinweis darauf, dass sie die An­näherung Julies abzuwehren gewillt ist. Indem sie dann heimlich von Julies Foie Gras nascht und Julies Wein trinkt, gibt sie ihrem Verlangen aber doch nach, was schließlich, als Ausdruck der Versöhnung, zu dem Restaurantbesuch der beiden Frauen führt, an den sich, im Sinne einer nochmaligen Steigerung des Vorausge­henden, der gemeinsame Alkohol- und Drogenkonsum anschließt.

Bei diesem gemeinsamen Essen im Restaurant fällt auf, dass Sarah, anschei­nend um hervorzuheben, dass sie weiterhin die Kontrolle über das Geschehen behält, deutlich höher sitzt als Julie. Während sie bemüht ist, Julies Familienge­heimnis zu enträtseln, erfahren wir Entscheidendes über deren Vorgeschichte. Ju­lie berichtet, dass sie im Alter von dreizehn Jahren mit dem Sex begonnen und dann nicht mehr aufgehört habe. Sie erzählt von ihrem Freund Christian, den sie, weil er sexuell noch zu unerfahren gewesen sei, habe verlassen müssen, obwohl sie ihn auf eine romantische Art geliebt habe und obwohl er ihr in einem Baumhaus einen Heiratsantrag gemacht habe, der sie zu Tränen gerührt habe. Christian war offensichtlich nicht in der Lage, gleichzeitig Julies Sehnsucht nach zärtlicher Nä­he und Geborgenheit und ihre sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn man sich nun daran erinnert, dass Julie einmal gegenüber Sarah ihren Vater als einen »König der Orgien« (king of orgies), also als einen Mann mit märchenhafter Po­tenz, bezeichnet, dann wird ihr promiskuitives Verhalten als Ausdruck ihres un-bewältigten Ödipuskomplexes durchschaubar. In jedem ihrer Liebhaber sucht sie immer auch ihren eigenen Vater, der sie und ihre Mutter einst verlassen hat. Da­her ist es nur konsequent, wenn ihre Partner erheblich älter sind als sie selbst. Be­reits der Teddybär in Julies Zimmer verweist auf eine gewisse Infantilität seiner Bewohnerin. Und auch, dass sie in ihrem Tagebuch ein Foto der Mutter aufbe­wahrt, ist sinnfällig. Durch das Foto wird das Tagebuch, ohnehin die intimste, am meisten private Form der Prosa, zusätzlich als ein Ort spezifisch weiblicher Selbsrverständigung ausgewiesen, wobei Julie ihre Gefühle nicht nur im Ange­denken der Mutter artikuliert, sondern in gewisser Weise auch an deren Stelle, die sie ja unbewusst einnehmen möchte.

Durch Sarahs Intervenieren ändert sich jedoch die Lage. Indem Julie über sich selbst in Sarahs Aufzeichnungen liest, gewinnt sie allmählich ein distanziertes Verhältnis zu sich selbst und zu ihren Gefühlen. Das bedeutet umgekehrt, aus der Sicht Sarahs, dass sich für sie der Zugang zu den verschütteten Quellen ihrer künstlerischen Produktivität wieder aufzuschließen beginnt. Das Werk entsteht -und deshalb wohl sieht man am Anfang dieser Szene erneut das marmorne Ei —, indem die Autorin den verdrängten Kräften eine sinnvolle, öffentlich akzeptable Sprache verleiht. Diese Sprache aber steht nicht mehr im Zeichen der Mutter, wie das Tagebuch Julies, sondern des Vaters, der die symbolische Ordnung reprä­sentiert. Es ist nun folglich Julie, die, dies anerkennend, Sarah und Marcel am Pool aus der Distanz beobachtet, und zwar bezeichnenderweise und anders als

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zuvor Sarah, erkennbar missbilligend, denn ihr Weg führt ja, im Unterschied zu demjenigen Sarahs nicht in den Ödipuskomplex hinein, sondern aus ihm heraus. Bereits im Restaurant trägt Julie das Zeichen des Kreuzes, das sie später, so darf man annehmen, als Ausdruck ihrer zunehmenden Anerkennung des väterlichen Gesetzes und genau in dem Augenblick, da Sarah mit Frank im Restaurant flirtet, wieder an seinen Platz an der Wand in Sarahs Zimmer hängt. Die entscheidende Wende ereignet sich jedoch erst mit dem Mord an Frank.

Der Mord und seine Vertuschung

Welche Bedeutung hat also dieser Mord? Warum muss der Kellner sterben? Ver­gegenwärtigen wir uns noch einmal, dass Julie und Sarah, obwohl zwei Figuren, auf einer tieferen Ebene des Films identisch sind, das heißt narrative Aufspaltun­gen ein und desselben Subjekts, das sich einmal regressiv auf eine Vorstufe seiner selbst zurückwendet, einmal einen Reifungsprozess durchmacht. Innerhalb dieser Konstellation markiert der Mord genauestens den Wendepunkt in der Entwick­lung beider Figuren. Indem Sarah den Mord verursacht, Julie ihn jedoch verübt, erneuert Sarah ihr ödipales Trauma, aus dem sie als Künstlerin Gewinn zieht, während Julie sich von ihrer Fixierung aul die ödipale Phase befreit. Der Glou dieser Aufspaltung liegt letztlich darin, dass sie es erlaubt, einen Akt der Verdrän­gung, in dessen Natur es liegt, dass er dem Bewusstsein nicht zugänglich ist, an­schaulich zu machen. Ausgangspunkt der Mordszene ist eine nächtliche Feier mit Frank, dem gemeinsamen Objekt weiblicher Begierde. Die Szene wird ihrerseits eingeleitet durch ein kurzes Gespräch über Sarahs letzten Roman Dorwell wears a kilt. Der Titel des Buches enthält, mutwillig verstanden, eine Verunglimpfung des männlichen Helden, des Helden im Schottenrock, über die Sarahs patriar-chales Über-Ich naturgemäß nicht lachen kann, während sich Julie, die an dieser Stelle noch nicht so weit ist wie Sarah, amüsiert zeigt. Mit Beginn der anschlie­ßenden, erotisch aufgeladenen Tanzszene gelingt es Sarah jedoch, ihre Konkur­rentin auszustechen, zuerst, indem sie Franks Interesse auf sich zieht, dann, in­dem sie sich seine Ankündigung, nach Hause gehen zu wollen, anrechnet. Dem Triumphlächeln über Franks vermeintliches Verschwinden folgt ein heftiger Schreibanfall Sarahs. Schon hier zeigt sich, dass die Kreativität einerseits aus der Nähe, andererseits aus der Verdrängung der Sexualität schöpft. Die anschließen­de nächtliche Szene am Pool bringt diesen Zusammenhang dann auf den Punkt. Indem Sarah das Steinchen in den Pool wirft, hindert sie Julie gezielt und auf ge­radezu sadistische Weise am Geschlechtsverkehr mit Frank, so dass sich Julies se­xuelle Erregung in einem unkontrollierten Gewaltakt gegen Frank entlädt. Eben­so bedeutsam wie die Heftigkeit des Vorgangs, die die Intensität der beteiligten Gefühle verdeutlicht, ist die Tatsache, dass er dem Mädchen ein Schuldgefühl einpflanzt, das fortan die Übertretung des väterlichen Inzestverbots verhindert. Dass Sarah sich, während es geschieht, erneut die Ohren verstopft, dient diesmal nicht etwa dem Schutz vor andrängenden Sexgeräuschen, sondern soll verhin-

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dem, so steht jedenfalls im nachhinein zu vermuten, dass sie Zeuge der von ihr selbst ausgelösten Tat wird - gemäß der Annahme, dass im Verdrängungsakt nicht nur das Verdrängte in Vergessenheit gerät, sondern auch der Verdrän­gungsakt selbst. Sehr richtig sagt Julie später, von Sarah nach dem Motiv für ihre Tat gefragt, dass sie es für sie, Sarah, und für ihr Buch getan habe. Denn dieser Mord ist in letzter Hinsicht nichts anderes als die Urszene der Schriftstellerin Sa­rah Morton, die ihn in ihren Geschichten fiktiv und stetig wiederholt.

Der psychoanalytischen Theorie zufolge entsteht mit der Überwindung des Ödipuskomplexes, während die Erinnerung daran aus dem Gedächtnis ver­schwindet, das Über-Ich, das als internalisierte Moralinstanz das Ich in seinem Abwehrkampf gegen die es bedrängenden Triebimpulse unterstützt. Dies erklärt einerseits, warum Sarah, nachdem der Mord passiert ist, Julie verdächtigt und ihr auf die Spur zu kommen versucht, obwohl sie davor auch, man denke an das Messer, mit dem sie sich Julie nähert, Angst hat. Denn das Eingeständnis des Mordes entspricht auf der narrativen Ebene der innerpsychischen Anerkennung der geltenden Ordnung, die sich subjektiv als Schuldgefühl und als Fähigkeit, Reue zu empfinden, manifestiert. Es erklärt andererseits aber auch, warum Sarah, nachdem sie den Fall aufgeklärt hat, mehr als ihren kriminologischen Sachver­stand bemüht, um Julie zu schützen und eine Aufdeckung des Mordes zu verhin­dern. Denn die Erfahrungen aus dem Ödipuskomplex müssen, um ihn abzu­schließen, ins Unbewusste abgeschoben werden, wo sie dem Bewusstsein künftig verborgen bleiben und allenfalls noch indirekt Wirkung hervorrufen. Auf die Untersuchung und Entmystifizierung von Julies Geheimnis folgt dessen endgül­tige Versiegelung. Der Veranschaulichung dieses Vorgangs dienen die Szenen des Films, die auf den ersten Blick am rätselhaftesten sind.

Am Morgen nach der Tat, Sarah zeigt sich zunächst befriedigt, weil sie Julie allein in ihrem Zimmer vorfindet, entdeckt sie beunruhigende Anzeichen eines Verbrechens und stößt im Laufe ihrer Nachforschungen auf Marcels Tochter. Wer ist diese seltsame kleine Frau mit den grauen Haaren, die auf geradezu un­heimliche Weise aus dem Dunkeln die Kellertreppe hinaufsteigt? Warum trägt sie als einzigen Schmuck ein Kreuz und warum wird sie anfangs von Sarah fälschli­cherweise für Marcels Frau gehalten? Nach allem, was bisher gesagt wurde, ist es nicht mehr schwer, sie zu identifizieren. Es handelt sich um eine weitere Reprä­sentation der Tochterfigur, um eine weitere Variante von Sarahs Ich. Marcels Tochter ist die Tochter, die ihr inzestuöses Begehren in die Tat umgesetzt hat, sie ist das altgewordene Mädchen, das seinen Vater tatsächlich geheiratet hat und sich folglich niemals aus seiner ödipalen Bindung an ihn befreien konnte. Un­heimlich wirkt sie, und zwar im Sinne einer mustergültigen Veranschaulichung der Bestimmung dieses Begriffs durch Freud, weil in ihrer Gestalt der in die Tiefe des Unbewussten verdrängte infantile Sexualkomplex wiederzukehren scheint.'

25 Sigmund Freud, »Das Unheimliche«, in: S. F., Gesammelte Werke (s. Anm. 23), Bd. 12, S. 227-268.

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Von daher wird nun auch verständlich, warum Julie, bevor sie den Mord gesteht, in einem Zustand der Verwirrtheit Sarah für ihre Mutter hält und zugleich über­aus froh darüber ist, dass sie von ihr doch nicht verlassen wurde. Denn anders als für Marcels Tochter ist für Julie der infantile Vernichtungswunsch gegen die Mutter nicht Wirklichkeit geworden. Während Marcels Tochter die Mutter Ju­lies für tot hält, hat Julie sich von ihren inzestuösen Wünschen, als sie Frank tö­tete, distanziert und damit auch ihre Aggressionen gegen die Mutter überwun­den. Das Erkennen Sarahs durch Julie, übrigens im Zimmer Sarahs, löst bei Julie einen hysterischen Anfall mit anschließender Ohnmacht aus, gleichsam als Zei­chen dafür, dass mit dem Ende der ödipalen Krise die Erinnerung daran radikal ausgelöscht wird. Im Hinblick auf die geheime Identität von Sarah und Julie ist es aufschlussreich, dass die Ermordung Franks, die nach der Entdeckung seiner Leiche in Form einer Rückblende nachgeholt wird, im Film so eingeleitet wird, dass sie dem Zuschauer wie eine Erinnerung oder Vorstellung Sarahs erscheint. Findet dabei eine Verschiebung von der Position Julies zu derjenigen Sarahs statt, so entspricht dem umgekehrt, dass das Steinchen, mit dem Sarah den Koitus un­terbricht, vergrößert als Mordwaffe Julies wieder auftaucht. Höhepunkt dieser traumartigen Transformation und Überblendung des Erzählmaterials ist jene Szene, in der Sarah mit Marcel schläft, um ihn an der Entdeckung des Grabs von Frank zu hindern. Zuvor erscheint sie auf dem Balkon im roten Kleid der Mutter Julies und entblößt ihre Brust, um Marcels Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der Akt selbst findet dann, bezeichnenderweise, in Julies Zimmer statt. Der Vor­gang ist ebenso paradox wie zutreffend ausgedacht. Denn einerseits liegt hier, auf einer Ebene des Films, eine inzestuöse Handlung vor: Sarah schläft an Stelle der Mutter mit einem Stellvertreter ihres Vaters. Dies geschieht jedoch, um die Ver­neinung des inzestuösen Wunsches, wie sie der Mord an Frank darstellt, verges­sen zu machen. Das heißt, die Tatsache der Verdrängung soll paradoxerweise durch den Gegenstand der Verdrängung verdrängt werden. Andererseits ist es ge­nau diese Alogizität, welche die maskierende und verzerrende Arbeit des Traums bzw. des Denkens im Primärprozess auszeichnet, in dem ohne weiteres etwas durch sein Gegenteil ausgedrückt werden kann.

Mit der erfolgreichen Vertuschung des Mordes ist für Sarah der Rückgang in die psychische Vergangenheit beendet, und auch Julie hat ihre Krise überstanden. Anschließend sehen wir, als sich die beiden voneinander verabschieden, erstmals das Ei und das Kreuz (als Schmuck Julies) zusammen in einem Bild. Die schöpfe­rische Phantasie, die sich dem Begehren verdankt, und das väterliche Gesetz, das die symbolische Ordnung verkörpert, scheinen nun in ein neues, ausgewogenes Verhältnis gesetzt. Julie gibt jetzt Auskunft über die Narbe an ihrem Bauch, was sich, wenn wir die Narbe als »Kastrationsnarbe« verstehen, als Zustimmung zur Unterwerfung unter die Autorität des Vaters verstehen lässt. Auch in diesem Fall liegt eine signifikante Verschiebung vor: der Unfall, von dem zuvor Marcels Tochter im Hinblick auf den Tod der Mutter Julies gesprochen hatte, ist nun­mehr der Grund für die Narbe Julies. Julie wird, erwachsen geworden, Verant­wortung übernehmen und eine Anstellung annehmen. Und Sarah wird das Buch

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der Mutter, das ihr Julie überlassen hat, mit ihren sprachlichen Mitteln lebendig machen. Sie wird den weiblichen Gefühlen, die nach Anerkennung streben, selbst aber nicht schon das synthetisierende Prinzip der Sprache sind, eine überzeu­gungskräftige literarische Form geben. Darin liegt auch eine Aussage über die Be­dingungen weiblicher Kreativität innerhalb der phallozentrischen Ordnung. In ihr kommt die Frau, so scheint der Film zu sagen, als Sinnproduzentin nicht oder nur dann vor, wenn sie sich, wie die Schriftstellerin Sarah Morton, dem Diktat männlicher Wünsche und Interessen unterwirft. Das abschließende Gespräch mit John unterstreicht diese Einschätzung. Denn John erkennt das Buch, das Sarah von ihrer Reise ins eigene Ich mitgebracht hat, nicht an; er akzeptiert die Frau als eigenständiges Sprachsubjekt nicht. Dies ändert gleichwohl nichts daran, dass Sa­rah ihre SchafTenskrise überwunden hat und daher ankündigen kann, Inspektor Dorwell werde in Topform zurückkehren. Diese Ankündigung setzt eine geläu­terte und gelöste Haltung zum eigenen Schreiben voraus, die ihrerseits auf eine Revitalisierung und auf ein besseres Verständnis seiner psychischen Quellen zu­rückgeht. So gesehen, sind Sarahs Erlebnisse in Frankreich vergleichbar der psy­choanalytischen talking eure, deren Ziel es ist, in der erinnernden Rekonstruktion der Lebensgeschichte eines Patienten dessen psychische Blockaden systematisch aufzulösen und die dabei frei werdenden Gefühlsregungen so lange aufs neue in den Erinnerungsprozess einfließen zu lassen, bis er alle relevanten Ereignisse in einer tragfähigen, für ihn akzeptablen Einheit darstellen kann.

Im Sinne einer solchen wiedergewonnenen Einheit des Ichs lässt sich auch die mysteriöse Schlusssequenz des Films verstehen. Nachdem Sarah im Verlag flüch­tig Julia, der anderen, jüngeren Tochter Johns, begegnet ist, bleibt sie hinter der Tür stehen und beobachtet durch die Scheibe wohlwollend die zärtliche Begrü­ßung zwischen Vater und Tochter. Dann senken sich ihre Augen, als Zeichen dafür, dass ihr Blick nun nach innen geht und dass die folgenden Bilder als ihre Vorstellungen aufzufassen sind. Man sieht, wie ein Mädchen aus dem Pool auf­taucht und Sarah zuwinkt, die sich, wie zuvor, als sie Marcel verführte, im roten Kleid der Mutter Julies auf dem Balkon befindet. Als Sarah den Gruß lächelnd erwidert, erkennen wir zuerst Julia, dann Julie, die an deren Stelle getreten ist. Schon ihr fast gleichlautender Name charakterisiert Julia und Julie als die beiden Liebenden, wobei Julia, das Mädchen mit der Zahnspange, die Ablösung vom Vater noch vor sich hat, während Julie bereits eine adoleszente oder nachpubertä-re Position erreicht hat. Beide, Julia und Julie, verkörpern Vorstufen des reifen Ichs der Hauptfigur Sarah Morton. Deren Gruß signalisiert, dass sie nunmehr beide anzunehmen bereit ist und mithin die innerpsychische Kommunikation wiederhergestellt ist. Die Szene aktualisiert ein letztes Mal die den Film struktu­rierende Dichotomie von oben und unten, von bewusst und unbewusst. Dabei drückt der Gruß vom Balkon gleichzeitig Nähe und Distanz aus. Er zeigt an, dass die Protagonistin, sich erinnernd, bereit ist, das Vergangene nicht mehr zu ver­leugnen, sondern als abgeschlossenen und dennoch lebendigen Teil der eigenen Psyche fortleben zu lassen. Das Ende des Films bildet somit eine gelungene Reintegration der verschiedenen Subjektstufen.

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Der Film Swimming Pool handelt von der Überwindung einer Schreibkrise durch Rückgang in die Psyche und Erneuerung der unbewussten Antriebe, von denen die schöpferische Phantasie getragen wird. Hintergrund dieses Modells ist die Sublimationsthese, derzufolge künstlerische Leistungen das Ergebnis einer Verlagerung von Triebenergie sind, insbesondere jener, die mit den ödipalen Wünschen verbunden ist. Der Schluss des Films suggeriert die Möglichkeit einer durchlässigen Subjekteinheit, die die verschiedenen Entwicklungsstufen des Ichs auf lockere und geradezu heitere Art miteinander versöhnt. Darin unterscheidet er sich von anderen, modernen Versionen dieses Themas, die dazu tendieren, Ich-Identität stets als zerfallene, in sich zerrissene oder sich per se verfehlende zu beschreiben. Aus den im Film gezeigten Handlungen geht am Ende der Ge­schichte ein Buch hervor, das denselben Titel trägt wie der Film. Damit reflek­tiert der Film auch seine eigenen Entstehungsbedingungen, die im Unbewussten liegen. Indem er für dieses Unbewusste eine eigene filmische Sprache findet, ist er als ein Plädoyer für ein seiner selbst bewusstes, literarisch-sprachliches Kino zu verstehen, das sich entschieden von einem Kino der bloßen Regression und der symbolischen Befriedigung infantiler Wünsche unterscheidet. Schließlich und nicht zuletzt beinhaltet der Film Swimming Pool eine Stellungnahme zu den Chancen weiblicher Autorschaft und Kreativität in einer von Männern be­herrschten Ordnung, wobei er diese Chancen skeptisch einschätzt.

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V THE SWEETHEREAFTER ODER

DAS LEBEN NACH DEM TRAUMA

Die offene Erzählstruktur

In der kleinen kanadischen Stadt Sam Dent in British Columbia ereignet sich ein tragischer Busunfall, bei dem zahlreiche Schulkinder ums Leben kommen. Ein kurz darauf angereister Anwalt aus New York versucht, die Eltern der Opfer zu einer Schadensersatzklage zu bewegen, scheitert jedoch am Widerstand seiner ju­gendlichen Hauptzeugin, die das Verfahren durch eine gezielte Falschaussage schon im Vorfeld platzen lässt. Der Stoff von Atom Egoyans Film The Sweet Hereafter {Das süße Jenseits, Kanada 1997) geht zurück auf ein Busunglück, das im September 1989 die texanische Kleinstadt Alton erschütterte und eine Pro­zesswelle auslöste, die sich zusätzlich verheerend auf die soziale Struktur der Stadt auswirkte. ' Der amerikanische Autor Russell Banks griff die Geschichte auf, ver­legte sie in den winterlichen Staat New York und entwickelte daraus ein erzähleri­sches Modell über die Folgewirkungen einer traumatischen Erfahrung auf eine Gemeinschaft." Vermeidet bereits der Roman eine einsinnige Aufarbeitung des Geschehens, so steigert Egoyan seinerseits die Komplexität seiner Vorlage, indem er daraus eine vielschichtige filmische Studie über Verlust, Trauer, Moral und Verleugnung macht. Banks verknüpft in seinem Buch die Icherzählungen von vier Figuren, die ihre je individuelle Sicht der Ereignisse berichten: die Busfahre­rin Dolores Driscoll, der Witwer Billy Ansei, der bei dem Unglück seine beiden Kinder verliert, der Anwalt Mitchell Stephens und das Mädchen Nicole Burneil, das den Unfall querschnittsgelähmt überlebt. Da sich die Sichtweisen und Kom­mentare der Erzähler nicht nur ergänzen, sondern auch relativieren, muss der Le­ser seine eigene Wahrheit der Vorgänge konstruieren. Dennoch bleibt die Kohä­renz der Darstellung innerhalb der einzelnen Kapitel noch überwiegend gewahrt, so wie auch eine gewisse Geschlossenheit des Ganzen dadurch erzielt wird, dass der Roman der Stimme der Busfahrerin, die als Einzige zweimal, am Anfang und am Ende, zu Wort kommt, besonderes Gewicht verleiht.

Der Film nimmt demgegenüber, ohne vollständig darauf zu verzichten, die Bindung der Darstellung an die Perspektive einzelner Akteure zurück, löst aber stattdessen die Chronologie der Erzählung noch weiter auf. Indem er eine Viel­zahl unterschiedlicher Zeitebenen miteinander verschränkt, entsteht der Eindruck des Ineinanderwirkens der Zeiten: da im Vergangenen das Zukünftige bereits als

26 Zu den Hintergründen vgl. Tony McAdams, »Blame and The Sweet Hereafter«, in: Legal Studies Forum 24/3 u. 4, 2000, S. 606.

27 Vgl. Russell Banks, The Sweet Hereafter, New York 1991. (Dt.: Das süße Jenseits, München 1998.)

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Keim enthalten ist und in der Gegenwart die Vergangenheit stets noch wirksam bleibt, lässt sich weder ein voraussetzungsloser Anfang noch ein definitiver End­punkt des Geschehens ausmachen. Die älteste Schicht des Films reicht in eine Zeit gut zwei Jahrzehnte vor dem Unglück zurück und zeigt Episoden aus dem Leben der noch jungen Familie des Anwalts Mitchell Stephens. Das Leben in der Stadt vor dem Unfall wird durch verschiedene Sequenzen repräsentiert, wobei sich einige im Vorfeld bzw. während eines Jahrmarktes abspielen, andere bis un­mittelbar an den Tag des Unfalls heranreichen. Der Morgen der Katastrophe bil­det eine eigene Zeitschicht, während die zeitliche Hauptachse des Films von den Gesprächen des Anwalts mit den Hinterbliebenen bis hin zur Befragung der Zeu­gen durch die Gerichtsbeamten reicht. Einige Sequenzen schließlich zeigen Ste­phens zwei Jahre später im Flugzeug, während er auf dem Weg zu seiner drogen­süchtigen Tochter ist. Dabei wird die zeitliche Differenz zu dem Übrigen aus­drücklich kenntlich gemacht: Nachdem ein Kalender in dem Motel, dessen Besit­zer von Stephens befragt werden, auf den Dezember 1995 verweist, lässt die nächste Einstellung im Flugzeug erkennen, dass wir uns nun im Jahre 1997 be­finden.

Die Darstellung springt frei zwischen den einzelnen Zeiten vor und zurück. So beginnt der Film mit einem harmonischen, idyllisch anmutenden Familienbild, dessen konkrete Bedeutung, geschweige denn Brüchigkeit, der Zuschauer zu­nächst nicht zu erfassen vermag. Daran an schließt sich eine Szene, die den An­walt, der sich auf dem Weg in die Stadt befindet, in einer Autowaschanlage zeigt, wo er mit seiner Tochter zu telefonieren versucht. Danach geht der Film erneut in der Zeit rückwärts und präsentiert eine Episode vor dem Unfall mit Nicole und ihrem Vater Sam auf dem Jahrmarktsgelände. Das Material wird solcherma­ßen zwar, um Brüche und Kohärenzstörungen zu erzeugen, ohne Rücksicht auf oder sogar absichtlich gegen die Zeitfolge angeordnet, dabei jedoch in seiner He-terogenität auf raffinierte Weise miteinander verknüpft. Hinweise in den voraus­gehenden Szenen und Voice-Over-Kommentare machen das Gezeigte zum Teil als Vorstellung oder Erinnerungsbild verständlich. Doch nicht immer ist auszu­machen, ob etwas noch aus der Perspektive einer Figur oder schon von einem übergeordneten Standpunkt aus gezeigt wird. Der gesprochene Text kann auch im Widerspruch zu dem stehen, was er erläutert. So wird beispielsweise eine Be­merkung der Busfahrerin Dolores hinsichtlich Billy Ansels Trauer über den Ver­lust seiner Frau Lydia durch die anschließende Szene Lügen gestraft, in der er sich mit der Motelbesitzerin Risa Walker verabredet. Aber auch dieser Eindruck ist trügerisch, da Billy selbst später, in einem Gespräch nach dem Busunfall, gegen­über Risa Dolores' Einschätzung zu bestätigen scheint. Durch Überlagerungen der Tonspur und der Musik wirken die Übergänge einerseits gleitend, anderer­seits kommt es zu gewollten Spannungen zwischen dem, was man sieht und dem, was man hört. Wenn die Kamera im Flug über die verschneite, erhaben schöne Berglandschaft hinweggleitet, wirkt die Musik verfremdend, ja verstörend. Sie wird aber auch als direkter Kommentar zur Handlung eingesetzt, vor allem, wenn sie das Motiv des Flötenspielers evoziert.

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Der irritierende Effekt dieser formalen Verfahren, die nicht nur das Erzähl-kontinuum, sondern die ästhetische Einheit des Films als ganze aufsplittern, ist insgesamt, dass sich der Zuschauer, zumal beim ersten Ansehen, nur schwer ori­entieren kann und manches nicht oder nur falsch einzuordnen vermag. Anstatt sich in die Geschichte einzufühlen und mit den Figuren zu identifizieren, wird er zu einer distanzierten Rezeption gezwungen. Er beginnt, den Akteuren zu miss­trauen und ihr Handeln und Reden zu hinterfragen. Die offene Struktur erzeugt aber nicht nur Verstehensblockaden und Sinnlücken, die eine abschließende Hierarchisierung der Aussagen verhindern, sondern sie generiert auch neue se­mantische Bezüge und Reflexionsmöglichkeiten. So wirft der Film eine Reihe schwerwiegender existenzieller Fragen auf: Wie geht eine Gemeinschaft mit ei­nem traumatischen Ereignis um? Was bedeutet dabei insbesondere der Tod von Kindern? Welche Rolle spielt die Familie und welche der Fremde, der von außen in ein Kollektiv eindringt? Was treibt den Einzelnen in seinem Handeln an? Wie kann er zu einem authentischen ethischen Selbstverhältnis gelangen? Und welche Funktion übernimmt das Recht in einer Situation, da die Sinnangebote der Me­taphysik nicht mehr zu überzeugen vermögen? Es dürfte schwer sein, eine dieser Fragen als die übergeordnete des Films zu identifizieren, der sicherlich offen ist für verschiedene Zugänge. Allerdings geht er doch über die Funktion eines blo­ßen Anlassgebers für beliebige Assoziationen hinaus. Dazu trägt schon bei, dass das Handeln der Figuren psychologisch motiviert ist, auch wenn ihre Ziele nicht ohne weiteres zu verstehen sind. Auch ist der Film, zusätzlich zur ausgefeilten Verknüpfung der Zeitschichten, immanent systematisch komponiert. So lassen sich die Episoden danach sortieren, ob sie zeitlich vor oder nach dem Unfall si-tuiert sind. Und es fällt auf, dass in den Sequenzen nach dem Unfall in begrenz­tem Umfang doch eine lineare Handlung entwickelt wird, die mit der Befragung Nicoles zu ihrem Abschluss kommt. Die Schlusssequenz lässt sich mit einem ge­wissen Recht im Sinne einer Integration verschiedener, bisher auseinander drif­tender Tendenzen des Films lesen. Darüber hinaus sind es aber vor allem zwei zentrale strukturierende Mittel, mit denen er eine Vereinheitlichung seiner ver­schiedenen Elemente betreibt und mit denen er folglich die Suche des Zuschauers nach einem Sinn des Ganzen antreibt.

Zum einen wird die Sage vom Rattenfänger von Hameln von außen, im Sinne eines ordnenden Schemas oder, wie der Regisseur gesagt hat, einer »kontrollie­renden Metapher« herangezogen, um das Geschehen zu spiegeln und mit Bezü­gen anzureichern. Die Sage, die im Roman noch nicht erwähnt wird, enthält ei­nige wichtige Aspekte, die zum Teil im Film aktualisiert werden: das Auftauchen eines Fremden, die Verführung, insbesondere durch Musik, der Verlust der Kin­der und anderes. Der Rekurs auf die Rattenfängersage, im Film in Form von Ro­bert Brownings berühmter Ballade Thepiedpiper ofHamelin (1842) zitiert, bildet jedoch in erster Linie einen thematischen Bezug; es liegt keine exakte Transfor-

28 Vgl. Richard Porton, »Family Romances. An Interview with Atom Egoyan«, in: Cineaste 23,2, 1997, S. 9.

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mation der Geschichte vor. Die Übertragung weist folglich signifikante Abwei­chungen von ihrem Bezugstext auf, die noch zu erläutern sein werden.

Zum anderen wird, von innen heraus, die private Tragödie des Anwalts Ste­phens, der seine Tochter Zoe in einem langen, quälenden Prozess an die Drogen verliert, mit dem Unfalltod der Kinder, die ihren Eltern plötzlich entrissen wer­den, verknüpft. Dies suggeriert eine Analogie zwischen dem physischen Ver­schwinden der Kinder und dem Zerbrechen der Familieneinheit, insbesondere der Vater-Tochter-Beziehung. Letztere wird im Film zweifach thematisiert, außer am Beispiel von Stephens und Zoe, auch im Hinblick auf Nicole Burnell und ih­ren Vater Sam, der mit ihr vor dem Unfall ein inzestuöses Verhältnis hat. Es kommt zu einer merkwürdigen Überkreuzstellung der Paare, indem sich am En­de der eine Vater, der den fortschreitenden, anscheinend unaufhaltsamen Unter­gang seiner Tochter erleben muss, mit der anderen Tochter, die sich gegen ihren Vater durchzusetzen bestrebt ist, konfrontiert sieht. Durch die Verschränkung der Erzählstränge wird dem Zuschauer einerseits nahegelegt, den Tod der Kinder als ein zugespitztes Symbol für die Auflösung der Familie, insbesondere für die Entmächtigung des Vaters aufzufassen, was ihn andererseits dazu nötigt, wie die traumatisierten Akteure im Film, dem eigentlich Sinnlosen und Unvermittelten einen Sinn zu unterstellen.

D e r Unfal l u n d sein P e n d a n t

Es fällt auf, dass der Busunfall ungefähr in der Mitte des Films gezeigt wird und nicht, wie so oft in anderen Filmen, den Höhepunkt, etwa im Sinne einer finalen Katastrophe bildet, bei der sich die Gefühle des Publikums kathartisch entladen können. Die Katastrophe stellt vielmehr das buchstäblich tote Zentrum des Films dar, um das herum sich die übrigen Sequenzen, wie um ein Loch, zenttieren. Dieser ungewöhnlichen Positionierung entspricht die unspektakuläre, distanzierte Art, in der das Unglück gezeigt wird. Eingeleitet durch den Ausdruck plötzlichen Schreckens im Gesicht Billy Ansels, der dem Bus folgt, werden dem Vorgang nur wenige Einstellungen gewidmet, wobei das Geschehen überwiegend aus der Ent­fernung und ohne Details des Schreckens dargestellt wird. Das Unglück kommt ebenso abrupt, ohne Vorankündigung daher, wie es für den Betrachter in seiner grauenhaften Realität nur erahnbar bleibt.

Entscheidend für die Verschränkung der beiden zentralen Erzählstränge des Films ist nun, dass die Unfallsequenz mit der Geschichte des Anwalts, die von ei­nem Schlüsselerlebnis seines Lebens handelt, verklammert ist. Unmittelbar nach­dem der Bus, gefilmt aus der Perspektive Billy Ansels, im See verschwunden ist, sehen wir nochmals die schon zu Anfang des Films gezeigte Schlafszene, und Ste­phens beginnt seiner Gesprächspartnerin im Flugzeug die Geschichte von den Folgen eines Spinnenbisses zu erzählen, die für ihn offenbar so entscheidend ist. Nach dem Ende dieser Sequenz geht der Film noch einmal zurück zur Unfall­stelle. Man sieht den erschütterten Billy Ansei, der sich vom Ort der Katastrophe

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entfernt, wobei kurz, als Ausdruck seines Erinnerns, ein Bild seiner auf ihn zu­rennenden Kinder eingeschoben wird. Sicher ist es kein Zufall, dass der Unfall aus der Sicht bzw. anhand der Reaktionen des Witwers vermittelt wird, der ein besonders intensives Verhältnis zu seinen Kindern hat. Da eine kausale Beziehung zwischen den Sequenzen nicht besteht - Stephens äußert als Begründung für sei­ne Erzählung nur, dass er immer, wenn er auf dem Weg zu Zoe sei, um sie zu retten, an das Erlebnis von damals denken müsse - , soll offensichtlich ein tieferer Zusammenhang zwischen dem Tod der Kinder, wie ihn Billy Ansei erlebt, und dem, was Stephens widerfahren ist, angedeutet werden.

Was ist also der Gehalt der von Mitchell Stephens erzählten Geschichte? Um sie zu verstehen, muss man sich zunächst die Bedeutung der ihr vorangestellten Sequenz klarmachen. Wir sehen, von oben betrachtet, indem sich die Kamera langsam dreht, eine Mutter mit ihrem etwa dreijährigen Kind friedlich in einem Bett schlafen. Während die Mutter das Kind umarmt, ist dieses ihr in einer Hal­tung, wie wenn es gestillt würde, zugewandt, wodurch insgesamt der Eindruck inniger Verbundenheit entsteht. Neben den beiden, nicht ganz in die intime Nä­he von Mutter und Kind eingeschlossen, aber doch noch als Teil einer umgrei­fenden, harmonischen Gesamtsituation liegt der ebenfalls schlafende Vater, das Gesicht neben seinem linken Arm so ins Kopfkissen vergraben, dass er nach au­ßen aus dem Bild hinausweist. Zwar deutet die Körperhaltung des Mannes schon eine gewisse Distanz zu Frau und Kind an, zwar signalisiert die von der Unfallse­quenz übernommene Musik bereits eine Gefährdung des idyllischen Augenblicks, doch ist die Szene noch stabil. Sie zeigt den Vater in unmittelbarer Nähe zur symbiotischen Mutter-Kind-Einheit, an deren Frieden und ungetrübtem Einver­ständnis er zu partizipieren scheint.

In diese Sommeridylle, die in scharfem Kontrast steht zum winterlichen Er­scheinungsbild der meisten übrigen Sequenzen, bricht nun jäh das Ereignis des Spinnenbisses ein, das nicht nur das Leben des Kindes gefährdet, sondern das ur­sprüngliche Band zwischen dem Vater und seiner Tochter mit einem Schlag zer­reißt. Die schwierige Ablösung des Sohnes aus der Bindung an die Mutter wird im Film am Beispiel von Sean Walker, der sich kaum von seiner Mutter Risa zu trennen vermag, angedeutet. An dieser entscheidenden Stelle des Films geht es jedoch um die Rolle des Vaters, der die emotionale Distanzierung von der Toch­ter auf dramatische Weise als Entfernung aus dem Kontext der Mutter-Kind-Beziehung erlebt. Dabei scheint es sinnfällig, dass Zoe ausgerechnet von einer schwarzen Witwe gebissen wird, ist diese Spinnenart doch dafür bekannt, dass die Weibchen nach der Paarung die Männchen zu verschlingen pflegen. Stephens sieht sich trotz größter Anspannung gezwungen, Zoe einerseits innere Ruhe vor­täuschen zu müssen, damit sie selbst ruhig bleibt und sich das Gift nicht zu schnell in ihrem Körper ausbreitet. Andererseits muss er jederzeit bereit sein, ihr einen lebensrettenden Luftröhrenschnitt zu setzen. An dieser Stelle taucht erst­mals das Motiv des Atmens auf, das mehrmals noch im Film aufgegriffen wird: in dem zweiten Telefonat zwischen Stephens und Zoe, aber auch während der Zeu­genbefragung, bei der sich die Protokollantin eine Atemmaske vorhält. Steht der

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Vorgang des Ein- und Ausatmens, den man sich gewöhnlich nicht bewusst macht, für den selbstgenügsamen Rhythmus des Lebens, so ist dieser im Film of­fensichtlich gestört. Stephens muss sich verstellen, um seine Tochter Zoe, deren Name wörtlich »das Leben« bedeutet, zu retten. Er muss die gestörte natürliche Ordnung durch symbolische Mittel wiederherstellen. Somit ist die Täuschung hier ein lebensnotwendiges, ja vom Leben selbst gefordertes Prinzip, das jedoch die symbiotische, auf sprachlosem, intuitivem Vertrauen beruhende Lebensein­heit des Sinnes oder zumindest die Illusion einer solchen Einheit zerstört. Um nicht selbst Hand anlegen zu müssen, muss Stephens gegenüber Zoe zu einem Schauspieler werden und sich in eine innere und eine äußere Person aufspalten: »Ich war in zwei Teile zerspalten, der eine Teil war Papa, der ein Schlaflied für seine Tochter sang. Der andere war ein Chirurg, bereit, ihr in die Kehle zu schneiden« (I was divided into two people. One part of me was Daddy, singing a lullaby to his little girl. The other part was a surgeon, ready to cut into her throat). Die Verstellung, das berechnende, manipulative Verhalten oder, allge­meiner gesagt, die Rhetorik als psychagogische, seelenlenkende Technik erscheint hier als Folge einer biologischen Nötigung durch die Natur.

Insofern Stephens in dem Erlebnis offenbar den Beginn der Entfremdung von seiner Tochter sieht, ergibt sich, psychologisch gesehen, eine Verbindung zu dem von ihm angestrebten Rechtsstreit um die rechtlichen Folgen des Busunfalls, da sich sein juristisches Engagement insgesamt als Versuch verstehen lässt, das Ab­driften der Tochter und die damit verbundene eigene Handlungsunfähigkeit er­satzweise auf anderem Gebiet zu bewältigen. Der Bezug zu dem Unglück reicht aber noch weiter. Für die Eltern der verunglückten Kinder bedeutet der Unfall, ähnlich wie für Stephens die Fahrt mit Zoe zum Krankenhaus, einen traumati­schen Einschnitt in ihr Leben, auch wenn dieser ungleich heftiger ist als die Er­fahrung, die Stephens machen muss. Während für ihn das emotionale Band, das ihn mit seinem Kind vereinte, plötzlich zerreißt, erlebt Billy Ansei das brutale und unabänderliche Ende seiner Vaterschaft. Das Trauma des Unfalls für die El­tern besteht, über den Verlust der Kinder hinaus, in dem Erlebnis radikaler Sinnlosigkeit, die sich durch keine Erklärung wegzaubern lässt. Wenn wir die Natur oder den Naturzusammenhang als mütterlich auffassen, stellt der Unfall einen Akt mütterlicher Gleichgültigkeit dar, der durch keinen Versuch väterlicher Symbolisierung wettgemacht werden kann. Angesichts dessen erscheint es para­dox, dass sich gerade Stephens, der Anwalt, anbietet, um den Hinterbliebenen bei der Bewältigung ihres Verlusts zu helfen. Denn was ihm zur Verfügung steht, sind letztlich nichts anderes als rhetorische Mittel, die - das war ja der Kern der Episode mit dem Spinnenbiss - in einer Not- oder Mangelsituation helfen kön­nen, indem sie einen Sinn vortäuschen oder sogar plausibel erscheinen lassen, die jedoch den fundamentalen Entzug von Sinn nicht rückgängig zu machen vermö­gen.

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Der Versuch einer metaphysischen Indienstnahme des Rechts

Die zweite Sequenz des Films zeigt Mitchell Stephens in einer misslichen Lage. Er ist in einer Autowaschanlage eingeklemmt, das Telefonat mit Zoe endet ab­rupt im Streit, schließlich bricht der Empfang ganz zusammen. Man kann in die­sem mehrfachen Scheitern gleich zu Beginn einen Hinweis auf das Dilemma des Anwalts sehen. Es wird ihm nicht gelingen, sich dadurch von seinem Versagen gegenüber Zoe reinzuwaschen, dass er für andere Menschen Schadensersatz er­streitet. Bereits das erste Gespräch mit Zoe macht deutlich, dass das Verhältnis zwischen Vater und Tochter von gegenseitigem Argwohn entstellt ist. Im zweiten Telefonat, Zoe teil ihrem Vater mit, dass sie HlV-infiziert sei, wird die Zerrüt­tung noch deutlicher. Während der Vater der Tochter nicht traut, glaubt sie ihm nicht, dass er ihr glaubt. Misstrauen, Zorn, aber auch Verzweiflung und Angst kennzeichnen das Gespräch, in das, als Erinnerung an die Urszene, mit der das Auseinanderbrechen der Familie begann, Bilder von der Fahrt zum Krankenhaus einmontiert sind. Während Stephens weder Zugang zu Zoe findet, noch in der Lage ist, sie vor weiterem Schaden zu bewahren, und während er dies schmerzhaft als Ohnmacht und wohl auch als schuldhaftes Versagen erlebt, beginnt er seine Arbeit in der von dem Busunglück getroffenen Gemeinde. Es liegt nahe, dies als Versuch der Wiedergutmachung zu verstehen. Indem er anderen bei der Trauer­arbeit hilft, sucht er den eigenen Schmerz zu überwinden. Indem er seine Trauer und seine Wut auf den Fall der anderen projiziert und so nach außen verlagert, sucht er den Verlust des eigenen inneren Objekts rückgängig zu machen." Diese Ersatzfunktion der anderen für Stephens wird auch in seinem Verhältnis zu Allison deutlich, der jungen Frau, der er im Flugzeug über Zoe berichtet. Nach­dem er sie in seinem Kummer zunächst nicht als eine frühere Freundin Zoes und als Tochter eines ehemaligen Geschäftspartners erkennt, scheint er in ihr zuletzt jene Tochter sehen zu wollen, die Zoe niemals geworden ist. Dass Allison bei der Verabschiedung darauf besteht, nicht mehr Alli, sondern Allison genannt zu wer­den, deutet allerdings an, dass sie nicht bereit ist, sich von Stephens in diese Rolle zwängen zu lassen, wozu im übrigen auch passt, dass sie eine auffällige Ähnlich­keit mit Nicole besitzt. Verweist ihre Schlafhaltung im Flugzeug zurück auf die im Sommerhaus schlafende Zoe, so ist die Geste, mit der Stephens sie zudeckt, die eines zärtlichen Vaters. Wie um seinen Verlust zusätzlich zu unterstreichen, rückt der Film, bevor sich Stephens auf dem Flughafen von seiner Begleitung verabschiedet und in Tränen ausbricht, eigens das Bild einer vollständigen Fami­lie in den Blick.

Ist Stephens der Fremde, der, angetrieben durch dunkle, ihm selbst kaum be-wusste Motive in die Stadt kommt, so stellt diese, und das auch schon vor der Katastrophe, kein Idyll dar. Aus dem Gespräch zwischen dem Anwalt und dem Motelbesitzer Wendell Walker, der dabei selbst ein schönes Beispiel für Miss-

29 Siehe hierzu auch: Isaac Tylim, »Remembrance of things to come: The Sweet Hereafien», in: The psychoanalytic Review 85,2, 1998, S. 800-804.

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gunst abgibt, sowie aus weiteren Unterhaltungen der Beteiligten geht vielmehr hervor, dass hier auch schon vor dem Unfall manches im Argen gelegen hat, dass Ehebruch, Inzest, Gewalt und Alkoholismus nichts Ungewöhnliches sind. Der Film deutet zwar einen Gegensatz zwischen der Großstadt, aus der der Anwalt kommt, und dem ländlichen Lebensraum an, jedoch ohne Letzteren als Or t ur­sprünglichen Glücks zu idealisieren. Jene an Stephens beobachtete Haltung, an­dere als Substitut für etwas Verlorenes zu benutzen, findet sich auch hier: für Billy Ansei ist sein Verhältnis zu Risa Walker vor allem eine Möglichkeit, die Er­innerung an seine verstorbene Frau Lydia wach zu halten; Risa sieht in dem sexu­ellen Vergnügen, das sie mit Billy teilt, nur einen Abglanz vergangener kindlicher Freuden. Auch hier herrschen Verstellung und Berechnung. Man vergegenwärti­ge sich nur, dass Billy Ansei, um die Kontrolle über seinen Nebenbuhler zu be­halten, während des Ehebruchs den Fernseher laufen lässt. Will man die Bewoh­ner von Sam Dent in ihrer Gesamtheit charakterisieren, so kann man von einer Gemeinschaft im Gegensatz zur Gesellschaft sprechen. Die Gemeinschaft bildet keine per se organische Einheit, die sich als ideales Gegenbild zur mechanischen Gesellschaft auffassen ließe; sie ist kein paradiesischer Hort der Geborgenheit, sondern ihrerseits eine potenziell spannungsreiche und konfliktgeladene Struktur. In der Gesellschaft als einer abstrakten, übergreifenden Ordnung gelten explizite, zum Beispiel juristische Regeln, die der Einzelne beachten oder gegebenenfalls auch brechen kann. Demgegenüber sieht er sich in einer Gemeinschaft mit ande­ren in eine gemeinsame Situation eingebettet, in der auch ungeschriebene, diffuse Gesetze, ein nicht elaborierter Code von Verhaltensregeln, herrschen, zu denen sich nicht ohne weiteres Abstand gewinnen lässt. Der Tod der Kinder von Sam Dent kehrt nicht nur die natürliche Ordnung, in der die Eltern gemeinhin vor den Kindern sterben, um, sondern er stellt auch die verschwiegene soziale Ord­nung der Gemeinschaft auf eine harte Probe.

In der Stunde der Not erscheint ein Fremder, um den Eltern in ihrer Trauer zu helfen. Einerseits behauptet er, indem er sich anschickt, einen Schuldigen für das Unfassbare ausfindig zu machen, zwar nicht den Schmerz lindern, so doch der Wut ein Objekt geben zu können und damit für psychische Entlastung zu sorgen: »lassen Sie mich ihrer Wut eine Richtung geben« (let me direct your ra­ge). Stephens' juristische Argumentation zielt darauf ab, jemanden, der an dem Vorfall nicht selbst, sondern nur sehr indirekt beteiligt war, haftbar zu machen, zum Beispiel dafür, dass er im vorhinein die Differenz zwischen den Produkti­onskosten für eine billige Schraube am Bus und einer Entschädigungssumme für mögliche Unfallopfer kalkuliert hat. Da offensichtlich niemand den Unfall ab­sichtlich verursacht hat, soll die Verantwortung im Sinne der Fahrlässigkeit auf eine Institution oder ein Unternehmen abgewälzt werden. Andererseits stellt der

30 Vgl. zu dieser Unterscheidung Hermann Schmitz, »Die Aufhebung der Gegenwart«, System der Philosophie, Bd. 5, Bonn 1980, S. 120-148, sowie mit Blick auf den Film The Sweet Hereafier Slavoj Zizek, »The act and its vicissitudes«, in: The Symptom. Online Journal for Lacan.com 6, 2005, http://www.lacan.com/symptom6_articles/zizek.html (Stand: 19.5.2007).

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Anwalt sein Tun als einen Beitrag zur Vorsorge, der zukünftigen Schaden verhin­dern solle, dar. Er leugnet zwar apodiktisch die Tatsache der Kontingenz, indem er das Wort »Unfall« für inhaltsleer erklärt, gleichwohl setzt seine Vorgehensweise voraus, dass die Wahrheit als solche unzugänglich ist. Da auch er die Frage des Warum nicht abschließend beantworten kann, muss er die Annahme, es gebe ei­nen bestimmten Schuldigen, durch flankierende Maßnahmen so stark machen, dass sie sich am Ende als die wahrscheinlichste vor Gericht gegen andere, eben­falls nur wahrscheinliche, durchsetzt und Konsequenzen nach sich zieht. Zu die­ser rhetorischen Strategie, die nur ansatzweise gelingt, gehört es bereits, die richti­gen Zeugen auszuwählen sowie ihre Affekte anzustacheln und zielstrebig zu len­ken. Geschickt simuliert Stephens eigene Wut über das Verhalten der vermeint­lich Verantwortlichen und verspricht zugleich denen, die sich ihm anschließen, Linderung der seelischen Qual. Dabei scheut sich der Anwalt auch nicht, man denke an den Computer für Nicole, Bestechungsgeschenke zu machen, um seine Klienten zu beeinflussen, und sogar das eigene persönliche Dilemma, die Drogen­sucht der Tochter, gegenüber Billy Anscl als Argument einzusetzen, um selbst an Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Dergestalt erscheint er, auch wenn er erst nach der Katastrophe in der Stadt auftaucht, als eine Art Rattenfänger, dem es durch die suggestive Kraft der Worte, die hier die Rolle der hypnotisch wirkenden Mu­sik übernehmen, gelingt, eine Gruppe von Menschen zumindest ein Stück weit dorthin zu führen, wohin er sie haben will.

Indem Stephens als Statthalter des Satzes vom zureichenden Grund auftritt, indem er für das eigentlich Grundlose einen Grund juristisch konstruiert, fun­giert er als ein Therapeut oder Priester, der der verstörenden Erfahrung des Sinnentzugs entgegenwirkt. Diesbezüglich lässt sich von dem Versuch einer me­taphysischen Funktionalisierung des Rechts sprechen. Modernes Recht ist positi­ves Recht, es wird gesetzt, es drückt den Willen eines souveränen Gesetzgebers aus und wird nicht mehr aus anerkannten, geheiligten Traditionen abgeleitet. Stephens' Vorgehensweise tendiert demgegenüber darauf, diese Ausdifferenzie­rung von Recht und Metaphysik zurückzunehmen, allerdings nicht, indem er das Recht erneut mit der Metaphysik verklammert, sondern indem er dem Recht selbst, und zwar gerade dem Recht in seiner modernen, abstrakten Form, als ein System eigener Rationalität, eine metaphysische Aufgabe zumutet, die es freilich nicht leisten kann. Dieses Unterfangen ist im Prinzip regressiv und führt zurück auf eine gleichsam archaische Stufe des Denkens. Der Film verdeutlicht das am Beispiel der Frauen Wanda Ot to und Risa Walker. Erstere, die Adoptivmutter eines Indianerjungen, äußert gegenüber Stephens, nachdem dieser sie in Rage versetzt hat, offen ihren Wunsch nach Vergeltung. Der Schuldige solle ins Ge­fängnis gesteckt werden und dort sterben. Letztere gesteht nicht nur freimütig ein, dass sie in ihrer Verzweiflung nicht anders kann, als den Behauptungen des

31 Vgl. Jürgen Habermas, »Überlegungen zum evolurionären Stellenwert des modernen Rechts«, in: J. H., Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a.M. 1976, S. 260-267, hier S. 264.

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Anwalts zu glauben, sondern sie stellt auch einen magischen Zusammenhang her zwischen der Tatsache, dass Nicole während des Unfalls die Jacke von Billys ver­storbener Frau Lydia getragen hat, und dem Ereignis des Unfalls selbst. Auf die unterschwellige Verbindung zwischen den beiden Frauen verweist indirekt Billy Ansei, als er Risa vorwirft, dass sie anstatt eines Anwalts eines Medizinmanns be­dürfe bzw. diesen in dem Anwalt eigentlich schon gefunden habe.

Es gibt im Film drei Personen, die sich den Versuchungen von Stephens wi­dersetzen. Die erste ist Billy Ansei, der das Spiel des Anwalts nicht nur durch­schaut, sondern sich auch über die destruktiven Konsequenzen, die ein Rechts­streit für die Gemeinschaft der Stadtbewohner haben würde, im Klaren ist. Sein Widerstand beruht allerdings, so deutet sich an, selbst auf einer vergangenheits-bezogenen, lebensfeindlichen Einstellung, da er sich durch einen Prozess vor al­lem in seiner eigenen Trauer, in die er sich eingeschlossen hat, gestört fühlt. Ist bereits sein Verhältnis zu Risa Walker von dem Gedenken an die verstorbene Frau überschattet, so signalisiert auch die Tatsache, dass er jeden Morgen bis zum Unfall seinen Kindern auf ihrem Weg zur Schule folgt, eine rückwärts gewandte Haltung, so als könne er die Kinder kaum aus seiner väterlichen Fürsorge ins Le­ben entlassen. Dem entspricht auch sein seltsamer Versprecher gegenüber Nicole, der er sagt, Lydia würde ihr selbst ihre Kleider (die Kleider einer Erwachsenen) gegeben haben, wenn sie aus ihnen herausgewachsen wäre (»<f she'd outgrown it«). Mit dieser Bemerkung versetzt er die tote Frau unbewusst in die Position ei­nes Kindes und zeigt damit an, insofern sich Frau und Kind in seiner Vorstellung überlagern, dass er in seinem Denken und Fühlen auf eine vergangene, intakte Familiensituation fixiert ist.

Der zweite, der dem Anwalt Paroli bietet, ist Abbott Driscoll, der Mann der Busfahrerin, der infolge eines Schlaganfalls gelähmt und sprachbehindert ist. Letzteres mag so aufzufassen sein, dass er, im Unterschied zu Stephens, eine arhe­torische Position verkörpern soll, da der sprachliche Ausdruck von dem, was er sagen will, unwillkürlich zustande kommt, sich also keinem Kalkül verdankt. Dass sich der Sinn seiner in sich zerrissenen Mitteilungen allerdings erst über den Umweg der Übersetzung durch seine Frau einstellt, die ihn wie ein Orakel ver­steht, unterstreicht zugleich, dass die Wahrheit ohne sprachliche Auslegung nicht zugänglich ist und deshalb stets nur in perspektivischer Verzerrung ans Licht ge­langt. Abbott moniert gegenüber Stephens, so erklärt es Dolores, dass nicht zwölf Fremde, sondern nur die, die ihr ganzes Leben gemeinsam mit einem Angeklag­ten in einer Stadt verbracht haben, über seine Schuld oder Unschuld entscheiden können. Damit betont er die Notwendigkeit einer Einbindung des Rechts in die Gemeinschaft und wendet sich gleichzeitig gegen den von dem Anwalt unter­nommenen Versuch, ihr den Formalismus staatlichen Rechts rigoros von außen und damit auch ohne Rücksicht auf die in ihr herrschenden unausgesprochenen Regeln, aufzwängen zu wollen. Soll ein Fall angemessen, das heißt nicht nur in Bezug auf den abstrakten Wortlaut des Gesetzes, sondern auch im Hinblick auf die Motive des Täters beurteilt werden, so müssen dessen konkrete Lebensum­stände, ja muss letztlich die gesamte Lebensgeschichte einer Person, wie sie zurei-

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chend nur von ihresgleichen verstanden werden kann, mit in Betracht gezogen werden.

Schließlich ist es das Mädchen Nicole Burnell, das sich dem Ansinnen des Anwalts entgegenstellt und, nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, zu sei­nem Gegenspieler wird. Am Beispiel Nicoles thematisiert der Film nicht mehr nur den Zustand seelischer Paralyse nach einer traumatischen Erfahrung, in dem die Mehrheit der anderen Figuren gefangen ist, sondern er deutet auch eine Chance an, sich von der Trauer nach dem Verlust von Sinn und Sinnmöglich­keiten zu befreien.

Der Einzelne und das Kollektiv

Die Lähmung, die sie bei dem Unfall erleidet, verbindet Nicole strukturell mit Abbott Driscoll und mit dem lahmen Jungen aus der Geschichte Brownings, der dem Rattenfänger nicht folgen kann. Obwohl eine Behinderung, steht die Läh­mung im Film nicht in erster Linie für Bewegungsunfähigkeit, sondern für das Vermögen des Innehaltens und der Distanzierung von einem scheinbar selbstver­ständlichen Geschehen, dessen Suggestivkraft die anderen erliegen. Wie Abbott und der Lahme lebt Nicole in zwei Welten, derjenigen der Erwachsenen, in der Lüge und Täuschung das Miteinander bestimmen, und derjenigen der Kinder, die durch Arglosigkeit geprägt ist. Wie der Junge in Brownings Ballade folgt sie ein Stück weit den ihr gemachten Versprechungen - zum Beispiel ihrem Vater, der in ihr einen schönen Rockstar sehen möchte - , um sich später an das, was ihr versagt blieb, noch erinnern zu können. Und wie dem orakelhaften Abbott, ge­lingt es ihr, die Wahrheit auszusprechen, jedoch nur in verkappter, selbst schein­hafter Form.

Bereits vor ihrem Unfall war Nicole im Begriff, ihre Kindheit zu verlassen und sexuell zu reifen. Als Hinweis darauf kann die Szene angesehen werden, in der sie heimlich ein Kleid von Billy Ansels Frau Lydia anprobiert. Die heikelste Sequenz des Films zeigt sie, wie sie ihrem Vater, der eine Gitarre trägt, in eine Scheune folgt und sich dort mit ihm zu einem erotischen Stelldichein bei Kerzenlicht nie-derlässt. Durch die Verbindung des Vaters mit einem Musikinstrument, durch die unterlegte Musik, die das Rattenfängermotiv heraufbeschwört, und natürlich durch das gleichzeitige Zitieren aus dem Text Brownings wird hier Sam Burnell deutlich als Rattenfänger gekennzeichnet, als der Vater, der seine eigene Tochter verrührt. Dennoch ist die Szene, übrigens im Unterschied zur eindeutig negativen Darstellung des Inzests in der Romanvorlage," frei von den üblichen Zeichen se­xueller Gewalt. Sie hat eher einen romantischen Charakter. Dadurch entsteht der Eindruck, als werde die inzestuöse Situation, wenn auch gebrochen durch die An­spielungen auf den Rattenfänger, primär aus der Perspektive der Heranwachsen­den wiedergegeben, die sie als einen Moment intimer, zärtlicher Nähe zum Vater

32 Vgl. Banks, Das süße Jenseits (s. Anm. 27), S. 197f.

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erlebt. So gesehen verhält sich die Szene komplementär zur Spinnenbissepisode, die, allerdings in einer anderen emotionalen Lage, die Sicht des Vaters vermittelt.

Nach dem Unfall, mit dem Wissen des Kindes und der Erwachsenen, beginnt Nicole, das falsche Spiel der anderen zu durchschauen. Dies betrifft ihre Eltern, die aus der Verkrüppelung ihrer Tochter finanziellen Gewinn zu ziehen versu­chen, wie auch Mitchell Stephens, der sie als Instrument für seine juristische Strategie vor Gericht benutzen möchte. Dass sie, kaum heimgekehrt, ein Schloss für ihre Zimmertür verlangt, signalisiert bereits Distanz zu den Eltern, insbeson­dere zum Vater, der sie mit der Herrichtung des Zimmers und dem Bau einer rollstuhlgerechten Auffahrt beschwichtigen und erneut für seine Zwecke gefügig machen will. Im Gespräch mit Stephens entschließt sie sich, um sich moralisch nicht verbiegen zu lassen, die Wahrheit zu sagen und lügt dann doch, indem sie wider besseres Wissen die Busfahrerin Dolores für den Unfall verantwortlich macht. Diese Falschaussage ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam.

Für den Rechtsfall bedeutet sie das Ende, noch bevor dieser richtig begonnen hat. Indem Nicole durch ihre Erklärung jeden weiteren juristischen Schritt sinn­los werden lässt, verhindert sie nicht nur zusätzliche schmerzhafte Befragungen, sondern auch, dass die rechtlichen und finanziellen Folgen des Unfalls den Zu­sammenhalt der Stadtbewohner (auch der nicht unmittelbar betroffenen) zerstö­ren, dass gegenseitige SchuMvorwürfe, Ne'd und Missgunst wegen etwaiger Schadensersatzzahlungen das Sozialgefüge unwiederbringlich vernichten. Faktisch rettet sie also mit ihrer Tat die Gemeinschaft, indem sie sie vor einer zweiten Traumatisierung, die die öffentliche Aufarbeitung des Geschehens unweigerlich bedeutet hätte, bewahrt.

Die weiteren psychischen Folgen für die Gemeinschaft sind nicht leicht abzu­schätzen. Mit einem gewissen Recht könnte man sagen, dass Nicole eine kollekti­ve Verleugnung des Traumas erzwingt, dessen Realität auf ihre Veranlassung hin in eine Zone der Sprachlosigkeit verbannt wird. Dies bedeutet aber auch, da der Unfall nicht mehr, zumindest öffentlich nicht mehr besprochen werden und also nicht mehr systematisch in einen kausalen, rechtlichen oder wie immer auch ge­arteten symbolischen Kontext eingeordnet werden kann, dass er in seiner schieren Faktizität angenommen werden muss. In der Verdrängung des Traumas bestünde somit paradoxerweise gerade ein Akzeptieren der Negativität und der Kontingenz des Geschehenen, in letzter Hinsicht eine Anerkennung der Realität des Todes, die jedoch selbst lebensdienliche Folgen zeitigt. Denn, so wie Nicole auf das Schweigen ihres Vaters, weil sie ihn in der Hand hat, in der Zukunft rechnen kann, so ist die Verdrängung kein einmaliger Akt, sondern verlangt einen fort­laufenden Energieaufwand, der die Gemeinschaft dazu zwingt, sich auf das zu be­sinnen, was sie der Kontingenz an konstruktiven sozialen Strukturen, an gegen­seitigen Bindungen und Verpflichtungen, entgegenstellen kann.

Auffallend sind die Unterschiede zwischen dem Film und dem Roman, der das Gewicht am Ende auf die Busfahrerin legt, die ja immerhin von Nicole zur Schuldigen erklärt wird. Der Roman schließt mit einem Demolition Derby, ei­nem Autorennen mit Schrottwagen, bei dem ein Fahrzeug, das früher Dolores

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gehört hatte, stellvertretend für diese selbst zunächst von anderen in aggressiver Weise bedrängt und beschädigt wird, dann aber, nachdem es sich gegen seine Gegner behauptet hat, von den Zuschauern, als Zeichen der Versöhnung, frene­tisch gefeiert wird. Im Buch werden also die Aggressionen erst von Nicole auf Dolores gelenkt, um dann an einem weiteren Ersatzobjekt abreagiert zu werden, so dass sich die Gemeinschaft von ihnen befreien kann und sich zuletzt sogar in der Lage sieht, den stellvertretend Bestraften wieder gnädig in sich aufzunehmen. Der Film schenkt diesem archaischen Modell einer symbolischen Bestrafung und anschließenden Reintegration des Sündenbocks, das letztlich regressiv ist, keine Beachtung. Er betont zwar auch, wie der Roman, die abschließende Restabilisie-rung des Kollektivs durch die herausragende Tat eines Individuums, hebt dabei aber vor allem dessen subjektive Befindlichkeit hervor, wobei er im übrigen doch insofern an seine Vorlage anknüpft, als sich auch schon im Roman Dolores, wie dann im Film Nicole, trotz des finalen Versöhnungsrituals, als eine Ausgeschlos­sene fühlt.

Welche Bedeutung hat also die Lüge für Nicole selbst? Unmittelbar im An-schluss an ihre Aussage, während die Kamera das Gesicht und vor allem den Mund ihres Vaters ins Bild rückt, hören wir ihre Stimme aus dem Off, einige Verse vortragend, die der Regisseur im Stil eines Pastiches zur Ballade Brownings hinzu gedichtet hat: »Warum ich log, wusst' er allein, doch könnt' die Lüge die Wahrheit befrein. Die Lippen, auf denen sein Lied gethront, waren so kalt als wie ein Wintermond« (And why I lied he only knew but from my lie this did come true. Those Ups from which he drew his tune were frozen as a winter moon). Die Platzierung dieser Zeilen lässt zunächst den Vater als den Rattenfänger erschei­nen, gegen dessen verführerisches Lied sich die Tochter mit ihrer Lüge zu be­haupten sucht. Dabei verweist die Kälte seiner Lippen zum einen auf den strategi­schen, kaltblütigen Einsatz suggestiver Mittel, die er, wie der Rattenfänger sein Lied, verwendet, um sich das Vertrauen der Tochter zu erschleichen. Zum ande­ren korrespondiert sie mit jener Verwinterlichung, die der Film als Ausdruck ei­ner kalt gewordenen Welt benutzt, aus der die Wärme ursprünglicher menschli­cher Nähe und die Fähigkeit sprachlosen Verstehens weithin gewichen sind. Al­lerdings wird auch deutlich, dass sich Nicole, indem sie lügt, auf eine raffinierte Weise an ihrem Vater rächt, von dem sie ja weiß, dass er gegen ihre Lüge nichts einwenden wird, weil er Angst hat, seine eigenen Verfehlungen könnten sonst zur Sprache kommen. Damit gerät auch Nicole selbst in die Rolle des manipulieren­den Rattenfängers, der sich, wie sie es zuvor Billy Ansels Sohn erklärt hatte, nur deshalb nicht den versprochenen Lohn von den Eltern erzaubert hatte, weil er wütend über sie war und sie bestrafen wollte.

Diese Doppeldeutigkeit entspricht im übrigen der paradoxen Aussage des scheinbaren Zitats, demzufolge die Lüge in der Lage ist, die Wahrheit zu befrei­en. Denn in erkenntnistheoretischer Hinsicht, so legt es der Film nahe, bedeutet der Übergang ins Reich der Erwachsenen den Eintritt in eine Zone allumfassen-

33 Vgl. Banks, Das süße Jenseits (s. Anm. 27), S. 279-284.

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der Rhetorizität, die von keiner Position absoluten Wissens mehr gestützt wird. In dieser Sphäre kann die Wahrheit, weil sie grundsätzlich sprachlich vermittelt ist, nicht mehr als objektive Wahrheit, als Übereinstimmung von Begriff und Wirklichkeit, aufgefasst werden, sondern muss, da jede Aussage immer schon ein Meinen und eine perspektivische Verkürzung impliziert, als ein besonderer Effekt angesehen werden, der erst auf dem Wege zielgerichteten Redehandelns zustande kommt. Dies schließt die Möglichkeit ein, dass unter Umständen sogar die Lüge eine wahrheitsdienliche Funktion übernimmt, so wie umgekehrt natürlich auch die Wahrheit, wenn man sie nur geschickt einsetzt, eine Form der Lüge sein kann. Es kommt auf die Kontextualisierung einer Aussage bzw. auf die ihr fol­gende Anschlusshandlung an. So sagt Nicole die Wahrheit über das, was richtig ist für die Gemeinschaft, so schützt sie die Gemeinschaft, indem sie sich einer Lüge bedient. Diese moralische Handlung ist bemerkenswert, insofern sie gerade nicht aus der Befolgung einer moralischen Norm hervorgeht, sondern im Bruch mit dem erfolgt, was die anderen in moralischer Hinsicht erwarten. Aber gerade dadurch, dass sich Nicole über die bestehenden Regeln hinwegsetzt, handelt sie frei und in Übereinstimmung mit ihren Gefühlen, und das heißt letztlich: aus der Einheit ihrer Person heraus. Erst durch diese wahrhaft moralische oder besser ge­sagt, ethische Handlung, die selbst nicht moralkonform ist, findet sie zu sich selbst und erhrlt einen Tei1 ihrer Würde rur ick , die die anderen ihr genommen hatten. Erst indem sie sich sowohl von den Zumutungen der Gemeinschaft, wie sie die Eltern an sie herangetragen hatten, als auch von den Forderungen der Ge­sellschaft, als deren Agent der Anwalt aufgetreten war, distanziert, behauptet sie sich als individuelle Person und gewinnt eine Position relativer Autonomie ge­genüber beiden Seiten. Am Ende kommt es folglich nicht zu einer Versöhnung, geschweige denn zu einer Einlösung dessen, was die Gemeinschaft dem Individu­um an Geborgenheit und was ihm die Gesellschaft an Machbarkeit versprochen hatten. Allenfalls besteht noch die Möglichkeit, dass sich der Einzelne das Verlo­rene, auch seine verlorenen Illusionen, subjektiv, in melancholischer Einstellung vergegenwärtigt.

Darauf mag die Schlusssequenz des Films verweisen, in der Nicole, zwei Jahre nach den Ereignissen, eine Art Resümee zieht. Während sie in Worten, die im Roman Dolores ausspricht, sämtliche an dem Geschehen Beteiligten - die Toten wie die Lebenden - in einer Stadt vereint, »deren Menschen schon im süßen Jen­seits leben« (a town of people living in the sweet hereafter), sehen wir noch ein­mal die Protagonisten des Films. Dolores Driscoll hat inzwischen andernorts eine Stelle als Busfahrerin angenommen. Mitchell Stephens trauert immer noch um seine verlorene Tochter. Billy Ansei steht vor dem ausgebrannten Schulbus, in dem seine und die anderen Kinder starben. In einer atemberaubenden Überblen­dung lässt der Film das Bild des von einem Kran wie schwebend nach oben gezo­genen Buswracks in das eines sich drehenden Karussells übergehen, so dass sich die Sphären des Todes und des Lebens nahtlos vermischen. Das Karussell, vor dem wir die noch unversehrte Nicole sehen, evoziert noch einmal die Erinnerung an die Kindheit und bringt doch zugleich, auf das Rad der Zeit anspielend, das

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nie stillsteht, das Ende der Kindheit in Erinnerung. Die letzte Szene des Films zeigt Nicole in einer, nunmehr problematisch oder sinnlos gewordenen, Ein­übung in die Mutterrolle, wie sie die Kinder Billy Ansels zu Bett bringt. Dann geht sie durch einen Gang zum Fenster, vor dem kurz ein Licht aufscheint. Es ist Nicoles Bewusstsein, dass diese unterschiedlichen Bilder und Zeiten vergegen­wärtigt, das sie als gleichzeitige und gleichwertige in sich versammelt und auf­hebt. Diese Fähigkeit, dem Vergangenen, ob als verschwundene Realität oder als nie wirklich gewordene Möglichkeit, gegenwärtigen gedanklichen Raum zu ge­ben, bestimmt ihre Vorstellung eines Jenseits, das bereits jetzt ins Diesseits hi­neinreicht. Es ist ein Jenseits ohne Transzendenz, ein ausschließlich subjektiver Ort, an dem die Trauer über den Verlust neben der Verheißung auf ein ganz neues und unbekanntes Leben steht, wie es der Rattenfänger versprochen hatte, ein Ort der jedoch keine heilsgeschichtliche oder utopische Bedeutung mehr hat.

Die Sage vom Rattenfänger

Abschließend sind einige Bemerkungen angebracht über die Sage vom Rattenfän­ger, die der Film leitmotivisch zu dem dargestellten Geschehen in Analogie setzt. Die Sage handelt bekanntlich, um noch einmal die wesentlichen Elemente zu be­nennen, von der Stadt Hameln, die eines Tages von einer Rattenplage heimge­sucht wird. Es taucht ein Fremder auf, der die Ratten für einen vereinbarten Lohn mit seinem Flötenspiel aus der Stadt lockt und in der Weser ertränkt. Als ihm anschließend sein Honorar vorenthalten wird, rächt er sich an den Bürgern der Stadt, indem er ihre Kinder, »im Ganzen hundert und dreißig« , heißt es in der Version der Brüder Grimm, in einen Berg hinausführt, wo er mit ihnen für immer verschwindet. Sucht man diese Geschichte, unabhängig von den histori­schen Bezügen, die sie auch hat, auf ihren semantischen Kern zu reduzieren, so könnte man die Handlungsfolge abstrakt und stichwortartig folgendermaßen strukturieren: 1. Einbruch der unkontrollierbaren Natur (in Gestalt der Ratten) in die kulturelle und soziale Ordnung, Gefahr der Destabilisierung dieser Ord­nung, 2. Auftreten eines Grenzgängers zwischen Natur und Kultur, der mit magi­schen Kräften ausgestattet ist, 3. Verdrängung der Natur durch Rückführung in einen kulturjenseitigen Raum, 4. moralisches Versagen der Gemeinschaft, die an diesen Verdrängungsakt nicht erinnert werden will, 5. Bestrafung der Gemein­schaft durch den Grenzgänger, erhebliche Schwächung des Sozialgefüges, das durch die Wegnahme der Kinder in seinem Fortbestand gefährdet ist. Die Sage ist irritierend und wohl auch so faszinierend wegen des geheimnisvollen Ver-schwindens der Kinder, das nicht weiter aufgelöst wird. Gleichwohl entfaltet sie eine kausale Folge der Ereignisse vom Anfangs- bis zum Endzustand und kann

34 »Die Kinder zu Hameln«, Deutsche Sagen. Herausgegehen von den Brüdern Grimm, Ausgabe auf der Grundlage der ersten Auflage, ediert und kommentiert von Heinz Rölleke. Frankfurt a.M. 1994, S. 282 (Nr. 244).

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somit als eine Warngeschichte gelesen werden, die das Kollektiv an seine morali­schen Pflichten, insbesondere an den Grundsatz der Wechselseitigkeit, erinnert. Dabei spielt der prekäre Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter, und insofern das Ende der Kindheit, das jedes Kollektiv, welches fortbestehen will, fortlaufend zu bewältigen hat, eine zentrale Rolle, da dieser Übergang mit der Aneignung bzw. Weitergabe der Handlungsnormen einer Gruppe einhergeht. So gesehen verdeutlicht die Sage auf drastische Weise, was eine Störung im Bereich des moralischen Empfindens für die Existenz einer Gemeinschaft bedeutet.

Robert Browning fügt in seiner Ballade The pied piper of Hamelin dem Sujet vor allem zwei Dimensionen hinzu: einerseits eine religiöse, indem er das Land, in das der Flötenspieler die Kinder entführt, mit paradiesischen Zügen ausstattet (»a joyous land [...] where [...] everything was stränge and new«), andererseits eine kunsttheoretische, insofern der Rattenfänger im Text auch als Künstler aufgefasst werden kann, der der Gemeinschaft den Zugang zu einer transzendenten Wirk­lichkeit eröffnet.

Egoyan lässt im Film auszugsweise aus Brownings Gedicht zitieren, so dass Teile der Handlung gewisse Aspekte der Sage bzw. des Textes spiegeln. Dabei fällt einiges weg, wie etwa die Rattenplage, anderes wird hinzugefügt, wie die Verse über die Lüge, wieder anderes wird verändert. Während die Macht des Rrtte^ängers ;n der Sage rllem ruf der Wirkung d^r von ihm produzieren Klün-ge beruht, wird sie im Film mit der Sprache in Verbindung gebracht. Dies ent­spricht einer alten Auffassung von der Rhetorik, derzufolge diese ihre den Hörer überwältigende Kraft durch eine der Musik analoge Rhythmisierung und Stilisie­rung der Sprache erhält. Besonders hervorstechend ist, dass die Figur des Ratten­fängers im Film auf verschiedene Personen verteilt wird. So erscheinen nachein­ander der Anwalt Stephens, der Vater Sam Burneil, die Tochter Nicole als Rat­tenfänger, und selbst die vertrauensselige Busfahrerin Dolores, kann als Ratten­fänger angesehen werden, da sie die ihr anvertrauten Kinder einsammelt und im See ertränkt. Indem Opfer und Täter, Verführer und Verführte, die Rollen wech­seln, verschwimmen auch die Grenzen zwischen gut und böse, richtig und falsch, von deren notwendiger Einhaltung die Sage gekündet hatte und die auch Brow­ning in seiner Ballade noch im Blick hat. Durch den Rekurs auf die Sage wird das Geschehen mythisch überhöht, aber der Mythos stiftet letztlich keine Einheit mehr, sondern bringt den Verlust der Einheit zum Ausdruck.

35 Vgl. Robert Browning, »The pied piper of Hamelin. A child's story«, The complete works of Robert Browning, Bd. 3, Athens, Ohio 1971, S. 249-259.

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VI LIEBE ODER EHE?

DAS PROBLEM DER PARTNERWAHL IN BIRTH

Das Ideal der romantischen, leidenschaftlichen Liebe bildet heutzutage die weit­hin anerkannte Norm intimer Zweierbeziehungen. Man geht davon aus, dass die Liebe in einem spontanen Gefühl gründet, das die wechselseitige interesselose Anerkennung der Liebespartner einschließt. Wesentliche Merkmale der romanti­schen Liebe sind, dass sie zufällig, ja schicksalhaft zustande kommt und dass sie sich in Bezug auf nur einen einzigen Menschen ereignet. Zur Semantik der »gro­ßen Liebe« gehört auch die Möglichkeit, dass der Liebende von seinem Gefühl für den anderen überwältigt wird und dass er sich von ihm ohne angebbare ratio­nale Gründe, aber auch ohne Rücksicht auf die Einwände Dritter und womöglich sogar gegen den eigenen Vorteil angezogen fühlt. Die Ursprünge dieser Liebes­konzeption reichen historisch weit zurück; ihre allgemeine Verbreitung ist jedoch jüngeren Datums und eng mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft ver­bunden, die die Individuen untereinander gleichstellt und ihnen umfassende Freiheiten einräumt.

Diese historische Einschränkung gilt auch für die Vorstellung, dass die Liebe in der Ehe aufgehen soll. Es war die Romantik, die erstmals die Einheit von Liebe und Ehe postulierte. Während man bei der arrangierten Ehe, die als Funktions­gemeinschaft im Hinblick auf ständische oder ökonomische Gesichtspunkte ge­schlossen wurde, erwartete, dass sich die Zuneigung der Eheleute nachträglich einstellen würde, wird diese im Falle der modernen Liebesehe vorausgesetzt. Aus­schlaggebend für die Wahl eines Partners sollen allein persönliche emotionale Gründe sein, die ihrerseits ausschließlich in der Einzigartigkeit des anderen ver­ankert sind.

Gleichwohl gilt die Ehe, und dies seit jeher, auch als Gegensatz zur Liebe. Schon ihre, zumindest potenzielle, auf Alltagstauglichkeit angelegte Langfristig­keit widerspricht der flüchtigen Intensität einer romantischen Liebesaffäre. Zu­dem ist die Ehe als eine rechtlich abgesicherte Institution eingebunden in soziale und ökonomische Zusammenhänge, die über die gegenseitige Bestätigung der Individualität, wie sie die Idee der Liebesgemeinschaft beschwört, hinausgehen. So dient die Ehe natürlich vor allem dem Schutz und der Erziehung der Kinder und damit der gesellschaftlichen Reproduktion, und sie spielt dergestalt, als Basis genealogischer Kontinuität, zugleich eine zentrale Rolle im Hinblick auf die Er­haltung und Vermehrung des familiären Kapitals, was auch bei der Frage der Eheschließung nicht ohne Bedeutung sein dürfte. Schließlich bleibt das Verhält­nis der Ehepartner nicht unberührt von den gesamtgesellschaftlichen Machtver­hältnissen. In einer überwiegend patriarchalen Gesellschaft wird auch die Ehe, als deren Keimzelle, patriarchale Züge tragen - im Gegensatz zur emphatischen Vor­stellung vollkommener Gleichheit unter den Liebenden.

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9 6 LIEBE ODER EHE? DAS PROBLEM DER PARTNERWAHL IN B1RTH

Zentrales Strukturprinzip von Jonathan Glazers Film Birth (USA 2004) ist die Dichotomie zwischen »Liebhaber« und »Ehemann« bzw. zwischen »Geliebter» und »Ehefrau«. Der Film verbindet realistische mit überrealen Elementen und greift dabei auf Strukturen des Melodramas und des Mystery Thrillers zurück. Durch diese eigentümliche Mischung gelingt es ihm nicht nur, den altbekannten und althergebrachten Gegensatz von Liebe und Ehe nochmals auf ungewöhnliche und interessante Weise zu erzählen, sondern auch, ihn auf die ihm zugrunde liegenden aktuellen Widersprüche der Gesellschaft hin durchschaubar zu ma­chen.

Die Hauptelemente der Filmerzählung

Die Prämissen der Fümhandlung sind einerseits haarsträubend unwahrscheinlich, so dass dem Zuschauer einiges an hermeneutischem Kredit abverlangt wird. An­dererseits wird das Geschehen doch stringent und als kausale Folge von Ereignis­sen so wiedergegeben, dass die einzelnen Handlungsschritte, akzeptiert man ein­mal die Voraussetzungen des Ganzen, ohne Schwierigkeiten nachvollziehbar sind. Eine Reihe von establishing shots erleichtern dem Zuschauer nach einem Orts­wechsel jeweils die Orientie-ung. D h Anzihl der Figuren ist luf eine kleine Gruppe begrenzt, die Handlung überschaubar. Sie folgt einem klaren Span-nungsbogen, dem ein bewährtes Erzählmuster zugrunde liegt: eine anfangs unge­störte Situation gerät durch ein unvorhergesehenes Ereignis aus den Fugen. Es kommt zu einer Auseinandersetzung divergierender Kräfte. Am Ende ist die Krise behoben und die anfängliche Ordnung wiederhergestellt.

Die Exposition ist zweigeteilt. Sie besteht zunächst aus einem Prolog, der wichtige Informationen über die Vorgeschichte der Haupthandlung enthält. In der eigentlichen Einleitung erfahren wir dann, nach einem Zeitsprung von zehn Jahren, dass die Protagonistin Anna nach zehnjähriger Trauer um ihren Mann Sean im Begriff ist, sich erneut zu verheiraten. Man lernt ihren verlobten Joseph sowie ihre Familie kennen, deren Oberhaupt die Mutter Eleanor ist und zu der ihre Schwester Laura, deren Mann Bob sowie eine enge Freundin der Mutter, Mrs. Hill, gehören. Mit dem Motiv der vergrabenen Briefe enthält dieser Teil des Films ein Element, dessen Bedeutung zunächst noch unklar bleibt, das aber im weiteren Verlauf der Geschichte entscheidend zur Lösung des Konflikts beitragen wird. Die Einleitungssequenz endet abrupt mit dem Auftauchen des Jungen, der, wie der Verstorbene, Sean heißt. Seine Behauptung, der wiedergeborene Ehe­mann Annas zu sein und seine Warnung an Anna, Joseph zu heiraten, stellen die Verhältnisse der Ausgangssituation auf den Kopf und leiten die Phase der Hand-lungsverwicklung ein. Diese Phase lässt sich folglich als eine Art Counter Setup begreifen. Sie zeigt einerseits, wie Anna mit ihren Gefühlen kämpft, in denen sich Zweifel und Wunsch gegenüberstehen, und wie andererseits ihr Umfeld zuneh­mend irritiert auf ihre Verhalten reagiert. Die zweite Sequenz schließt mit dem Kammerkonzert. Als Joseph die Fassung verliert und sich vorläufig von Anna

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trennt, ist sie bereit, der Behauptung des Jungen Glauben zu schenken. Die Auf­lösung der Verwirrungen wird in der dritten längeren Sequenz durch das Ein­greifen Claras, die das Geheimnis der Briefe lüftet, eingeleitet. Während Anna sich mehr und mehr ihrem neuen Handlungsziel, einem Leben mit Sean, zuwen­det, setzt Claras Gespräch mit Sean bei diesem ein Umdenken in Gang, das schließlich indirekt auch bei Anna einen Gesinnungswandel herbeiführen wird. Das Finale der Handlung beginnt in dem Moment, da Sean, in einem Zustand der Verwirrung, Clara überstürzt verlässt, und gipfelt in seiner überraschenden Erklärung gegenüber Anna, dass er doch nicht der wiedergeborene Ehemann sei, woraufhin sie einen reumütigen Kniefall vor ihrem Verlobten vollzieht. Der Epi­log zeigt schließlich am Beispiel der beiden Fotoaufnahmen, wie die beiden Hauptakteure jeweils symbolisch an ihren angestammten Platz in der erzählten Ordnung des Films zurückversetzt werden. Er deutet aber auch an, dass die er­reichte Lösung brüchig ist und dass die Konflikte, die zum Ausbruch der Krise geführt hatten, unterschwellig noch weiter existieren.

Besonderes Gewicht legt der Film auf die Zeichnung des sozialen Milieus, in dem sich die Ereignisse abspielen. Annas Familie gehört zur New Yorker Upper-class. Man erfährt nicht viel über ihre berufliche Tätigkeit und über die Beschäf­tigungen, denen die anderen Mitglieder ihrer Familie nachgehen, aber es ist klar, und an einer Stelle wird es auch ausdrücklich (von Seans Vater) gesagt, dass hier ausreichend Geld vorhanden ist. Dabei darf man vermuten, dass das Vermögen der Familie nicht nur erarbeitet, sondern zu einem großen Teil auch ererbt ist. Die Familie lebt in einem luxuriösen Apartment in einer teuren Wohngegend der Stadt. Das Interieur mit seinen kostbaren Vasen, Tapeten und Gemälden ver­mittelt Gediegenheit und einen erlesenen Geschmack, der auf das kulturelle Ka­pital seiner Bewohner verweist. Es handelt sich um eine geschlossene Welt, die sich, von einem Pförtner bewacht, nach außen bzw. im Hinblick auf die soziale Hierarchie nach unten deutlich abgrenzt. In diesem statischen Milieu, das etwas Klaustrophobisches an sich hat, vertritt Annas Mutter Eleanor die Stelle des ab­wesenden, offensichtlich verstorbenen Vaters. Das Abweisende und Abgeschlos­sene der Wohnverhältnisse entspricht der Strenge und Diszipliniertheit, mit der sie in ihrem Kreis regiert und ein vernunftgeleitetes Verhalten einklagt, das durch Selbstbeherrschung und Triebkontrolle bestimmt wird. Von zentraler Bedeutung ist die Tatsache, dass das Kind Sean im Unterschied zu Anna und ihrer Familie aus einer niederen Schicht stammt. Es wächst in einfachen Verhältnissen bei sei­ner alleinerziehenden Mutter auf, während sich der Vater als Hauslehrer verdingt. Neben Sean, seinen Eltern und dem Pförtner Jim sind es im Film allein noch Clara und ihr Mann Clifford, der ehemals beste Freund und Trauzeuge des ver­storbenen Ehemannes von Anna, die nicht der feinen Gesellschaft angehören. Dies deutet indirekt auf eine »soziale Verwandtschaft« zwischen dem Jungen und dem Verstorbenen hin, dessen Reinkarnation er zu sein behauptet. Dass dies kei­nesfalls unwichtig ist, wird im Folgenden noch zu erläutern sein.

Der Status des Jungen ist nicht leicht festzulegen. Mit ihm gelangt ein Ele­ment des Wunderbaren in die ansonsten so realistische Handlung. Sein Auftreten

Bayerische Staatsbibliothek

München

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scheint auf den ersten Blick die ontologische Ordnung des Films zu sprengen. Selbst wenn man ihn nicht für die Wiedergeburt des toten Sean hält, als welche er in der Lage wäre, die Naturgesetze außer Kraft zu setzen, so besitzt er doch ge­genüber den anderen Figuren ein privilegiertes Wissen, dessen Herkunft nicht vollständig geklärt wird. Der Film spielt mit dieser Ambivalenz, indem er zeitwei­se sowohl die Perspektive der Hauptfigur Anna, die in dem Kind ihren wiederge­borenen Mann sehen möchte, als auch die der anderen, die bloß einen kleinen Jungen vor sich zu haben glauben, gelten lässt. Der Junge überschreitet durch sein Handeln aber nicht nur die Grenze zwischen dem, was ontologisch möglich und unmöglich ist, sondern zugleich auch die zwischen den sozialen Klassen, in­dem er wie selbstverständlich in die Privatsphäre fremder Leute, die einer höhe­ren sozialen Schicht angehören, eindringt. Es ist genau dieser Zusammenhang, auf die es dem Film ankommt. Denn während das unerklärliche, logisch nicht fassbare Verhalten des Kindes auf sehr sinnfällige Weise die Irrationalität der Gefühle verdeutlicht, lässt die Reaktion der anderen erkennen, dass diese Gefühle in ihrer Unkontrollierbarkeit eine Bedrohung der sozialen Ordnung darstellen. Anders als etwa Swimming Pool handelt der Film Birth nicht überwiegend von innerpsychischen Vorgängen, sondern von dem Konflikt zwischen der Macht der Wünsche mit der äußeren, sozialen Realität.

Die Rückkehr des romantischen Liebesobjekts

Der Prolog des Films hat die Funktion, den Zuschauer auf das unerhörte Ereignis vorzubereiten und zudem einige wichtige Motive einzuführen. Er ist in sich drei­geteilt. Wir hören zunächst Sean, den Ehemann Annas, wie er sich als »Mann der Wissenschaft« (man of science) bezeichnet und launisch über die Frage der Wie­dergeburt auslässt. Damit ist gleich zu Anfang das zentrale Thema des Films an­gesprochen und ironisiert. In der zweiten Sequenz sehen wir in einer winterlichen Parklandschaft einen Jogger, den wir aufgrund einer vorausgehenden Bemerkung als den Redner anzusehen haben. Ein Rudel streunender Hunde kreuzt überra­schend seinen Weg. Dieses Motiv wird später in abgewandelter Form wieder auf­gegriffen, wenn während der Befragung des Jungen durch Bob plötzlich eine Kat­ze über den Tisch läuft. Das Motiv hat dann dort die Funktion, indem es auf die Anfangsszene zurückverweist, die Möglichkeit der Reinkarnation zu plausibilisie-ren. Als nächstes sieht man, wie der Jogger unter einer Brücke anhält und zu­sammenbricht. Die Kamera verweilt für einen kurzen Moment auf sein am Bo­den liegendes Gesicht, zieht sich dann zurück und zeigt einige Sekunden lang die Brücke von außen. Das Bild des Sterbenden im Tunnel evoziert sowohl den Ge­danken an einen Embryo im Mutterleib, wodurch das Sterben und das Gebo­renwerden bildlich gleichgesetzt werden, wie auch an jenen mythischen Tunnel, von dem behauptet wird, dass durch ihn die Seele entweicht, wenn sie den Kör­per eines Sterbenden verlässt. Im dritten Teil des Prologs sieht man, wie ein Neu­geborenes aus dem Wasser gehoben wird. Offensichtlich soll die Möglichkeit ei-

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ner Seelenwanderung von dem Körper des Joggers in den des Kindes suggeriert werden. Dazu passt auch, dass die Musik des Prologs mit ihrem rhythmischen, im Laufe des Films immer wieder eingesetzten Flötenmotiv insgesamt heiter ist und eher an eine winterliche Kutschfahrt denken lässt, als dass sie eine Tragik des Geschehens andeuten würde.

Die nächste Sequenz zeigt Anna nach zehn Jahren auf einem verschneiten Friedhof. Man ist auf den ersten Blick geneigt, trotz der vorausgehenden Ein­blendung, zu glauben, dass sie sich auf der Beerdigung des Mannes befindet, des­sen Sterben soeben gezeigt worden war. Ein kurzer Blick auf eine Trauergesell­schaft verstärkt diesen Trugschluss. Er passt zu dem Eindruck, dass Anna, obwohl der Tod ihres Mannes schon so lange zurückliegt, immer noch trauert und sich in ihrem Schmerz sogar kurz am Grabstein festhalten muss. Später wird sie gegen­über Clirford und Clara eingestehen, dass sie es nicht schafft, über Sean hinweg­zukommen (»I can't get him out of my System«), Am Ende der Friedhofsszene si­gnalisiert sie jedoch Zustimmung zu ihrem neuen Verlobten Joseph, und zwar mit einem »Okay«, wie es zuvor auch schon der Verstorbene, als allererstes Wort des Films, ausgesprochen hatte.

Die Verlobungsfeier, auf der Joseph Annas Einwilligung in die Hochzeit ver­kündet, macht das Hochzeitsversprechen öffentlich und damit verbindlich. Wa­rum ist die Frage der Wiederverheiratung so heikel? Aus Sicht der Familie wird durch die neue Ehe der Tochter das Fortbestehen der Familie sichergestellt. Da­bei ist von besonderer Bedeutung, dass zur Familie kein Sohn gehört, also der familiäre Besitz nach dem Tod der Mutter allein auf die Töchter übergeht. Es sind die Schwiegersöhne, die in diesem Falle die Nachfolge des Vaters antreten müssen, was erhöhte Anforderungen an die Ehekandidaten stellt. In subjektiver Hinsicht bedeutet die Heirat für die Witwe, dass sie ihre erste Ehe neu bewerten muss. Wenn man unterstellt, und dafür lassen sich eindeutige Hinweise finden, dass Annas Beziehung zu ihrem Mann in ihren Augen den Charakter einer ro­mantischen, übersteigerten Liebe hatte, dann stellt die Wiederverheiratung eine Relativierung dieser Beziehung dar, da sie dem ersten Mann, der ja faktisch aus­getauscht wird, den Nimbus der Einzigartigkeit nimmt.

Dass sich Anna nur schwer zu einer neuen Bindung überwinden kann, das deutet schon Josephs Erzählung von seiner langwierigen und hartnäckigen Brautwerbung an, bei der die Umworbene nur zögerlich und erst unter mehrma­ligem Bitten um Aufschub seinem Drängen nachgegeben hatte. Das Motiv des Aufschubs wird uns noch mehrmals im Film begegnen. An dieser Stelle ist be­zeichnend, dass das Kind Sean genau in dem Augenblick auftaucht, da mit der Bekanntgabe des Hochzeitsmonats die geplante Hochzeit unabwendbar und so­mit ein endloses Hinauszögern des Termins unmöglich wird. Dass Anna nicht

36 Vgl. zu diesem Thema als Sujet der Hollywood-Komödie der dreißiger und vierziger Jahre Stan­ley Cavells Buch Pursuits of happiness. The Hollywood comedy of remarriage, Cambridge, Mass., und London 1981.

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selbst, sondern eine Freundin der Mutter die Neuigkeit auf deren Geburtstagsfei­er verkündet, signalisiert bereits eine gewisse Fremdbestimmung, auf die die Be­troffene denn auch mit deutlichen Zeichen des Unbehagens reagiert. Die krisen­hafte Verschärfung des Konflikts zwischen den eigenen, souveränen Bedürfnissen Annas und dem, was die Vernunft und die Familie fordern, wird durch das über­raschende Erscheinen des Jungen manifest. Dabei verdeutlicht die Tatsache, dass er unaufgefordert in die Wohnung ihm wildfremder Menschen eindringt und dort als ein völlig Unbekannter mit anscheinend unumstößlicher Selbstsicherheit und Ernsthaftigkeit privateste Dinge anspricht, dass sich Annas Gefühl spontan, gleichsam gegen die innere Zensur, ja gegen das Realitätsempfinden ihrer Person verselbstständigt hat. Der als nicht legitim angesehene Wunsch wird, um den­noch zugelassen bzw. um im Rahmen der Fiktion sichtbar gemacht zu werden, nach außen verlagert und tritt dem Subjekt, aber auch seinen Angehörigen, als selbständig handelnde Person gegenüber. Solchermaßen stellt das Kind die nicht bewältigte Trauer der Protagonistin, das verlorene, innere Liebesobjekt, dar, von dem sie sich nicht trennen kann. In ihm nimmt der anhaltende Wunsch nach ei­ner Rückkehr des Toten leibhaftige Gestalt an.

Folglich objektiviert sich in dem, was der Junge sagt, Annas romantische Lie­beskonzeption und damit jenes Idealbild eines Geliebten, das für sie der Verstor­bene verkörperte. Li dieser Hinsicht ist aufscHutsrexh. d.iss der kleine Sear im Gespräch mit Annas Schwager äußert, Anna und er hätten sich einst, in seinem früheren Leben, am Strand kennen gelernt. Der Strand als frei zugänglicher Na­turraum steht hier im Gegensatz zur privaten oder halböffentlichen Party, dem Begegnungsort von Anna und Joseph. So wie eine Party sozial vermitteltes Ken­nenlernen ermöglicht, indem sie eine gewisse Selektion der Gäste voraussetzt, so beharrt Anna in Bezug auf Joseph auf einer allmählichen und fortschreitenden Annäherung als einzig gangbarem Weg, um eine verlässliche Liebesbeziehung aufzubauen. Demgegenüber hat eine zufällige, ungeplante Begegnung am Anfang ihrer Liebe zu dem erwachsenen Sean gestanden und, so darf man annehmen, ein intensives gemeinsames Naturgefühl die Intimität ihrer Beziehung begründet. Den romantischen Gharakter dieser Liaison unterstreicht auch die Bemerkung des Jungen, dass er und Anna dreißigmal geheiratet hätten. »Dreißig Kirchen in dreißig Tagen« (Thirty churches in thirty days). Im Lichte dieser Aussage er­scheint die Hochzeit, wie in einer kitschigen Romanze, ausschließlich als Schluss-und Höhepunkt einer leidenschaftlichen Affäre, nicht aber als Anfang einer lang anhaltenden Lebensgemeinschaft. Die dreißigfache Wiederholung zielt auf ein Auskosten und Ausdehnen dieses Höhepunkts und lässt sich auch als Weigerung verstehen, den Schritt in die Alltagsrealität der Ehe mit ihren Verpflichtungen, gegenseitigen Einschränkungen und Kompromissen zu tun. Dem entspricht schließlich auch die merkwürdige Äußerung des Kindes über Lauras Kinderlosig­keit — »Ich dachte nicht, dass sie ein Baby bekommen kann« (I didn't think she could have a baby) — sowie die Tatsache, dass Anna und der Verstorbene keine eigene Wohnung hatten. Die gleichsam autistische, nur auf sich selbst fixierte Liebe lässt keinen Gedanken an einen Hausstand oder an Kinder zu, die aus ei-

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nem Liebesverhältnis hervorgehen könnten. Insofern verweigert sich Anna mit der Reaktualisierung ihres Gefühls für Sean auch ihrer Mutterrolle, die sie in ei­ner Ehe mit Joseph übernehmen müsste. Am Ende seines Gesprächs mit Bob formuliert Sean das Programm dieser rigorosen romantischen Liebe, die sich oh­ne Rücksicht auf die Gegebenheiten und Forderungen der Außenwelt nur für sich selbst interessiert und dabei für unvergänglich hält: »Du kannst denken, was du willst. Von mir aus kann jeder denken, was er will [...] Es spielt keine Rolle. Ich bin Sean. Ich liebe Anna, und nichts kann daran etwas ändern. Nichts. Das gilt für immer (You can think, whatever you want. Everybody can think what they want [...] It doesn't matter. I'm Sean. I love Anna, and nothing is going to change that. Nothing. That's forever).

Narzisstische Liebe

Ein wesentlicher Teil des Films besteht nun darin zu zeigen, wie die Heldin sich gegen ihre eigenen Gefühle zur Wehr setzt, um nach und nach doch jeden Wi­derstand aufzugeben. Bereits die Sequenz, in der sie einen Brief von dem Kind erhält, ihn aber nicht sogleich öffnet, weil sie seinen Inhalt erahnt, lässt die ein­setzende Verwirrung erkennen. Deutlich wird auch, dass dieser Vorgang mit ei­ner Distanzierung von Joseph einhergeht, dem Anna zunächst nichts von der Botschaft des Jungen erzählt. Der anfangs nur zaghaften Annäherung an Sean folgt dann, ausgelöst durch dessen Ohnmacht bei der ersten Befragung, eine hef­tige emotionale Erschütterung, die in der anschließenden Opernszene auf beein­druckende Weise vermittelt wird. Diese Szene, eine Schlüsselszene des Films, gibt Anlass zu einer Reihe von Überlegungen. Bemerkenswert ist, wie das Gesicht der Schauspielerin Nicole Kidman visuell inszeniert wird. Maßgeblich hierfür sind die hervorhebende Beleuchtung und die farbliche Präparierung, die zusammen das Gesicht der Darstellerin auffallend blass erscheinen lassen, außerdem die schiere Länge der Einstellung von ungefähr zwei Minuten und zwanzig Sekunden und natürlich die Großaufnahme, bei der sich die Kamera, nachdem sie in einem Schwenk gezeigt hat, wie die Akteure verspätet ihre Sitzplätze in der Oper ein­nehmen, langsam an das Gesicht der Protagonistin heranzoomt, um dann jede mimische Regung, jede Bewegung der Augen, des Mundes und des Kopfes, jede kleinste Veränderung der Gesichtszüge und jeden Glanz und Schimmer der Au­gen wiederzugeben. Von Bedeutung ist auch, dass sich die Figur zwar inmitten einer Menge anderer Menschen befindet, von diesen jedoch nicht beobachtet wird, so dass sie als überwiegend mit sich allein erscheint und somit der Eindruck der Unwillkürlichkeit und Wahrhaftigkeit ihrer Gefühlsregungen, die Illusion, als blicke man durch den Wechsel im Ausdruck ihres Gesichts unmittelbar in ihr

37 In der deutschen Synchronfassung wird dieser Sachverhalt abgeschwächt, indem der entspre­chende Satz mit »Ich dachte, sie kann kein Baby bekommen« übersetzt und damit die Vernei­nung vom Sprecher auf die Person, über die er spricht, verschoben wird.

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Inneres hinein, entsteht. Während auf der Bühne, für den Filmzuschauer unein­sehbar, die Opernfiguren ihre Leidenschaften ausagieren, spielt sich auf dem Ge­sicht Annas ein eigenes Drama ab. Dabei geht es nicht nur um ein einzelnes Ge­fühl, sondern um ein Gegeneinander widerstreitender Gefühle und um den Ab­lauf dieses psychischen Geschehens, so dass man diesbezüglich mit dem Filmtheoretiker Bela Balasz, der Ahnliches bereits am Mienenspiel der Schau­spielerin Asta Nielsen beschrieben und als genuine Leistung des Kinos bezeichnet hat, von einer »organischen Entwicklungsgeschichte ihrer Gefühle« sprechen könnte, die sich auf ihrem Gesicht zeigt.

Eine entsprechende Deutung der Szene, welche die verschiedenen Phasen der mimischen Gefühlsartikulation zu erfassen versucht, könnte etwa folgenderma­ßen aussehen: In einem Zustand der Aufgewühltheit, ja des Entsetzens nimmt Anna in der Oper Platz. Von Joseph angesprochen, antwortet sie ihm unkonzen­triert, deutet ein Lächeln an, das Aufmerksamkeit und Höflichkeit vortäuschen soll, aber nicht verbergen kann, dass sie gedanklich mit anderem beschäftigt ist. Ihr Blick geht ins Weite, sie scheint die Vorstellung, dass ihr verstorbener Mann in Gestalt des Kindes zurückgekehrt ist, versuchsweise zulassen zu wollen. Was wäre, wenn es — gegen alle Vernunft - doch wahr wäre? Sie schließt kurz die Au­gen, als wolle sie zur Ruhe kommen, als wolle sie diesen Gedanken erst einmal nacktem in Erwägung ziehen. Doch dann scheint sie ergriffen vcn der eigentlich undenkbaren Möglichkeit, scheint sich dem Wunsch hinzugeben, beginnt an­satzweise zu lächeln und beinahe, überwältigt von ihren Gefühlen, in Tränen aus­zubrechen. Genau in dem Moment wird sie erneut von Joseph angesprochen und schrickt zusammen, so dass die Entfremdung zwischen ihr und ihrem Verlobten, die Diskrepanz zwischen dem inneren Reich des Begehrens und der Außenwelt, unvermittelt sichtbar wird. Fast schuldbewusst blickt sie flüchtig, kaum wahr­nehmbar, zur Seite, um sich zu vergewissern, dass dies niemand bemerkt hat. Dann aber schließt sich ihr Mund. Von neuem richtet sich Annas Blick in eine unbestimmte Ferne. Ein leichtes Kopfnicken drückt Zustimmung zu der in ihr aufkeimenden Hoffnung aus, die dann am Ende durch das Schließen der Augen noch einmal eigens bekräftigt wird. Im Ergebnis hat man den Eindruck, dass die Protagonistin in dieser Szene, nach ersten Zweifeln und zaghaften Abwehrversu­chen, beginnt, sich ihrem Wunschdenken zu überlassen und die Wiedergeburt ihres Mannes in dem Kind Sean für möglich zu halten.

Selbstverständlich handelt es sich bei einer derart einfühlenden Interpretation um eine spekulative Deutung, bei der man induktiv von mimischen Zeichen auf innerseelische Vorgänge schließt, so dass, genau genommen, das Gesicht der Schauspielerin und ihr virtuoses Spiel zur Projektionsfläche eigener Gefühle ge­macht werden. Aber gerade weil dieser Effekt rhetorisch im FCahmen der Filmer-

38 Bela Baläzs, »Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films«, in: B. B., Schriften zum Film, hrsg. von Helmut H. Diederichs, Wolfgang Gersch und Magda Nagy, Bd. 1, München 1982, S. 78. Zur affektiven Bedeutung des Gesichts in der Großaufnahme vgl. auch die Überlegungen von Gilles Deleuze in seinem Buch Das Bewegungs-Bild. Kino 1, übersetzt von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt a.M. 1989, S. 123-142.

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Zählung einkalkuliert ist, ist eine solche oder eine ähnliche Zuschreibung von Sinn unverzichtbar und Teil der ästhetischen Erfahrung des Films. Würde man auf sie verzichten, hätte man schließlich nur Schauspieler vor sich, die sinnlose Bewegungen oder Grimassen vollführen, anstelle von Figuren, die zu komplexen Gefühlen und Handlungen fähig sind.

Von großer Bedeutung für die eindringliche Wirkung dieser Szene ist nicht zuletzt auch die Musik, die bereits in der vorausgehenden Sequenz mit dem Zu­sammenbruch Seans einsetzt. Sie hat nicht nur eine verstärkende, synästhetische Wirkung, indem sie, gleichsam in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes »melodramatisch«, ein Schauspiel akustisch untermalt und dadurch die Gefühls­dramatik, die Entfesselung irrationaler Leidenschaften, unterstreicht und intensi­viert, sondern ihr kommt auch eine symbolische, antizipierende Funktion zu, da es sich hier um das Vorspiel zum ersten Aufzug von Richard Wagners Musik­drama Die Walküre handelt. Im ersten Akt dieser Oper, also nach dem Prolog, begegnet Siegmund seiner Schwester Sieglinde, die mit Hunding verheiratet ist. Während sich Siegmund und Hunding sogleich als Feinde betrachten, erkennen sich die Geschwister und verfallen einander in Liebe. Es kommt zum Ehebruch und damit zugleich zum Vollzug einer inzestuösen Handlung. Bezogen auf den Film, verweist dieser Zusammenhang sowohl auf die bevorstehende Abkehr An­nas von Joseph, den sie in gewisser Weise mit Sean betrügen wird, wie auch auf den illegitimen Status ihres kindlichen Liebhabers, der nicht nur zu jung, sondern auch eine fleischgewordene Ausgeburt ihrer eigenen Phantasie ist.

Annas Hinwendung zu dem Kind vollzieht sich in einem gleitenden Übergang gegensätzlicher Gefühle. Ein schönes Beispiel für diesen Vorgang liefert sie in nu-ce, als sie sich mit der Bitte um Hilfe ihren Freunden Clifford und Clara offen­bart. Bereits die Wiederaufnahme dieser nach dem Tod des Ehemannes unter­brochenen Freundschaft zeigt eine Neubelebung ihres Gefühls für den Verstor­benen an. Anna kommentiert zunächst ihre Wahrnehmung des Zusammen­bruchs von Sean, dem Kind, und sagt dann über Joseph und sein Verhältnis zu ihm: »Er ist, er hat sich mit mir auf die Sache eingelassen und er ist, er hat es ak­zeptiert und er ist nicht, er hat ihn nicht unsicher gemacht, überhaupt nicht. Ich meine, er ist zehn Jahre alt« (He's been dealing with me on this. He's been ac-ceptant of it and he's not... he's not grown inscecure, because of him ... I mean he's ten years old). Während wir zunächst Joseph als Satzsubjekt anzusehen ha­ben, können in dem Satz »Er hat ihn nicht unsicher gemacht« sowohl Joseph als auch Sean als grammatikalisches Subjekt aufgefasst werden, bis diese Funktion am Ende allein noch dem Jungen zukommt.

Aufschlussreich in Hinsicht auf die Natur ihrer Beziehung zu dem Jungen ist auch der Nachmittag, den sie mit ihm verbringt. Bevor am Ende des Tages ge­zeigt wird, wie sich der Junge, wie ein ganz normales Kind seines Alters, auf ei­nem Spielplatz betätigt, um dem Zuschauer deutlich vor Augen zu führen, dass wir es mit einem Zehnjährigen zu tun haben, hat dieser Tag Anzeichen einer Be­gegnung zweier Verliebter. Das Verpassen des Busses bringt noch einmal die Un-geplantheit des Ereignisses und damit die Spontaneität der involvierten Gefühle

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ins Spiel; die abschließende Fahrt mit der Kutsche durch den Park ist ein, wenn auch abgegriffenes, romantisches Klischee und lässt zudem an die Hochzeitskut­sche denken. Seltsam mutet Annas Frage in der Eisdiele an, wie Sean sie denn versorgen wolle: »Ein Mann muss für seine Frau da sein. Er muss sie ernähren, beschützen, für sie sorgen [...] Wie willst du das machen« (A man has to support his wife. He has to feed her, defend her, take care of her [...] How are you gonna do that)? Diese Äußerung ist inhaltlich rückwärts gewandt und steht im Wider­spruch zu Annas sozialer Stellung wie auch zur ihrer Rolle als der einer emanzi­pierten Frau, die einen eigenen, allem Anschein nach gut dotierten Beruf ausübt. Aber gerade diese Ungereimtheit unterstreicht den irrationalen Charakter ihrer Liebe und macht zugleich den Verlust an Selbstbestimmung und den sozialen Abstieg deutlich, der mit dem Ausleben ihrer Neigung zu Sean einhergehen wür­de.

Anna spricht dann die Frage der Sexualität an: »Wie willst du meine Bedürf­nisse befriedigen« (How are you gonna fulfill my needs)? In einer frühen Szene des Films war sie im Beischlaf mit Joseph gezeigt worden, wie um klarzustellen, dass sie in sexueller Hinsicht keine Probleme hat und somit ihr Hingezogensein zu dem Kind kein Symptom einer diesbezüglichen Störung sein kann. In der Eis­diele antwortet Sean, dass sie für ihn die erste wäre. Insofern er für Anna das Idealbild eines romantirch^n Liebhr,bers "erkörper*:, fot die Möglichkeit einer se­xuellen Beziehung zu ihm nicht ausgenommen, sondern nur aufgeschoben. Der Zustand der Verliebtheit lässt sich mit Freud als »Zielgehemmtheit« verstehen, bei welcher der Geschlechtsakt aktuell, nicht aber langfristig ausgeschlossen wird. Die sexuellen Strebungen sind nicht, wie etwa in der der Verliebtheit ver­gleichbaren, hypnotischen Beziehung zwischen Hypnotisiertem und Hypnoti­seur, gänzlich negiert, sondern sie bleiben im Hintergrund wirksam und steigern die Intensität der Vorstellung, mit der der andere idealisiert wird. Dies erklärt auch, warum es sich bei der vermeintlichen Reinkarnation überhaupt um einen Jungen und nicht etwa um einen anderen Mann oder eine Frau oder ein Mäd­chen handelt. Als geschlechtsunreifcs Kind personifiziert Sean einerseits die voll­kommene Reinheit des Gefühls, das Anna auf ihn projiziert, und auch die Illusi­on, dass sich der Geliebte seine Sexualität für die große Liebe aufgespart haben könnte. Andererseits ist in ihm doch die Männlichkeit eines erwachsenen Mannes potenziell schon enthalten. Dies wirft auch ein Licht auf die von manchen Zu­schauern des Films zu Unrecht als anstößig empfundene Szene, in der Anna und Sean gemeinsam in der Badewanne sitzen. Die Badezimmerszene greift das altbe­kannte Motiv der Liebeshöhle auf, das man schon von Tristan und Isolde her kennt. Der Verlobte ist, wie so oft der Nebenbuhler oder auch der Ehemann, der ausgesperrte Dritte, der die Intimität der Liebenden, zu respektieren hat. Seans Antwort auf die Frage »Was tust du?« »Ich betrachte meine Frau« (What are you

39 Vgl. hierzu und zu dem Folgenden: Sigmund Freud, »Verliebtheit und Hypnose«, in: S. F.: »Massenpsychologie und Ich-Analyse« (1921), Gesammelte Werke (s. Anm. 23), Bd. 13, S. 122-128.

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doing? I'm looking at my wife) entbehrt dabei nicht eines gewissen ironischen Hintersinns, verweist doch der Begriff »wife« auf das Konzept der Ehe, das ja ge­rade von Anna abgelehnt wird. Auch die spätere Sequenz, in der sie, von ihrer Mutter vergeblich zur Raison gerufen, zu Sean ans Bett geht, verdeutlicht ihr Bemühen um eine Aufsparung der Sexualität für einen späteren Zeitpunkt. An­statt, wie man vielleicht hätte erwarten können, eine erotische Handlung auszu­führen, stopft sie Seans Decke unter seine Matratze, was wie ein Verpacken oder Mumifizieren aussieht und als vorläufige Distanzierung von einem sexuellen Kontakt aufgefasst werden kann. Annas Liebe zu Sean, in der die Liebe zu ihrem verstorbenen Mann wieder auflebt, ist letztlich narzisstisch. Während die auf di­rekte sexuelle Befriedigung ausgerichteten Triebe zurückgedrängt werden, fließt gewissermaßen die gesamte Selbstliebe der Verliebten auf das Objekt über und setzt den kritischen Verstand nach und nach außer Kraft.

Die Abspaltung des Phantasmas

Wie reagiert Annas Umgebung auf ihre Beziehung zu dem Kind und wieso kommt es am Ende doch zur Entsagung? Die Familie zeigt sich anfangs, nicht anders als Anna selbst, überrascht und amüsiert von dem Auftreten des Jungen. Das schwarze Dienstmädchen artikuliert zuerst, stellvertretend für die anderen, die feindliche Haltung, die die Familie dem Eindringling entgegenbringt: »Ich werde dich jedenfalls im Auge behalten, falls du vorhast, diese Familie durchein­ander zu bringen« (I'm gonna keep an eye on you in case you Start upsetting this family). Die Familie kann die Macht der Wünsche, von denen sich Anna beherr­schen lässt, nicht unkontrolliert zur Wirkung gelangen lassen. Darauf verweist auch das beiläufig eingestreute Motiv des Weihnachtsmannes. Denn es war Mrs. Hill, ein Quasifamilienmitglied, das Anna einst von dessen Nichtexistenz erzählte und damit bei ihr die Anerkennung des Realitätsprinzips einforderte. Auch Lau­ra, die als Verheiratete und Schwangere als Gegenfigur zu Anna angelegt ist, rea­giert heftig auf die seltsame Mesalliance ihrer Schwester. Und Annas Mutter droht am Ende sogar, als sich Anna mehr und mehr zu Sean bekennt, wegen des illegalen Charakters der Beziehung mit der Polizei. Hier tendiert der Film, auf­grund des Missverhältnisses von Symptom und Gegenmittel, deutlich ins Komö­dienhafte.

Dies zeigt sich auch besonders deutlich anlässlich des Kammerkonzerts, als sich Joseph durch Seans ungebührliches Benehmen provoziert fühlt. Die Szene steht konträr zur Opernszene. Auch hier wird Wagnermusik gespielt, der Hochzeits­marsch aus Lohengrin. Es liegt jedoch keine affektive Kongruenz zwischen Musik und Erzählung vor. Das verspielte Arrangement der bekannten Melodie steht vielmehr im Kontrast zur Heftigkeit des Gefiihlsausbruchs von Joseph und zu

40 Vgl. Freud, ebd.

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den anschließenden Versuchen, ihn zu bändigen. Die Musik hat keine verstär­kende, affektanstachelnde Funktion, sondern sie soll das Geschehen kommentie­ren und ironisieren. Joseph verliert die Contenance und löst damit bei der Fami­lie und den anwesenden Gästen, die Derartiges nicht gewohnt sind, peinliches Befremden aus. Er kann nicht, darauf mag auch sein Name verweisen, mit dem von Anna ins Göttliche erhobenen Kind und Liebhaber mithalten. Die groteske Szene bringt den Konflikt zwischen der irrationalen Gewalt der Gefühle und ei­ner statischen, auf Affektkontrolle bedachten Gesellschaftsschicht, die diese Ge­fühle nicht dulden kann, auf den Punkt. Durch die Ungleichartigkeit der Gegner - Joseph züchtigt ein Kind als Nebenbuhler, und er züchtigt es ganz so, wie man ein Kind züchtigt - wird zudem die patriarchale Ordnung der Lächerlichkeit preisgegeben. Indem Joseph sich zu diesem Ausbruch hinreißen lässt, treibt er Anna endgültig in Seans Arme. Der Kuss zwischen den beiden besiegelt diese Entwicklung, wirkt aber dennoch befremdlich, da Anna dabei gleichzeitig das Bild eines Objekts männlicher Begierde und das einer zärtlich liebenden Mutter abgibt. Sinnigerweise sind es genau diese beiden Rollen, die sie innerlich nicht miteinander in Einklang bringen kann. Anna ist nun, und sie spricht es gegen­über Clifford auch aus, von der Wiedergeburt ihres verstorbenen Mannes über­zeugt. Gleichwohl sind an dieser Stelle noch nicht alle Vorbehalte gegen den Jun­gen ausgeräumt, da norh ;n Fra3e rteht, wie eine künftige Beziehung zi dtm ak Kind Zurückgekehrten aussehen könnte.

Die Geschichte läuft darauf hinaus, dass Anna sich von dem Objekt ihrer Lie­be distanziert, ihre romantische Sehnsucht nach einer absoluten Liebe jedoch nicht aufgibt. Um dieses Ergebnis begreiflich zu machen, trennt der Film vo­rübergehend die Handlungsfäden. Während Annas Verstand eine Lösung sucht, um ihre Liebe zu dem Kind ausleben zu können (vgl. die Aufschrift »Esprit« auf dem Taxi), beginnt an anderer Stelle bereits die Abspaltung des Wunschobjekts und damit die Unterwerfung unter das Realitätsprinzip, das sich an den Bedin­gungen der Außenwelt orientiert. Hierfür steht die Begegnung Scans mit Clara. Die nun erfolgende Auflösung des Rätsels um die von Anna geschriebenen, von Clara vergrabenen und von Sean gelesenen Briefe erlaubt nur zum Teil eine rea­listische Lesart seiner Rolle in der Geschichte. Sean könnte theoretisch einen Großteil seines Wissens über Anna aus den Briefen haben. Jedoch erklären die Briefe nicht, woher er den Todesort seines Vorgängers kannte. Auch machen sie nicht verständlich, warum er sich überhaupt Anna nähert, warum er unter Druck ohnmächtig wird, also unwillkürlich reagiert, und warum er sich schließlich, aus Liebe, wieder von Anna entfernt. Die Briefe sind Ausdruck der schwärmeri-

41 Der Film besitzt mithin, obwohl es auf den ersten Blick den Anschein haben könnte, keinen »Twist« nach dem Muster von Filmen wie Jacobs Ladaer (USA 1990, Regie: Adrian Lyne), The sixth sense (USA 1999, Regie: M. Night Shyamalan) oder The others (Spanien, Frankreich, USA 2001, Regie: Alejandro Amenäbar). Die überraschende Wendung in der Handlung dieser Filme führt zu einer, mit Jurij M. Lotman gesprochen, »Annulierung des Anfangs«, das heißt zu einer Pointe, die im nachhinein »dem ganzen Kodierungssystem eines Textes einen anderen Sinn un­terlegt«. Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 311.

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sehen Liebe Annas zu ihrem Mann. Clara deutet das Infantile dieser Schwärmerei an, wenn sie despektierlich von »Annas Liebesbriefchen« (Anna's little love let­ters) spricht. Innerhalb der Narration stehen die Briefe für die Möglichkeit bzw. für die Gefahr eines Reflexivwerdens von Annas erhitzten Gefühlen und damit für die Gefahr einer Entidealisierung ihres Liebesobjekts. Insofern auch die bevor­stehende Hochzeit mit Joseph eine solche Entidealisierung bedeutet hätte, ist es erzähllogisch nur plausibel, dass die Briefe zeitgleich mit dem Herannahen dieser Hochzeit auftauchen. Dass Clara, deren Name bereits Entmystifizierung signali­siert, sich und Clifford die Einladung zur Verlobungsfeier erst selbst besorgen musste, deutet an, dass Anna von sich aus nicht zu einer Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Emotionalität bereit gewesen wäre. Dem entspricht, dass die Briefe zunächst vergraben werden und schließlich nur von Sean, gleichsam stellvertre­tend für Anna, ausgegraben und gelesen werden. Der Empfang der Briefe hätte Anna schlagartig über den wahren Charakter ihres Mannes, für den sie keines­wegs, wie es die romantische Phantasie will, die Einzige gewesen war, aufgeklärt und damit hinsichtlich ihrer eigenen Rolle desillusioniert: sie hätte sich unverse­hens in der Position der Ehefrau als Gegensatz zur Geliebten wiedergefunden. Im Gespräch mit Sean hält Clara denn auch unmissverständlich fest: »Ich bin deine Geliebte. Anna ist deine Frau« (Em your lover. Anna's your wife). Die Lektüre der Briefe hätte die romantische Illusion einer vollkommen exklusiven Liebesbe­ziehung der Liebenden zerstört und Anna auf ernüchternde Weise mit den spon­tanen Zeugnissen ihrer Leidenschaft konfrontiert, die auf falschen Voraussetzun­gen beruhte. So gesehen ist der Spiegel, den Clara dem Verlobungspaar anstelle der Briefe überreicht, zwar kein voller Ersatz, aber doch, im symbolischen Sinne, ein passender Stellvertreter für das ursprüngliche Geschenk. Insgesamt drückt das Gespräch zwischen Sean und Clara das, allerdings unvollständige, Bemühen An­nas um Selbsterkenntnis aus.

Die dem Gespräch folgende Parallelmontage verdeutlicht sodann gewisserma­ßen das gleichzeitige Brodeln unterschiedlicher Kräfte und die bevorstehende Überwindung der Krise. Während wir Clara am Tisch sitzen sehen, Sean, noch unschlüssig, was er tun soll, auf einen Baum klettert, kündigt die Geburt von Lauras Baby die Richtung an, in die auch Annas Weg führen wird. Eleanor bringt die Forderungen der Familie vor, indem sie von ihrer Tochter verlangt, sich bei Joseph zu entschuldigen und ihn im Strandhaus, wo einst schon die Eltern Hochzeit feierten, zu heiraten, also vorgegebenen Bahnen zu folgen. Dass Sean seine Verwirrung, bevor er zu Anna geht, den Polizisten mitteilt, veranschaulicht den nun einsetzenden Vorgang. Das Gefühl, das in ihm leibhaftige Gestalt an­genommen hat, muss sich zunächst eigenmächtig und unabhängig von dem Be-wusstsein Annas neu positionieren. Indem er seine Identität als Reinkarnation von Annas Mann aufgrund der Tatsache, dass er sie liebt, in Frage stellt, schafft er die Voraussetzung dafür, dass sich Annas narzisstisches Begehren von seinem Objekt ablösen und in seiner reinen, übersteigerten Form fortbestehen kann.

Bei der abschließenden Aussprache im Bad formuliert Anna einen ebenso abenteuerlichen wie absurden Plan: »Wir laufen zusammen weg. [...] Und in elf

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Jahren wirst du einundzwanzig Jahre alt [...] Dann können wir nämlich heiraten« (We're gonna run away together. [...] And in eleven years your gonna turn twenty-one. [...] And we're gonna get married). Dieser Plan erneuert ein letztes Mal Annas Hinhaltetaktik, ihre Weigerung, den Ausnahmezustand der Verliebt­heit zu verlassen und in den Zustand des prosaischen Ehe- und Familienlebens einzutreten. Der Plan bringt zum Ausdruck, dass sie sich nunmehr endgültig ih­rem eigenen Wunschdenken überlässt. Es zeugt von einer erheblichen dramatur­gischen Raffinesse, dass genau in diesem Augenblick die entscheidende Wende erfolgt, indem Sean erst jetzt, da Anna alle Zweifel aufgibt, seine Behauptung, der wiedergeborene Ehemann zu sein, zurücknimmt: »Ich bin nicht Sean, weil ich dich liebe« (I'm not Sean, because I love you). Es entspricht der scheinbaren Pa-radoxie dieses Satzes, dass er die Wahrheit zugleich aufdeckt und verhüllt: auf­deckt, insofern er Anna plötzlich, ohne Vorbereitung, mit dem schockierenden Faktum konfrontiert, dass der Verstorbene doch nicht in dem Kind zurückge­kehrt ist. Verhüllt, insofern diese von ihr nicht gewollte, ihrem ganzen Sinnen und Trachten diametral entgegengesetzte Aufdeckung in Wahrheit doch ihrem Wunsch geschuldet ist, an der Idee leidenschaftlich romantischer, vollkommen uneigennütziger Liebe mit aller Kraft festhalten zu wollen. Indem sich Sean von Anna freiwillig und aus Liebe zurückzieht, rettet er für sie diese Idee und den mit ihr verbrndencn, mrßlos rbe-zogeren Glücl'-sanspruch. Somit liegt hie." zv/ar ei­ne oberflächliche Heilung in einem merkwürdigen Fall von Liebesverblendung vor. Diese Heilung verdankt sich jedoch keiner Einsicht in den wahren Sachver­halt. Das Phantasma wird nicht zerstreut, sondern nur von seinem Träger abge­spalten und in eine tiefere Zone des Unbewussten verschoben und dort aufgeho­ben. Die gefundene Lösung verbleibt im geschlossenen Regelkreis der Phantasie und ist folglich nur eine Scheinlösung, die ein späteres Wiederaufbrechen der Krise wahrscheinlich macht. Dass Sean in der Wanne, während er Anna die über­raschende Mitteilung macht, untertaucht, bringt die frühe Geburtsszene des Films in Erinnerung und macht das mit ihr angedeutete Wiedergeburtsgeschehen auf symbolische Weise rückgängig. Als Reinkaination eines Toten verschwindet das Kind unter Wasser, als kleiner Junge wird es von Anna herausgezogen.

Durch ihren Kniefall vor Joseph, eine Geste der Unterwerfung, gibt Anna schließlich zu erkennen, dass sie zumindest äußerlich in die patriarchale Ordnung zurückgefunden hat. Allerdings erklärt sie sich im nachhinein als nicht verant­wortlich für ihr Handeln, da sie sich als Objekt, nicht als Subjekt der Ereignisse sieht: »Was da mit mir geschehen ist, war nicht meine Schuld, und ich kann

42 Vgl. die psychologische Deutung dieses Vorgangs von Ekkehard Knörer in seiner Besprechung des Films in Jump Cut, htrp://www.jump-cut.de/filmkritik-birth.html (Stand: 19.5.2007).

43 Siehe den Hinweis von Richard C Cumbow in seinem aufschlussreichen Kommentar zu dem Film: »Why is this film called Birth>. Investigating Jonathan Glazer's Mystery of the Heart«, in: 24LiesASecond, 2006, http://www.241iesasecond.com/site2/index.php?page=2&task=index_ one-article.php&Column_Id=86 (Stand: 19.5.2007).

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nicht dafür verantwortlich gemacht werden« (What happened to me wasn't my fault, and I can't be held accountable for it). Auch nimmt sie nichts von ihrem Anspruch auf persönliches Glück zurück: »Und ich möchte deine Frau werden, und ich möchte ein schönes Leben, und ich möchte glücklich werden. Mehr will ich nicht. Frieden« (And I wanna get married. And I wanna have a good life, and I wanna be happy. That's all I want. Peace). Was hier auf den ersten Blick wie Selbstbescheidung aussieht, schließt doch, da das Glück nicht weiter kon­kretisiert wird, die Forderung uneingeschränkter Selbstverwirklichung und intensiver emotionaler Erfahrungen nicht aus. Signifikant scheint auch, dass An­na die Aussicht, mit Joseph Kinder zu haben, an dieser Stelle mit keinem Wort erwähnt.

So bleibt die Versöhnung, wie sie am Ende mit der Hochzeit gefeiert wird, gefährdet. Anhand der beiden Fotoaufnahmen wird die schlussendliche Positio­nierung der beiden Hauptfiguren des Films analogisiert. Während die eine zu guter Letzt in die ihr zugedachte Rolle der Braut findet, reiht sich der andere in die Reihe seiner Mitschüler ein und wird wieder zu einem gewöhnlichen Schul­jungen. Auch das Kind weiß am Ende nicht recht, wie ihm geschehen ist. Es nimmt die rationale Erklärung der Psychologen und die irrationale Sichtweise der Mutter, die von einem »Zauber« (spell) spricht, zur Kenntnis und lässt es dabei bewenden. Das abschließende Lächeln für den Fotografen entspricht diesem Einlenken. Auch wenn es sich um ein künstlich erzwungenes Lächeln handelt, so ist es im Film doch das erste Mal, dass wir das ansonsten so ernsthafte Kind lä­cheln sehen. Allein die Schlussbemerkung in dem Abschiedsbrief an Anna »Ich denke, wir sehen uns in einem anderen Leben wieder« (Well, I guess, I'll see you in another lifetime) mag andeuten, und zwar nicht ohne ironischen Unterton, dass für den Jungen der Spuk doch noch nicht ganz vorbei sein könnte. Für die Protagonistin des Films stellt sich der Ausgang der Geschichte weitaus dramati­scher dar. Schon ihre Unaufmerksamkeit beim Fotografiertwerden verdeutlicht das Missverhältnis zwischen ihrer neuen Rolle und ihrem Selbstgefühl. Die Schlussszene am Strand bringt dann noch einmal den romantischen Ort der Erstbegegnung der Liebenden und damit den Ursprungsort des Liebesphantas-mas ins Spiel. Annas Verzweiflung ist offensichtlich, gleichgültig ob wir ihr Ver­halten als hysterischen Ausbruch oder sogar als Selbstmordversuch zu verstehen haben. Der Konflikt zwischen dem, was die innere Natur sich wünscht und dem, was die Gesellschaft verlangt, besteht fort und erzeugt eine innerpsychische Span­nung, die sich am Ende auf exzessive Weise entlädt. Dieser Gefühlsexzess ist aber nicht nur das Ergebnis einer inneren Krise, sondern zugleich auch Ausdruck unaufgelöster sozialer Widersprüche. Dazu abschließend noch einige Bemerkun­gen.

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O b j e k t i v e G r ü n d e der G e f ü h l s v e r w i r r u n g

Nach der entscheidenden Aussprache zwischen Sean und Anna, sehen wir kurz ihre Mutter Eleanor auf dem Flur mit dem nunmehr entzauberten Kind, dem sie knapp ihre Haltung zu seinem vermeintlichen Vorgänger erläutert: »Ich habe Sean nie gemocht« (I never liked Sean). Warum diese Mitteilung an dieser Stelle, da sie eigentlich nicht mehr nötig gewesen wäre? In der Erleichterung darüber, dass Anna sich endgültig von ihrer emotionalen Bindung an den verstorbenen Mann befreit zu haben scheint, macht Eleanor ihrem Unmut über den einstigen Schwiegersohn Luft. Die Vermutung liegt auf der Hand, dass nicht nur der Junge ein Eindringling in fremde, ihm aufgrund seiner Herkunft eigentlich verschlosse­ne Kreise ist, sondern dass auch bereits der Verstorbene ein sozialer Aufsteiger gewesen war, der von dem Milieu, in das er aufgerückt war, nicht anerkannt worden ist. Diese Vermutung verweist auf das Dilemma, das der im Film gezeig­ten Gefühlsverwirrung zugrunde liegt.

Der Konflikt zwischen Liebe und Ehe ist zwar alt, er besteht aber auch im Zeitalter des affektiven Individualismus, der die Beziehungen zwischen Männern und Frauen prägt, weiter und gewinnt hier sogar noch an Brisanz. Denn der Ge­gensatz zwischen einer romantischen Liebe, die spontan zustande kommt, und eirer ratioralen, auf p-agTia*ischen Erwägungen berufender. Partner.valil, hat sich ins Innere der Subjekte verlagert, die nunmehr über ihre Bindungen selbst entscheiden können und müssen. Der Partner soll einerseits gesellschaftlich kompatibel sein, das heißt mit der sozialen und auch ökonomischen Position des­sen, der sich binden will, in Einklang stehen, andererseits soll die Wahl doch un­eigennützig, ausschließlich aufgrund affektiver Übereinstimmung mit dem ande­ren erfolgen. Dieses Programm macht die Entscheidung nicht gerade leicht. Das mit Sean 1 und Sean 2 verbundene Liebeskonzept entspricht dem Muster einer vorübergehenden, aber intensiven Affäre, während sich die Beziehung zu Joseph in das Schema einer langfristigen Liebeserzählung einfügt. Das romantische Ideal korrespondiert mit der Vorstellung von Freiheit und Individualität; die rationale­re Betrachtung der Liebe dient, und zwar je höher sich der Einzelne in der sozia­len Hierarchie befindet, desto mehr, der Erhaltung des sozialen Status, der Wah­rung des Besitzstandes, der sozialen Reproduktion und nicht zuletzt der Distink-tion. In dieser Hinsicht sind die im Film als Probleme der Überschicht oder obe­ren Mittelschicht dargestellten Probleme weithin auch die einer breiten Mittel­schicht, von der wir annehmen dürfen, das sich aus ihr auch die Mehrzahl der Zuschauer des Films rekrutiert. Damit stimmt übrigens überein, dass im Film Anna, Joseph und Bob, obgleich wohlhabend, arbeiten gehen. Die außerfilmische

44 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Eva Illouz, Der Konsum der Romanik (s. Aiim. 15), S. 174-185. »Das heutige romantische Ich zeichnet sich durch seinen fortwährenden, sisyphusgleichen Ver­such aus, die lokal begrenzte und flüchtige Intensität der Liebesaffäre innerhalb langfristiger, globaler Liebeserzählungen (wie etwa der Ehe) heraufzubeschwören, ein übergreifendes Narrativ dauerhafter Liebe mit der fragmentarischen Intenstiät der Affären zu versöhnen.« (ebd. S. 179)

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Realität besteht in der Regel darin, dass die Partner so ausgewählt werden, dass sie beiden Zielen entsprechen, dass das Gewünschte auch das Nützliche ist. Der aus strategischen Gründen gewählte Partner erscheint in den Augen der Handelnden zugleich als der einzig Mögliche, der aufgrund seiner Einzigartigkeit gewählt worden ist. Mit seiner seltsamen Geschichte eines vermeintlich wiedergeborenen Liebhabers, der es verhindert, dass sich eine solche Haltung einstellt, gelingt es dem Film Birth, die innere Widersprüchlichkeit dieses Vorgangs zu veranschauli­chen.

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VII SOZIALE UND ÄSTHETISCHE VERUNSICHERUNG IN CACHE

Es sind mindestens zwei Eindrücke, die sich schon bei flüchtigster Betrachtung der Filme von Michael Haneke einstellen. Zum einen bilden sie einen starken Kontrast zu dem verbreiteten, auf Unterhaltung angelegten Erzählkino, wie es vor allem in Hollywood produziert wird. Sie entziehen sich bewusst einer genießen­den und einfühlenden Rezeption und wollen offensichtlich als selbständige Kunstwerke wahrgenommen werden. Zum anderen geht von ihnen ein morali­scher Impetus aus, der den Zuschauer auf energische Weise mit der Aussage kon­frontiert, dass in seinem Leben etwas nicht stimmt und dass er dies tunlichst zu ändern habe. Man könnte in dieser doppelten Ausrichtung einen Widerspruch sehen. Geben Hanekes Filme den eigenständigen ästhetischen Geltungsanspruch, den sie erheben, nicht kurzerhand wieder preis, indem sie sich einer moralischen Zielsetzung verschreiben? Wir wollen im Folgenden am Beispiel von Hanekes Film Cache (Frankreich 2005) zeigen, dass dieser Widerspruch nur scheinbar ist. Obwohl der Film dezidiert zu sozialen und politischen Problemen der Gesell­schaft Stellung bezieht, stellt sich die spezifische moralische Erfahrung, die er ein­zuleiten sucht, so unsere Annahme, doch erst auf dem Wege einer ästhetischen Rezeption seiner Struktur ein.

Die Umkehrung des Thrillers

Die Geschichte von Cache ist einfach. Georges Laurent, Moderator einer erfolg­reichen Literatursendung im französischen Fernsehen, erhält anonyme Videos, die ihn und seine Familie in Unruhe versetzen. Er versucht, dem Absender auf die Spur zu kommen und gerät dabei in Kontakt zu Majid, einem Sohn algeri­scher Einwanderer, mit dem ihn ein unerfreuliches Kindheitserlebnis verbindet. Es kommt zu Verdächtigungen, Anschuldigungen, Drohungen, schließlich zu ei­nem überraschenden Selbstmord, ohne dass doch am Ende die entscheidende Frage nach dem Auslöser des Ganzen geklärt wäre.

Die Handlung beginnt medias in res, das heißt, die Störung der Ausgangssi­tuation wird angezeigt, noch bevor diese selbst klar umrissen ist. Wir sehen zu­nächst das Haus der Laurents von außen und bemerken erst nach einer Weile, dass es sich um ein Video handelt, das sich Georges und Anne Laurent gerade im Innern dieses Hauses anschauen. Erst danach erfährt man mehr über die Um­stände ihres Lebens, das im Begriff ist, wegen der Videos aus den Fugen zu gera­ten. Das erste Handlungsziel besteht darin, dass Georges Laurent herausfinden muss, von wem die Videobänder stammen. Der Hauptteil des Films setzt ein, als sich für ihn andeutet, dass die Videos etwas mit seiner Vergangenheit zu tun ha-

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ben. Daraus ergibt sich ein zweites Handlungsziel: Georges muss sich nun, wohl oder übel, mit dieser Vergangenheit auseinander setzen, während die von den Vi­deos ausgehende Bedrohung zunehmend negativ in sein privates und auch beruf­liches Leben eingreift. Der dramatische, ja schockierende Höhepunkt des Films besteht in der kurzen Sequenz, in der sich Majid vor den Augen von Georges tö­tet. Anstelle einer erwartungsgemäßen Konfrontation der beiden Kontrahenten, anstelle eines Sieges des einen über den anderen, kapituliert der mutmaßliche Gegenspieler des Protagonisten überraschend freiwillig, wodurch seine Verbin­dung mit dem Vorausgegangenen fraglich wird. Die Herkunft der Bänder bleibt weiterhin ungeklärt. Aufgrund der unbefriedigenden Auflösung kommt dem Schlussteil eine herausgehobene Bedeutung zu. Er liefert einerseits weitere bruch­stückhafte Informationen, die das Geschehen verständlich machen können, ande­rerseits zeigt er den Protagonisten zwar angeschlagen, aber in unveränderter Hal­tung. Das Ende der Geschichte, insbesondere auch die allerletzte Einstellung, ist deutungsoffen, so wie die Handlung insgesamt elliptisch ist. Der Film macht von der rhetorischen Änderungskategorie der detractio, der Tilgung, ausgiebig Ge­brauch, um gezielt semantische Lücken zu erzeugen. Es liegt allerdings keine ra­dikale oder vollständige Zerstückelung der Narrarion vor. Die Handlung wird überwiegend linear und chronologisch erzählt. Es gibt zwar einige Rückblenden; diese können jedoch in irrer Stellung mehr oder ven-ge- klar nls Erinnerung n d c Traum der Hauptfigur zugeordnet werden. Die erste Begegnung von Georges und Majid wird teilweise zweimal, und zwar aus unterschiedlichen Perspektiven, gezeigt, so dass wir diesbezüglich von einem interessanten Fall repetitiven Erzäh­lens sprechen können, wie er häufig auch in der modernen Literatur, zum Bei­spiel in den Romanen William Faulkners, vorkommt.

Der Protagonist und seine Frau gehören der großstädtischen Mittelklasse an. Georges und Anne Laurent sind Teil des liberalen, intellektuellen Milieus von Paris; sie repräsentieren die kulturelle Elite des Landes. Ihre soziale und berufliche Stellung ist jedoch keineswegs ungefährdet. Vor allem der in der medialen Öf­fentlichkeit stehende Georges ist stark abhängig von dem Erscheinungsbild, das er nach außen für andere abgibt. In dem Maße, in dem sein Erfolg sich in dem Interesse des Publikums an seiner Sendung manifestiert, wirkt sich eine mögliche Schädigung seines Rufs verheerend auf seine Position aus. Der Film operiert mit dem Gegensatz zwischen einer privilegierten, wohlhabenden, sich tolerant geben­den Mittelschicht und einer unterprivilegierten, marginalisierten Gesellschafts­schicht, die um Aufmerksamkeit und Anerkennung kämpft. Es sind dies die Nachkommen von Einwanderern aus den ehemaligen französischen Kolonien, insbesondere der aus dem Maghreb stammenden. Das Problem der Integration und der Diskriminierung dieser Bevölkerungsgruppe, aber auch die von ihr aus­gehenden Aktionen des Protests und des gewaltsamen Widerstands bilden den aktuellen Hintergrund von Cache. Das narrative Programm des Films zielt nicht auf ein Modell der Versöhnung der beiden Sphären, vielmehr bringt die Art und Weise, wie er eine Stimmung der Angst erzeugt und steuert, die Schärfe des Konflikts zum Ausdruck. Der Regisseur greift mit seinem Film auf die Vorgaben

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des Thriller-Genres zurück, die er als Lockmittel für den Zuschauer nutzt, um ihn in das Geschehen im Sinne einer ästhetischen Versuchsanordnung hineinzu­ziehen. Vergegenwärtigen wir uns kurz einige Eigenschaften des Filmthrillers, um anschließend zu sehen, wie diese in Cache verwendet werden.

Der Thrill (engl, für »Erregung«, »Nervenkitzel«) lässt sich verstehen als lust­volles Erleben der eigenen Angst. Man setzt sich freiwillig für eine begrenzte Zeit einem Risiko, der Möglichkeit eines Kontrollverlusts aus, um die daraus entste­hende intensive Gefühlsspannung zu genießen. Im Spielfilm haben wir es häufig mit einem Durchschnittssubjekt zu tun, das für den Zuschauer als Identifikati­onsfigur fungiert und zu Anfang, etwa durch eine Verwechslung, eine Intrige oder bloßen Zufall, unversehens aus der trügerischen Sicherheit seiner bürgerli­chen Lebensverhältnisse herausgerissen wird. Dabei steht meistens das Verbre­chen selbst, nicht, wie im Detektivfilm, dessen nachträgliche Aufklärung im Mittelpunkt. Im Durchleben der Gefahrensituation, beispielsweise auf der Flucht vor Verfolgern oder im verzweifelten Anrennen gegen die Zeit, sieht sich der Held mehr und mehr verdrängten Ängsten, uneingestandener, vergangener Schuld, aber auch geheimen, nicht zugelassenen Wünschen ausgesetzt. Dies schließt die Möglichkeit eines vollständigen Verlusts der Orientierung, der sozia­len Rolle und Identität ebenso mit ein, wie es eine erotische Dimension hat. Am Ende steht zumeist eine Läuterung des Protagonisten, der, um sich in der Gefahr zu behaupten, neue Kräfte und Fähigkeiten entwickeln muss, so dass er schließ­lich zu einem anderen wird, als der, der er am Anfang gewesen ist. Während es im Western um die Eroberung von Raum und Natur geht, ist der Thriller ein ur-banes Genre, da hier die Nähe des anderen, der hinter der Maske der Freundlich­keit und Wohlanständigkeit womöglich seine feindseligen Absichten verbirgt, zentral ist. Um Angst und Gefahr zu suggerieren, greift das Genre auf die ganze Palette der angstauslösenden Dinge und Situationen zurück: spitze Gegenstände, große Geschwindigkeit, schwindelerregende Höhe, klaustrophobische Enge usw. Um die Affekte des Zuschauers anzustacheln und zu lenken, kommt eine raffi­nierte Spannungsdramaturgie zum Einsatz. Durch Andeutungen, also durch die nur partielle Vergabe von Informationen, werden Erwartungen geweckt, aber zu­nächst nicht befriedigt. Der Zuschauer wird genötigt, Hypothesen über die Be­dingungen und den weiteren Fortgang bzw. Ausgang der Geschichte zu bilden. Handlungseinschübe haben primär den Sinn, die Auflösung der Spannung zu verzögern, damit diese sich kontinuierlich steigern und schließlich auf dem fina­len Höhepunkt entladen kann. Beim Suspense werden wir über die möglichen Folgen von Ursachen im Unklaren gelassen. Im Falle der Neugier richtet sich das Interesse auf Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen. Beide, Neugier und Suspense, sind wesentliche Elemente des Thrillers. Im typischen Hitchcockthril-ler kommt in der Regel noch hinzu, dass der Zuschauer gegenüber der Hauptfi­gur (oder einer anderen Figur) einen Informationsüberschuss besitzt. Er sieht die

45 Vgl. zum Folgenden auch: Georg Seeßlen, Thriller. Kino der Angst, überarbeitete und aktualisierte Neuauflage, Marburg 1995, S. 9-30.

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Gefahr, in der sich der Held befindet, anders als dieser selbst, auf ihn zukommen, kann jedoch nicht eingreifen, so dass er die Hilflosigkeit gewissermaßen zusam­men mit seinem Gegenüber auf der Leinwand erlebt.

Einige Elemente des Thrillers findet man in unserem Film wieder. Auch in Cache wird Spannung durch Andeutungen, die auf eine Gefahr verweisen, er­zeugt. Die anonymen Videos lassen auf einen passiven Beobachter mit unklaren, möglicherweise böswilligen Motiven schließen; die ihnen beigefügten Zeichnun­gen wie auch die kurz eingespielten blutigen Szenen signalisieren Gewalt und Ag­gression. Diese Andeutungen werden im Laufe des Films zahlreicher und kon­kreter, die Klärung ihres Zusammenhangs wird jedoch mithilfe retardierender Sequenzen, wie etwa dem Tischgespräch zwischen den Laurents und ihren Freunden oder den Szenen, die den Sohn Pierrot beim Schwimmtraining zeigen, verzögert. Auch in Cache ist die Angst das dominierende Moment. Auch hier wird ein normaler, erfolgreicher, ja gefeierter Mann, der scheinbar in gesicherten Verhältnissen lebt, plötzlich in eine Situation versetzt, in der er um sein Ansehen, sein privates Glück und nicht zuletzt um sein Leben fürchten muss. Auch hier geht es nicht um die Bewährung innerhalb oder am Rande der Natur, sondern um die Konfrontation in einem städtischen, dicht bevölkerten Kontext, in dem im Prinzip jeder andere verdächtigt werden kann. Im Unterschied zum konven­tionellen Frzählkino, das großen Wert a'if die voüstrnd'ge Klärung der entschei­denden Handlungsschritte und -Voraussetzungen legt und dafür sogar Wieder­holungen in Kauf nimmt, verzichtet Cache auf die Eindeutigkeit und Klarheit des Dargestellten. Das Zurückhalten von Informationen geht über das genretypische, spannungserzeugende Verunklaren weit hinaus. Auch wird die Information nicht, wie häufig bei Hitchcock, auf Figur und Zuschauer verteilt. Die mögliche Gefahr bleibt unspezifisch; sie ähnelt eher einer kafkaesken Situation, in der nicht klar ist, vom wem die Bedrohung ausgeht und ob sie überhaupt real ist. Zahlreiche Thriller beinhalten eine Deadline, eine Frist, bis zu der ein Vorgang abläuft, um den Spannungsverlauf zeitlich zu organisieren und die Auflösung des Geschehens vorzubereiten. Cache verzichtet auf dieses Element. Der Spannungsbogen bleibt unvollständig, das Ende offen. Dadurch kommt es zu keiner rückwirkenden Sinngebung. So erhält der Tod Majids nachträglich keine erzählerische Rechtfer­tigung, etwa in dem Sinne, dass er eine Wandlung bei Georges bewirkt hätte. Es findet überhaupt keine Wandlung des Protagonisten statt. Auch die erotischen Impulse, wie sie, wenn auch schwach, zwischen Georges und Anne, angelegt sind, erfahren keine Neubelebung. Heikel ist schließlich vor allem die Rolle des Anta­gonisten. Da seine Identität bis zum Schluss - gegen die Erwartung des Zuschau­ers - nicht geklärt wird, erfährt die gesamte Erzählstruktur vom Ende her eine Destabilisierung, wodurch die Position des Erzählers im Film unterminiert wird.

Gewöhnlich hat ein Spielfilm, obwohl es durchaus vorkommen mag, keinen expliziten Erzähler, also keine Figur, deren Stimme die Gesamtheit des Darge­stellten vermittelt. Gleichwohl gehen wir beim Anschauen zumeist wie selbstver­ständlich davon aus, dass uns das Geschehen von einer übergeordneten, neutralen Position aus präsentiert wird. Einer verbreiteten Auffassung zufolge übernimmt

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im Film die Kamera die Funktion eines unsichtbaren, allgegenwärtigen Beob­achters, der uns zwingt, die Dinge so zu sehen, wie er sie sieht. Dabei entspre­chen die Einstellungen, so die Annahme, den Blicken dieses Beobachters; Schnitte und Schwenks signalisieren eine Verlagerung seiner Aufmerksamkeit. Das Beobachtermodell, das die Kamera mit anthropomorphen Zügen ausstattet, lässt sich zwar filmtheoretisch, als Aussage über das Wesen des Films, nicht auf­rechterhalten. Denn nicht alle technisch möglichen Einstellungen können als Nachahmung des menschlichen Blicks aufgefasst werden, und vor allem ist be­reits die vorfilmische Welt, man denke an das Spiel der Schauspieler und an die Art, wie sich die Handlung in Richtung auf ein bestimmtes Ziel hin entwickelt, das Ergebnis vorausgehender, kalkulierender Erwägungen und konstruktiver Handlungen; sie wird nicht einfach abgefilmt. Dennoch, wenn wir den unsicht­baren Beobachter als ein mögliches Strukturelement unter anderen begreifen, er­klärt er sehr schön den Effekt einer bestimmten Art von Kino, nämlich jener, die es auf die realistische Illusion abgesehen hat, dass uns die Wirklichkeit mithilfe eines allwissenden, neutralen Mediums so, wie sie ist, als eine unabhängig von uns existierende, vermittelt wird.

Ein großer Teil der Filmsequenzen in Cache kommt diesem Eindruck entge­gen. So beispielsweise erstmals die Szene, in der Georges, nachdem er das erste Video betrachtet hat, vor das Haus tritt, um herauszufinden, von wo aus der an­onyme Filmer gefilmt haben könnte. Ein aufmerksamer Beobachter folgt hier offensichtlich mit Interesse den Bewegungen der Figur und rückt sie in den Blick. In den Rückblenden und Traumsequenzen übernimmt er stattdessen vollständig die innere Sicht des Protagonisten. Diese subjektiven Passagen stehen jedoch in keinem Spannungsverhältnis zu den objektiven, sondern ergänzen sie und tragen zusammen mit ihnen zur Stabilität der erzählten Weit des Films bei. Es sind demgegenüber die Videosequenzen, die als eine Art narratives Sprengmittel in Cache fungieren, da ihr Status nicht abschließend geklärt wird. Als vorgefundenes Material ausgewiesen, können sie nicht dem unsichtbaren Erzähler zugeordnet werden, von dessen anthropomorpher Sichtweise sie sich durch den statischen, gleichsam entmenschlichten Blick, den sie wiedergeben, unterscheiden. Da auf den Videos keine Kamerabewegung und keine Fokussierung auf Details erkenn­bar ist, gewinnt man den Eindruck eines extrem distanzierten, ausschließlich re­gistrierenden Blicks. Es scheint kaum möglich, die Videobänder endgültig in den Kontext der Filmerzählung einzuordnen. Je nachdem, welche Kommunikations­ebene des Films man wählt, ergeben sich drei Möglichkeiten, sich die Herkunft und Bedeutung der Videos zu erklären.

Die erste Möglichkeit besteht darin, sie einer Figur zuzuweisen, etwa Majid, Majids Sohn, Pierrot oder beiden Söhnen zusammen. Gegen Majid, der vermut­lich das stärkste Motive haben dürfte, um Georges zu verunsichern, spricht, dass

46 Siehe die kritische Diskussion dieses, zum Beispiel von Wsewolod I. Pudowkin in seinem Buch Filmtechnik (1926) formulierten Modells bei David Bordwell, Narralion in the fiction film (s. Anm. 4), S. 9-12.

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er unmittelbar vor seinem Selbstmord leugnet, etwas mit den Videos zu tun zu haben. Die Glaubwürdigkeit dieser Aussage im Angesicht des Todes ist sehr groß, aber doch nicht unumstößlich, da wir keinen Einblick in das Selbstverhältnis der Person haben. Ahnliches gilt für Majids Sohn, dem man aufgrund seines selbst-bewussten Auftretens und seiner kritischen Fragen eine Verbindung mit den Vi­deobändern zutrauen könnte. Warum sollte er jedoch nach dem Tod seines Va­ters und nachdem er zuletzt von sich aus die verbale Konfrontation mit Georges sucht, leugnen, der Absender der Filme zu sein? Für Pierrot und Majid als ge­meinsame Täter spricht einiges, vor allem, dass man beide in der letzten Einstel­lung des Films im Gespräch miteinander sieht. Doch bleibt auch diese Vermu­tung vage, da uns der Film nicht hören lässt, was die beiden Söhne sich zu sagen haben. Je nachdem, welche Figur man mit den Videos in Verbindung bringt, können sie als eine bestimmte Form der Mitteilung, als Warnung, Drohung, Hilfeschrei oder unbequeme Frage verstanden werden. Letztlich bleiben jedoch alle Versuche, das Rätsel der Videos auf der Ebene der Figuren zu lösen, Mutma­ßungen, so dass wir in unseren Spekulationen nicht über den Wissensstand des Protagonisten hinausgelangen.

Die zweite Möglichkeit wäre, sie als Ausdruck der innerpsychischen Kommu­nikation von Georges zu verstehen, sie also strukturell mit den Traum- und Erin-ncrungs;,equei_zen gleichzaserze.i. Man kör.ntc sie dann als innere Stimme des Protagonisten, als sein schlechtes Gewissen begreifen, das ihn gegen den eigenen Willen zwingt, sich mit seiner Vergangenheit und seinem Fehlverhalten zu be­schäftigen. So gesehen wäre Georges Laurent nicht das Objekt äußerer Anfein­dungen, vielmehr brächten die Videobänder eine moralische Krise und deren psychische Folgen an den Tag. Auch diese psychologisch-moralische Lesart kann Plausibilität für sich beanspruchen, sie steht allerdings im Gegensatz zu der realis­tischen Sichtweise, bei der man andere Figuren als Absender der Videos an­nimmt. Um diesen Gegensatz aufzuheben, müsste uns die Filmerzählung An­haltspunkte dafür bieten, wieso es in der erzählten Welt des Films nicht nur zu einer Verselbstständigung, sondern zu einer Vergegenständlichung innerpsychi­scher Vorgänge kommen kann. Derartige Anhaltspunkte, etwa der Hinweis auf ein göttliches Subjekt, das an die in der realen Welt geltenden Naturgesetze nicht gebunden ist und deshalb mithilfe übernatürlicher Zeichen in Georges Laurents Leben einzugreifen vermag, sind jedoch nicht zu erkennen.

Schließlich wäre es denkbar, und zwar als Konsequenz aus dem soeben kon­statierten Widerspruch zwischen einem realistischen und einem psychologischen Verständnis der Videobänder und als Folge der von diesem Widerspruch ausge­henden illusionsstörenden Irritation, den Ursprung der Videos nicht mehr in der innerfilmischen Welt, sondern außerhalb, das heißt letztlich beim Regisseur, an­zusiedeln und anzunehmen, dass er uns mit den Videos vor Augen führen will, wie die Hauptfigur, die einen bestimmten sozialen Typus repräsentiert, in einer krisenhaften Situation reagiert. Dieser Verstehensansatz betrifft nicht mehr das Verhältnis der Figuren untereinander und auch nicht das Selbstverhältnis der Hauptfigur, sondern zielt auf die Kommunikation zwischen Film und Zuschauer.

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Indem der Zuschauer das Handeln der Figur infolge der Unlösbarkeit der Video­frage als konstruiertes, vom Regisseur gewissermaßen ausgestelltes durchschaut, verlässt er die fiktive, illusionistische Welt des Films, auf die er sich affektiv ein­gelassen hatte. Er betrachtet den Film gleichsam von außen als Teil seiner eigenen Welt und begreift im besten Fall, dass es hier um ihn selbst und sein eigenes Ver­halten geht, das es zu ändern gilt.

Alle drei Zugänge sind, obwohl gegensätzlich, möglich. Wir müssen als Zu­schauer akzeptieren, dass dies so gewollt ist. Während die Spannung im her­kömmlichen Thriller ganz auf den Ausgang der Handlung ausgerichtet ist, um dort aufgelöst zu werden, bleibt sie am Ende von Cache erhalten und wendet sich auf die Strukturen des Films zurück. Es kommt zu einer absichtlichen Verdunk­lung wesentlicher Relationen des Films. Dies betrifft zuallererst die Beziehungen der Figuren zueinander, die nicht völlig durchschaubar sind; es betrifft des weite­ren die moralische Position des Protagonisten, die zweideutig erscheint, und schließlich wirkt es sich auch auf den ästhetischen, scheinhaften Status des Films selbst aus, der den Zuschauer auffordert, seine genießende Haltung aufzugeben, das Dargestellte zu bewerten und auf sich selbst zu beziehen. Wir wollen im Fol­genden diese semantischen Bereiche der Übersichtlichkeit halber getrennt nach­einander behandeln, wohl wissend, dass sie im Film zusammenwirken und dass gerade dieses spannungsvolle Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Tenden­zen die eigentümliche Wirkung des Films ausmacht.

Soziale Spannungen

Die Videos zeigen an, unabhängig davon, wer sie geschickt hat, und was er damit bezweckt, dass der Empfänger unter Beobachtung steht. Gerade die Ungreifbar-keit des Gegenübers und die Unklarheit seiner Motive sind in der Lage, eine Verunsicherung auszulösen, die sich in der Folge in verschiedenen Bereichen be­merkbar macht. Der Film nutzt das Motiv der Angst als Möglichkeit, soziale Strukturen und Positionen zu hinterfragen und sie in ihrer Brüchigkeit bzw. Verletzlichkeit auszustellen. Dies gilt vor allem für die bürgerliche Kleinfamilie, die elementare Einheit der Gesellschaft, aber auch für die Stellung des Einzelnen als Angehöriger einer bestimmten Schicht und nicht zuletzt für die Gesellschaft als ganze, die sich von Eindringlingen bedroht fühlt.

Bereits die ersten Sequenzen des Films, in denen wir das Haus der Laurents sehen und dann Zeuge werden, wie sie sich dessen Bild auf dem Fernsehschirm in ihrer Wohnung anschauen, kündigen an, dass der Blick des Anderen, des Frem­den, in den Schutzraum der Familie eingedrungen ist und dort zu Unstimmig­keiten und Konflikten führt. Im Folgenden offenbaren sich die Defizite hinter der Fassade bürgerlicher Sicherheit und familiärer Harmonie. Das Verhältnis zwi­schen Anne und Georges kann als abgekühlt und routiniert bezeichnet werden. Während der gesamten Handlung herrscht zwischen den Eheleuten eine gereizte Stimmung. Anne ist verletzt, weil Georges sie nicht ins Vertrauen zieht und be-

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lügt. Offenbar ist die Kommunikation zwischen den beiden gestört, offenbar ist vor allem Georges nicht in der Lage, sich zu öffnen und seine Befürchtungen mit seiner Frau zu teilen, was auch als Zeichen männlicher Ausdrucksschwäche zu werten ist, da Anne eine Aussprache immer wieder einklagt. Erst ihre Geste des Handauflegens nach dem abschließenden Gespräch in dem abgedunkelten Raum deutet eine Wiederannäherung der Partner an, die sich zuvor kaum berührt hat­ten.

Auch die Beziehung zwischen Eltern und Sohn ist gestört. Besonders nach sei­nem mysteriösen Verschwinden und Wiederauftauchen wird das reservierte Ver­halten Pierrots deutlich. Er wehrt die Fragen und Zärtlichkeiten der Mutter wie auch die Annäherungsversuche des Vaters ab. Während Anne mutmaßt, dass Georges ihr etwas verschweigt, verdächtigt Pierrot seine Mutter, dass sie ein Ver­hältnis mit ihrem Freund Pierre habe. Der Film lässt es offen, ob diese Vermu­tung zutrifft, was einem Vertrauensbruch Annes gegen Georges gleichkäme, und ebenso, ob Pierrot etwas mit den Videos zu tun hat. Sollte es so sein, dann hätte man die Videobotschaften als Kritik am Vater, aber auch als Zeichen einer Rei­fung des Kindes zu verstehen, das sich anschickt, die moralische Autorität der Eltern in Frage zu stellen.

Die von den Videos ausgelöste Angst greift neben der Familie auch auf die so­ziale und berufliche Stellung der Hauptfigur über. So -veist der Redakteur z\ire:ht darauf hin, dass es nicht nur peinlich für Georges wäre, wenn etwas von der Sa­che an die Öffentlichkeit gelangte, sondern dass seine Karriere auf dem Spiel steht. Es ist mithin die Gefahr des gesellschaftlichen Abstiegs und des Statusver-lusts, der sich der Protagonist ausgesetzt sieht. Majid bringt es später auf den Punkt, als er Georges entgegenhält, dass er wohl viel zu verlieren habe und dem­entsprechend viel tun müsse, um nichts zu verlieren. Der Preis den Georges, das bürgerliche Mittelschichtssubjekt, und seine Mitmenschen für seine bzw. ihre ge­sellschaftliche Stellung zu zahlen haben, ist hoch. »La victoire a un prix«, heißt es auf einem Poster in Pierrots Zimmer. Es ist der Preis der Härte gegen sich selbst und gegen andere, die der Einzelne aufbringen muss, um in die Position des Sie­gers zu gelangen und sie zu halten. Es ist der Preis, der den anderen, den Be­nachteiligten und Zu-kurz-Gekommenen, die in dem Kampf auf der Strecke bleiben, aufgebürdet wird, und es ist schließlich der Preis andauernder Angst, da man sich der einmal erreichten Position nicht sicher sein kann.

Diese Angst trägt auch xenophobe Züge. Schon Georges' aggressive Reaktion nach dem Beinahezusammenstoß mit einem Radfahrer lässt eine latente rassisti­sche Haltung zu Tage treten, wobei Anne noch vermittelnd agiert, indem sie auf die Teilschuld beider Parteien verweist. Als sich für Georges mehr und mehr ab­zeichnet, dass Majid für die Videos verantwortlich sein könnte, projiziert er so­gleich seine Angst vor dem Fremden auf Majid und unterstellt ihm kriminelle Motive und Böswilligkeit, die er sich später, im Gespräch mit dem Redakteur, durch einen »pathologischen Hass auf die Familie« erklärt. Während Majid bei ihrer ersten Begegnung höflich bleibt, sich gegenüber Georges' Eltern und sogar gegenüber diesem selbst, dafür, dass er gekommen ist, dankbar zeigt, verweigert

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Georges jegliche Verständigung. Anders als Majid, versagt er dem anderen das vertrauensvolle Du, um zuletzt doch, in seiner beinahe handgreiflichen Wut, die Distanz aufzugeben und damit jede Chance zur Einfühlung in die Lage Majids und zur Anteilnahme an seinem Schicksal ungenutzt zu lassen. Ein ähnliches Verhalten legt er später gegenüber Majids Sohn, als er auf dessen Zudringlichkeit nur mit Drohungen zu antworten vermag, an den Tag.

Als Pierrot unangekündigt für eine Zeit verschwindet, zweifelt der in Unruhe versetzte Vater keinen Moment daran, dass Majid seinen Sohn entführt haben könnte. Auffallend ist, mit welcher Selbstverständlichkeit ihm dabei die Polizei zur Hand geht, die sich somit zum willfährigen Handlanger seiner Verdächtigun­gen macht. Der Film verknüpft die Geschichte seines Helden mit einer Aussage über die politisch-geistige Situation im postkolonialen Frankreich. Es besteht ein fiktiver Zusammenhang zwischen der gemeinsamen Vergangenheit von Georges und Majid, die bereits als Kinder zusammentrafen, und dem Massaker vom 17. Oktober 1961, bei dem unter dem Befehl des damaligen Polizeipräfekten Papon anlässlich einer friedlichen Demonstration von Algeriern in Paris zahlreiche De­monstranten von der Polizei getötet und ihre Leichen in die Seine geworfen wur­den. Der Vorgang wurde lange Zeit tabuisiert und öffentlich nicht aufgearbeitet. In dieser Hinsicht lässt sich von einer allegorischen Schicht des Films sprechen, von einer mitlaufenden Nebenbedeutung. Die Schwierigkeiten, die der Held hat, sich mit seiner Vergangenheit auseinander zu setzen, können als Beispiel verstan­den werden für eine Tendenz zur Verdrängung innerhalb der französischen Ge­sellschaft, die nicht an die Schattenseiten ihrer kolonialen Geschichte erinnert werden möchte und sich nicht zu der ihr daraus entstehenden Verantwortung bekennen will.

Die moralische Verantwortung

Die den Videos beiliegenden Zeichnungen deuten im Stil von Kinderzeichnun­gen bruchstückhaft auf ein zurückliegendes Vergehen, bei dem es um die Schlachtung eines Hahnes und um einen blutenden Jungen geht. Ihr Sinn erklärt sich mit der Zeit durch ergänzende Rückblenden und durch Erläuterungen des Protagonisten. Der Schwerpunkt der Filmerzählung liegt jedoch nicht auf der detektivischen Enthüllung eines lebensgeschichtlich zurückliegenden Traumas, mit dessen Auflösung, wie häufig etwa bei Hitchcock (vgl. Spellboundoder Verti­go), eine Heilung des Traumatisierten eintritt und die im Film dargestellte Krise an ihr Ende gelangt. Das Hauptgewicht liegt vielmehr auf der anhaltenden Be­deutung des vergangenen Ereignisses für die Gegenwart und das gegenwärtige Verhalten der Hauptfigur.

Nachdem Majids Vater und Mutter, die auf dem elterlichen Hof von Georges gearbeitet hatten, bei dem Massaker in Paris ums Leben gekommen waren, hatten sich Georges' Eltern entschlossen, den kleinen Majid zu adoptieren. Dieser Ent-schluss kann als ein Ausdruck tätiger Solidarität mit dem Schwächeren, als bei-

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spielhafter Versuch der Integration eines Mitglieds einer ethnischen Minderheit und nicht zuletzt als ein Akt privater Kompensation für staatliches Unrecht ver­standen werden. Eine Adoption Majids hätte faktisch eine Verbrüderung der bei­den Kinder zur Folge gehabt. Das Verhalten der Eltern von Georges bleibt den­noch zweideutig. Zuerst übernehmen sie Verantwortung, dann, als sich erste Schwierigkeiten einstellen, geben sie diese kurzerhand wieder ab und überlassen das ihnen anvertraute Kind staatlicher Fürsorge, so dass es in Heimen aufwachsen muss. Es fällt nicht schwer, sich den traumatischen Charakter des Vorgangs für Majid vorzustellen, der gleichsam zweimal kurz hintereinander seine Eltern ver­liert. Auch mag die Tatsache, dass sich Georges' Mutter später im Gespräch mit ihrem Sohn kaum noch an die Vorgänge erinnert, auf die Verdrängung einer un-eingestandenen Schuld verweisen.

Gegenüber Anne erklärt Georges, dass er Majid bei seinen Eltern denunziert habe, indem er ihnen sagte, Majid spucke Blut. Es wird nicht völlig klar, ob diese Denunziation auf einer Einbildung des Kindes beruhte, ob ihr Inhalt böswillig erfunden war oder der Wahrheit entsprach. In jedem Fall weckt die an Majid be­obachtete oder ihm unterstellte Blutung den Gedanken an eine schwere, womög­lich ansteckende Krankheit und bringt so die geradezu physische Angst vor dem Fremden zum Ausdruck, von der sich auch Georges' Eltern offenbar nicht gänz­lich f-eimachen konnten.

Dass Majid, von Georges angestiftet, einen Hahn schlachtete, lässt sich in ei­nem übertragenen Sinne als Angriff auf die Autorität des Vaters verstehen. Die Szene erlaubt eine tiefenpsychologische Deutung, wenngleich eine solche für das Verständnis des Films insgesamt nicht ausschlaggebend sein dürfte. Man könnte sagen: Majid setzt sich, indem er den Hahn tötet, unwissentlich an die Stelle des Vaters, insofern er die von ihm ausgehende Kastrationsdrohung symbolisch an einem Ersatzobjekt, das selbst patriarchale Züge trägt, in die Tat umsetzt. Dies musste als Affront gegen den Vater verstanden werden, zumindest war es von dem Anstifter Georges unbewusst wohl so gemeint gewesen. In einer kurzen Sze­ne sehen wir den erwachsenen Georges, der nach einer Nacht mit Alpträumen, bevor er das Frühstückszimmer betritt, in dem schon seine Mutter auf ihn wartet, für einen Moment die Tür zu einem Raum öffnet, wo sein Blick auf einen leeren Sessel, anscheinend den verwaisten väterlichen Platz, fällt. Die Szene scheint vage die Erinnerung an die einstige Rolle und Macht des Vaters heraufzubeschwören. In Georges' Traum, dieser Sequenz vorausgehend, richtet Majid, nachdem er den Hahn getötet hat, das Beil gegen Georges selbst. Die Aggressionen gegen Majid bzw. gegen den Vater, denen das Tier zum Opfer gefallen war, wenden sich nunmehr, im Zuge der Wiederkehr des aus dem Bewusstsein Verbannten, auf den zurück, von dem sie ausgegangen waren.

Entwicklungspsychologisch ist das Verhalten des kleinen Georges keineswegs ungewöhnlich. Hinter der Ablehnung Majids, auch wenn sie mit einer hinterhäl­tigen List verbunden ist, steht nichts anderes als die Rivalität um die Liebe der Eltern, so dass Georges wohl nur einem natürlichen Verlangen folgte, als er Ma­jid die Brüderschaft verweigerte. Während Georges als Erwachsener Majid verges-

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sen hatte, bevor ihn die Videos zwingen, sich seiner zu erinnern, beruhte sein Verhalten als Kind auf einer, wenn auch negativen Anerkennung des anderen, dem zumindest potenziell der Status eines ebenbürtigen Mitsubjekts eingeräumt wurde. Insofern Georges als Kind kaum anders handeln konnte, ist seine Schuld ambivalent. Er war schuldlos, da er so handeln musste, wie er es tat, und er hat sich doch schuldig gemacht, indem er das Leben eines anderen nachhaltig negativ beeinflusste. Die Schuldlosigkeit ist zweifach begründet. Sie beruht zum einen auf der Unfähigkeit eines Sechsjährigen, moralisch zu handeln, da ein Kind dieses Alters gerade erst beginnt, sich die Normen der Erwachsenen anzueignen, um sie später auch in Abwesenheit der Eltern zu befolgen. Sie basiert zum anderen, all­gemein betrachtet, auf der vorgefundenen politisch-historischen Situation, für die weder Georges noch seine Eltern persönlich verantwortlich gemacht werden kön­nen. Der entscheidende Punkt liegt demnach nicht in dem Verhalten des Kindes, sondern in dem des Erwachsenen in Bezug auf die Folgen seines vergangenen Handelns. Man könnte es sich leicht machen und das Ereignis in der Kindheit als eine unbedeutende Episode, als einen belanglosen Eifersuchtskonflikt unter Kin­dern abtun. Georges selbst versucht sich eine Zeit lang, auf diese Weise zu beru­higen. Aber offenbar geht es dem Film um die subjektive Übernahme einer Ver­antwortung für eine objektiv nicht oder nicht voll zurechenbare Handlung. Dies­bezüglich muss man konstatieren, dass der Protagonist alles daran setzt, um diese Verantwortung nicht zu übernehmen und dass er am Ende gerade deshalb sein inneres Gleichgewicht verliert.

Georges Laurent zeigt sich, während er dem Absender der Videobänder auf die Spur zu kommen versucht, unfähig zu einer mitfühlenden Einstellung gegenüber Majid. Er nimmt sein Leiden nicht wahr, weder von Angesicht zu Angesicht noch, als ihm auf einem Video die Verzweiflung Majids ausdrücklich als Folge seiner eigenen, abweisenden Haltung präsentiert wird. Anstatt Mitleid zu emp­finden, anstatt auf die Idee zu kommen, Majid zu helfen, ergeht er sich in Ankla­gen und Verdächtigungen. Unklar bleibt, ob er dem sterbenden Majid nicht so­gar die rettende Hilfe verweigert, wobei ihm allerdings eine gewisse Lähmung durch den Schock, den die plötzliche Tat des anderen ausgelöst haben dürfte, zu­gute zu halten wäre. Insgesamt versagt Georges in seiner Beziehung zu Majid, dem Fremden, der fast sein Stiefbruder geworden wäre. Die zweite Chance, die ihm das Schicksal oder ein gnädiger Autor gewährte, um die früh aufgeladene Schuld wieder gutzumachen, nutzt er nicht und wird dadurch erneut schuldig. Auch nach Majids Tod scheut er die Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle in dem Geschehen. So geht er nach dem Selbstmord zunächst ins Kino oder sucht doch dessen Nähe, um sich zu zerstreuen. Im abschließenden Gespräch mit An­ne, als diese ihn nach den wahren Hintergründen des Vorgangs befragt, scheint er sich anfangs vor allem für die Reaktionen seiner ahnungslosen Freunde zu inter­essieren, um sicher zu gehen, dass er vor ihnen seine Maske nicht verliert. Und auch die Schlaftabletten, die er schließlich, um sich zu betäuben und vor der Welt zu verschließen, einnimmt, dienen der Verdrängung, sind Ausdruck der Weigerung, sich selbst, geschweige denn anderen die Verantwortung für Majids

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Leben und Sterben einzugestehen. Dennoch wird deutlich, dass Georges zuletzt seine ursprüngliche Sicherheit verliert. Zwar ändert sich nichts an seiner äußeren Situation, Besitz und Status bleiben gewahrt, die Familie intakt, doch ist der Seelenfrieden dahin. In den Bildern, die der Einschlafende halluziniert, kehrt am Ende die Erinnerung an die Schüsselszene der Kindheit und damit das schlechte Gewissen zurück, das sich nicht mehr beruhigen lässt.

Inwiefern lässt sich in diesem Zusammenhang von einer tragischen Konstella­tion sprechen? Georges zieht an einer Stelle des Films in Erwägung, Majids Schicksal tragisch zu nennen, ist sich aber nicht sicher, ob es diese Bezeichnung verdient. In der Tat ist das Unglück, das Majid widerfährt, genau genommen, nicht tragisch, insofern hier kein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem, was Majid erleidet, und seinem eigenen Verhalten besteht, zumindest nicht, soweit es uns im Film mitgeteilt wird. In einem weniger strengen Sinne sind wir zwar ge­neigt, Majids Schicksal als tragisch zu verstehen, doch befindet sich nicht Majid, sondern Georges in einer tragischen Situation, auch wenn er nicht völlig unter­geht. Denn es ist niemand anderes als Georges selbst, der den Verlust seines inne­ren Friedens und damit seines Glücks durch eben die Schritte, die diesen Verlust verhindern sollen, herbeiführt. Es ist Georges selbst, der sich gegen die eigene Intention allmählich seine schuldhafte Verstrickung in Majids gescheitertes Le­ben bewtss* macht und der nach dessen Tod mit dieser Schuld leben muss.

Georges und Majid lassen sich auch als Repräsentanten gegensätzlicher sozialer Kräfte verstehen, die im gegenwärtigen Frankreich, und nicht nur dort, aufeinan­dertreffen. Folglich kann der Zuschauer die in Cache angezeigte tragische Endsi­tuation, sofern sie die Hauptfigur betrifft, auch auf das Verhältnis zwischen den privilegierten Mitgliedern der westlichen Wohlstandsgesellschaften zu den um ihr Recht und ihren Anteil am Wohlstand kämpfenden Einwanderern aus ärmeren Ländern übertragen. Und dieses Verhältnis kann seinerseits, auch dies suggeriert der Film, im umfassenderen Kontext der Beziehung zwischen den westlichen In­dustriestaaten und den Ländern der so genannten Dritten Welt gesehen werden, die auch nach dem Ende des Kolonialzeitalters von den Ersteren ausgebeutet werden. Anstatt eine Lösung der Konflikte anzudeuten und damit die Möglich­keit einer Integration der Benachteiligten und Ausgebeuteten in das herrschende Sys-tem zu suggerieren, sucht der Film die Auflösung der vorhandenen Struktu­ren zu forcieren, indem er auf eine Anerkenntnis der Schuld derjenigen drängt, die in dieser Situation profitieren, auch wenn sie persönlich nicht zur Verant­wortung zu ziehen sind. Damit ist selbstverständlich auch der Betrachter des Films gemeint, der in der Regel zu diesen Profitierenden gehören dürfte. Be­trachten wir deshalb nun, wie der Film die Rolle des Zuschauers nicht nur re­flektiert, sondern mit dem Thema der moralischen Verantwortung verbindet.

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Die Subversion des bloßen Beobachtens

Michael Hanekes Film macht uns an mehreren Stellen darauf aufmerksam, dass die Realität, so wie wir sie wahrnehmen, immer schon das Ergebnis einer kon­struktiven Zurichtung ist, die sich bestimmter Absichten und Interessen ver­dankt. Schon am Beginn des Films geschieht dies im Hinblick auf die Realität des Films selbst. Nach und nach schieben sich die Namen der an der Herstellung von Cache beteiligten Personen und Institutionen vor das Bild, bis sie es zur Gänze verdecken. Der Hinweis auf Geldgeber, auf den Autor und Regisseur des Films wird hier nicht, wie zumeist, der Darstellung vorausgeschickt oder nachgestellt bzw. beiläufig in diese eingefügt, sondern überlagert sie vollständig. Dadurch wird dem Zuschauer der mediale Charakter des Produkts, seine Künstlichkeit, und nicht zuletzt seine Abhängigkeit von vorgängigen Interessen und Entschei­dungen gleich zu Anfang vor Augen geführt.

Auch das Motiv der Iris - die Straße, von der aus der anonyme Filmer das Haus der Laurents gefilmt hatte, trägt den Nainen »Rue des Iris« - weist in diese Richtung, indem es nicht nur das Sehen als solches, sondern das Nichtsehen im Sehen ins Spiel bringt. Denn so wie die Iris, die Augenblende, die Größe der Pu­pille und damit die Menge des Lichts, die das Auge empfängt bzw. nicht emp­fängt, steuert, so impliziert jedes Einblenden immer auch ein Ausblenden, jede Sinnzuschreibung ein Ausschließen von Sinn.

In der Literatursendung, als deren Moderator Georges Laurent fungiert, wird dieser Sachverhalt am Beispiel des Werks von Rimbaud thematisiert. Wir werden zunächst Zeuge, wie die Gesprächsteilnehmer über die Rolle von Rimbauds Schwester Isabelle, die eigenmächtig einzelne Gedichte ihres Bruders vernichtet hatte, streiten. Darin ist bereits die Frage der Autorschaft und des Werks als Ef­fekt eines Eingriffs in Sinnstrukturen angesprochen. Später sieht man, dass Geor­ges, der sich diese Diskussion am Monitor des Fernsehstudios angeschaut hatte, seinerseits kürzend und verfälschend in die Sendung eingreift, indem er die Wi­dersprüche zwischen den Diskutanten kurzerhand tilgt, aber auch neue Akzente, wie etwa das Thema der Sexualität, setzt.

Auch die amüsant-skurrile Geschichte, die ein Freund der Laurents bei einem Abendessen zur Unterhaltung zum Besten gibt, ist aufschlussreich im Hinblick auf die Frage der Erzeugung von Sinn. Sie handelt von dem unglaublichen Fall einer Seelenwanderung vom Hund zum Menschen, wird aber von dem Erzähler so überzeugend vorgetragen, dass sie ihre beabsichtigte verblüffende Wirkung nicht verfehlt. Ausschlaggebend hierfür ist, dass der Erzähler den Zuhörern, an­ders als etwa der anonyme Absender der Videobänder, persönlich bekannt ist, außerdem, dass er in seiner Geschichte selbst vorkommt und sich dabei als ratio­nal denkender Mensch präsentiert, der mögliche Einwände der Hörer vorweg­nimmt, und schließlich auch, dass er, wohl berechnet am Ende seiner Erzählung, auf ein körperliches, das heißt von ihm selbst nicht hergestelltes Beweismittel, die Narbe am Hinterkopf, verweist. Die Geschichte zeigt, wie Glaubwürdigkeit ei­nerseits gezielt hergestellt wird, andererseits von der Zustimmungsbereitschaft des

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Zuhörers oder Beobachters abhängt, der etwas glaubt oder nicht glaubt, sieht oder nicht sieht. Während die Erzählung bei Anne einen unmittelbaren physi­schen Reflex auslöst und in dieser Hinsicht bereits auf die spätere Selbstmordsze­ne vorausweist, die ähnlich, wenn auch ungleich heftiger, auf den Zuschauer wir­ken wird, bleibt Georges skeptisch und vermutet sogleich, dass sie von einem an­deren Autor stamme.

Es ist das Verdienst von Cache, dass der Film es bei diesen Hinweisen auf den rhetorischen und konstruktivistischen Charakter unserer Welterfahrung nicht bewenden lässt, sondern auf die Konsequenzen aufmerksam macht, die sich dar­aus für das zwischenmenschliche Verhalten und die soziale Praxis ergeben. So sind die Fernsehbilder, wie sie in der Wohnung der Laurents ablaufen, ein ekla­tantes Beispiel für eine Gleichzeitigkeit von Sehen und Nichtsehen, mit der die Verdrängung nicht nur von Ungerechtigkeit und menschlichem Leid, sondern auch von Mitverantwortung hierfür einhergeht. Gezeigt werden Berichte über ta­gespolitische Ereignisse im Ausland, in China, Indien und im Nahen Osten, wo­bei unter anderem der Irakkrieg und das Vorgehen der westlichen Truppen ange­sprochen werden. Man kann davon ausgehen, dass die Berichte ebenso zerstük-kelt, gerafft und manipuliert sind, wie die Literatursendung, für deren Endfas­sung Georges Laurent verantwortlich ist. Als dekoratives Element der Bücher­wand hat der Fernseher in der Wohnurg der Lrur^nts wie di- Sendurg -'on Georges, primär eine ornamentale bzw. unterhaltende Funktion. Daher wohl auch die Ähnlichkeit zwischen Wohnzimmereinrichtung und Studiokulisse. Von den Bildern geht keinerlei Verstörung oder Bedrohung auf den Betrachter aus. Vielmehr sind sie geeignet, ihn zu zerstreuen und zu entspannen und ihm da­durch die Realität, von der sie künden, so weit auf Distanz zu halten, dass sie ihn persönlich nicht mehr betrifft.

Auch Georges' Versagen beruht im Kern darauf, dass er die Dinge, die sich di­rekt vor seinen Augen befinden, nicht sieht. Weder sieht er, und er wundert sich später zurecht darüber, den Unbekannten, der ihn beim Verlassen des Hauses filmt, noch nimmt er das Leid Majids wahr, an dem er mitschuldig ist. Auch den schwarzen Radfahrer, mit dem er rast kollidiert wäre, sieht er zunächst nicht. Die Videos offenbaren nicht nur, dass Georges beobachtet wird, sie weisen ihn nicht nur auf bestimmte Ereignisse in seiner Vergangenheit hin, sondern sie spiegeln ihm vor allem auch seinen eigenen affektneutralen Blick zurück, der strukturell dem einer Beobachtungskamera gleicht. Es ist dieser verdinglichende, teil­nahmslose Blick, in den er sich offenbar erstmals als Sechsjähriger eingeübt hatte, als er die Abholung Majids heimlich aus sicherer Entfernung beobachtete. Als Georges sich später, von den aktuellen Vorfällen innerlich zerrüttet und von sei-

47 Zum Verständnis von Verdinglichung als bloß beobachtendes Verhalten siehe die an Georg Lukacs anschließenden Überlegungen bei Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheo­retische Studie, Frankfurt a.M. 2005, S. 19-28. Zum Phänomen der sozialen Unsichtbarkeit und zur Missachtungsform des »Hindurchsehens« vgl. ders., »Unsichtbarkeit. Über die moralische Epistemologie von >Anerkennung<«, in: A. H.: Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Inter-subjektivität, Frankfurt a.M. 2003, S. 10-27.

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nem schlechten Gewissen geplagt, in den Schlaf flüchten will, kehrt die Erinne­rung an diese Szene unwillkürlich zurück. Während Georges' Eltern die Ver­zweiflung Majids nicht mit ansehen konnten oder wollten und zurück in ihr Haus gingen, hatte sich ihr Sohn den Vorgang von der Scheune aus angesehen, wo er sich versteckt hielt. Voraussetzung für den distanzierten Blick auf das Leid Majids, so kann man annehmen, war schon damals die Ausblendung jeglicher empathischer Gefühle für den anderen.

Es ist die erkennbare Absicht des Films, eine solche emotionslose Einstellung, bei der sich der Einzelne anstatt als Teilnehmer eines gemeinsamen sozialen Ge­schehens nur noch wie ein bloßer Beobachter verhält, nicht nur kritisch am Bei­spiel des Protagonisten vorzuführen, sondern auch den Zuschauer in seiner dis­tanzierten Beobachterrolle aufzurütteln und ihn zu veranlassen, diese aufzugeben. Der Betrachter des Films soll sich, während er auf die Lücken und Unstimmig­keiten der Filmerzählung konstruktiv mit gesteigerter Hypothesenbildung ant­wortet, sowohl der spontanen Kräfte, die ihn bei der Bedeutungsbildung antrei­ben, als auch der Verdrängungsakte, die damit einhergehen, bewusst werden. Dies lässt sich abschließend anhand der Darstellung von Majids Selbstmord er­läutern. Es handelt sich um eine Schlüsselszene, in der die Haupttendenzen des Films, also die soziale, die moralische und die ästhetisch-reflexive Bedeutungsdi­mension, eindrucksvoll miteinander verschränkt werden. Demgemäß ergeben sich drei Fragenbereiche, denen sich der Betrachter gegenübergestellt sieht: 1. Warum bringt sich Majid um? Dies betrifft die individuellen Motive und sozialen Gründe seiner Tat. 2. Warum will er, dass Georges ihm dabei zusieht? Damit ist die moralische Dimension des Suizids, insbesondere die Verantwortung des Mitmenschen für das Handeln des Selbstmörders angesprochen. 3. Warum wird dem Zuschauer die Tat derart unvermittelt und schockierend präsentiert? Diese Frage verweist auf den Zusammenhang zwischen der Art der Darstellung und der Rolle des Rezipienten.

Was den Selbstmord in subjektiver Hinsicht betrifft, so kann er zunächst, wie jeder Suizid, als Ausdruck eines Zustands von Ausweglosigkeit und Nicht-mehr-weiter-Können verstanden werden. Bezieht man die Tat auf Majids äußere soziale und persönliche Situation, wie sie im Film, zum Beispiel auch anhand der tristen Wohnverhältnisse, angedeutet wird, so kann man wohl mit Durkheim von einem anomischen Selbstmord sprechen, der eine Folge sozialer Deklassifizierung und fehlender Integration in die Gesellschaft ist. Faktisch signalisiert der Film, in­dem er den Unterprivilegierten aus der Erzählung tilgt, dass dieser in der herr­schenden sozialen Ordnung keinen Platz hat.

Der Selbstmord deutet aber auch über sich hinaus; er will als Mitteilung ver­standen werden. Warum sonst sollte Majid Georges eigens als Zeugen seiner Tat zu sich gerufen haben? Das verspritzte Blut an der Wand in Majids Wohnung, weist zurück auf die Zeichnungen, die den Videos beigefügt waren, und unter-

48 Vgl. Emile Durkheim, Der Selbstmord (1897), übersetzt von Sebastian und Hanne Herkommer, Frankfurt a.M. 1983.

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streicht auf diese Weise den Zusammenhang zwischen der verdrängten Schuld und dem neu entstandenen Unglück. Georges stellt zwar gegenüber Anne eine Verbindung zwischen dem Suizid und den Zeichnungen her, die er nachträglich als Ankündigung der Tat begreift. Er ist jedoch nicht in der Lage, das Menetekel auf sich selbst zu beziehen. Stattdessen glaubt er sogar noch, in der Verzweif­lungstat Majids einen perfiden Angriff auf sich zu erkennen, da er nunmehr als einziger Zeuge verdächtigt werden könnte.

Der brutale, durch nichts vorbereitete Schnitt, mit dem sich Majid die Kehle durchtrennt, trifft den Zuschauer völlig unvorbereitet. Die Tat löst unwillkürli­che Reflexe aus, die direkt auf das Nervensystem des Betrachters, ohne Umweg über das Reflexionsvermögen, wirken. Die Sequenz erinnert an klassische Szenen der Filmgeschichte, so etwa an den berühmten Schnitt ins Auge in Bunuels Un chien andalou (1928), oder auch an Eisensteins »Montage der Attraktionen«, bei der unkonditionierte Reflexe gezielt in die Narration integriert werden, um beim Zuschauer bestimmte Erkenntnisprozesse in Gang zu setzen. Majids unvermit­telter Selbstmord ist ein Akt der Überwältigung, dessen schockierender Wirkung sich der Betrachter nicht entziehen kann, der mithin jegliche Distanz zu dem Ge­schehen einkassiert. Dennoch ist die Szene nach dem Muster der mysteriösen Vi­deobotschaften im Stil einer neutralen Überwachungskamera gefilmt. Es gibt keine Schwenks und Schnitte, die die Aufmerksamkeit und emotiona'e Beteili­gung eines menschlichen Beobachters signalisieren. Somit besteht eine krasse Diskrepanz zwischen der schockierenden Zudringlichkeit des Vorgangs und der kaltsinnigen, desinteressierten Art, in der er dargestellt wird. Diese Gleichzeitig­keit von Distanzierung und Aufhebung der Distanz wirkt äußerst verstörend und unterläuft jede bloß passive Schreckenslust, wie sie zum Beispiel das Fernsehen ermöglicht. Da die Szene zwar äußerlich den Videobotschaften gleicht, jedoch innerhalb der Erzählung definitiv nicht als solche identifiziert werden kann, lässt sich auch die Diskrepanz zwischen Distanz und Überwältigung innerfilmisch, durch Spekulationen auf der Ebene der Fiktion, nicht kompensieren. Man kann nicht mehr sagen, dass es Georges ist, dem hier sein Verhalten, durch wen auch immer, mithilfe eines Videos vor Augen geführt werden soll. Vielmehr steht jetzt die Position des Zuschauers zur Diskussion. Die Unsicherheit in der Sinnzu-schreibung im Hinblick auf die Frage, warum der Schrecken so sachlich und di­stanziert dargestellt wird, greift nunmehr auf den Akt der Sinnzuschreibung selbst über. Sie untergräbt jede sachlich distanzierte Haltung zu dem Dargestellten und konfrontiert den Zuschauer stattdessen mit der Frage, warum er sich selber so sachlich und distanziert verhält. Wenn man sich zudem vergegenwärtigt, dass Georges nach dem plötzlichen Selbstmord Majids für eine Weile aus dem Bild tritt und den Betrachter gewissermaßen mit dem Sterbenden allein lässt, dann wird klar, dass nunmehr der Zuschauer an die Stelle des Protagonisten treten und sich dabei gleichsam selbst beobachten soll. Oder, um es noch genauer zu sagen,

49 Vgl. Sergej M. Eisenstein, »Montage der Attraktionen (1923)«, in: Texte zur Theorie des Films, hrsg. von Franz-Josef Albersmeier, 5. Auflage, Stuttgart 2003, S. 58-69.

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er soll die Verdrängung, der er sich beim Anschauen des Films anheim gegeben hatte, als er glaubte, nur das Handeln eines fiktiven anderen zu beobachten und zu bewerten, aufgeben und begreifen, dass hier seine eigene Sache verhandelt wird: tua res agitur. Da diese Erkenntnis nicht explizit im Film formuliert wird, sondern auf einem Perspektivenwechsel beruht, der dem Zuschauer zwar nahe­gelegt wird, den er aber letztlich selbst zu vollziehen hat, so muss man konstatie­ren, dass es auch am Ende niemand anderes als der Zuschauer selbst ist, der mit sich ins Gericht geht und nicht etwa der Regisseur, der ihm ein bestimmtes Ver­halten vorzuschreiben versucht.

Cache ist somit ein moralischer Film, aber er vermittelt keine explizite morali­sche Botschaft im Hinblick darauf, wie man handeln soll. Stattdessen formuliert er eine negative Position, die er an einem Beispiel demonstriert. Hinter dem Ein­zelfall zeichnet sich eine allgemeine moralische Krise der reichen, westlichen Ge­sellschaften ab, die mit der Furcht vor dem Ende ihrer Vorherrschaft in der Welt einhergeht. An einer Stelle des Films, auf einer Buchpräsentation in Annes Ver­lag, ist larmoyant von »Endzeiten« die Rede. Zwar ließe sich das Positive indirekt aus dem Negativen erschließen, etwa als Plädoyer für eine existenzielle Involviert-heit in das Schicksal und Leiden des anderen oder als Aufforderung, Verantwor­tung zu übernehmen für eine Situation, die man nicht selbst herbeigeführt hat, von der man jedoch begünstigt wird, aber der Film überlässt es dem Zuschauer, seine Schlüsse aus dem verhandelten Fall zu ziehen und diese auf seine eigene Po­sition anzuwenden. In diesem Sinne können wir auch die letzte Einstellung des Films verstehen, die nochmals auf jegliche Fokussierung verzichtet. Es liegt am Betrachter, ob er überhaupt wahrnimmt, dass auf der Schultreppe inmitten der anderen Schüler und Schülerinnen Pierrot und Majids Sohn zusammentreffen. Es hängt vom Zuschauer ab, ob er das Gespräch der beiden, dessen Wortlaut uns nicht mitgeteilt wird, als Abschluss ihrer Komplizenschaft im Zusammenhang mit den Videos verstehen will, ob er darin das hoffnungsvolle Zeichen einer be­ginnenden Verständigung unter den Vertretern der jüngeren Generation erkennt, oder aber die Fortsetzung und Verlagerung des Konflikts der Väter auf die Ebene der Söhne. Der Zuschauer muss aus verschiedenen Sinnmöglichkeiten wählen, und er muss sich der Tragweite seiner Wahl bewusst sein, da jede Deutung nicht nur eine Vermutung, sondern immer auch eine Parteinahme für das, was möglich ist, impliziert und insofern bereits einen Eingriff in die Realität darstellt.

50 Diesbezüglich trifft auf Cache zu, was Georg Seeßlen allgemein über die neuesten Tendenzen des Thriller-Genres schreibt: »Doch alle diese Thriller [...] nehmen auch eine globale Furcht des Mittelstandes der reichen Gesellschaften vorweg. Während der eigene Besitz gerade mit Mühe verteidigt werden kann, mit Altlasten noch genug besetzt und voller Schuld und Schulden, drän­gen schon die Besitzlosen, die Kontaminierten, die Kranken, die wahnsinnig Liebenden, die Nomaden und Identitätslosen in den Innenraum. Die Grenze zwischen dem Innen und dem Außen, zwischen der Familie und der Welt bildet auch die Grenze zwischen der reichen und der armen Welt ab. Strafe und Opfer scheinen beinahe sehnsüchtig erwartet, so schwer wiegen die Verfehlungen beim Aufstieg, so endlos ist der Höllentrip des sozialen und kulturellen Abstiegs.« Georg Seeßlen, Thriller (s. Anm. 45), S. 274.

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VIII TASTE OF CHERRY- EINE ALLEGORIE DER

ZERRISSENHEIT

Mit Abbas Kiarostamis Film Taste of Cherry (Ta'm e guilass, Iran 1997) betrach­ten wir ein herausragendes Beispiel des zeitgenössischen iranischen Kinos. Der Film spiegelt auf eindrucksvolle Weise den mentalen Zustand einer in sich wider­sprüchlichen islamischen Gesellschaft, die von ihren Führern auf eine orthodoxe religiöse Lebensform eingeschworen wird, die sich aber dennoch nicht den säku­larisierenden Tendenzen der westlichen Moderne entziehen kann. Dabei sind konkrete historisch-politische Bezüge im Film kaum vorhanden. Zwar werden der Afghanistan- und der iranisch-irakische Krieg erwähnt, doch ist die Ge­schichte insgesamt eher abstrakt und karg, vergleichbar mit der Landschaft, in der sie spielt. Obwohl denkbar einfach, lässt sich die Handlung nicht ohne weiteres verstehen, da dem Zuschauer wesentliche Informationen vorenthalten werden. Dies entspricht dem programmatischen Anspruch des Regisseurs, der sich dezi-diert für ein »unvollständiges«, »halbfertiges« Kino ausgesprochen hat, das die konstruktive Mitarbeit des Rezipienten verlangt. Das Konzept erweist sich in zweifacher Hinsicht als nützlich: Es sind einerseits gerade die Lücken in der filmi­schen Erzählstruktur, die die Phantasietätigkeit des Betrachters in Gang setzen und seine geistige und emotionale Beteiligung sicherstellen. Andererseits macht sich ein Film mit einem hohen Unbestimmtheitspotenzial, in dem vieles nur in­direkt und in Andeutungen gesagt wird, weniger angreifbar für die Zensur. Taste of Cherry verbindet lyrisch-meditative Passagen, in denen die Bewegungen der Hauptfigur, die mit ihrem Geländefahrzeug die ausgedörrte Hügellandschaft am Rande Teherans befährt, im Mittelpunkt stehen, mit dialogischen und reflexiven Sequenzen, in denen sich eine metaphysische und existenzielle Suche manifes­tiert. Das Ergebnis ist eine dichte filmische Allegorie, die sich auf verschiedenen Ebenen verstehen lässt.

Ein Romanheld auf dem Weg in die epische Welt

Die elliptische Struktur des Films zeigt sich sogleich darin, dass er auf einleitende Hinweise, die den Zuschauer über die Voraussetzungen des dargestellten Gesche­hens aufklären könnten, verzichtet. Man erfährt nichts über die Lebensumstände und den Beruf des Protagonisten Mr. Badii und bleibt auch über mögliche kon­krete Hintergründe oder Auslöser seines ungewöhnlichen Anliegens im unklaren. Wir sehen ihn anfangs, wie er, zunächst in der Stadt, dann am Stadtrand von Te­heran, aus dem Auto heraus mit verschiedenen männlichen Personen Kontakt

51 Vgl. Abbas Kiarostami, Textes, entretiem, fi/mographie complete, Paris 1997, S. 71.

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aufzunehmen versucht, um sie für eine noch ungenannte Aufgabe zu gewinnen, für die er bereit ist, ihnen eine größere Summe Geldes zu zahlen. Die späte Ein­blendung des Vorspanns trennt diese Phase der unbestimmten Suche von den weiteren Vorgängen ab. Im Gespräch mit dem kurdischen Soldaten, allerdings auch hier erst nach einer geraumen Weile, wird dann das konkrete Handlungsziel genannt. Insgesamt dauert es annähernd vierundzwanzig Minuten, bis wir erfah­ren, welche Absicht der Protagonist verfolgt: der seines Lebens überdrüssige Badii will am Abend Schlaftabletten schlucken und sich anschließend in ein selbst ge­schaufeltes Erdloch legen. Er benötigt die Hilfe eines Mannes, der ihn am Mor­gen, im Falle des Todes, mit zwanzig Schippen Erde bedeckt oder ihm aber hilft, sollte er noch am Leben sein, aus dem Loch hinauszusteigen. In den Dialogen mit dem jungen Soldaten sowie mit dem afghanischen Seminaristen, die er beide in seinem Landrover mitnimmt und zu der vorgesehenen Stelle fährt, erläutert Badii eindringlich sein Vorhaben, ohne dass er doch seinem Ziel, einen Helfer zu finden, einen Schritt näher kommt. Die darauf folgende Sequenz, in der Badiis Gestalt im Staub zu versinken scheint, markiert einen Tiefpunkt der Handlung, an den sich unversehens die Wende anschließt. Auffällig und deshalb kommen­tarbedürftig ist der plötzliche Übergang von der einen zur anderen Szene. Es wird nicht gezeigt, wie Badii sein Gegenüber, einen älteren türkischen Mann, der als Tierpräparator im Naturkundemuseum arbe'tet, für sich gewinnen körnte. Erst später wird klar, dass der Mann das ihm von Badii angebotene Geld für die Be­handlung seiner kranken Tochter benötigt. War der Protagonist in den vorausge­henden Szenen der Aktive, der seine Gesprächspartner zu überreden versuchte, ihm den besagten Dienst zu erweisen, so verfällt er nun, während er den Alten, dessen Gesicht wir zunächst lange nicht sehen, zu seiner Arbeitsstelle fährt, in die Rolle des schweigenden Zuhörers. Da der Präparator trotz seiner Zusage versucht, Badii umzustimmen, stellt sich für den Zuschauer die Frage, ob es ihm gelingen wird, Badii von seinem Plan abzubringen. Es gibt Anzeichen, vor allem die Tatsa­che, dass Badii den Mann, von dem er sich schon verabschiedet hatte, nochmals aufsucht, um sich erneut seiner Hilfe zu versichern, die darauf hinweisen könn­ten, dass sich bei ihm, wenn nicht ein Gesinnungswandel, so doch ein Überden­ken seiner ursprünglichen Absicht eingestellt haben könnte. Dennoch gibt er die­se nicht auf und fährt am Abend, wie angekündigt, zu dem Erdloch. Der Schluss bleibt fragmentarisch. Wir sehen, wie sich der Protagonist in das Loch hineinlegt, erhalten jedoch keine Kenntnis davon, ob er überleben wird. Auch der mit einer Videokamera gedrehte Epilog gibt diesbezüglich keine Auskunft, da sein Bezug zu dem Vorausgegangenen nicht eindeutig ist.

Der Filmtitel hat nicht nur eine namengebende, sondern auch eine prädizie-rende Funktion, die eine Hierarchisierung der unterschiedlichen Bedeutungsebe­nen bewirkt. Als Zitat aus der Rede des Präparators suggeriert der Titel Taste of Cherry eine Gesamtdeutung des Films, die auf eine Affirmation der Position die­ser Figur hinausläuft, weiche, grob gesagt, eine naiv lebensbejahende ist. Die dem Film vorangestellte Widmung »Im Namen Gottes« signalisiert zudem die Mög­lichkeit einer religiösen Lesart der Geschichte. Demzufolge ginge es dem Film

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primär um die ästhetische Verstärkung einer vorgängigen religiösen Glaubensge-wissheit, nicht jedoch um eine davon unabhängige subjektiv-künstlerische Aussa­ge über die Realität. Es ist jedoch fraglich, ob die mit dem Titel und der Wid­mung gewählten Schließungsstrategien der offenen Struktur des Films gerecht werden oder ob sie nicht vielmehr nur eine Geschlossenheit des Sinns simulieren sollen.

Besondere Bedeutung kommt der Landschaft zu. Steinig und unwegsam, mit nur spärlicher, von der Sonne ausgetrockneter Vegetation, bietet sie ein trostloses Bild, von dessen Leere und Strenge doch auch eine gewisse Faszination und Sym­bolkraft ausgehen. Die herbstliche Jahreszeit verstärkt den Eindruck des Abster-bens, der Rücknahme von Lebensfunktionen, und korrespondiert dadurch mit dem inneren Zustand des lebensmüden Helden. Es handelt sich um ein Zwi­schenreich zwischen der übervölkerten Großstadt und der kaum belebten oder schon lebensfeindlichen Natur, in dem sich lediglich ein paar Krähen aufzuhalten scheinen. Ein Autowrack, in dem Kinder spielen, am Straßenrand abgelegte Roh­re, eine Baustelle, Baufahrzeuge, grobschlächtige Maschinen, die die Erde bewe­gen und zerkleinern, künden von der nahen Stadt und der sich ausbreitenden Zi­vilisation, deren Spuren bereits das Land wie mit Narben überziehen. Anderer­seits überwiegt doch noch das Anorganische, das Steinige, der Boden, der hier wohl als eine Metapher für den Ursprung und Verwurzelungsgrund des Lebens zu verstehen ist, in dem selbst jedoch kein Leben vorhanden ist. Dass sich der Held in diese Zone hineinbegibt und dort seine Suchbewegungen vollführt, un­terstreicht seine Bereitschaft, sich der Todesnähe auszusetzen.

Über seine soziale Stellung lassen sich aufgrund des Mangels an einschlägigen Informationen nur Mutmaßungen anstellen. Sein Apartment, sein Auto und na­türlich die Tatsache, dass er über einen größeren Geldbetrag verfügt und diesen bei sich trägt, lassen erkennen, dass er wohlhabend ist, vermutlich der Teheraner Mittelschicht angehört. Auch scheint er gebildet zu sein; die Art, wie er zum Bei­spiel die Legitimität des Selbstmords gegenüber dem Seminaristen aus dem lexi­kalischen Vorkommen des Wortes »Suizid« ableitet, deutet daraufhin, dass wir es möglicherweise mit einem Intellektuellen zu tun haben. Eine zentrale, allerdings zweideutige Rolle für die narrative Positionierung der Hauptfigur spielt das Auto. Der Landrover signalisiert einen gewissen Wohlstand und soziale Mobilität. Im Unterschied etwa zur Eisenbahn als kollektives Fortbewegungsmittel verkörpert das Auto Individualismus und Autonomie, und zwar auch im weitergehenden Sinne der Entbindung von sozialen Verpflichtungen und Rollenvorgaben. Ande­rerseits bringt es auch die Kehrseite dieser Errungenschaften zum Ausdruck. Denn es versetzt den Fahrer nicht nur in die Lage, sich an beliebige Orte zu be­geben, sondern es entfernt ihn auch von seinen Mitmenschen, die er aus der Dis­tanz, durch eine Scheibe von ihnen getrennt, beobachtet. Dem entspricht, dass wir während der Fahrten, die Mr. Badii mit seinen Passagieren unternimmt, die Gesprächspartner niemals gemeinsam im Bild sehen. Ist das Auto also auch ein Hinweis auf die Isolation und Entfremdung des Protagonisten, so liegt es nahe, seine Touren, die ihn, scheinbar ziellos kreisend, immer wieder zu dem mögli-

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chen Ort seines Todes führen, als Ausdruck einer Identitätskrise und einer exis-tenziellen Unruhe zu verstehen, die ihrerseits grundsätzlich als eine Folge der Auflösung sozialer Bindungen und der Entwurzelung aus traditionellen, ange­stammten Lebenszusammenhängen angesehen werden kann.

Während Badii den Einzelnen im Verhältnis zum Ganzen verkörpert, sind sei­ne drei Gesprächspartner offensichtlich als Repräsentanten dieses Ganzen konzi­piert. Sie sind daher nicht, wie die Hauptfigur, von der Entfremdung gegenüber der Totalität des Lebens gezeichnet, sondern stellen verschiedene Seinsmöglich­keiten innerhalb einer in sich geschlossenen, selbstverständlichen Ordnung dar. So repräsentieren sie durch ihr unterschiedliches Alter die natürliche Folge der Lebensabschnitte — Jugend, Adoleszenz, Alter - , wobei bezeichnenderweise der Platz der Lebensmitte frei bleibt, die der Held einnehmen könnte. In diese Alters­struktur ist gedanklich die Idee der Familieneinheit einbegriffen, da die drei Männer von Badii aus auch als potenzieller Sohn, Bruder und Vater angesehen werden können. Mit ihrer Herkunft - der Erste ist Kurde, der Zweite Afghane, der Dritte Türke — stehen sie für verschiedene ethnische Bevölkerungsgruppen, aus denen sich das iranische Volk zusammensetzt, dessen Einheit im Film mithin nicht als homogene Ganzheit, sondern als eine ursprünglich vielfältige, mul­tiethnische Struktur abgebildet wird. Schließlich und vor allem begegnet der Held in seinen Begleitern verschiedenen Hahungen d^m Leber gegenüber, unter­schiedlichen Graden, in denen dieses reflexiv geworden ist. Dabei repräsentiert der junge Soldat, in Übereinstimmung mit dem Typus des ganz auf Aktion aus­gerichteten Kriegers, den er verkörpert, eine erste, noch kaum entwickelte Stufe, weshalb er denn auch auf Badiis Bitte nur mit Angst und Panik zu reagieren ver­mag. Der Seminarist gewinnt dagegen Selbstsicherheit daraus, dass er in der Lage ist, sich auf das geoffenbarte Wissen der Religion, auf die kanonischen Zeugnisse und die Autorität einer jahrhundertealten religiösen Tradition zu berufen. Den­noch ist nicht er, sondern der Tierpräparator derjenige, dem im Film das stärkste Gewicht zukommt. Er vertritt die Position der Lebensweisheit, des aus Erfahrung klug gewordenen, abgeklärten und milde gestimmten Mannes.

In Taste of Cherry treffen somit zwei gegensätzliche Bereiche aufeinander: die städtische, von Entfremdung und Fragmentierung gezeichnete Sphäre der Mo­derne, die zugleich Individualismus und Autonomie gewährt, und eine traditio­nelle, noch vormoderne Welt, in der feste Regeln und Pflichten herrschen und in der ein unverbrüchlicher Glaube Negativitäts- und Kontingenzerfahrungen kom­pensiert. Mit einem gewissen Recht könnte man, unter Anwendung literarischer

52 Das »Volk«, das Peter Handke angesichts der Filme Kiarostamis so eindringlich beschwört, er­scheint hier also in einer Konstellation mit einer Figur, die ihm bereits entwachsen ist. Vgl Peter Handke, »Die Geschichte von Hossein und Tahereh. Eine Annäherung an den iranischen Ci-neasten Abbas Kiarostami«, in: P. H., Mündliches und Schriftliches. Zu Büchern, Bildern und Fil­men 1992 - 2002, Frankfurt a.M. 2002, S. 66-77, hier S. 77: »daß es, wo auch immer, in Persi­en, in Kroatien, in Serbien, eine Arr Volk gibt; daß diese Art Volk voll Noblesse, Güte und Wür­de ist [...], daß diese Art Volk groß ist; und daß der Zuschauer an diese Art Volk glauber kann und soll. Weder Hirngespinst ist das bei Abbas Kiarostami noch Idee noch Religion - vidmehr

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Kategorien sagen, dass hier eine Figur des Romans auf Vertreter einer epischen Welt stößt. Während die Romanfigur auf der Suche nach dem Sinn ist und ihn, wenn auch in einem Zustand der Ratlosigkeit, einklagt, wird dieser Sinn von den anderen repräsentiert. Die Handlung besteht darin, dass der Romanheld, unzu­frieden mit sich selbst und seiner Situation, Kontakt aufzunehmen versucht mit den Agenten der epischen Welt. Dass dies ausgerechnet über das Motiv des To­des geschieht, ist insofern heikel, als der Tod in der Romanwelt einen grundsätz­lich anderen Stellenwert besitzt als im Epos. Im Roman als Erzählung von mo­derner Lebenswirklichkeit ist der Tod von entscheidender Bedeutung, bezeugt er doch die Sinnhaftigkeit oder Verfehlung eines je individuellen Lebens von dessen Ende her. Dagegen kommt es in der epischen Erzählung nicht so sehr auf den Schluss und damit auf den Tod an, da das Geschehen, von dem berichtet wird, aufgehoben bleibt in einem übergeordneten natur- oder heilsgeschichtlichen Sinnzusammenhang, in dem der Tod und das Leben eine Einheit bilden.

Der T o d als zweideutiges Handlungsziel

Betrachten wir nun das ebenso schwerwiegende wie seltsame Vorhaben des Pro­tagonisten etwas genauer. Der Film bietet nur spärlich Hinweise darauf, was ge­nau Mr. Badii veranlasst haben könnte, sich das Leben nehmen zu wollen bzw. der Gefahr des Todes auszusetzen. Möglicherweise verbirgt sich eine unglückliche Beziehung hinter seinem Entschluss. Gegenüber dem Seminaristen äußert er sich dahingehend, dass ein unglücklicher Mensch seine Familie, seine Freunde und nicht zuletzt sich selbst verletze und deshalb, um dies zu vermeiden, das Recht habe, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Aber diese Worte lassen sich auch als Ausdruck einer unbestimmten Depression verstehen, deren konkrete Ursachen nicht klar sind. Gerade die Vagheit hinsichtlich der Motivlage kann als Anzei­chen dafür verstanden werden, dass es nicht ein bestimmter Anlass, wie etwa Schulden oder eine unheilbare Krankheit, sondern eine tiefer sitzende Verzweif­lung am Leben ist, die Badii zu dem Schritt veranlasst haben könnte. Unzweifel­haft ist, dass seine Selbstmordabsicht wohlüberlegt, aber auch, dass sie nicht ab­solut ist. Denn ginge es ihm um die Selbstauslöschung als solche und um sonst nichts, er hätte sich längst allein umbringen können. Die Tatsache, dass er andere in seinen Plan einweiht und sogar an seiner Tat beteiligen will, zeigt an, dass der Absicht die letztgültige Entschiedenheit fehlt oder, anders gesagt, dass der Vorgang über sich hinausweisen, dass er eine Bedeutung für das zurückliegende, womöglich auch für das künftige Leben haben soll. Badii schließt ja die Mög­

handgreiflich erlebt und desgleichen erzählt; erzählt und erlebbar; da, anwesend, vorhanden; oder in Abwandlung eines Doderer-Satzes: Das Volk gibt es, denn ich habe es, zum Beispiel vor dem Hintergrund der Filme des Abbas Kiarostami, erlebt.«

53 Siehe hierzu: Walter Benjamin, »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows (1936)«, Gesammelte Schriften (s. Anm. 2) Bd. 11,2, Frankfurt a.M. 1974, S. 438-465.

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lichkeit, dass er die selbst herbeigeführte Tablettenvergiftung überleben könnte, keineswegs aus. Sie gehört vielmehr ausdrücklich mit in sein Kalkül hinein. Im Prinzip bieten sich zwei unterschiedliche Ansätze an, seinen Entschluss zu verste­hen.

Zum einen lässt sich der geplante Selbstmord als Versuch begreifen, einen fi­nalen Akt der Selbstbefreiung auszuführen. Badii möchte, so lässt sich vermuten, zumindest Subjekt seines eigenen Todes sein, wenn es ihm schon nicht möglich gewesen ist, Subjekt seines Lebens zu sein. Das bedeutet natürlich, dass er in letzter Hinsicht doch auch Subjekt seines Lebens sein will, insofern der mit Ab­sicht selbst verursachte Tod ja als alles entscheidender Schlussstein gedacht ist, durch den er seinem Leben im Rückblick einen bestimmten, abschließenden und vollendenden Sinn zu verleihen versucht. Die Frage stellt sich, woher dieses Ge­fühl des Sinnentzugs und der Fremdbestimmung kommt, das Badii mit seiner Tat offenbar überwinden will. Es wäre sicher zu kurz gegriffen, diesbezüglich al­lein auf die Lebenssituation in einem totalitären System zu verweisen, das die Rechte und Freiheiten des Einzelnen durch eine Vielzahl von Regeln und Maß­nahmen beschneidet. Ebenso möglich, wenn nicht sogar plausibler erscheint es, dass Badii unter der Modernisierung der Lebensformen und des damit einherge­henden Zerfalls familiärer, patriarchaler Strukturen leidet, so dass es gerade die Freisetzung aus überkommenen Bindungen urd VerpfHchturgen irt, die er als Entmächtigung seiner Person erlebt. So gesehen entspräche sein Plan dem Durk-heimschen Typ des anomischen Suizids, des Selbstmords als Folge sozialer Des­integration und eines damit verbundenen Orientierungsverlusts. Es scheint eini­ges dafür zu sprechen, dass die Religion selbst in einem theokratischen Staat wie der Islamischen Republik Iran, der nicht nur die Einheit von Staat und Religion in seiner Verfassung festgeschrieben hat, sondern eine konsequente Islamisierung des gesamten öffentlichen und privaten Lebens betreibt, in Teilen der Bevölke­rung ihre soziale Bindekraft einzubüßen beginnt.

Badiis Versuch, auf dem Wege des Selbstmords die geschwundene Freiheit und den zerstörten Lebenssinn zurückzugewinnen, ist indes nicht unproblema­tisch. Bei allem Verständnis, das man seiner Tat als einer Verzweiflungstat entge­genzubringen geneigt ist, so ist es doch fraglich, ob ein Selbstmörder, auch wenn er emotionslos und nach reiflicher Überlegung handelt, eine wirklich freie Handlung begeht. Die westliche Philosophie hat auf diese Frage unterschiedliche Antworten gegeben. So hat beispielsweise David Hume in einem berühmten Es­say den Selbstmord sehr wohl als einen Akt der Freiheit zu rechtfertigen versucht, gegen den es keine plausiblen, vor allem keine moralischen Argumente gebe, da sich eine grundsätzliche Pflicht zu leben nicht begründen lässt. ' Nach Schopen-

54 Vgl. zu dieser Deutung und den möglichen gesellschaftlichen Hintergründen des Films den Leserbrief von Farhad Khosrokhavar, La mort volontairc en Iran, in: Cahiers du cinema 12, 1997, S.7.

55 Vgl. Emile Durkheim, Der Selbstmord^. Anm. 48). 56 Vgl. David Hume, »Übet Selbstmord«, in: Der Seibitmord in Berichten, Briefen, Manifesten, Do­

kumenten und literarischen Texten, hrsg. von Roger Willemsen, München 1989, S. 96-108.

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hauer darf der Selbstmord aus moralischen Gründen zwar nicht verdammt wer­den, doch stellt er in der Regel, das heißt mit Ausnahme des sich zu Tode hun­gernden Asketen, keine Verneinung des Willens zum Leben dar, welche allein ein A.kt der Freiheit wäre; vielmehr ist er sogar ein Phänomen starker Bejahung dieses Willens, der sich nicht selbst, sondern nur seine körperliche Erscheinung ne­giert. Kant sieht im Selbstmord eine sinnwidrige Handlung, bei der sich der Selbstmörder wie eine Sache behandelt, was seinem Status als Person widerspre­che. Und für Sartre lässt der Selbstmord das Leben im Absurden untergehen: »Der Selbstmord kann nicht als ein Lebensende angesehen werden, dessen eigener Grund ich wäre. Als Handlung meines Lebens erfordert er ja selbst eine Bedeu­tung, die ihm nur die Zukunft geben kann; da er aber die letzte Handlung meines Lebens ist, versagt er sich diese Zukunft; demnach bleibt er total unbestimmt.«

Es gibt allerdings noch eine ganz andere Möglichkeit, das Vorhaben Mr. Ba­diis zu verstehen. Wir dürfen ja nicht übersehen, in welche konkrete Situation er sich begeben will. Er beabsichtigt, nach Einnahme einer hohen, womöglich leta­len Dosis Schlaftabletten, sich in ein Erdloch zu legen und dort seinem Schicksal zu überlassen. Der Vorgang trägt deutlich symbolisch-rituelle Züge. Badii will von sich aus jegliche Handlungsfähigkeit aufgeben und sich in eine Lage verset­zen, in der er keinerlei Kontrolle mehr über sich und sein Leben besitzt. Das Unterfangen erinnert an das Prozedere eines Gottesurteils, bei dem der Betroffe­ne gezwungen wird, sein Schicksal in die Hände einer höheren Macht zu legen und es dieser zu überlassen, über ihn zu richten. Offenbar versucht der Protago­nist, indem er sich freiwillig in eine derartige Abhängigkeit begibt und die Natur, Gott oder den Zufall nötigt, über sich zu entscheiden, den Kontakt zu den ver­schütteten Ursprungskräften des Lebens, von denen er sich abgetrennt fühlt, wie­derherzustellen. Auch die Symbolik der Erde und des Bodens weist in diese Richtung. Entweder wird der Held, der sich anschickt, in die Tiefe hinabzustei­gen, dort mit der amorphen Natur verschmelzen oder aber er kehrt, mit neuen Kräften ausgestattet, an die Oberfläche zurück.' Eine wichtige Rolle ist dabei dem Helfer zugedacht. Während dieser im ersten Fall, unter der Voraussetzung, dass der Selbstmord primär als ein Akt der Freiheit gemeint ist, als Agent des Subjekts auftreten soll, um als dessen Zeuge postum den Rückgewinn seiner Au­tonomie zu bestätigen, so erscheint er hier, im Zeichen einer Reintegration in den Lebenszusammenhang, als ein Agent der Lebenssphäre, der den Verzweifelten aus seinem Zustand des Lebendigbegrabenseins ins Leben zurückholen oder aber ge-

57 Vgl. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Textkritisch bearbeitet und hrsg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1986, S. 541-546.

58 Vgl. Immanuel Kant, »Die Metaphysik der Sitten«, Gesammelte Schriften, Akademieausgabe, Bd. VI, Berlin 1914, S. 423.

59 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontotogie, hrsg. von Traugott König, deutsch von Hans Schöneberg und Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 928.

60 Zur Symbolik des Ab- und Aufstiegs in der westlichen Literatur siehe Northrop Frye, Fahles of identity. Studies in poetic mythology, New York 1963, S. 58-66.

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gebenenfalls symbolisch bestatten und damit auch, in einem religiösen Sinne, in einen übergreifenden Kontext zurückversetzen soll.

Nimmt man all dies zusammen, so ergibt sich ein ambivalentes Bild hinsicht­lich des Handlungsziels der Hauptfigur. Badii will seine Freiheit demonstrativ unter Beweis stellen und sucht doch auch den Wiederanschluss an die Kräfte des Lebens. Einerseits ist es gerade die Individualisierung, die er als negativ erlebt, da sie mit einem Entzug von Sinn einhergeht, andererseits kann er doch nicht kur­zerhand in den Schoß der Natur, der Religion oder des Volkes zurückkehren, da ein solcher Schritt Entdifferenzierung, Rücknahme der einmal erreichten Souve­ränität und damit Regression bedeuten würde. Folglich strebt er danach, und dies ist letztlich wohl der Kern seines eigenartigen Projekts, als Individuum, als souve­ränes Subjekt in den Kreis der Instanzen aufgenommen zu werden, die die Ein­heit des Lebens verbürgen. Doch dieses Ansinnen ist nicht nur vermessen, son­dern geradezu paradox und erzählerisch kaum zu bewältigen. Denn ein erfolgrei­cher Übertritt des Protagonisten von der einen in die andere Sphäre ist nur denk­bar unter der Voraussetzung einer Transformation, entweder des Protagonisten, der sich zurückentwickeln müsste oder aber der von ihm betretenen traditionellen Welt, die sich zu modernisieren hätte, womit in keinem Fall etwas für das ange­strebte Ziel gewonnen wäre. Die Folge ist, dass der Film die Bemühungen seines Helden nicht zu einem definitiver Ziel führen kam, sondern stattdessen die Stärke des Konflikts und die Unversöhnlichkeit der unterschiedlichen Bereiche anhand der Schritte herausarbeitet, die der Held unternimmt, um sie einander anzunähern.

Potenzielle Helfer

Die Reise beginnt in den Straßen Teherans, aiso an einem paradigmatischen Ort moderner Lebenswirklichkeit. Wir sehen Badii, wie er sich durchs Fenster seines Landrovers von Männern ansprechen lässt, die auf der Suche nach Arbeit sind. Arbeitslosigkeit, ökonomische Not, die Schattenseiten der Großstadt deuten sich an. Schon ein Stück weit außerhalb der Stadt versucht der Protagonist, in der Nähe einer Telefonzelle einen Mann zum Einsteigen zu bewegen und ihm Geld anzubieten, woraufhin dieser ihn aggressiv abwehrt. Aus den Bruchstücken des Telefonats, das der Mann zuvor geführt hatte, können wir schließen, dass er im Begriff ist, ein Geschäft zu tätigen. Möglicherweise will er sein Haus verkaufen oder sich eine Wohnung in der Stadt nehmen. Es ist von einem Grundbuchein­trag die Rede. Es mutet seltsam aber auch bedeutsam an, dass er sich mit seinem Geschäftspartner später außerhalb eines Museums treffen will, so als weise dies auf Badiis Weg voraus, der ihn ebenfalls in die Nähe eines Museums führen wird. Der nächste, dem er begegnet und eine, immer noch unspezifische Verdienst­möglichkeit in Aussicht stellt, ist ein Mann, der auf einer Müllkippe Plastiktüten sammelt, um sie für einen geringen Betrag der Wiederverwertung zuzuführen. Es handelt sich um ein Opfer der Modernisierung, um einen Landflüchtling ohne Besitz und Bildung, der ein geächtetes Dasein am Rande der Gesellschaft fristet,

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die sich bereits anschickt, sich nach westlichem Vorbild in eine Konsum- und Wegwerfgesellschaft zu verwandeln. Sinnigerweise trägt er einen gefundenen Pullover mit dem Kürzel einer amerikanischen Universität, das er nicht entziffern kann. Bemerkenswert ist, dass Badii, bevor der Mann sich von ihm abwendet, auf dessen Frage angibt, in einem gewissen Sinne aus derselben Gegend zu stammen wie jener, sich also selbst als einen Entwurzelten fern der Heimat charakterisiert. Bis zu diesem Punkt erscheint es nicht unwahrscheinlich, und besonders die hef­tige Reaktion des Telefonierenden unterstreicht es, dass Badii auf der Suche nach einem sexuellen Kontakt ist. Offenbar hat der Regisseur diese falsche Fährte ab­sichtlich gelegt, damit der Zuschauer, wenn er im Laufe des Films eines anderen belehrt wird und seine Vermutung korrigieren muss, auf seine eigene Deutungs­tätigkeit aufmerksam wird und sich somit selbst als konstitutiven Teil des Ganzen erlebt. Zudem entspricht die Annahme, Badii suche ein homosexuelles Abenteu­er, der Tatsache, dass wir uns an dieser Stelle des Films gewissermaßen noch auf der Seite der Moderne befinden, also aus Sicht der traditionellen Welt in einem Bereich der Aufhebung von Normen, die unter anderem auch bestimmen, welche sexuellen Beziehungen zulässig und welche illegitim sind.

Der erste, den Badii zu sich ins Auto nimmt und mit dem er ein langes Ge­spräch führt, ist der kurdische Soldat. Aufgrund seiner Jugend und seiner bäuerli­chen Herkunft verkörpert er die unverbrauchten Kräfte des Volkes, zu denen sich der Protagonist hingezogen fühlt. Ausdrücklich betont dieser denn auch, dass er seiner und nicht der Hilfe eines Totengräbers bedürfe. Auch sagt er von ihm, dass er ihn wie einen Sohn ansehe. Deutlich wird, dass die Militärzeit im Leben des Helden eine besondere Rolle gespielt hat. So erinnert er sich mit Freude an die Ausbildung und das morgendliche Exerzieren mit den anderen Rekruten. Der Stellenwert dieses Motivs wird dadurch hervorgehoben, dass wir später noch zweimal im Film marschierende Soldaten sehen: zuerst unmittelbar im Anschluss an das Gespräch mit dem jungen Kurden, dann in der Schlusssequenz. Anschei­nend hat Badii das Exerzieren als eine beglückende Gemeinschaftserfahrung er­lebt. Und anscheinend kam es ihm dabei vor allem auf den Vorgang der Integra­tion in die Gruppe an, betont er doch besonders das gemeinsame Zählen, das ja den Zweck hatte, die Bewegungen des Einzelnen an den Rhythmus der Gruppe anzupassen. Daraus lässt sich umgekehrt schließen, dass es der Verlust der Ge­meinschaft ist, unter der der Protagonist am meisten leidet. Dennoch scheitert der Versuch, mit dem Soldaten zu kommunizieren. Weder gelingt es Badii, mit ihm gemeinsam zu zählen, noch kann er ihn für seinen Plan gewinnen. Nicht nur die in Aussicht gestellte Bezahlung, die, wie er selbst konstatiert, keinen Bezug zu dem eigentlichen Zweck der verlangten Handlung hat, sondern auch seine Erklä-rungs- und Überredungsversuche bleiben zu abstrakt und vage, als dass sie dem anderen die Furcht und den Eindruck des Ungeheuerlichen, der von dem Vorha­ben ausgeht, nehmen könnten.

Bevor er sich als nächstes dem Seminaristen zuwendet, um ihn um Hilfe zu bitten, hat er noch zwei Begegnungen, die von Bedeutung sind. Als sein Wagen mit dem Vorderrad von der Straße abkommt, eilen sogleich einige Landarbeiter

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herbei und helfen ihm zurück auf den Weg. Obwohl es sich um einen Akt spon­taner, selbstverständlicher Solidarität gegenüber einem Fremden handelt, wie sie Badii doch eigentlich sucht, zeigt er sich hiervon kaum berührt. Zu sehr ist er noch mit sich selbst beschäftigt und in seiner Melancholie gefangen. In dem Wächter der Zementmaschine trifft er sodann auf einen Mann, der buchstäblich seinen Platz im Leben gefunden hat. Die Selbstverständlichkeit, mit der er seine Pflicht, obwohl sie unangenehm und mit Einsamkeit verbunden ist, erfüllt, kon­trastiert mit Badiis rastloser Suche, erscheint aber auch absurd, bewacht er doch ein Objekt, das keine Bewachung nötig hat. Das Thema der Ortlosigkeit bzw. der Absurdität der Verortung klingt auch in dem kurzen Dialog über das Grab des Imam Ali an, das die einen im irakischen Nadschaf, die anderen im afghanischen Masar-e Scharif verehren.

Die Tatsache, dass Badii sich als nächstes an den Seminaristen wendet und mit ihm zu der präparierten Stelle fährt, lässt vermuten, dass er die Beziehung zum Glauben noch nicht aufgegeben hat. Allerdings stellt er klar, dass er nicht den re­ligiösen Rat des zukünftigen Mullahs benötige, sondern der Hand eines wahren Gläubigen bedürfe. Der Seminarist wird also nicht als Repräsentant der religiösen Ordnung angesprochen, sondern er soll in einer von Badii bestimmten Situation als Gläubiger den Kontakt zur göttlich-transzendenten Sphäre herstellen. Selbst­verständlich muss dT Serrinrrisr Bidi's Ans'nnen ablehnen, d°nr d~r Islam "er­bietet sowohl den Selbstmord als auch die Beihilfe zum Suizid, und um eine sol­che Beihilfe würde es sich ja handeln, da Badii erst durch die Zusage seines Hel­fers in den Stand versetzt werden würde, seinem Leben ein Ende zu setzen. Der Koran und die Hadithe enthalten mehr oder weniger eindeutige Aussagen gegen die Selbsttötung.' Der Seminarist verweist zudem auf die zwölf Imame der schii­tischen Tradition. Auch im Christentum gibt es das Verbot des Selbstmords. Man denke hier nur an die unnachgiebige Härte, mit det Augustinus und Tho­mas von Aquin den Selbstmord verurteilen odet auch daran, dass Selbstmörder kirchlicherseits jahrhundertelang geächtet wurden und außerhalb des Friedhofs bestattet werden mussten. Hintergrund dieses religiösen Selbstmordvcrbots ist letztlich, ob im Islam oder Christentum, die Annahme, dass das Leben eine Gabe ist, die dem Menschen von Gott geschenkt wurde und über die er deshalb nicht selbst frei verfügen kann. Folglich muss jede Selbsttötung als ein Frevel, als eine Aufsässigkeit gegenüber Gott verstanden werden, die in letzter Konsequenz an den Fundamenten des Glaubens und der durch ihn bestimmten Ordnung rührt. Für den Protagonisten von Taste of Cherry gilt dieses religiöse Verbot jedoch nicht mehr, denn er will selbst bestimmen, wie und wann er aus dem Leben scheidet. Der Glaube hat für ihn seine verpflichtende Kraft verloren, aber er stellt auch kein Band mehr dar, das ihn mit anderen Gläubigen vereint. Obwohl er ihn um Hilfe bittet, verweist er selbst auf die unüberwindbare Kluft, die ihn von dem Seminaristen trennt. Dieser könne zwar vielleicht, wenn er sie darlegen würde,

61 Vgl. Franz Rosenthal, »On Suicidc in Islam«, in: Journal of the American oriental society 66, 1946, S. 239-259.

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die Gründe verstehen, die ihn zu seinem Schritt bewegt haben, niemals aber kön­ne er den Schmerz, den er verspüre, nachempfinden. In der Gewissheit, dass dem anderen die eigene Innenwelt auf immer verschlossen bleibt, scheint sich für Ba-dii das Gefühl der Vereinzelung, des unwiderruflichen Abgeschnittenseins von der Totalität des Lebens zu verstärken.

Es ist daher nur folgerichtig, dass nach der Verabschiedung von dem Semi­naristen eine längere Sequenz folgt, die den Helden innerlich und äußerlich am Abgrund zeigt. Man sieht, wie Badiis Schatten an der Felswand, stellvertretend für ihn selbst, von der Ladung eines Baggers scheinbar verschüttet wird, so als solle damit das geplante Begräbnis bildlich vorweggenommen werden. Im Blick auf eine Maschine, die Steine zerkleinert, scheint er seine eigene Pulverisierung, die Rückkehr in Staub und Erde, zu imaginieren. Ungeachtet der Gefahr, von herabrollenden Felsbrocken erschlagen zu werden, begibt er sich an den Rand ei­ner Geröllhalde, wo er im Staub fast verschwindet, bis ihn ein Arbeiter auffordert, den gefährlichen Ort zu verlassen. Bemerkenswert ist, dass sich an diese, von De­pression und Lethargie geprägte Szene unvermittelt die lange Fahrt mit dem Prä­parator anschließt, die in die entgegengesetzte, hoffnungsvolle Richtung weist. Die fehlende Überleitung mag erzählökonomisch begründet sein. Vielleicht will es der Regisseur dem Zuschauer nur ersparen, Badiis Erklärungen noch einmal mit anhören zu müssen. Die Aussparung ist aber auch sinnfällig, denn sie stiftet einen neuen Zusammenhang, indem sie die Bilder der Depression an die Stelle dieser Erklärungen setzt. Unweigerlich wird der Betrachter den ersten, Einver­ständnis suggerierenden Satz, den wir Badii an seinen neuen Fahrgast richten hö­ren (»Also, keine Fragen mehr?«), auf die zuvor gezeigten Bilder beziehen, so als seien sie jene Darlegungen, die den anderen veranlasst haben, ihm zu helfen. Mit der Zustimmung des Präparators verlässt Badii, erzähllogisch gesehen, den Be­reich der entfremdeten modernen Lebenswirklichkeit und betritt tendenziell schon die Sphäre der Tradition und der Natur, von der er sich abgespalten fühlt. Auch unter diesem Aspekt ist die Erzähllücke signifikant, da sie - in Überein­stimmung mit der Tatsache, dass der Film eine Vermittlung beider Sphären im Ganzen nicht abbildet - dem Zuschauer hier bereits den Moment des Übergangs, der gelingenden Kontaktaufnahme mit der Gegenwelt, vorenthält.

Statt der bisherigen Kreisbewegungen hat die Fahrt nun ein Ziel; sie führt zu­dem talabwärts in fruchtbareres, freundlicheres Gelände. Obwohl der alte Mann seine Unterstützung schon zugesagt hat, versucht er doch alles, Badii von seinem Plan abzubringen. Sein Name wird später mit Bagheri angegeben. Es ist zwar nur ein nebensächliches Detail, aber sicher nicht zufällig, dass er im Film der Einzige ist, der denselben Namen trägt, wie der Schauspieler, der ihn spielt. Dies soll of­fenbar die Authentizität der Figur, die von keinerlei innerer Zerrissenheit geplagt wird und daher in völliger Übereinstimmung mit sich selbst handelt, unterstrei­chen. Auch der Beruf des Mannes ist sicherlich von Bedeutung. Als Tierpräparator hat er die Aufgabe, Tiere zu töten und ihre Kadaver so aufzubereiten, dass sie dau­erhaft wie lebensecht erscheinen. Während er einerseits gegenüber Badii als Statt­halter des Lebens auftritt und dessen Schönheiten preist, ist er andererseits je-

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mand, der Leben nimmt und mithilft, Totes auszustellen. Darin liegt aber nicht nur kein Widerspruch, vielmehr ist es gerade die Selbstverständlichkeit, mit der er gegensätzliche Handlungen ausfuhrt, die auf jene übergeordnete, natürliche Ein­heit von Tod und Leben verweist, in die aufgenommen zu werden der Protagonist des Films bestrebt ist. Auf verschiedene Weise versucht Bagheri, auf sein Gegen­über einzuwirken. Im Mittelpunkt steht die Geschichte des eigenen, gescheiterten Selbstmordplans, der den Lebensmüden im Sinne eines Gegenbeispiels von seinem Weg abbringen soll. Die Geschichte handelt im Kern von der Störung und Resti­tution einer natürlichen Ordnung, wobei möglicherweise ein Konflikt unter Ehe­leuten, genauer gesagt, eine Schwächung der Position des Mannes, ausschlagge­bend ist. Am Ende tritt die Natur selbst in Gestalt einiger Maulbeeren, eines Son­nenaufgangs und mehrerer unschuldiger Schulkinder als Wiederherstellerin der Ordnung auf. Der zeitliche Rahmen der Erzählung, die sich von der späten Nacht zum anbrechenden Morgen erstreckt, korrespondiert mit Badiis Geschichte, bei der wir allerdings nicht erfahren, ob der Held den Sonnenaufgang noch erleben wird oder nicht. Die Botschaft ist eindeutig: der Zuhörer soll sich selbst als Teil der Natur begreifen und ihr für den Überreichtum an sinnlichen, unverfälschten Erfahrungen, die sie ihm bietet, dankbar sein. Wie eine Mutter, so Bagheri, die für ihre Kinder sorgt, nur unvergleichlich freigiebiger, sei die Natur bzw. der göttliche Schöpfer. Mit einer Reihe iherorischer Fraget., i.i drnen er die einfachen Fi;uclen des Lebens rühmt, versucht er, Badii klarzumachen, dass er gegen seine eigene in­nere Stimme handelt, wenn er freiwillig auf dieses Angebot verzichtet. Und die Pointe seines Witzes über einen vermeintlich am ganzen Körper Erkrankten zielt darauf, ihm die gestörte Selbsrwahrnehmung vor Augen zu führen. Der Tierpräpa­rator tritt somit insgesamt als ein Repräsentant der Natur auf und vertritt eine Po­sition die man im Schillerschen Sinne als »naiv« bezeichnen könnte. Es ist zu be­zweifeln, ob seine Rede der »sentimentalischen« Position Badiis, die demgegenüber vom Verlust der Natur gezeichnet ist, angemessen ist und ob sie ihren Adressaten folglich überhaupt erreicht.

Immerhin scheint Badiis Lebensmut durch das Intervenieren des Präparators zurückzukehren. Schon die bloße Aussicht auf den Rückgewinn des verloren ge­gangenen Kontakts zur Natursphäre scheint ihm neue Kräfte zu verleihen. Wohl deshalb kehrt er, nachdem er sich bereits von Bagheri getrennt hatte, nach kurzer Zeit noch einmal zu ihm zurück, um sicherzustellen, dass er von ihm am Morgen auch tatsächlich, sollte er dann noch am Leben sein, geweckt und nicht etwa schlafend begraben wird. Diesem zweiten Dialog mit dem Präparator geht eine flüchtige Begegnung am Straßenrand voraus, bei der Badii aufgefordert wird, ein Paar zu fotografieren. Da die Szene offensichtlich die Umkehr einleitet, kommt ihr eine besondere Bedeutung zu. Allerdings ist ihr Sinn nicht eindeutig. Badii wird unversehens Zeuge eines hoffnungsvollen, optimistischen Ereignisses, das er möglicherweise mit seiner eigenen Lebenssituation in Verbindung bringt. Auffal­lend ist, dass dabei die Initiative von der Frau ausgeht, die Badii bittet, das Foto zu machen, während der Mann passiv im Hintergrund bleibt. Wenn darin einer­seits, wie schon in der Geschichte des Präparators, andeutungsweise ein Un-

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gleichgewicht zwischen Mann und Frau thematisiert sein sollte, sich aber anderer­seits in Badiis anschließender Umkehr eine wiedergewonnene Zustimmung zum Leben abzuzeichnen beginnt, dann könnte man vermuten, dass ihn die Szene, vorbereitet durch die lange Rede des Präparators, vielleicht veranlasst haben könnte, eine zurückliegende, zuvor als problematisch empfundene Liebesbezie­hung oder Ehe neu zu bewerten. Aber eine solche Vermutung ist spekulativ und lässt sich nicht weiter erhärten. Auch muss man konstatieren, dass die Spannung, die den Protagonisten innerlich zu zerreißen droht, am Ende nicht aufgelöst wird, sondern noch zunimmt. Symptomatisch hierfür ist jene eigentümliche Szene nach dem zweiten Gespräch mit Bagheri. Die Szene besitzt eine eindringliche Symbolkraft. Badii bleibt noch, nachdem der Präparator wieder zu seinem Unter­richt gegangen ist, eine Weile in der Nähe des Naturkundemuseums. Sein Blick richtet sich nach oben, wo ein Flugzeug am Himmel einen geraden Kondens­streifen hinter sich herzieht; dann betrachtet er einige Schulkinder, die unterhalb des Museums im Sportunterricht im Kreis laufen. Oben und unten, Linie und Kreis markieren abstrakt jene beiden Pole von Fortschritt und Tradition, Auto­nomie und Lebenseinheit, die der Held, aber auch der Film insgesamt nicht mit­einander versöhnen kann.

Die Zuspitzung des Widerspruchs

Wir sehen Badii zuletzt schemenhaft, als einsames, isoliertes Subjekt hinter den Gardinen in seiner nächtlichen Stadtwohnung, in die uns der Einblick verwehrt bleibt. Man darf annehmen, dass er nunmehr die Tabletten schluckt. Als er das Haus verlässt, richtet sich der Blick der Kamera kurz auf eine andere, ebenfalls noch erleuchtete Wohnung, um anzudeuten, dass sein Fall wohl kein Einzelfall ist. Dass er anschließend mit dem Taxi und nicht mit dem eigenen Wagen zu dem Ort fährt, an dem er sterben oder auch weiterleben will, signalisiert bereits eine gewisse Rücknahme seiner Autonomie. Eindrucksvoll ist sodann die letzte Sequenz des Hauptteils. Badii legt sich in das selbst geschaufelte Loch und macht damit sein Vorhaben wahr. Donnergrollen kündigt ein Gewitter an. Dunkle Wolken schieben sich vor den Mond, und es wird finster. Zeitweise erhellen noch Blitze das Gesicht des Einschlafenden, dem schließlich die Augen zufallen. Dann hört man den Regen, die Spannung entlädt sich. Das Gewitter fungiert hier nicht als finales, pathetisches Zeichen, um den Zuschauer mit einer Gefühlsaufwallung aus dem Kino zu entlassen, sondern es deutet Naturkausalität an. So wie auf Donner und Blitz gewöhnlich Regen folgt, so mag der Held nun zurückgekehrt sein in den Kreislauf von Leben und Tod. Über das weitere Schicksal des Mannes erfahren wir jedoch nichts. Es wird nicht mitgeteilt, ob er in dieser Nacht gestor­ben ist oder ob ihm ein Neuanfang vergönnt war. Die Geschichte bricht ab, ohne zu Ende zu sein.

Auch der Epilog hat nicht, wie gewöhnlich, die Aufgabe, noch offene Fragen zu beantworten, die Vorgänge zusammenzufassen, ihre Konsequenzen aufzuzei-

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gen oder neue Perspektiven zu eröffnen; vielmehr verstärkt er nochmals die Zweideutigkeit, die die gesamte Filmerzählung bestimmt hatte. Gezeigt werden die exerzierenden Soldaten und die Filmcrew. Es ist Frühling, die Landschaft ist ergrünt, sogar einige Sträucher blühen. Der Schauspieler, der den Mr. Badii ge­spielt hatte, zündet sich eine Zigarette an und gibt sie dem Regisseur. Dieser for­dert die Soldaten per Funk auf, anzuhalten und verkündet, dass die Filmaufnah­men beendet seien und man nun Tonaufnahmen mache. Erstmals erklingt Mu­sik, die von Louis Armstrong gespielte Instrumentalversion eines berühmten Blues (St. James Infirmary), von dem eine schwermütige, aber gleichzeitig auch heitere Stimmung ausgeht. Es herrscht eine entspannte, im Falle der Soldaten so­gar ausgelassene und fröhliche Atmosphäre.

Da wir den Ort und einige Akteure wiedererkennen, lässt sich der Epilog mit einigem Recht auf die vorausgegangene Handlung beziehen und in einem gewis­sen Sinne als deren Fortsetzung verstehen. So deutet der Frühling auf neu erwa­chendes Leben und damit auf die Möglichkeit einer Wiedergeburt des Protagoni­sten. Die Musik lässt an den Engel Israfil denken, der nach islamischer Vorstel­lung am Jüngsten Tag beginnt, seine Trompete zu blasen. Dass die Soldaten an­stelle von Gewehren Blumen tragen, unterstützt den Eindruck eines paradiesi­schen Ortes, und dass sie an genau der Stelle rasten, wo sich zuvor Badii seinem Schicksal übTl?ssen hatt?, rugjerert zusammen m't den übrigen Andeutungen, dass ihm am Ende der Aufstieg in eine transzendente Sphäre geglückt sein könnte und er von seinen Qualen erlöst wurde. Eine solche Interpretation setzt allerdings voraus, dass wir die unvollständige Geschichte aufgrund der Hinweise des Epilogs ergänzen und Geschlossenheit herstellen, wo Offenheit vorliegt.

Man darf nicht übersehen, dass sich der letzte Teil des Films deutlich von dem Übrigen unterscheidet. Mit einer Videokamera gefilmt, in teils verwackelten und farblich verwaschenen Bildern trägt er bereits in seiner Machart einen dokumen­tarischen und eher privaten Charakter zur Schau. Auch ist der Epilog zeitlich in­kompatibel zu dem Vorausgegangenen, da auf eine Herbstnacht unmöglich ein Frühlingstag folgen kann. Und vor allem macht der Film zum Schluss auf seinen eigenen Fiktionalitätscharakter aufmerksam, indem er die hinter der Kamera an seiner Herstellung beteiligten Personen auftreten und mit den Schauspielern in-teragieren lässt. Er legt die Karten auf den Tisch und gibt sich als künstlich er­zeugtes Produkt zu erkennen, das sich eines bestimmten Kalküls und einer be­stimmten Weltsicht verdankt. Auch die Musik entspricht nicht nur, als Trauer­marsch, dem Thema des Films, sondern sie öffnet ihn auch, als Jazzstück, auf ei­nen anderen Kulturkreis hin und universalisiert damit seine Botschaft. Außerdem enthält sie für den, der das zugrunde liegende Lied kennt, unterschwellig einen Kommentar zu dem Geschehen, da in dem Liedtext ein Mann an der Leiche sei­ner Frau sein künftiges Begräbnis imaginiert.

62 Vgl. Michael Pricc, »Imagining Life: The Ending o( Taste ofCherry«, in: Senses of Cinema 10, 2001, http://www.sensesofcinema.eom/conrents/01/17/cherry.html#13 (Stand: 19.5.2007).

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Der Status des Epilogs ist somit ambivalent. Er kann sowohl als Verstärkung der metaphysischen und harmonisierenden Tendenzen des Films, wie auch als Bruch mit ihnen gelesen werden. Man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er die angedeutete religiöse Utopie bekräftigen oder ob er die filmische Illusion zer­stören und Distanz zu dem Dargestellten herstellen soll. Kontinuität und Dis­kontinuität halten sich die Waage. Die Schwarzfilmsequenz zwischen Hauptteil und Epilog mag ebenso als Überleitung wie auch als Trennung zwischen den bei­den Teilen des Films angesehen werden. Man könnte ihn mit einem Gemälde vergleichen, bei dem nicht zu klären ist, wo das Bild aufhört und wo der Rahmen anfängt. Eine definitive Bestimmung der finalen Position der Hauptfigur ist folg­lich nicht möglich. So endet Taste of Cherry mit der Aussicht auf Erlösung des Helden und zugleich mit dem Hinweis darauf, dass dies nur fiktiv ist und also der Prozess der Entzauberung nicht mehr aufzuhalten, geschweige denn rückgän­gig zu machen ist. Darin liegt ein Widerspruch, der den Film aber als ganzen aus­zeichnet und der deshalb am Ende nicht aufgelöst, sondern besonders deutlich herausgestellt wird. Auf diese Weise bringt der Film die innere Befindlichkeit ei­ner zwischen Tradition und Moderne zerrissenen Gesellschaft prägnant zum Ausdruck.

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