nur wenn du allein kommst eine reporterin hinter den

34
Leseprobe Souad Mekhennet Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den Fronten des Dschihad Bestellen Sie mit einem Klick für 12,00 € Seiten: 384 Erscheinungstermin: 10. Juni 2019 Mehr Informationen zum Buch gibt es auf www.penguinrandomhouse.de

Upload: others

Post on 16-Nov-2021

1 views

Category:

Documents


0 download

TRANSCRIPT

Page 1: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

Leseprobe

Souad Mekhennet

Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den Fronten des Dschihad

Bestellen Sie mit einem Klick fuumlr 1200 euro

Seiten 384

Erscheinungstermin 10 Juni 2019

Mehr Informationen zum Buch gibt es auf

wwwpenguinrandomhousede

Inhalte

Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Authentisch mutig und spannend wie ein Krimi

Die Journalistin Souad Mekhennet verfuumlgt uumlber ungewoumlhnliche

Verbindungen zu den meistgesuchten Maumlnnern des Dschihad ndash und uumlber

ein einzigartiges investigatives Talent Sie deckte die Entfuumlhrung und

Folterung des Deutsch-Libanesen Khaled el-Masri durch die CIA auf

interviewte den Fuumlhrer von al-Qaida im Maghreb lernte ein aumlgyptisches

Foltergefaumlngnis unfreiwillig von innen kennen und enttarnte den

beruumlchtigten IS-Henker raquoJihadi Johnlaquo Ihre meisterhaften Nahaufnahmen

lassen uns die Kaumlmpfe und Wuumlnsche der islamischen Welt besser

verstehen und zeigen dass sich der Clash zwischen Islam und Westen in

Wirklichkeit nur in den Koumlpfen abspielt

Autor

Souad Mekhennet Souad Mekhennet hat schon immer zwischen den

Welten gelebt Die Tochter einer tuumlrkischen Mutter

und eines marokkanischen Vaters ist in Deutschland

aufgewachsen recherchiert seit dem 11 September

2001 uumlber den islamistischen Terror ist

Souad Mekhennet hat schon immer zwischen den Welten gelebt Die Tochter einer tuumlrkischen Mutter und eines marokkanischen Vaters ist in Deutschland

aufgewachsen recherchiert seit dem 11 September 2001 uumlber den islamistischen Terror ist Sicherheitskorrespondentin der Washington Post und internationale

Publizistin 2018 erhielt sie den Sonderpreis des Nannen-Preises sowie den Ludwig-Boumlrne-Preis

Besuchen Sie uns auf wwwpenguin-verlagde und Facebook

Meinen Groszligeltern Eltern und Geschwistern

Inhalt

9 Prolog Verabredung mit ISISTuumlrkei 2014

16 1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

46 2 Die Hamburger ZelleDeutschland 1994 ndash 2003

76 3 Ein Land mit gespaltener SeeleIrak 2003 ndash 2004

107 4 Ein Anruf von Khaled el- MasriDeutschland und Algerien 2004 ndash 2006

126 5 Selbst wenn ich heute sterben sollteLibanon 2007

151 6 Die Verlorenen von ZarqaJordanien 2007

173 7 Der Wert eines LebensAlgerien 2008

188 8 Guns amp RosesPakistan 2009

204 9 MukhabaratAumlgypten 2011

228 10 Das ist kein Arabischer FruumlhlingDeutschland und Tunesien 2011

246 11 BedrohungenBahrain Iran und Deutschland 2011 ndash 2013

269 12 Nachwuchs fuumlr das KalifatDeutschland 2013

282 13 Braumlute fuumlr das KalifatDeutschland und Frankreich 2014 ndash 2015

301 14 Auf der Suche nach einem islamistischen Beatle oder Wie ich Jihadi John enttarnteEngland 2014 ndash 2015

326 15 Die RadikalisiertenOumlsterreich Frankreich und Belgien 2015 ndash 2016

347 Epilog Mitten ins HerzDeutschland und Marokko 2016

364 Dank 367 Anmerkungen

9

Prolog Verabredung mit ISISTuumlrkei 2014

Ich sollte allein kommen Ohne Ausweispapiere oder sonstige Dokumente Handy Aufnahmegeraumlt Uhr und Handtasche sollte ich in meinem Hotel in Antakya lassen Erlaubt waren lediglich ein Notizbuch und ein Kugelschreiber

Im Gegenzug verlangte ich mit jemandem zu sprechen der etwas zu sagen hatte und mich uumlber die Langzeitstrategie des Islamischen Staats im Irak und in Syrien kurz ISIS aufklaumlren konnte Es war im Sommer 2014 drei Wochen bevor die Gruppe weltweit bekannt wurde durch die Veroumlffentlichung eines Videos das die Enthauptung des amerikani-schen Journalisten James Foley zeigte Doch bereits zu diesem Zeitpunkt vermutete ich dass der IS eine zentrale Rolle im weltweiten Dschihad spielen wuumlrde Ich hatte fuumlr die New York Times diverse groszlige deutsche Zeitungen und die Washington Post uumlber militante Islamisten in Europa und dem Nahen Osten berichtet und mitverfolgt wie sich die Gruppe nach den Anschlaumlgen vom 11 September zwei von den USA gefuumlhrten Kriegen und dem sogenannten Arabischen Fruumlhling formiert hatte Im Lauf der Jahre hatte ich mit verschiedensten kuumlnftigen IS- Mit gliedern gesprochen

Ich sagte meinen Kontakten dass ich mir keine Fragen verbieten las-sen und ihnen den fertigen Artikel auch nicht zur Freigabe vor legen wuumlrde Auszligerdem wollte ich eine Garantie dass man mich nicht ent-fuumlhren wuumlrde Und da mir eingeschaumlrft worden war niemanden von der Washington Post mitzubringen bat ich meinen Vertrauensmann mitneh-men zu duumlrfen ndash den Kontakt der das Interview arrangiert hatte

Prolog Verabredung mit ISIS

10

laquoIch bin nicht verheiratetraquo sagte ich den IS- Anfuumlhrern laquoIch kann nicht mit euch allein seinraquo

Als muslimische in Deutschland geborene und aufgewachsene Frau marokkanisch- tuumlrkischer Abstammung bin ich ein Sonderfall unter den Journalisten die sich mit dem globalen Dschihad beschaumlftigen Seit ich als Studentin meine ersten Artikel uumlber die Selbstmordattentaumlter des 11 September schrieb hat meine Herkunft es mir ermoumlglicht mit Chef-strategen des Dschihad in Verbindung zu treten ndash wie eben dem Mann den ich an jenem Julitag in der Tuumlrkei treffen sollte

Mir war bekannt dass der IS Journalisten als Geiseln nahm Nicht bekannt war mir dass der Kommandeur der mich erwartete fuumlr die Geiselnahmen zustaumlndig war zudem Vorgesetzter des Killers mit dem britischen Akzent der immer wieder in den Enthauptungsvideos des IS auftauchte und als laquoJihadi Johnraquo weltweit beruumlchtigt werden sollte Spauml-ter erfuhr ich dass besagter Kommandeur ndash Abu Yusaf ndash maszliggeblich bei den Folterungen der Geiseln mitwirkte einschlieszliglich Waterboarding

Ein Treffen am Tag an einem oumlffentlichen Ort war mir verwehrt wor-den Stattdessen sollte es nun nachts stattfinden unter vier Augen Ein paar Stunden vorher verschoben meine Kontakte den Zeitpunkt aber-mals auf 2330 Uhr Keine sonderlich beruhigende Entwicklung Ein Jahr zuvor hatten mich Beamte des Staatsschutzes in meiner Wohnung aufgesucht Offenbar planten radikale Islamisten mich mit der Zusage eines Exklusiv- Interviews in den Nahen Osten zu locken dort zu ent-fuumlhren und anschlieszligend mit einem Kaumlmpfer zu verheiraten Waumlhrend ich mich an diese Warnung erinnerte fragte ich mich ob ich verruumlckt ge-worden war Doch trotz meiner Angst knickte ich nicht ein Wenn alles glatt lief wuumlrde ich die erste westliche Journalistin sein die einen hoch-rangigen IS- Kommandeur interviewte und mit heiler Haut davonkam

Es war ein heiszliger Tag gegen Ende des Ramadans ich saszlig in Jeans und T- Shirt in meinem Hotel und bereitete meine Fragen vor Bevor ich auf-brach zog ich eine schwarze Abaya an ein traditionelles islamisches Uumlberkleid das auszliger Gesicht Haumlnden und Fuumlszligen den gesamten Koumlrper bedeckt Einer von Abu Musab al- Zarqawis Gefolgsleuten hatte es ein paar Jahre zuvor fuumlr mich ausgesucht als ich die Heimatstadt des mittler-

11

Tuumlrkei 2014

weile verstorbenen al- Qaida- An fuumlhrers besucht hatte Al- Zarqawis Ge-folgsmann hatte sogar noch betont die mit rosa Stickereien versehene Abaya sei ein besonders schoumlnes Exemplar und der Stoff so fein dass man sie auch bei heiszligem Wetter problemlos tragen koumlnne Seither ist sie fuumlr mich zu einer Art Gluumlcksbringer geworden Ich trage sie immer bei heik-len Missionen

Das Treffen mit Abu Yusaf sollte an der tuumlrkisch- syrischen Grenze stattfinden unweit des Grenzuumlbergangs bei Reyhanli Ich kannte die Ge-gend gut Meine Mutter war in der Naumlhe aufgewachsen und ich als Kind oft dort gewesen

Ich verabschiedete mich von meinem Reporterkollegen An thony Faiola hinterlieszlig ihm ein paar Telefonnummern unter denen er meine Familie erreichen konnte falls etwas schiefging Um 2215 Uhr holte mich der Mann der den Kontakt hergestellt hatte vom Hotel ab ich werde ihn hier Akram nennen Nach etwa fuumlnfundvierzig Minuten Fahrt bogen wir auf den Parkplatz eines Ho telrestaurants nahe der Grenze ab und warteten Kurz darauf tauchten zwei Autos aus der Dunkelheit auf Der Fahrer des ersten Wagens eines weiszligen Honda stieg aus Akram setzte sich hinters Steuer und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz

Ich wandte mich zu meinem Interviewpartner der auf der Ruumlckbank saszlig Ich schaumltzte Abu Yusaf auf etwa siebenundzwanzig achtundzwanzig er trug eine weiszlige Baseballkappe und eine dunkle Brille die seine Augen verbarg Er war groszlig und gut gebaut hatte einen kurzen Bart und schul-terlange Locken Mit seinem Polohemd und der khakifarbenen Cargo- Hose waumlre er auf europaumlischen Straszligen nicht weiter aufgefallen

Neben ihm lagen drei Nokia- oder Samsung- Handys alles aumlltere Mo-delle Er erklaumlrte aus Sicherheitsgruumlnden wuumlrde kein Kaumlmpfer in seiner Position ein iPhone benutzen sie lieszligen sich zu leicht orten Er trug eine Digitaluhr wie ich sie haumlufig an den Handgelenken amerikanischer Sol-daten im Irak und in Afghanistan gesehen hatte Seine rechte Hosen-tasche war ausgebeult offensichtlich war er bewaffnet Ich fragte mich was passieren wuumlrde wenn uns die tuumlrkische Polizei anhielt

Akram startete den Motor und wir fuhren durch das naumlchtliche Grenzgebiet kamen durch ein paar kleine Doumlrfer Das Geraumlusch des

Prolog Verabredung mit ISIS

12

Fahrtwinds drang an meine Ohren Ich versuchte mir zu merken wo wir langfuhren doch mein Gespraumlch mit Abu Yusaf lenkte mich immer wie-der ab

Er sprach ruhig und leise versuchte zu verbergen dass er marokka-nischer Herkunft war zudem wollte er offenbar keinen Anhaltspunkt lie-fern wo genau in Europa er gelebt hatte Doch seine Gesichtszuumlge waren unverkennbar nordafrikanisch und als ich vom klassischen Arabisch ins marokkanische Arabisch wechselte verstand er auf Anhieb und beendete sein Versteckspiel Es stellte sich heraus dass er zwar in Marokko ge-boren aber als Teenager nach Holland gekommen war laquoWenn Sie wissen wollen ob ich auch Franzoumlsisch spreche brauchen Siersquos nur zu sagenraquo Er laumlchelte Hollaumlndisch sprach er auch Spaumlter fand ich heraus dass er ein Ingenieurstudium absolviert hatte

Waumlhrend der Fahrt schilderte er mir seine Vision Der IS wuumlrde die Muslime von Palaumlstina bis Marokko und Spanien befreien und den Islam schlieszliglich uumlber die ganze Welt verbreiten Jeder der Widerstand leistete wuumlrde dafuumlr mit dem Leben bezahlen laquoWenn die Vereinigten Staaten Blumen regnen lassen werden wir ebenfalls Blumen regnen lassenraquo sagte Abu Yusaf laquoAber wenn sie Feuer regnen lassen zahlen wir es ihnen ebenso mit gleicher Muumlnze heim auch auf ihrem eigenen Terrain Und das gilt genauso fuumlr jedes andere westliche Landraquo1

Er erklaumlrte mir der IS verfuumlge sowohl uumlber die noumltigen finanziellen Mittel als auch das erforderliche Know- how Tatsaumlchlich hatte sich die Terrorvereinigung bereits still und heimlich etabliert ehe die Weltoumlffent-lichkeit auf sie aufmerksam geworden war Zu ihren Mitgliedern ge-houmlrten gebildete Leute aus westlichen Laumlndern erstklassig ausgebildete Elitesoldaten aus Saddam Husseins Republi kanischer Garde und ehe-malige al- Qaida- Kaumlmpfer laquoGlauben Sie ernstlich uns wuumlrden sich nur Schwachkoumlpfe anschlieszligenraquo fragte er laquoVon wegen In unseren Reihen stehen Bruumlder aus England mit Uni- Abschluumlssen Bruumlder mit pakistani-schen somalischen jeme nitischen ja sogar kuwaitischen Wurzelnraquo Spauml-ter begriff ich dass er von den Wachen sprach die mehrere IS- Geiseln als die laquoBeatlesraquo bezeichnet hatten Jihadi John und drei andere mit eng-lischem Akzent

13

Tuumlrkei 2014

Ich fragte was ihn dazu bewogen hatte sich der Organisation an-zuschlieszligen Abu Yusaf erwiderte er haumltte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker die immer von Menschenrechten und Religionsfreiheit faselten muslimische Buumlrger aber wie Menschen zwei-ter Klasse behandelten laquoSehen Sie sich doch an wie wir in Europa behandelt worden sindraquo sagte er laquoIch wollte dazu gehoumlren Teil der Ge-sellschaft sein in der ich aufgewachsen bin aber ich hatte immer das Gefuumlhl Du bist nur ein Muslim nur ein Marokkaner die werden dich nie akzeptierenraquo

Die US- Invasion im Irak sei ungerechtfertigt gewesen sagte er Es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben im Abu- Ghraib- Ge faumlng-nis seien Irakis gefoltert und die Amerikaner nicht dafuumlr zur Rechen-schaft gezogen worden laquoUnd dann zeigen sie auch noch mit dem Finger auf uns und beschimpfen uns als Barbarenraquo

laquoSie behaupten Sie wollen nicht dass Unschuldige zu Schaden kom-menraquo sagte ich laquoUnd weshalb entfuumlhren und toumlten Sie dann selbst Un-schuldigeraquo

Er schwieg ein paar Sekunden lang laquoJedes Volk hat die Chance sich zu befreienraquo gab er dann zuruumlck laquoWenn die Menschen es nicht tun wollen ist das ihr Problem Nicht wir haben sie angegriffen ndash sie haben uns angegriffenraquo

laquoWas erwarten Sie wenn Sie Menschen als Geisel nehmenraquo fragte ich

Er begann von seinem marokkanischen Groszligvater zu erzaumlhlen der gegen die franzoumlsischen Kolonialherren gekaumlmpft hatte zog Parallelen von einem Dschihad zum anderen laquoDie Amerikaner wollten den Irak zu ihrer Kolonie machenraquo sagte er laquoUnd jetzt fuumlhren wir den Heiligen Krieg um die muslimische Welt zu befreienraquo

Mein eigener Groszligvater aber hatte ebenfalls in Marokko fuumlr die Frei-heit gekaumlmpft Als ich ein kleines Maumldchen gewesen war hatte er mir oft von jenem laquoDschihadraquo erzaumlhlt davon wie die Muslime und ihre laquojuumldi-schen Bruumlderraquo alles darangesetzt hatten die Fran zosen aus dem Land ihrer Vaumlter zu vertreiben laquoAber Frauen und Kinder haben wir nicht ge-toumltet auch keine Zivilistenraquo hatte mein Groszligvater gesagt laquoIm Dschihad

Prolog Verabredung mit ISIS

14

ist das verbotenraquo Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Graumlueltaten die der IS veruumlbte

laquoAber er hat in seinem Heimatland gekaumlmpftraquo wandte ich ein laquoDas hier ist nicht Ihr Landraquo

laquoDas hier ist das Land aller MuslimeraquolaquoIch bin in Europa aufgewachsen habe dort studiertraquo sagte ich laquoGe-

nau wie SieraquolaquoUnd wieso glauben Sie dann immer noch das europaumlische System sei

fair und gerechtraquolaquoWas ist die AlternativeraquolaquoDie Alternative ist das KalifatraquoUnsere Debatte war hitzig geworden persoumlnlich Es schien so viele

Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen ndash wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war den eine Muslimin einschlagen sollte

laquoWarum tun Sie sich das anraquo fragte er laquoGlauben Sie ernstlich der Westen wuumlrde uns respektieren Uns Muslimen die gleichen Rechte ein-raumlumen Es gibt nur einen richtigen Weg ndash unseren Wegraquo Wobei er mit laquounsraquo den sogenannten Islamischen Staat meinte

laquoIch habe Ihre Sachen gelesenraquo sagte er laquoSie haben den Kopf von al- Qaida im Maghreb interviewt Warum sind Sie nur Zeitungsreporte-rin Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen Warum sitzen Sie nicht laumlngst in der Chefetage bei all den Auszeichnun-gen die Sie bekommen habenraquo

Mir war durchaus bewusst wovon er sprach Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder sagen wir unbequeme Fragen zu Auszligenpolitik oder Isla-mophobie stellt muss mit heftigem Gegenwind rechnen

Das Kalifat war definitiv keine Loumlsung Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten die Radikalisierung junger muslimi-

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 2: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

Inhalte

Buch lesen

Mehr zum Autor

Zum Buch Authentisch mutig und spannend wie ein Krimi

Die Journalistin Souad Mekhennet verfuumlgt uumlber ungewoumlhnliche

Verbindungen zu den meistgesuchten Maumlnnern des Dschihad ndash und uumlber

ein einzigartiges investigatives Talent Sie deckte die Entfuumlhrung und

Folterung des Deutsch-Libanesen Khaled el-Masri durch die CIA auf

interviewte den Fuumlhrer von al-Qaida im Maghreb lernte ein aumlgyptisches

Foltergefaumlngnis unfreiwillig von innen kennen und enttarnte den

beruumlchtigten IS-Henker raquoJihadi Johnlaquo Ihre meisterhaften Nahaufnahmen

lassen uns die Kaumlmpfe und Wuumlnsche der islamischen Welt besser

verstehen und zeigen dass sich der Clash zwischen Islam und Westen in

Wirklichkeit nur in den Koumlpfen abspielt

Autor

Souad Mekhennet Souad Mekhennet hat schon immer zwischen den

Welten gelebt Die Tochter einer tuumlrkischen Mutter

und eines marokkanischen Vaters ist in Deutschland

aufgewachsen recherchiert seit dem 11 September

2001 uumlber den islamistischen Terror ist

Souad Mekhennet hat schon immer zwischen den Welten gelebt Die Tochter einer tuumlrkischen Mutter und eines marokkanischen Vaters ist in Deutschland

aufgewachsen recherchiert seit dem 11 September 2001 uumlber den islamistischen Terror ist Sicherheitskorrespondentin der Washington Post und internationale

Publizistin 2018 erhielt sie den Sonderpreis des Nannen-Preises sowie den Ludwig-Boumlrne-Preis

Besuchen Sie uns auf wwwpenguin-verlagde und Facebook

Meinen Groszligeltern Eltern und Geschwistern

Inhalt

9 Prolog Verabredung mit ISISTuumlrkei 2014

16 1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

46 2 Die Hamburger ZelleDeutschland 1994 ndash 2003

76 3 Ein Land mit gespaltener SeeleIrak 2003 ndash 2004

107 4 Ein Anruf von Khaled el- MasriDeutschland und Algerien 2004 ndash 2006

126 5 Selbst wenn ich heute sterben sollteLibanon 2007

151 6 Die Verlorenen von ZarqaJordanien 2007

173 7 Der Wert eines LebensAlgerien 2008

188 8 Guns amp RosesPakistan 2009

204 9 MukhabaratAumlgypten 2011

228 10 Das ist kein Arabischer FruumlhlingDeutschland und Tunesien 2011

246 11 BedrohungenBahrain Iran und Deutschland 2011 ndash 2013

269 12 Nachwuchs fuumlr das KalifatDeutschland 2013

282 13 Braumlute fuumlr das KalifatDeutschland und Frankreich 2014 ndash 2015

301 14 Auf der Suche nach einem islamistischen Beatle oder Wie ich Jihadi John enttarnteEngland 2014 ndash 2015

326 15 Die RadikalisiertenOumlsterreich Frankreich und Belgien 2015 ndash 2016

347 Epilog Mitten ins HerzDeutschland und Marokko 2016

364 Dank 367 Anmerkungen

9

Prolog Verabredung mit ISISTuumlrkei 2014

Ich sollte allein kommen Ohne Ausweispapiere oder sonstige Dokumente Handy Aufnahmegeraumlt Uhr und Handtasche sollte ich in meinem Hotel in Antakya lassen Erlaubt waren lediglich ein Notizbuch und ein Kugelschreiber

Im Gegenzug verlangte ich mit jemandem zu sprechen der etwas zu sagen hatte und mich uumlber die Langzeitstrategie des Islamischen Staats im Irak und in Syrien kurz ISIS aufklaumlren konnte Es war im Sommer 2014 drei Wochen bevor die Gruppe weltweit bekannt wurde durch die Veroumlffentlichung eines Videos das die Enthauptung des amerikani-schen Journalisten James Foley zeigte Doch bereits zu diesem Zeitpunkt vermutete ich dass der IS eine zentrale Rolle im weltweiten Dschihad spielen wuumlrde Ich hatte fuumlr die New York Times diverse groszlige deutsche Zeitungen und die Washington Post uumlber militante Islamisten in Europa und dem Nahen Osten berichtet und mitverfolgt wie sich die Gruppe nach den Anschlaumlgen vom 11 September zwei von den USA gefuumlhrten Kriegen und dem sogenannten Arabischen Fruumlhling formiert hatte Im Lauf der Jahre hatte ich mit verschiedensten kuumlnftigen IS- Mit gliedern gesprochen

Ich sagte meinen Kontakten dass ich mir keine Fragen verbieten las-sen und ihnen den fertigen Artikel auch nicht zur Freigabe vor legen wuumlrde Auszligerdem wollte ich eine Garantie dass man mich nicht ent-fuumlhren wuumlrde Und da mir eingeschaumlrft worden war niemanden von der Washington Post mitzubringen bat ich meinen Vertrauensmann mitneh-men zu duumlrfen ndash den Kontakt der das Interview arrangiert hatte

Prolog Verabredung mit ISIS

10

laquoIch bin nicht verheiratetraquo sagte ich den IS- Anfuumlhrern laquoIch kann nicht mit euch allein seinraquo

Als muslimische in Deutschland geborene und aufgewachsene Frau marokkanisch- tuumlrkischer Abstammung bin ich ein Sonderfall unter den Journalisten die sich mit dem globalen Dschihad beschaumlftigen Seit ich als Studentin meine ersten Artikel uumlber die Selbstmordattentaumlter des 11 September schrieb hat meine Herkunft es mir ermoumlglicht mit Chef-strategen des Dschihad in Verbindung zu treten ndash wie eben dem Mann den ich an jenem Julitag in der Tuumlrkei treffen sollte

Mir war bekannt dass der IS Journalisten als Geiseln nahm Nicht bekannt war mir dass der Kommandeur der mich erwartete fuumlr die Geiselnahmen zustaumlndig war zudem Vorgesetzter des Killers mit dem britischen Akzent der immer wieder in den Enthauptungsvideos des IS auftauchte und als laquoJihadi Johnraquo weltweit beruumlchtigt werden sollte Spauml-ter erfuhr ich dass besagter Kommandeur ndash Abu Yusaf ndash maszliggeblich bei den Folterungen der Geiseln mitwirkte einschlieszliglich Waterboarding

Ein Treffen am Tag an einem oumlffentlichen Ort war mir verwehrt wor-den Stattdessen sollte es nun nachts stattfinden unter vier Augen Ein paar Stunden vorher verschoben meine Kontakte den Zeitpunkt aber-mals auf 2330 Uhr Keine sonderlich beruhigende Entwicklung Ein Jahr zuvor hatten mich Beamte des Staatsschutzes in meiner Wohnung aufgesucht Offenbar planten radikale Islamisten mich mit der Zusage eines Exklusiv- Interviews in den Nahen Osten zu locken dort zu ent-fuumlhren und anschlieszligend mit einem Kaumlmpfer zu verheiraten Waumlhrend ich mich an diese Warnung erinnerte fragte ich mich ob ich verruumlckt ge-worden war Doch trotz meiner Angst knickte ich nicht ein Wenn alles glatt lief wuumlrde ich die erste westliche Journalistin sein die einen hoch-rangigen IS- Kommandeur interviewte und mit heiler Haut davonkam

Es war ein heiszliger Tag gegen Ende des Ramadans ich saszlig in Jeans und T- Shirt in meinem Hotel und bereitete meine Fragen vor Bevor ich auf-brach zog ich eine schwarze Abaya an ein traditionelles islamisches Uumlberkleid das auszliger Gesicht Haumlnden und Fuumlszligen den gesamten Koumlrper bedeckt Einer von Abu Musab al- Zarqawis Gefolgsleuten hatte es ein paar Jahre zuvor fuumlr mich ausgesucht als ich die Heimatstadt des mittler-

11

Tuumlrkei 2014

weile verstorbenen al- Qaida- An fuumlhrers besucht hatte Al- Zarqawis Ge-folgsmann hatte sogar noch betont die mit rosa Stickereien versehene Abaya sei ein besonders schoumlnes Exemplar und der Stoff so fein dass man sie auch bei heiszligem Wetter problemlos tragen koumlnne Seither ist sie fuumlr mich zu einer Art Gluumlcksbringer geworden Ich trage sie immer bei heik-len Missionen

Das Treffen mit Abu Yusaf sollte an der tuumlrkisch- syrischen Grenze stattfinden unweit des Grenzuumlbergangs bei Reyhanli Ich kannte die Ge-gend gut Meine Mutter war in der Naumlhe aufgewachsen und ich als Kind oft dort gewesen

Ich verabschiedete mich von meinem Reporterkollegen An thony Faiola hinterlieszlig ihm ein paar Telefonnummern unter denen er meine Familie erreichen konnte falls etwas schiefging Um 2215 Uhr holte mich der Mann der den Kontakt hergestellt hatte vom Hotel ab ich werde ihn hier Akram nennen Nach etwa fuumlnfundvierzig Minuten Fahrt bogen wir auf den Parkplatz eines Ho telrestaurants nahe der Grenze ab und warteten Kurz darauf tauchten zwei Autos aus der Dunkelheit auf Der Fahrer des ersten Wagens eines weiszligen Honda stieg aus Akram setzte sich hinters Steuer und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz

Ich wandte mich zu meinem Interviewpartner der auf der Ruumlckbank saszlig Ich schaumltzte Abu Yusaf auf etwa siebenundzwanzig achtundzwanzig er trug eine weiszlige Baseballkappe und eine dunkle Brille die seine Augen verbarg Er war groszlig und gut gebaut hatte einen kurzen Bart und schul-terlange Locken Mit seinem Polohemd und der khakifarbenen Cargo- Hose waumlre er auf europaumlischen Straszligen nicht weiter aufgefallen

Neben ihm lagen drei Nokia- oder Samsung- Handys alles aumlltere Mo-delle Er erklaumlrte aus Sicherheitsgruumlnden wuumlrde kein Kaumlmpfer in seiner Position ein iPhone benutzen sie lieszligen sich zu leicht orten Er trug eine Digitaluhr wie ich sie haumlufig an den Handgelenken amerikanischer Sol-daten im Irak und in Afghanistan gesehen hatte Seine rechte Hosen-tasche war ausgebeult offensichtlich war er bewaffnet Ich fragte mich was passieren wuumlrde wenn uns die tuumlrkische Polizei anhielt

Akram startete den Motor und wir fuhren durch das naumlchtliche Grenzgebiet kamen durch ein paar kleine Doumlrfer Das Geraumlusch des

Prolog Verabredung mit ISIS

12

Fahrtwinds drang an meine Ohren Ich versuchte mir zu merken wo wir langfuhren doch mein Gespraumlch mit Abu Yusaf lenkte mich immer wie-der ab

Er sprach ruhig und leise versuchte zu verbergen dass er marokka-nischer Herkunft war zudem wollte er offenbar keinen Anhaltspunkt lie-fern wo genau in Europa er gelebt hatte Doch seine Gesichtszuumlge waren unverkennbar nordafrikanisch und als ich vom klassischen Arabisch ins marokkanische Arabisch wechselte verstand er auf Anhieb und beendete sein Versteckspiel Es stellte sich heraus dass er zwar in Marokko ge-boren aber als Teenager nach Holland gekommen war laquoWenn Sie wissen wollen ob ich auch Franzoumlsisch spreche brauchen Siersquos nur zu sagenraquo Er laumlchelte Hollaumlndisch sprach er auch Spaumlter fand ich heraus dass er ein Ingenieurstudium absolviert hatte

Waumlhrend der Fahrt schilderte er mir seine Vision Der IS wuumlrde die Muslime von Palaumlstina bis Marokko und Spanien befreien und den Islam schlieszliglich uumlber die ganze Welt verbreiten Jeder der Widerstand leistete wuumlrde dafuumlr mit dem Leben bezahlen laquoWenn die Vereinigten Staaten Blumen regnen lassen werden wir ebenfalls Blumen regnen lassenraquo sagte Abu Yusaf laquoAber wenn sie Feuer regnen lassen zahlen wir es ihnen ebenso mit gleicher Muumlnze heim auch auf ihrem eigenen Terrain Und das gilt genauso fuumlr jedes andere westliche Landraquo1

Er erklaumlrte mir der IS verfuumlge sowohl uumlber die noumltigen finanziellen Mittel als auch das erforderliche Know- how Tatsaumlchlich hatte sich die Terrorvereinigung bereits still und heimlich etabliert ehe die Weltoumlffent-lichkeit auf sie aufmerksam geworden war Zu ihren Mitgliedern ge-houmlrten gebildete Leute aus westlichen Laumlndern erstklassig ausgebildete Elitesoldaten aus Saddam Husseins Republi kanischer Garde und ehe-malige al- Qaida- Kaumlmpfer laquoGlauben Sie ernstlich uns wuumlrden sich nur Schwachkoumlpfe anschlieszligenraquo fragte er laquoVon wegen In unseren Reihen stehen Bruumlder aus England mit Uni- Abschluumlssen Bruumlder mit pakistani-schen somalischen jeme nitischen ja sogar kuwaitischen Wurzelnraquo Spauml-ter begriff ich dass er von den Wachen sprach die mehrere IS- Geiseln als die laquoBeatlesraquo bezeichnet hatten Jihadi John und drei andere mit eng-lischem Akzent

13

Tuumlrkei 2014

Ich fragte was ihn dazu bewogen hatte sich der Organisation an-zuschlieszligen Abu Yusaf erwiderte er haumltte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker die immer von Menschenrechten und Religionsfreiheit faselten muslimische Buumlrger aber wie Menschen zwei-ter Klasse behandelten laquoSehen Sie sich doch an wie wir in Europa behandelt worden sindraquo sagte er laquoIch wollte dazu gehoumlren Teil der Ge-sellschaft sein in der ich aufgewachsen bin aber ich hatte immer das Gefuumlhl Du bist nur ein Muslim nur ein Marokkaner die werden dich nie akzeptierenraquo

Die US- Invasion im Irak sei ungerechtfertigt gewesen sagte er Es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben im Abu- Ghraib- Ge faumlng-nis seien Irakis gefoltert und die Amerikaner nicht dafuumlr zur Rechen-schaft gezogen worden laquoUnd dann zeigen sie auch noch mit dem Finger auf uns und beschimpfen uns als Barbarenraquo

laquoSie behaupten Sie wollen nicht dass Unschuldige zu Schaden kom-menraquo sagte ich laquoUnd weshalb entfuumlhren und toumlten Sie dann selbst Un-schuldigeraquo

Er schwieg ein paar Sekunden lang laquoJedes Volk hat die Chance sich zu befreienraquo gab er dann zuruumlck laquoWenn die Menschen es nicht tun wollen ist das ihr Problem Nicht wir haben sie angegriffen ndash sie haben uns angegriffenraquo

laquoWas erwarten Sie wenn Sie Menschen als Geisel nehmenraquo fragte ich

Er begann von seinem marokkanischen Groszligvater zu erzaumlhlen der gegen die franzoumlsischen Kolonialherren gekaumlmpft hatte zog Parallelen von einem Dschihad zum anderen laquoDie Amerikaner wollten den Irak zu ihrer Kolonie machenraquo sagte er laquoUnd jetzt fuumlhren wir den Heiligen Krieg um die muslimische Welt zu befreienraquo

Mein eigener Groszligvater aber hatte ebenfalls in Marokko fuumlr die Frei-heit gekaumlmpft Als ich ein kleines Maumldchen gewesen war hatte er mir oft von jenem laquoDschihadraquo erzaumlhlt davon wie die Muslime und ihre laquojuumldi-schen Bruumlderraquo alles darangesetzt hatten die Fran zosen aus dem Land ihrer Vaumlter zu vertreiben laquoAber Frauen und Kinder haben wir nicht ge-toumltet auch keine Zivilistenraquo hatte mein Groszligvater gesagt laquoIm Dschihad

Prolog Verabredung mit ISIS

14

ist das verbotenraquo Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Graumlueltaten die der IS veruumlbte

laquoAber er hat in seinem Heimatland gekaumlmpftraquo wandte ich ein laquoDas hier ist nicht Ihr Landraquo

laquoDas hier ist das Land aller MuslimeraquolaquoIch bin in Europa aufgewachsen habe dort studiertraquo sagte ich laquoGe-

nau wie SieraquolaquoUnd wieso glauben Sie dann immer noch das europaumlische System sei

fair und gerechtraquolaquoWas ist die AlternativeraquolaquoDie Alternative ist das KalifatraquoUnsere Debatte war hitzig geworden persoumlnlich Es schien so viele

Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen ndash wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war den eine Muslimin einschlagen sollte

laquoWarum tun Sie sich das anraquo fragte er laquoGlauben Sie ernstlich der Westen wuumlrde uns respektieren Uns Muslimen die gleichen Rechte ein-raumlumen Es gibt nur einen richtigen Weg ndash unseren Wegraquo Wobei er mit laquounsraquo den sogenannten Islamischen Staat meinte

laquoIch habe Ihre Sachen gelesenraquo sagte er laquoSie haben den Kopf von al- Qaida im Maghreb interviewt Warum sind Sie nur Zeitungsreporte-rin Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen Warum sitzen Sie nicht laumlngst in der Chefetage bei all den Auszeichnun-gen die Sie bekommen habenraquo

Mir war durchaus bewusst wovon er sprach Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder sagen wir unbequeme Fragen zu Auszligenpolitik oder Isla-mophobie stellt muss mit heftigem Gegenwind rechnen

Das Kalifat war definitiv keine Loumlsung Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten die Radikalisierung junger muslimi-

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 3: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

Souad Mekhennet hat schon immer zwischen den Welten gelebt Die Tochter einer tuumlrkischen Mutter und eines marokkanischen Vaters ist in Deutschland

aufgewachsen recherchiert seit dem 11 September 2001 uumlber den islamistischen Terror ist Sicherheitskorrespondentin der Washington Post und internationale

Publizistin 2018 erhielt sie den Sonderpreis des Nannen-Preises sowie den Ludwig-Boumlrne-Preis

Besuchen Sie uns auf wwwpenguin-verlagde und Facebook

Meinen Groszligeltern Eltern und Geschwistern

Inhalt

9 Prolog Verabredung mit ISISTuumlrkei 2014

16 1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

46 2 Die Hamburger ZelleDeutschland 1994 ndash 2003

76 3 Ein Land mit gespaltener SeeleIrak 2003 ndash 2004

107 4 Ein Anruf von Khaled el- MasriDeutschland und Algerien 2004 ndash 2006

126 5 Selbst wenn ich heute sterben sollteLibanon 2007

151 6 Die Verlorenen von ZarqaJordanien 2007

173 7 Der Wert eines LebensAlgerien 2008

188 8 Guns amp RosesPakistan 2009

204 9 MukhabaratAumlgypten 2011

228 10 Das ist kein Arabischer FruumlhlingDeutschland und Tunesien 2011

246 11 BedrohungenBahrain Iran und Deutschland 2011 ndash 2013

269 12 Nachwuchs fuumlr das KalifatDeutschland 2013

282 13 Braumlute fuumlr das KalifatDeutschland und Frankreich 2014 ndash 2015

301 14 Auf der Suche nach einem islamistischen Beatle oder Wie ich Jihadi John enttarnteEngland 2014 ndash 2015

326 15 Die RadikalisiertenOumlsterreich Frankreich und Belgien 2015 ndash 2016

347 Epilog Mitten ins HerzDeutschland und Marokko 2016

364 Dank 367 Anmerkungen

9

Prolog Verabredung mit ISISTuumlrkei 2014

Ich sollte allein kommen Ohne Ausweispapiere oder sonstige Dokumente Handy Aufnahmegeraumlt Uhr und Handtasche sollte ich in meinem Hotel in Antakya lassen Erlaubt waren lediglich ein Notizbuch und ein Kugelschreiber

Im Gegenzug verlangte ich mit jemandem zu sprechen der etwas zu sagen hatte und mich uumlber die Langzeitstrategie des Islamischen Staats im Irak und in Syrien kurz ISIS aufklaumlren konnte Es war im Sommer 2014 drei Wochen bevor die Gruppe weltweit bekannt wurde durch die Veroumlffentlichung eines Videos das die Enthauptung des amerikani-schen Journalisten James Foley zeigte Doch bereits zu diesem Zeitpunkt vermutete ich dass der IS eine zentrale Rolle im weltweiten Dschihad spielen wuumlrde Ich hatte fuumlr die New York Times diverse groszlige deutsche Zeitungen und die Washington Post uumlber militante Islamisten in Europa und dem Nahen Osten berichtet und mitverfolgt wie sich die Gruppe nach den Anschlaumlgen vom 11 September zwei von den USA gefuumlhrten Kriegen und dem sogenannten Arabischen Fruumlhling formiert hatte Im Lauf der Jahre hatte ich mit verschiedensten kuumlnftigen IS- Mit gliedern gesprochen

Ich sagte meinen Kontakten dass ich mir keine Fragen verbieten las-sen und ihnen den fertigen Artikel auch nicht zur Freigabe vor legen wuumlrde Auszligerdem wollte ich eine Garantie dass man mich nicht ent-fuumlhren wuumlrde Und da mir eingeschaumlrft worden war niemanden von der Washington Post mitzubringen bat ich meinen Vertrauensmann mitneh-men zu duumlrfen ndash den Kontakt der das Interview arrangiert hatte

Prolog Verabredung mit ISIS

10

laquoIch bin nicht verheiratetraquo sagte ich den IS- Anfuumlhrern laquoIch kann nicht mit euch allein seinraquo

Als muslimische in Deutschland geborene und aufgewachsene Frau marokkanisch- tuumlrkischer Abstammung bin ich ein Sonderfall unter den Journalisten die sich mit dem globalen Dschihad beschaumlftigen Seit ich als Studentin meine ersten Artikel uumlber die Selbstmordattentaumlter des 11 September schrieb hat meine Herkunft es mir ermoumlglicht mit Chef-strategen des Dschihad in Verbindung zu treten ndash wie eben dem Mann den ich an jenem Julitag in der Tuumlrkei treffen sollte

Mir war bekannt dass der IS Journalisten als Geiseln nahm Nicht bekannt war mir dass der Kommandeur der mich erwartete fuumlr die Geiselnahmen zustaumlndig war zudem Vorgesetzter des Killers mit dem britischen Akzent der immer wieder in den Enthauptungsvideos des IS auftauchte und als laquoJihadi Johnraquo weltweit beruumlchtigt werden sollte Spauml-ter erfuhr ich dass besagter Kommandeur ndash Abu Yusaf ndash maszliggeblich bei den Folterungen der Geiseln mitwirkte einschlieszliglich Waterboarding

Ein Treffen am Tag an einem oumlffentlichen Ort war mir verwehrt wor-den Stattdessen sollte es nun nachts stattfinden unter vier Augen Ein paar Stunden vorher verschoben meine Kontakte den Zeitpunkt aber-mals auf 2330 Uhr Keine sonderlich beruhigende Entwicklung Ein Jahr zuvor hatten mich Beamte des Staatsschutzes in meiner Wohnung aufgesucht Offenbar planten radikale Islamisten mich mit der Zusage eines Exklusiv- Interviews in den Nahen Osten zu locken dort zu ent-fuumlhren und anschlieszligend mit einem Kaumlmpfer zu verheiraten Waumlhrend ich mich an diese Warnung erinnerte fragte ich mich ob ich verruumlckt ge-worden war Doch trotz meiner Angst knickte ich nicht ein Wenn alles glatt lief wuumlrde ich die erste westliche Journalistin sein die einen hoch-rangigen IS- Kommandeur interviewte und mit heiler Haut davonkam

Es war ein heiszliger Tag gegen Ende des Ramadans ich saszlig in Jeans und T- Shirt in meinem Hotel und bereitete meine Fragen vor Bevor ich auf-brach zog ich eine schwarze Abaya an ein traditionelles islamisches Uumlberkleid das auszliger Gesicht Haumlnden und Fuumlszligen den gesamten Koumlrper bedeckt Einer von Abu Musab al- Zarqawis Gefolgsleuten hatte es ein paar Jahre zuvor fuumlr mich ausgesucht als ich die Heimatstadt des mittler-

11

Tuumlrkei 2014

weile verstorbenen al- Qaida- An fuumlhrers besucht hatte Al- Zarqawis Ge-folgsmann hatte sogar noch betont die mit rosa Stickereien versehene Abaya sei ein besonders schoumlnes Exemplar und der Stoff so fein dass man sie auch bei heiszligem Wetter problemlos tragen koumlnne Seither ist sie fuumlr mich zu einer Art Gluumlcksbringer geworden Ich trage sie immer bei heik-len Missionen

Das Treffen mit Abu Yusaf sollte an der tuumlrkisch- syrischen Grenze stattfinden unweit des Grenzuumlbergangs bei Reyhanli Ich kannte die Ge-gend gut Meine Mutter war in der Naumlhe aufgewachsen und ich als Kind oft dort gewesen

Ich verabschiedete mich von meinem Reporterkollegen An thony Faiola hinterlieszlig ihm ein paar Telefonnummern unter denen er meine Familie erreichen konnte falls etwas schiefging Um 2215 Uhr holte mich der Mann der den Kontakt hergestellt hatte vom Hotel ab ich werde ihn hier Akram nennen Nach etwa fuumlnfundvierzig Minuten Fahrt bogen wir auf den Parkplatz eines Ho telrestaurants nahe der Grenze ab und warteten Kurz darauf tauchten zwei Autos aus der Dunkelheit auf Der Fahrer des ersten Wagens eines weiszligen Honda stieg aus Akram setzte sich hinters Steuer und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz

Ich wandte mich zu meinem Interviewpartner der auf der Ruumlckbank saszlig Ich schaumltzte Abu Yusaf auf etwa siebenundzwanzig achtundzwanzig er trug eine weiszlige Baseballkappe und eine dunkle Brille die seine Augen verbarg Er war groszlig und gut gebaut hatte einen kurzen Bart und schul-terlange Locken Mit seinem Polohemd und der khakifarbenen Cargo- Hose waumlre er auf europaumlischen Straszligen nicht weiter aufgefallen

Neben ihm lagen drei Nokia- oder Samsung- Handys alles aumlltere Mo-delle Er erklaumlrte aus Sicherheitsgruumlnden wuumlrde kein Kaumlmpfer in seiner Position ein iPhone benutzen sie lieszligen sich zu leicht orten Er trug eine Digitaluhr wie ich sie haumlufig an den Handgelenken amerikanischer Sol-daten im Irak und in Afghanistan gesehen hatte Seine rechte Hosen-tasche war ausgebeult offensichtlich war er bewaffnet Ich fragte mich was passieren wuumlrde wenn uns die tuumlrkische Polizei anhielt

Akram startete den Motor und wir fuhren durch das naumlchtliche Grenzgebiet kamen durch ein paar kleine Doumlrfer Das Geraumlusch des

Prolog Verabredung mit ISIS

12

Fahrtwinds drang an meine Ohren Ich versuchte mir zu merken wo wir langfuhren doch mein Gespraumlch mit Abu Yusaf lenkte mich immer wie-der ab

Er sprach ruhig und leise versuchte zu verbergen dass er marokka-nischer Herkunft war zudem wollte er offenbar keinen Anhaltspunkt lie-fern wo genau in Europa er gelebt hatte Doch seine Gesichtszuumlge waren unverkennbar nordafrikanisch und als ich vom klassischen Arabisch ins marokkanische Arabisch wechselte verstand er auf Anhieb und beendete sein Versteckspiel Es stellte sich heraus dass er zwar in Marokko ge-boren aber als Teenager nach Holland gekommen war laquoWenn Sie wissen wollen ob ich auch Franzoumlsisch spreche brauchen Siersquos nur zu sagenraquo Er laumlchelte Hollaumlndisch sprach er auch Spaumlter fand ich heraus dass er ein Ingenieurstudium absolviert hatte

Waumlhrend der Fahrt schilderte er mir seine Vision Der IS wuumlrde die Muslime von Palaumlstina bis Marokko und Spanien befreien und den Islam schlieszliglich uumlber die ganze Welt verbreiten Jeder der Widerstand leistete wuumlrde dafuumlr mit dem Leben bezahlen laquoWenn die Vereinigten Staaten Blumen regnen lassen werden wir ebenfalls Blumen regnen lassenraquo sagte Abu Yusaf laquoAber wenn sie Feuer regnen lassen zahlen wir es ihnen ebenso mit gleicher Muumlnze heim auch auf ihrem eigenen Terrain Und das gilt genauso fuumlr jedes andere westliche Landraquo1

Er erklaumlrte mir der IS verfuumlge sowohl uumlber die noumltigen finanziellen Mittel als auch das erforderliche Know- how Tatsaumlchlich hatte sich die Terrorvereinigung bereits still und heimlich etabliert ehe die Weltoumlffent-lichkeit auf sie aufmerksam geworden war Zu ihren Mitgliedern ge-houmlrten gebildete Leute aus westlichen Laumlndern erstklassig ausgebildete Elitesoldaten aus Saddam Husseins Republi kanischer Garde und ehe-malige al- Qaida- Kaumlmpfer laquoGlauben Sie ernstlich uns wuumlrden sich nur Schwachkoumlpfe anschlieszligenraquo fragte er laquoVon wegen In unseren Reihen stehen Bruumlder aus England mit Uni- Abschluumlssen Bruumlder mit pakistani-schen somalischen jeme nitischen ja sogar kuwaitischen Wurzelnraquo Spauml-ter begriff ich dass er von den Wachen sprach die mehrere IS- Geiseln als die laquoBeatlesraquo bezeichnet hatten Jihadi John und drei andere mit eng-lischem Akzent

13

Tuumlrkei 2014

Ich fragte was ihn dazu bewogen hatte sich der Organisation an-zuschlieszligen Abu Yusaf erwiderte er haumltte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker die immer von Menschenrechten und Religionsfreiheit faselten muslimische Buumlrger aber wie Menschen zwei-ter Klasse behandelten laquoSehen Sie sich doch an wie wir in Europa behandelt worden sindraquo sagte er laquoIch wollte dazu gehoumlren Teil der Ge-sellschaft sein in der ich aufgewachsen bin aber ich hatte immer das Gefuumlhl Du bist nur ein Muslim nur ein Marokkaner die werden dich nie akzeptierenraquo

Die US- Invasion im Irak sei ungerechtfertigt gewesen sagte er Es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben im Abu- Ghraib- Ge faumlng-nis seien Irakis gefoltert und die Amerikaner nicht dafuumlr zur Rechen-schaft gezogen worden laquoUnd dann zeigen sie auch noch mit dem Finger auf uns und beschimpfen uns als Barbarenraquo

laquoSie behaupten Sie wollen nicht dass Unschuldige zu Schaden kom-menraquo sagte ich laquoUnd weshalb entfuumlhren und toumlten Sie dann selbst Un-schuldigeraquo

Er schwieg ein paar Sekunden lang laquoJedes Volk hat die Chance sich zu befreienraquo gab er dann zuruumlck laquoWenn die Menschen es nicht tun wollen ist das ihr Problem Nicht wir haben sie angegriffen ndash sie haben uns angegriffenraquo

laquoWas erwarten Sie wenn Sie Menschen als Geisel nehmenraquo fragte ich

Er begann von seinem marokkanischen Groszligvater zu erzaumlhlen der gegen die franzoumlsischen Kolonialherren gekaumlmpft hatte zog Parallelen von einem Dschihad zum anderen laquoDie Amerikaner wollten den Irak zu ihrer Kolonie machenraquo sagte er laquoUnd jetzt fuumlhren wir den Heiligen Krieg um die muslimische Welt zu befreienraquo

Mein eigener Groszligvater aber hatte ebenfalls in Marokko fuumlr die Frei-heit gekaumlmpft Als ich ein kleines Maumldchen gewesen war hatte er mir oft von jenem laquoDschihadraquo erzaumlhlt davon wie die Muslime und ihre laquojuumldi-schen Bruumlderraquo alles darangesetzt hatten die Fran zosen aus dem Land ihrer Vaumlter zu vertreiben laquoAber Frauen und Kinder haben wir nicht ge-toumltet auch keine Zivilistenraquo hatte mein Groszligvater gesagt laquoIm Dschihad

Prolog Verabredung mit ISIS

14

ist das verbotenraquo Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Graumlueltaten die der IS veruumlbte

laquoAber er hat in seinem Heimatland gekaumlmpftraquo wandte ich ein laquoDas hier ist nicht Ihr Landraquo

laquoDas hier ist das Land aller MuslimeraquolaquoIch bin in Europa aufgewachsen habe dort studiertraquo sagte ich laquoGe-

nau wie SieraquolaquoUnd wieso glauben Sie dann immer noch das europaumlische System sei

fair und gerechtraquolaquoWas ist die AlternativeraquolaquoDie Alternative ist das KalifatraquoUnsere Debatte war hitzig geworden persoumlnlich Es schien so viele

Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen ndash wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war den eine Muslimin einschlagen sollte

laquoWarum tun Sie sich das anraquo fragte er laquoGlauben Sie ernstlich der Westen wuumlrde uns respektieren Uns Muslimen die gleichen Rechte ein-raumlumen Es gibt nur einen richtigen Weg ndash unseren Wegraquo Wobei er mit laquounsraquo den sogenannten Islamischen Staat meinte

laquoIch habe Ihre Sachen gelesenraquo sagte er laquoSie haben den Kopf von al- Qaida im Maghreb interviewt Warum sind Sie nur Zeitungsreporte-rin Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen Warum sitzen Sie nicht laumlngst in der Chefetage bei all den Auszeichnun-gen die Sie bekommen habenraquo

Mir war durchaus bewusst wovon er sprach Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder sagen wir unbequeme Fragen zu Auszligenpolitik oder Isla-mophobie stellt muss mit heftigem Gegenwind rechnen

Das Kalifat war definitiv keine Loumlsung Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten die Radikalisierung junger muslimi-

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 4: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

Meinen Groszligeltern Eltern und Geschwistern

Inhalt

9 Prolog Verabredung mit ISISTuumlrkei 2014

16 1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

46 2 Die Hamburger ZelleDeutschland 1994 ndash 2003

76 3 Ein Land mit gespaltener SeeleIrak 2003 ndash 2004

107 4 Ein Anruf von Khaled el- MasriDeutschland und Algerien 2004 ndash 2006

126 5 Selbst wenn ich heute sterben sollteLibanon 2007

151 6 Die Verlorenen von ZarqaJordanien 2007

173 7 Der Wert eines LebensAlgerien 2008

188 8 Guns amp RosesPakistan 2009

204 9 MukhabaratAumlgypten 2011

228 10 Das ist kein Arabischer FruumlhlingDeutschland und Tunesien 2011

246 11 BedrohungenBahrain Iran und Deutschland 2011 ndash 2013

269 12 Nachwuchs fuumlr das KalifatDeutschland 2013

282 13 Braumlute fuumlr das KalifatDeutschland und Frankreich 2014 ndash 2015

301 14 Auf der Suche nach einem islamistischen Beatle oder Wie ich Jihadi John enttarnteEngland 2014 ndash 2015

326 15 Die RadikalisiertenOumlsterreich Frankreich und Belgien 2015 ndash 2016

347 Epilog Mitten ins HerzDeutschland und Marokko 2016

364 Dank 367 Anmerkungen

9

Prolog Verabredung mit ISISTuumlrkei 2014

Ich sollte allein kommen Ohne Ausweispapiere oder sonstige Dokumente Handy Aufnahmegeraumlt Uhr und Handtasche sollte ich in meinem Hotel in Antakya lassen Erlaubt waren lediglich ein Notizbuch und ein Kugelschreiber

Im Gegenzug verlangte ich mit jemandem zu sprechen der etwas zu sagen hatte und mich uumlber die Langzeitstrategie des Islamischen Staats im Irak und in Syrien kurz ISIS aufklaumlren konnte Es war im Sommer 2014 drei Wochen bevor die Gruppe weltweit bekannt wurde durch die Veroumlffentlichung eines Videos das die Enthauptung des amerikani-schen Journalisten James Foley zeigte Doch bereits zu diesem Zeitpunkt vermutete ich dass der IS eine zentrale Rolle im weltweiten Dschihad spielen wuumlrde Ich hatte fuumlr die New York Times diverse groszlige deutsche Zeitungen und die Washington Post uumlber militante Islamisten in Europa und dem Nahen Osten berichtet und mitverfolgt wie sich die Gruppe nach den Anschlaumlgen vom 11 September zwei von den USA gefuumlhrten Kriegen und dem sogenannten Arabischen Fruumlhling formiert hatte Im Lauf der Jahre hatte ich mit verschiedensten kuumlnftigen IS- Mit gliedern gesprochen

Ich sagte meinen Kontakten dass ich mir keine Fragen verbieten las-sen und ihnen den fertigen Artikel auch nicht zur Freigabe vor legen wuumlrde Auszligerdem wollte ich eine Garantie dass man mich nicht ent-fuumlhren wuumlrde Und da mir eingeschaumlrft worden war niemanden von der Washington Post mitzubringen bat ich meinen Vertrauensmann mitneh-men zu duumlrfen ndash den Kontakt der das Interview arrangiert hatte

Prolog Verabredung mit ISIS

10

laquoIch bin nicht verheiratetraquo sagte ich den IS- Anfuumlhrern laquoIch kann nicht mit euch allein seinraquo

Als muslimische in Deutschland geborene und aufgewachsene Frau marokkanisch- tuumlrkischer Abstammung bin ich ein Sonderfall unter den Journalisten die sich mit dem globalen Dschihad beschaumlftigen Seit ich als Studentin meine ersten Artikel uumlber die Selbstmordattentaumlter des 11 September schrieb hat meine Herkunft es mir ermoumlglicht mit Chef-strategen des Dschihad in Verbindung zu treten ndash wie eben dem Mann den ich an jenem Julitag in der Tuumlrkei treffen sollte

Mir war bekannt dass der IS Journalisten als Geiseln nahm Nicht bekannt war mir dass der Kommandeur der mich erwartete fuumlr die Geiselnahmen zustaumlndig war zudem Vorgesetzter des Killers mit dem britischen Akzent der immer wieder in den Enthauptungsvideos des IS auftauchte und als laquoJihadi Johnraquo weltweit beruumlchtigt werden sollte Spauml-ter erfuhr ich dass besagter Kommandeur ndash Abu Yusaf ndash maszliggeblich bei den Folterungen der Geiseln mitwirkte einschlieszliglich Waterboarding

Ein Treffen am Tag an einem oumlffentlichen Ort war mir verwehrt wor-den Stattdessen sollte es nun nachts stattfinden unter vier Augen Ein paar Stunden vorher verschoben meine Kontakte den Zeitpunkt aber-mals auf 2330 Uhr Keine sonderlich beruhigende Entwicklung Ein Jahr zuvor hatten mich Beamte des Staatsschutzes in meiner Wohnung aufgesucht Offenbar planten radikale Islamisten mich mit der Zusage eines Exklusiv- Interviews in den Nahen Osten zu locken dort zu ent-fuumlhren und anschlieszligend mit einem Kaumlmpfer zu verheiraten Waumlhrend ich mich an diese Warnung erinnerte fragte ich mich ob ich verruumlckt ge-worden war Doch trotz meiner Angst knickte ich nicht ein Wenn alles glatt lief wuumlrde ich die erste westliche Journalistin sein die einen hoch-rangigen IS- Kommandeur interviewte und mit heiler Haut davonkam

Es war ein heiszliger Tag gegen Ende des Ramadans ich saszlig in Jeans und T- Shirt in meinem Hotel und bereitete meine Fragen vor Bevor ich auf-brach zog ich eine schwarze Abaya an ein traditionelles islamisches Uumlberkleid das auszliger Gesicht Haumlnden und Fuumlszligen den gesamten Koumlrper bedeckt Einer von Abu Musab al- Zarqawis Gefolgsleuten hatte es ein paar Jahre zuvor fuumlr mich ausgesucht als ich die Heimatstadt des mittler-

11

Tuumlrkei 2014

weile verstorbenen al- Qaida- An fuumlhrers besucht hatte Al- Zarqawis Ge-folgsmann hatte sogar noch betont die mit rosa Stickereien versehene Abaya sei ein besonders schoumlnes Exemplar und der Stoff so fein dass man sie auch bei heiszligem Wetter problemlos tragen koumlnne Seither ist sie fuumlr mich zu einer Art Gluumlcksbringer geworden Ich trage sie immer bei heik-len Missionen

Das Treffen mit Abu Yusaf sollte an der tuumlrkisch- syrischen Grenze stattfinden unweit des Grenzuumlbergangs bei Reyhanli Ich kannte die Ge-gend gut Meine Mutter war in der Naumlhe aufgewachsen und ich als Kind oft dort gewesen

Ich verabschiedete mich von meinem Reporterkollegen An thony Faiola hinterlieszlig ihm ein paar Telefonnummern unter denen er meine Familie erreichen konnte falls etwas schiefging Um 2215 Uhr holte mich der Mann der den Kontakt hergestellt hatte vom Hotel ab ich werde ihn hier Akram nennen Nach etwa fuumlnfundvierzig Minuten Fahrt bogen wir auf den Parkplatz eines Ho telrestaurants nahe der Grenze ab und warteten Kurz darauf tauchten zwei Autos aus der Dunkelheit auf Der Fahrer des ersten Wagens eines weiszligen Honda stieg aus Akram setzte sich hinters Steuer und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz

Ich wandte mich zu meinem Interviewpartner der auf der Ruumlckbank saszlig Ich schaumltzte Abu Yusaf auf etwa siebenundzwanzig achtundzwanzig er trug eine weiszlige Baseballkappe und eine dunkle Brille die seine Augen verbarg Er war groszlig und gut gebaut hatte einen kurzen Bart und schul-terlange Locken Mit seinem Polohemd und der khakifarbenen Cargo- Hose waumlre er auf europaumlischen Straszligen nicht weiter aufgefallen

Neben ihm lagen drei Nokia- oder Samsung- Handys alles aumlltere Mo-delle Er erklaumlrte aus Sicherheitsgruumlnden wuumlrde kein Kaumlmpfer in seiner Position ein iPhone benutzen sie lieszligen sich zu leicht orten Er trug eine Digitaluhr wie ich sie haumlufig an den Handgelenken amerikanischer Sol-daten im Irak und in Afghanistan gesehen hatte Seine rechte Hosen-tasche war ausgebeult offensichtlich war er bewaffnet Ich fragte mich was passieren wuumlrde wenn uns die tuumlrkische Polizei anhielt

Akram startete den Motor und wir fuhren durch das naumlchtliche Grenzgebiet kamen durch ein paar kleine Doumlrfer Das Geraumlusch des

Prolog Verabredung mit ISIS

12

Fahrtwinds drang an meine Ohren Ich versuchte mir zu merken wo wir langfuhren doch mein Gespraumlch mit Abu Yusaf lenkte mich immer wie-der ab

Er sprach ruhig und leise versuchte zu verbergen dass er marokka-nischer Herkunft war zudem wollte er offenbar keinen Anhaltspunkt lie-fern wo genau in Europa er gelebt hatte Doch seine Gesichtszuumlge waren unverkennbar nordafrikanisch und als ich vom klassischen Arabisch ins marokkanische Arabisch wechselte verstand er auf Anhieb und beendete sein Versteckspiel Es stellte sich heraus dass er zwar in Marokko ge-boren aber als Teenager nach Holland gekommen war laquoWenn Sie wissen wollen ob ich auch Franzoumlsisch spreche brauchen Siersquos nur zu sagenraquo Er laumlchelte Hollaumlndisch sprach er auch Spaumlter fand ich heraus dass er ein Ingenieurstudium absolviert hatte

Waumlhrend der Fahrt schilderte er mir seine Vision Der IS wuumlrde die Muslime von Palaumlstina bis Marokko und Spanien befreien und den Islam schlieszliglich uumlber die ganze Welt verbreiten Jeder der Widerstand leistete wuumlrde dafuumlr mit dem Leben bezahlen laquoWenn die Vereinigten Staaten Blumen regnen lassen werden wir ebenfalls Blumen regnen lassenraquo sagte Abu Yusaf laquoAber wenn sie Feuer regnen lassen zahlen wir es ihnen ebenso mit gleicher Muumlnze heim auch auf ihrem eigenen Terrain Und das gilt genauso fuumlr jedes andere westliche Landraquo1

Er erklaumlrte mir der IS verfuumlge sowohl uumlber die noumltigen finanziellen Mittel als auch das erforderliche Know- how Tatsaumlchlich hatte sich die Terrorvereinigung bereits still und heimlich etabliert ehe die Weltoumlffent-lichkeit auf sie aufmerksam geworden war Zu ihren Mitgliedern ge-houmlrten gebildete Leute aus westlichen Laumlndern erstklassig ausgebildete Elitesoldaten aus Saddam Husseins Republi kanischer Garde und ehe-malige al- Qaida- Kaumlmpfer laquoGlauben Sie ernstlich uns wuumlrden sich nur Schwachkoumlpfe anschlieszligenraquo fragte er laquoVon wegen In unseren Reihen stehen Bruumlder aus England mit Uni- Abschluumlssen Bruumlder mit pakistani-schen somalischen jeme nitischen ja sogar kuwaitischen Wurzelnraquo Spauml-ter begriff ich dass er von den Wachen sprach die mehrere IS- Geiseln als die laquoBeatlesraquo bezeichnet hatten Jihadi John und drei andere mit eng-lischem Akzent

13

Tuumlrkei 2014

Ich fragte was ihn dazu bewogen hatte sich der Organisation an-zuschlieszligen Abu Yusaf erwiderte er haumltte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker die immer von Menschenrechten und Religionsfreiheit faselten muslimische Buumlrger aber wie Menschen zwei-ter Klasse behandelten laquoSehen Sie sich doch an wie wir in Europa behandelt worden sindraquo sagte er laquoIch wollte dazu gehoumlren Teil der Ge-sellschaft sein in der ich aufgewachsen bin aber ich hatte immer das Gefuumlhl Du bist nur ein Muslim nur ein Marokkaner die werden dich nie akzeptierenraquo

Die US- Invasion im Irak sei ungerechtfertigt gewesen sagte er Es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben im Abu- Ghraib- Ge faumlng-nis seien Irakis gefoltert und die Amerikaner nicht dafuumlr zur Rechen-schaft gezogen worden laquoUnd dann zeigen sie auch noch mit dem Finger auf uns und beschimpfen uns als Barbarenraquo

laquoSie behaupten Sie wollen nicht dass Unschuldige zu Schaden kom-menraquo sagte ich laquoUnd weshalb entfuumlhren und toumlten Sie dann selbst Un-schuldigeraquo

Er schwieg ein paar Sekunden lang laquoJedes Volk hat die Chance sich zu befreienraquo gab er dann zuruumlck laquoWenn die Menschen es nicht tun wollen ist das ihr Problem Nicht wir haben sie angegriffen ndash sie haben uns angegriffenraquo

laquoWas erwarten Sie wenn Sie Menschen als Geisel nehmenraquo fragte ich

Er begann von seinem marokkanischen Groszligvater zu erzaumlhlen der gegen die franzoumlsischen Kolonialherren gekaumlmpft hatte zog Parallelen von einem Dschihad zum anderen laquoDie Amerikaner wollten den Irak zu ihrer Kolonie machenraquo sagte er laquoUnd jetzt fuumlhren wir den Heiligen Krieg um die muslimische Welt zu befreienraquo

Mein eigener Groszligvater aber hatte ebenfalls in Marokko fuumlr die Frei-heit gekaumlmpft Als ich ein kleines Maumldchen gewesen war hatte er mir oft von jenem laquoDschihadraquo erzaumlhlt davon wie die Muslime und ihre laquojuumldi-schen Bruumlderraquo alles darangesetzt hatten die Fran zosen aus dem Land ihrer Vaumlter zu vertreiben laquoAber Frauen und Kinder haben wir nicht ge-toumltet auch keine Zivilistenraquo hatte mein Groszligvater gesagt laquoIm Dschihad

Prolog Verabredung mit ISIS

14

ist das verbotenraquo Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Graumlueltaten die der IS veruumlbte

laquoAber er hat in seinem Heimatland gekaumlmpftraquo wandte ich ein laquoDas hier ist nicht Ihr Landraquo

laquoDas hier ist das Land aller MuslimeraquolaquoIch bin in Europa aufgewachsen habe dort studiertraquo sagte ich laquoGe-

nau wie SieraquolaquoUnd wieso glauben Sie dann immer noch das europaumlische System sei

fair und gerechtraquolaquoWas ist die AlternativeraquolaquoDie Alternative ist das KalifatraquoUnsere Debatte war hitzig geworden persoumlnlich Es schien so viele

Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen ndash wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war den eine Muslimin einschlagen sollte

laquoWarum tun Sie sich das anraquo fragte er laquoGlauben Sie ernstlich der Westen wuumlrde uns respektieren Uns Muslimen die gleichen Rechte ein-raumlumen Es gibt nur einen richtigen Weg ndash unseren Wegraquo Wobei er mit laquounsraquo den sogenannten Islamischen Staat meinte

laquoIch habe Ihre Sachen gelesenraquo sagte er laquoSie haben den Kopf von al- Qaida im Maghreb interviewt Warum sind Sie nur Zeitungsreporte-rin Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen Warum sitzen Sie nicht laumlngst in der Chefetage bei all den Auszeichnun-gen die Sie bekommen habenraquo

Mir war durchaus bewusst wovon er sprach Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder sagen wir unbequeme Fragen zu Auszligenpolitik oder Isla-mophobie stellt muss mit heftigem Gegenwind rechnen

Das Kalifat war definitiv keine Loumlsung Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten die Radikalisierung junger muslimi-

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 5: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

Inhalt

9 Prolog Verabredung mit ISISTuumlrkei 2014

16 1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

46 2 Die Hamburger ZelleDeutschland 1994 ndash 2003

76 3 Ein Land mit gespaltener SeeleIrak 2003 ndash 2004

107 4 Ein Anruf von Khaled el- MasriDeutschland und Algerien 2004 ndash 2006

126 5 Selbst wenn ich heute sterben sollteLibanon 2007

151 6 Die Verlorenen von ZarqaJordanien 2007

173 7 Der Wert eines LebensAlgerien 2008

188 8 Guns amp RosesPakistan 2009

204 9 MukhabaratAumlgypten 2011

228 10 Das ist kein Arabischer FruumlhlingDeutschland und Tunesien 2011

246 11 BedrohungenBahrain Iran und Deutschland 2011 ndash 2013

269 12 Nachwuchs fuumlr das KalifatDeutschland 2013

282 13 Braumlute fuumlr das KalifatDeutschland und Frankreich 2014 ndash 2015

301 14 Auf der Suche nach einem islamistischen Beatle oder Wie ich Jihadi John enttarnteEngland 2014 ndash 2015

326 15 Die RadikalisiertenOumlsterreich Frankreich und Belgien 2015 ndash 2016

347 Epilog Mitten ins HerzDeutschland und Marokko 2016

364 Dank 367 Anmerkungen

9

Prolog Verabredung mit ISISTuumlrkei 2014

Ich sollte allein kommen Ohne Ausweispapiere oder sonstige Dokumente Handy Aufnahmegeraumlt Uhr und Handtasche sollte ich in meinem Hotel in Antakya lassen Erlaubt waren lediglich ein Notizbuch und ein Kugelschreiber

Im Gegenzug verlangte ich mit jemandem zu sprechen der etwas zu sagen hatte und mich uumlber die Langzeitstrategie des Islamischen Staats im Irak und in Syrien kurz ISIS aufklaumlren konnte Es war im Sommer 2014 drei Wochen bevor die Gruppe weltweit bekannt wurde durch die Veroumlffentlichung eines Videos das die Enthauptung des amerikani-schen Journalisten James Foley zeigte Doch bereits zu diesem Zeitpunkt vermutete ich dass der IS eine zentrale Rolle im weltweiten Dschihad spielen wuumlrde Ich hatte fuumlr die New York Times diverse groszlige deutsche Zeitungen und die Washington Post uumlber militante Islamisten in Europa und dem Nahen Osten berichtet und mitverfolgt wie sich die Gruppe nach den Anschlaumlgen vom 11 September zwei von den USA gefuumlhrten Kriegen und dem sogenannten Arabischen Fruumlhling formiert hatte Im Lauf der Jahre hatte ich mit verschiedensten kuumlnftigen IS- Mit gliedern gesprochen

Ich sagte meinen Kontakten dass ich mir keine Fragen verbieten las-sen und ihnen den fertigen Artikel auch nicht zur Freigabe vor legen wuumlrde Auszligerdem wollte ich eine Garantie dass man mich nicht ent-fuumlhren wuumlrde Und da mir eingeschaumlrft worden war niemanden von der Washington Post mitzubringen bat ich meinen Vertrauensmann mitneh-men zu duumlrfen ndash den Kontakt der das Interview arrangiert hatte

Prolog Verabredung mit ISIS

10

laquoIch bin nicht verheiratetraquo sagte ich den IS- Anfuumlhrern laquoIch kann nicht mit euch allein seinraquo

Als muslimische in Deutschland geborene und aufgewachsene Frau marokkanisch- tuumlrkischer Abstammung bin ich ein Sonderfall unter den Journalisten die sich mit dem globalen Dschihad beschaumlftigen Seit ich als Studentin meine ersten Artikel uumlber die Selbstmordattentaumlter des 11 September schrieb hat meine Herkunft es mir ermoumlglicht mit Chef-strategen des Dschihad in Verbindung zu treten ndash wie eben dem Mann den ich an jenem Julitag in der Tuumlrkei treffen sollte

Mir war bekannt dass der IS Journalisten als Geiseln nahm Nicht bekannt war mir dass der Kommandeur der mich erwartete fuumlr die Geiselnahmen zustaumlndig war zudem Vorgesetzter des Killers mit dem britischen Akzent der immer wieder in den Enthauptungsvideos des IS auftauchte und als laquoJihadi Johnraquo weltweit beruumlchtigt werden sollte Spauml-ter erfuhr ich dass besagter Kommandeur ndash Abu Yusaf ndash maszliggeblich bei den Folterungen der Geiseln mitwirkte einschlieszliglich Waterboarding

Ein Treffen am Tag an einem oumlffentlichen Ort war mir verwehrt wor-den Stattdessen sollte es nun nachts stattfinden unter vier Augen Ein paar Stunden vorher verschoben meine Kontakte den Zeitpunkt aber-mals auf 2330 Uhr Keine sonderlich beruhigende Entwicklung Ein Jahr zuvor hatten mich Beamte des Staatsschutzes in meiner Wohnung aufgesucht Offenbar planten radikale Islamisten mich mit der Zusage eines Exklusiv- Interviews in den Nahen Osten zu locken dort zu ent-fuumlhren und anschlieszligend mit einem Kaumlmpfer zu verheiraten Waumlhrend ich mich an diese Warnung erinnerte fragte ich mich ob ich verruumlckt ge-worden war Doch trotz meiner Angst knickte ich nicht ein Wenn alles glatt lief wuumlrde ich die erste westliche Journalistin sein die einen hoch-rangigen IS- Kommandeur interviewte und mit heiler Haut davonkam

Es war ein heiszliger Tag gegen Ende des Ramadans ich saszlig in Jeans und T- Shirt in meinem Hotel und bereitete meine Fragen vor Bevor ich auf-brach zog ich eine schwarze Abaya an ein traditionelles islamisches Uumlberkleid das auszliger Gesicht Haumlnden und Fuumlszligen den gesamten Koumlrper bedeckt Einer von Abu Musab al- Zarqawis Gefolgsleuten hatte es ein paar Jahre zuvor fuumlr mich ausgesucht als ich die Heimatstadt des mittler-

11

Tuumlrkei 2014

weile verstorbenen al- Qaida- An fuumlhrers besucht hatte Al- Zarqawis Ge-folgsmann hatte sogar noch betont die mit rosa Stickereien versehene Abaya sei ein besonders schoumlnes Exemplar und der Stoff so fein dass man sie auch bei heiszligem Wetter problemlos tragen koumlnne Seither ist sie fuumlr mich zu einer Art Gluumlcksbringer geworden Ich trage sie immer bei heik-len Missionen

Das Treffen mit Abu Yusaf sollte an der tuumlrkisch- syrischen Grenze stattfinden unweit des Grenzuumlbergangs bei Reyhanli Ich kannte die Ge-gend gut Meine Mutter war in der Naumlhe aufgewachsen und ich als Kind oft dort gewesen

Ich verabschiedete mich von meinem Reporterkollegen An thony Faiola hinterlieszlig ihm ein paar Telefonnummern unter denen er meine Familie erreichen konnte falls etwas schiefging Um 2215 Uhr holte mich der Mann der den Kontakt hergestellt hatte vom Hotel ab ich werde ihn hier Akram nennen Nach etwa fuumlnfundvierzig Minuten Fahrt bogen wir auf den Parkplatz eines Ho telrestaurants nahe der Grenze ab und warteten Kurz darauf tauchten zwei Autos aus der Dunkelheit auf Der Fahrer des ersten Wagens eines weiszligen Honda stieg aus Akram setzte sich hinters Steuer und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz

Ich wandte mich zu meinem Interviewpartner der auf der Ruumlckbank saszlig Ich schaumltzte Abu Yusaf auf etwa siebenundzwanzig achtundzwanzig er trug eine weiszlige Baseballkappe und eine dunkle Brille die seine Augen verbarg Er war groszlig und gut gebaut hatte einen kurzen Bart und schul-terlange Locken Mit seinem Polohemd und der khakifarbenen Cargo- Hose waumlre er auf europaumlischen Straszligen nicht weiter aufgefallen

Neben ihm lagen drei Nokia- oder Samsung- Handys alles aumlltere Mo-delle Er erklaumlrte aus Sicherheitsgruumlnden wuumlrde kein Kaumlmpfer in seiner Position ein iPhone benutzen sie lieszligen sich zu leicht orten Er trug eine Digitaluhr wie ich sie haumlufig an den Handgelenken amerikanischer Sol-daten im Irak und in Afghanistan gesehen hatte Seine rechte Hosen-tasche war ausgebeult offensichtlich war er bewaffnet Ich fragte mich was passieren wuumlrde wenn uns die tuumlrkische Polizei anhielt

Akram startete den Motor und wir fuhren durch das naumlchtliche Grenzgebiet kamen durch ein paar kleine Doumlrfer Das Geraumlusch des

Prolog Verabredung mit ISIS

12

Fahrtwinds drang an meine Ohren Ich versuchte mir zu merken wo wir langfuhren doch mein Gespraumlch mit Abu Yusaf lenkte mich immer wie-der ab

Er sprach ruhig und leise versuchte zu verbergen dass er marokka-nischer Herkunft war zudem wollte er offenbar keinen Anhaltspunkt lie-fern wo genau in Europa er gelebt hatte Doch seine Gesichtszuumlge waren unverkennbar nordafrikanisch und als ich vom klassischen Arabisch ins marokkanische Arabisch wechselte verstand er auf Anhieb und beendete sein Versteckspiel Es stellte sich heraus dass er zwar in Marokko ge-boren aber als Teenager nach Holland gekommen war laquoWenn Sie wissen wollen ob ich auch Franzoumlsisch spreche brauchen Siersquos nur zu sagenraquo Er laumlchelte Hollaumlndisch sprach er auch Spaumlter fand ich heraus dass er ein Ingenieurstudium absolviert hatte

Waumlhrend der Fahrt schilderte er mir seine Vision Der IS wuumlrde die Muslime von Palaumlstina bis Marokko und Spanien befreien und den Islam schlieszliglich uumlber die ganze Welt verbreiten Jeder der Widerstand leistete wuumlrde dafuumlr mit dem Leben bezahlen laquoWenn die Vereinigten Staaten Blumen regnen lassen werden wir ebenfalls Blumen regnen lassenraquo sagte Abu Yusaf laquoAber wenn sie Feuer regnen lassen zahlen wir es ihnen ebenso mit gleicher Muumlnze heim auch auf ihrem eigenen Terrain Und das gilt genauso fuumlr jedes andere westliche Landraquo1

Er erklaumlrte mir der IS verfuumlge sowohl uumlber die noumltigen finanziellen Mittel als auch das erforderliche Know- how Tatsaumlchlich hatte sich die Terrorvereinigung bereits still und heimlich etabliert ehe die Weltoumlffent-lichkeit auf sie aufmerksam geworden war Zu ihren Mitgliedern ge-houmlrten gebildete Leute aus westlichen Laumlndern erstklassig ausgebildete Elitesoldaten aus Saddam Husseins Republi kanischer Garde und ehe-malige al- Qaida- Kaumlmpfer laquoGlauben Sie ernstlich uns wuumlrden sich nur Schwachkoumlpfe anschlieszligenraquo fragte er laquoVon wegen In unseren Reihen stehen Bruumlder aus England mit Uni- Abschluumlssen Bruumlder mit pakistani-schen somalischen jeme nitischen ja sogar kuwaitischen Wurzelnraquo Spauml-ter begriff ich dass er von den Wachen sprach die mehrere IS- Geiseln als die laquoBeatlesraquo bezeichnet hatten Jihadi John und drei andere mit eng-lischem Akzent

13

Tuumlrkei 2014

Ich fragte was ihn dazu bewogen hatte sich der Organisation an-zuschlieszligen Abu Yusaf erwiderte er haumltte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker die immer von Menschenrechten und Religionsfreiheit faselten muslimische Buumlrger aber wie Menschen zwei-ter Klasse behandelten laquoSehen Sie sich doch an wie wir in Europa behandelt worden sindraquo sagte er laquoIch wollte dazu gehoumlren Teil der Ge-sellschaft sein in der ich aufgewachsen bin aber ich hatte immer das Gefuumlhl Du bist nur ein Muslim nur ein Marokkaner die werden dich nie akzeptierenraquo

Die US- Invasion im Irak sei ungerechtfertigt gewesen sagte er Es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben im Abu- Ghraib- Ge faumlng-nis seien Irakis gefoltert und die Amerikaner nicht dafuumlr zur Rechen-schaft gezogen worden laquoUnd dann zeigen sie auch noch mit dem Finger auf uns und beschimpfen uns als Barbarenraquo

laquoSie behaupten Sie wollen nicht dass Unschuldige zu Schaden kom-menraquo sagte ich laquoUnd weshalb entfuumlhren und toumlten Sie dann selbst Un-schuldigeraquo

Er schwieg ein paar Sekunden lang laquoJedes Volk hat die Chance sich zu befreienraquo gab er dann zuruumlck laquoWenn die Menschen es nicht tun wollen ist das ihr Problem Nicht wir haben sie angegriffen ndash sie haben uns angegriffenraquo

laquoWas erwarten Sie wenn Sie Menschen als Geisel nehmenraquo fragte ich

Er begann von seinem marokkanischen Groszligvater zu erzaumlhlen der gegen die franzoumlsischen Kolonialherren gekaumlmpft hatte zog Parallelen von einem Dschihad zum anderen laquoDie Amerikaner wollten den Irak zu ihrer Kolonie machenraquo sagte er laquoUnd jetzt fuumlhren wir den Heiligen Krieg um die muslimische Welt zu befreienraquo

Mein eigener Groszligvater aber hatte ebenfalls in Marokko fuumlr die Frei-heit gekaumlmpft Als ich ein kleines Maumldchen gewesen war hatte er mir oft von jenem laquoDschihadraquo erzaumlhlt davon wie die Muslime und ihre laquojuumldi-schen Bruumlderraquo alles darangesetzt hatten die Fran zosen aus dem Land ihrer Vaumlter zu vertreiben laquoAber Frauen und Kinder haben wir nicht ge-toumltet auch keine Zivilistenraquo hatte mein Groszligvater gesagt laquoIm Dschihad

Prolog Verabredung mit ISIS

14

ist das verbotenraquo Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Graumlueltaten die der IS veruumlbte

laquoAber er hat in seinem Heimatland gekaumlmpftraquo wandte ich ein laquoDas hier ist nicht Ihr Landraquo

laquoDas hier ist das Land aller MuslimeraquolaquoIch bin in Europa aufgewachsen habe dort studiertraquo sagte ich laquoGe-

nau wie SieraquolaquoUnd wieso glauben Sie dann immer noch das europaumlische System sei

fair und gerechtraquolaquoWas ist die AlternativeraquolaquoDie Alternative ist das KalifatraquoUnsere Debatte war hitzig geworden persoumlnlich Es schien so viele

Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen ndash wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war den eine Muslimin einschlagen sollte

laquoWarum tun Sie sich das anraquo fragte er laquoGlauben Sie ernstlich der Westen wuumlrde uns respektieren Uns Muslimen die gleichen Rechte ein-raumlumen Es gibt nur einen richtigen Weg ndash unseren Wegraquo Wobei er mit laquounsraquo den sogenannten Islamischen Staat meinte

laquoIch habe Ihre Sachen gelesenraquo sagte er laquoSie haben den Kopf von al- Qaida im Maghreb interviewt Warum sind Sie nur Zeitungsreporte-rin Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen Warum sitzen Sie nicht laumlngst in der Chefetage bei all den Auszeichnun-gen die Sie bekommen habenraquo

Mir war durchaus bewusst wovon er sprach Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder sagen wir unbequeme Fragen zu Auszligenpolitik oder Isla-mophobie stellt muss mit heftigem Gegenwind rechnen

Das Kalifat war definitiv keine Loumlsung Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten die Radikalisierung junger muslimi-

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 6: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

188 8 Guns amp RosesPakistan 2009

204 9 MukhabaratAumlgypten 2011

228 10 Das ist kein Arabischer FruumlhlingDeutschland und Tunesien 2011

246 11 BedrohungenBahrain Iran und Deutschland 2011 ndash 2013

269 12 Nachwuchs fuumlr das KalifatDeutschland 2013

282 13 Braumlute fuumlr das KalifatDeutschland und Frankreich 2014 ndash 2015

301 14 Auf der Suche nach einem islamistischen Beatle oder Wie ich Jihadi John enttarnteEngland 2014 ndash 2015

326 15 Die RadikalisiertenOumlsterreich Frankreich und Belgien 2015 ndash 2016

347 Epilog Mitten ins HerzDeutschland und Marokko 2016

364 Dank 367 Anmerkungen

9

Prolog Verabredung mit ISISTuumlrkei 2014

Ich sollte allein kommen Ohne Ausweispapiere oder sonstige Dokumente Handy Aufnahmegeraumlt Uhr und Handtasche sollte ich in meinem Hotel in Antakya lassen Erlaubt waren lediglich ein Notizbuch und ein Kugelschreiber

Im Gegenzug verlangte ich mit jemandem zu sprechen der etwas zu sagen hatte und mich uumlber die Langzeitstrategie des Islamischen Staats im Irak und in Syrien kurz ISIS aufklaumlren konnte Es war im Sommer 2014 drei Wochen bevor die Gruppe weltweit bekannt wurde durch die Veroumlffentlichung eines Videos das die Enthauptung des amerikani-schen Journalisten James Foley zeigte Doch bereits zu diesem Zeitpunkt vermutete ich dass der IS eine zentrale Rolle im weltweiten Dschihad spielen wuumlrde Ich hatte fuumlr die New York Times diverse groszlige deutsche Zeitungen und die Washington Post uumlber militante Islamisten in Europa und dem Nahen Osten berichtet und mitverfolgt wie sich die Gruppe nach den Anschlaumlgen vom 11 September zwei von den USA gefuumlhrten Kriegen und dem sogenannten Arabischen Fruumlhling formiert hatte Im Lauf der Jahre hatte ich mit verschiedensten kuumlnftigen IS- Mit gliedern gesprochen

Ich sagte meinen Kontakten dass ich mir keine Fragen verbieten las-sen und ihnen den fertigen Artikel auch nicht zur Freigabe vor legen wuumlrde Auszligerdem wollte ich eine Garantie dass man mich nicht ent-fuumlhren wuumlrde Und da mir eingeschaumlrft worden war niemanden von der Washington Post mitzubringen bat ich meinen Vertrauensmann mitneh-men zu duumlrfen ndash den Kontakt der das Interview arrangiert hatte

Prolog Verabredung mit ISIS

10

laquoIch bin nicht verheiratetraquo sagte ich den IS- Anfuumlhrern laquoIch kann nicht mit euch allein seinraquo

Als muslimische in Deutschland geborene und aufgewachsene Frau marokkanisch- tuumlrkischer Abstammung bin ich ein Sonderfall unter den Journalisten die sich mit dem globalen Dschihad beschaumlftigen Seit ich als Studentin meine ersten Artikel uumlber die Selbstmordattentaumlter des 11 September schrieb hat meine Herkunft es mir ermoumlglicht mit Chef-strategen des Dschihad in Verbindung zu treten ndash wie eben dem Mann den ich an jenem Julitag in der Tuumlrkei treffen sollte

Mir war bekannt dass der IS Journalisten als Geiseln nahm Nicht bekannt war mir dass der Kommandeur der mich erwartete fuumlr die Geiselnahmen zustaumlndig war zudem Vorgesetzter des Killers mit dem britischen Akzent der immer wieder in den Enthauptungsvideos des IS auftauchte und als laquoJihadi Johnraquo weltweit beruumlchtigt werden sollte Spauml-ter erfuhr ich dass besagter Kommandeur ndash Abu Yusaf ndash maszliggeblich bei den Folterungen der Geiseln mitwirkte einschlieszliglich Waterboarding

Ein Treffen am Tag an einem oumlffentlichen Ort war mir verwehrt wor-den Stattdessen sollte es nun nachts stattfinden unter vier Augen Ein paar Stunden vorher verschoben meine Kontakte den Zeitpunkt aber-mals auf 2330 Uhr Keine sonderlich beruhigende Entwicklung Ein Jahr zuvor hatten mich Beamte des Staatsschutzes in meiner Wohnung aufgesucht Offenbar planten radikale Islamisten mich mit der Zusage eines Exklusiv- Interviews in den Nahen Osten zu locken dort zu ent-fuumlhren und anschlieszligend mit einem Kaumlmpfer zu verheiraten Waumlhrend ich mich an diese Warnung erinnerte fragte ich mich ob ich verruumlckt ge-worden war Doch trotz meiner Angst knickte ich nicht ein Wenn alles glatt lief wuumlrde ich die erste westliche Journalistin sein die einen hoch-rangigen IS- Kommandeur interviewte und mit heiler Haut davonkam

Es war ein heiszliger Tag gegen Ende des Ramadans ich saszlig in Jeans und T- Shirt in meinem Hotel und bereitete meine Fragen vor Bevor ich auf-brach zog ich eine schwarze Abaya an ein traditionelles islamisches Uumlberkleid das auszliger Gesicht Haumlnden und Fuumlszligen den gesamten Koumlrper bedeckt Einer von Abu Musab al- Zarqawis Gefolgsleuten hatte es ein paar Jahre zuvor fuumlr mich ausgesucht als ich die Heimatstadt des mittler-

11

Tuumlrkei 2014

weile verstorbenen al- Qaida- An fuumlhrers besucht hatte Al- Zarqawis Ge-folgsmann hatte sogar noch betont die mit rosa Stickereien versehene Abaya sei ein besonders schoumlnes Exemplar und der Stoff so fein dass man sie auch bei heiszligem Wetter problemlos tragen koumlnne Seither ist sie fuumlr mich zu einer Art Gluumlcksbringer geworden Ich trage sie immer bei heik-len Missionen

Das Treffen mit Abu Yusaf sollte an der tuumlrkisch- syrischen Grenze stattfinden unweit des Grenzuumlbergangs bei Reyhanli Ich kannte die Ge-gend gut Meine Mutter war in der Naumlhe aufgewachsen und ich als Kind oft dort gewesen

Ich verabschiedete mich von meinem Reporterkollegen An thony Faiola hinterlieszlig ihm ein paar Telefonnummern unter denen er meine Familie erreichen konnte falls etwas schiefging Um 2215 Uhr holte mich der Mann der den Kontakt hergestellt hatte vom Hotel ab ich werde ihn hier Akram nennen Nach etwa fuumlnfundvierzig Minuten Fahrt bogen wir auf den Parkplatz eines Ho telrestaurants nahe der Grenze ab und warteten Kurz darauf tauchten zwei Autos aus der Dunkelheit auf Der Fahrer des ersten Wagens eines weiszligen Honda stieg aus Akram setzte sich hinters Steuer und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz

Ich wandte mich zu meinem Interviewpartner der auf der Ruumlckbank saszlig Ich schaumltzte Abu Yusaf auf etwa siebenundzwanzig achtundzwanzig er trug eine weiszlige Baseballkappe und eine dunkle Brille die seine Augen verbarg Er war groszlig und gut gebaut hatte einen kurzen Bart und schul-terlange Locken Mit seinem Polohemd und der khakifarbenen Cargo- Hose waumlre er auf europaumlischen Straszligen nicht weiter aufgefallen

Neben ihm lagen drei Nokia- oder Samsung- Handys alles aumlltere Mo-delle Er erklaumlrte aus Sicherheitsgruumlnden wuumlrde kein Kaumlmpfer in seiner Position ein iPhone benutzen sie lieszligen sich zu leicht orten Er trug eine Digitaluhr wie ich sie haumlufig an den Handgelenken amerikanischer Sol-daten im Irak und in Afghanistan gesehen hatte Seine rechte Hosen-tasche war ausgebeult offensichtlich war er bewaffnet Ich fragte mich was passieren wuumlrde wenn uns die tuumlrkische Polizei anhielt

Akram startete den Motor und wir fuhren durch das naumlchtliche Grenzgebiet kamen durch ein paar kleine Doumlrfer Das Geraumlusch des

Prolog Verabredung mit ISIS

12

Fahrtwinds drang an meine Ohren Ich versuchte mir zu merken wo wir langfuhren doch mein Gespraumlch mit Abu Yusaf lenkte mich immer wie-der ab

Er sprach ruhig und leise versuchte zu verbergen dass er marokka-nischer Herkunft war zudem wollte er offenbar keinen Anhaltspunkt lie-fern wo genau in Europa er gelebt hatte Doch seine Gesichtszuumlge waren unverkennbar nordafrikanisch und als ich vom klassischen Arabisch ins marokkanische Arabisch wechselte verstand er auf Anhieb und beendete sein Versteckspiel Es stellte sich heraus dass er zwar in Marokko ge-boren aber als Teenager nach Holland gekommen war laquoWenn Sie wissen wollen ob ich auch Franzoumlsisch spreche brauchen Siersquos nur zu sagenraquo Er laumlchelte Hollaumlndisch sprach er auch Spaumlter fand ich heraus dass er ein Ingenieurstudium absolviert hatte

Waumlhrend der Fahrt schilderte er mir seine Vision Der IS wuumlrde die Muslime von Palaumlstina bis Marokko und Spanien befreien und den Islam schlieszliglich uumlber die ganze Welt verbreiten Jeder der Widerstand leistete wuumlrde dafuumlr mit dem Leben bezahlen laquoWenn die Vereinigten Staaten Blumen regnen lassen werden wir ebenfalls Blumen regnen lassenraquo sagte Abu Yusaf laquoAber wenn sie Feuer regnen lassen zahlen wir es ihnen ebenso mit gleicher Muumlnze heim auch auf ihrem eigenen Terrain Und das gilt genauso fuumlr jedes andere westliche Landraquo1

Er erklaumlrte mir der IS verfuumlge sowohl uumlber die noumltigen finanziellen Mittel als auch das erforderliche Know- how Tatsaumlchlich hatte sich die Terrorvereinigung bereits still und heimlich etabliert ehe die Weltoumlffent-lichkeit auf sie aufmerksam geworden war Zu ihren Mitgliedern ge-houmlrten gebildete Leute aus westlichen Laumlndern erstklassig ausgebildete Elitesoldaten aus Saddam Husseins Republi kanischer Garde und ehe-malige al- Qaida- Kaumlmpfer laquoGlauben Sie ernstlich uns wuumlrden sich nur Schwachkoumlpfe anschlieszligenraquo fragte er laquoVon wegen In unseren Reihen stehen Bruumlder aus England mit Uni- Abschluumlssen Bruumlder mit pakistani-schen somalischen jeme nitischen ja sogar kuwaitischen Wurzelnraquo Spauml-ter begriff ich dass er von den Wachen sprach die mehrere IS- Geiseln als die laquoBeatlesraquo bezeichnet hatten Jihadi John und drei andere mit eng-lischem Akzent

13

Tuumlrkei 2014

Ich fragte was ihn dazu bewogen hatte sich der Organisation an-zuschlieszligen Abu Yusaf erwiderte er haumltte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker die immer von Menschenrechten und Religionsfreiheit faselten muslimische Buumlrger aber wie Menschen zwei-ter Klasse behandelten laquoSehen Sie sich doch an wie wir in Europa behandelt worden sindraquo sagte er laquoIch wollte dazu gehoumlren Teil der Ge-sellschaft sein in der ich aufgewachsen bin aber ich hatte immer das Gefuumlhl Du bist nur ein Muslim nur ein Marokkaner die werden dich nie akzeptierenraquo

Die US- Invasion im Irak sei ungerechtfertigt gewesen sagte er Es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben im Abu- Ghraib- Ge faumlng-nis seien Irakis gefoltert und die Amerikaner nicht dafuumlr zur Rechen-schaft gezogen worden laquoUnd dann zeigen sie auch noch mit dem Finger auf uns und beschimpfen uns als Barbarenraquo

laquoSie behaupten Sie wollen nicht dass Unschuldige zu Schaden kom-menraquo sagte ich laquoUnd weshalb entfuumlhren und toumlten Sie dann selbst Un-schuldigeraquo

Er schwieg ein paar Sekunden lang laquoJedes Volk hat die Chance sich zu befreienraquo gab er dann zuruumlck laquoWenn die Menschen es nicht tun wollen ist das ihr Problem Nicht wir haben sie angegriffen ndash sie haben uns angegriffenraquo

laquoWas erwarten Sie wenn Sie Menschen als Geisel nehmenraquo fragte ich

Er begann von seinem marokkanischen Groszligvater zu erzaumlhlen der gegen die franzoumlsischen Kolonialherren gekaumlmpft hatte zog Parallelen von einem Dschihad zum anderen laquoDie Amerikaner wollten den Irak zu ihrer Kolonie machenraquo sagte er laquoUnd jetzt fuumlhren wir den Heiligen Krieg um die muslimische Welt zu befreienraquo

Mein eigener Groszligvater aber hatte ebenfalls in Marokko fuumlr die Frei-heit gekaumlmpft Als ich ein kleines Maumldchen gewesen war hatte er mir oft von jenem laquoDschihadraquo erzaumlhlt davon wie die Muslime und ihre laquojuumldi-schen Bruumlderraquo alles darangesetzt hatten die Fran zosen aus dem Land ihrer Vaumlter zu vertreiben laquoAber Frauen und Kinder haben wir nicht ge-toumltet auch keine Zivilistenraquo hatte mein Groszligvater gesagt laquoIm Dschihad

Prolog Verabredung mit ISIS

14

ist das verbotenraquo Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Graumlueltaten die der IS veruumlbte

laquoAber er hat in seinem Heimatland gekaumlmpftraquo wandte ich ein laquoDas hier ist nicht Ihr Landraquo

laquoDas hier ist das Land aller MuslimeraquolaquoIch bin in Europa aufgewachsen habe dort studiertraquo sagte ich laquoGe-

nau wie SieraquolaquoUnd wieso glauben Sie dann immer noch das europaumlische System sei

fair und gerechtraquolaquoWas ist die AlternativeraquolaquoDie Alternative ist das KalifatraquoUnsere Debatte war hitzig geworden persoumlnlich Es schien so viele

Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen ndash wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war den eine Muslimin einschlagen sollte

laquoWarum tun Sie sich das anraquo fragte er laquoGlauben Sie ernstlich der Westen wuumlrde uns respektieren Uns Muslimen die gleichen Rechte ein-raumlumen Es gibt nur einen richtigen Weg ndash unseren Wegraquo Wobei er mit laquounsraquo den sogenannten Islamischen Staat meinte

laquoIch habe Ihre Sachen gelesenraquo sagte er laquoSie haben den Kopf von al- Qaida im Maghreb interviewt Warum sind Sie nur Zeitungsreporte-rin Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen Warum sitzen Sie nicht laumlngst in der Chefetage bei all den Auszeichnun-gen die Sie bekommen habenraquo

Mir war durchaus bewusst wovon er sprach Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder sagen wir unbequeme Fragen zu Auszligenpolitik oder Isla-mophobie stellt muss mit heftigem Gegenwind rechnen

Das Kalifat war definitiv keine Loumlsung Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten die Radikalisierung junger muslimi-

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 7: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

9

Prolog Verabredung mit ISISTuumlrkei 2014

Ich sollte allein kommen Ohne Ausweispapiere oder sonstige Dokumente Handy Aufnahmegeraumlt Uhr und Handtasche sollte ich in meinem Hotel in Antakya lassen Erlaubt waren lediglich ein Notizbuch und ein Kugelschreiber

Im Gegenzug verlangte ich mit jemandem zu sprechen der etwas zu sagen hatte und mich uumlber die Langzeitstrategie des Islamischen Staats im Irak und in Syrien kurz ISIS aufklaumlren konnte Es war im Sommer 2014 drei Wochen bevor die Gruppe weltweit bekannt wurde durch die Veroumlffentlichung eines Videos das die Enthauptung des amerikani-schen Journalisten James Foley zeigte Doch bereits zu diesem Zeitpunkt vermutete ich dass der IS eine zentrale Rolle im weltweiten Dschihad spielen wuumlrde Ich hatte fuumlr die New York Times diverse groszlige deutsche Zeitungen und die Washington Post uumlber militante Islamisten in Europa und dem Nahen Osten berichtet und mitverfolgt wie sich die Gruppe nach den Anschlaumlgen vom 11 September zwei von den USA gefuumlhrten Kriegen und dem sogenannten Arabischen Fruumlhling formiert hatte Im Lauf der Jahre hatte ich mit verschiedensten kuumlnftigen IS- Mit gliedern gesprochen

Ich sagte meinen Kontakten dass ich mir keine Fragen verbieten las-sen und ihnen den fertigen Artikel auch nicht zur Freigabe vor legen wuumlrde Auszligerdem wollte ich eine Garantie dass man mich nicht ent-fuumlhren wuumlrde Und da mir eingeschaumlrft worden war niemanden von der Washington Post mitzubringen bat ich meinen Vertrauensmann mitneh-men zu duumlrfen ndash den Kontakt der das Interview arrangiert hatte

Prolog Verabredung mit ISIS

10

laquoIch bin nicht verheiratetraquo sagte ich den IS- Anfuumlhrern laquoIch kann nicht mit euch allein seinraquo

Als muslimische in Deutschland geborene und aufgewachsene Frau marokkanisch- tuumlrkischer Abstammung bin ich ein Sonderfall unter den Journalisten die sich mit dem globalen Dschihad beschaumlftigen Seit ich als Studentin meine ersten Artikel uumlber die Selbstmordattentaumlter des 11 September schrieb hat meine Herkunft es mir ermoumlglicht mit Chef-strategen des Dschihad in Verbindung zu treten ndash wie eben dem Mann den ich an jenem Julitag in der Tuumlrkei treffen sollte

Mir war bekannt dass der IS Journalisten als Geiseln nahm Nicht bekannt war mir dass der Kommandeur der mich erwartete fuumlr die Geiselnahmen zustaumlndig war zudem Vorgesetzter des Killers mit dem britischen Akzent der immer wieder in den Enthauptungsvideos des IS auftauchte und als laquoJihadi Johnraquo weltweit beruumlchtigt werden sollte Spauml-ter erfuhr ich dass besagter Kommandeur ndash Abu Yusaf ndash maszliggeblich bei den Folterungen der Geiseln mitwirkte einschlieszliglich Waterboarding

Ein Treffen am Tag an einem oumlffentlichen Ort war mir verwehrt wor-den Stattdessen sollte es nun nachts stattfinden unter vier Augen Ein paar Stunden vorher verschoben meine Kontakte den Zeitpunkt aber-mals auf 2330 Uhr Keine sonderlich beruhigende Entwicklung Ein Jahr zuvor hatten mich Beamte des Staatsschutzes in meiner Wohnung aufgesucht Offenbar planten radikale Islamisten mich mit der Zusage eines Exklusiv- Interviews in den Nahen Osten zu locken dort zu ent-fuumlhren und anschlieszligend mit einem Kaumlmpfer zu verheiraten Waumlhrend ich mich an diese Warnung erinnerte fragte ich mich ob ich verruumlckt ge-worden war Doch trotz meiner Angst knickte ich nicht ein Wenn alles glatt lief wuumlrde ich die erste westliche Journalistin sein die einen hoch-rangigen IS- Kommandeur interviewte und mit heiler Haut davonkam

Es war ein heiszliger Tag gegen Ende des Ramadans ich saszlig in Jeans und T- Shirt in meinem Hotel und bereitete meine Fragen vor Bevor ich auf-brach zog ich eine schwarze Abaya an ein traditionelles islamisches Uumlberkleid das auszliger Gesicht Haumlnden und Fuumlszligen den gesamten Koumlrper bedeckt Einer von Abu Musab al- Zarqawis Gefolgsleuten hatte es ein paar Jahre zuvor fuumlr mich ausgesucht als ich die Heimatstadt des mittler-

11

Tuumlrkei 2014

weile verstorbenen al- Qaida- An fuumlhrers besucht hatte Al- Zarqawis Ge-folgsmann hatte sogar noch betont die mit rosa Stickereien versehene Abaya sei ein besonders schoumlnes Exemplar und der Stoff so fein dass man sie auch bei heiszligem Wetter problemlos tragen koumlnne Seither ist sie fuumlr mich zu einer Art Gluumlcksbringer geworden Ich trage sie immer bei heik-len Missionen

Das Treffen mit Abu Yusaf sollte an der tuumlrkisch- syrischen Grenze stattfinden unweit des Grenzuumlbergangs bei Reyhanli Ich kannte die Ge-gend gut Meine Mutter war in der Naumlhe aufgewachsen und ich als Kind oft dort gewesen

Ich verabschiedete mich von meinem Reporterkollegen An thony Faiola hinterlieszlig ihm ein paar Telefonnummern unter denen er meine Familie erreichen konnte falls etwas schiefging Um 2215 Uhr holte mich der Mann der den Kontakt hergestellt hatte vom Hotel ab ich werde ihn hier Akram nennen Nach etwa fuumlnfundvierzig Minuten Fahrt bogen wir auf den Parkplatz eines Ho telrestaurants nahe der Grenze ab und warteten Kurz darauf tauchten zwei Autos aus der Dunkelheit auf Der Fahrer des ersten Wagens eines weiszligen Honda stieg aus Akram setzte sich hinters Steuer und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz

Ich wandte mich zu meinem Interviewpartner der auf der Ruumlckbank saszlig Ich schaumltzte Abu Yusaf auf etwa siebenundzwanzig achtundzwanzig er trug eine weiszlige Baseballkappe und eine dunkle Brille die seine Augen verbarg Er war groszlig und gut gebaut hatte einen kurzen Bart und schul-terlange Locken Mit seinem Polohemd und der khakifarbenen Cargo- Hose waumlre er auf europaumlischen Straszligen nicht weiter aufgefallen

Neben ihm lagen drei Nokia- oder Samsung- Handys alles aumlltere Mo-delle Er erklaumlrte aus Sicherheitsgruumlnden wuumlrde kein Kaumlmpfer in seiner Position ein iPhone benutzen sie lieszligen sich zu leicht orten Er trug eine Digitaluhr wie ich sie haumlufig an den Handgelenken amerikanischer Sol-daten im Irak und in Afghanistan gesehen hatte Seine rechte Hosen-tasche war ausgebeult offensichtlich war er bewaffnet Ich fragte mich was passieren wuumlrde wenn uns die tuumlrkische Polizei anhielt

Akram startete den Motor und wir fuhren durch das naumlchtliche Grenzgebiet kamen durch ein paar kleine Doumlrfer Das Geraumlusch des

Prolog Verabredung mit ISIS

12

Fahrtwinds drang an meine Ohren Ich versuchte mir zu merken wo wir langfuhren doch mein Gespraumlch mit Abu Yusaf lenkte mich immer wie-der ab

Er sprach ruhig und leise versuchte zu verbergen dass er marokka-nischer Herkunft war zudem wollte er offenbar keinen Anhaltspunkt lie-fern wo genau in Europa er gelebt hatte Doch seine Gesichtszuumlge waren unverkennbar nordafrikanisch und als ich vom klassischen Arabisch ins marokkanische Arabisch wechselte verstand er auf Anhieb und beendete sein Versteckspiel Es stellte sich heraus dass er zwar in Marokko ge-boren aber als Teenager nach Holland gekommen war laquoWenn Sie wissen wollen ob ich auch Franzoumlsisch spreche brauchen Siersquos nur zu sagenraquo Er laumlchelte Hollaumlndisch sprach er auch Spaumlter fand ich heraus dass er ein Ingenieurstudium absolviert hatte

Waumlhrend der Fahrt schilderte er mir seine Vision Der IS wuumlrde die Muslime von Palaumlstina bis Marokko und Spanien befreien und den Islam schlieszliglich uumlber die ganze Welt verbreiten Jeder der Widerstand leistete wuumlrde dafuumlr mit dem Leben bezahlen laquoWenn die Vereinigten Staaten Blumen regnen lassen werden wir ebenfalls Blumen regnen lassenraquo sagte Abu Yusaf laquoAber wenn sie Feuer regnen lassen zahlen wir es ihnen ebenso mit gleicher Muumlnze heim auch auf ihrem eigenen Terrain Und das gilt genauso fuumlr jedes andere westliche Landraquo1

Er erklaumlrte mir der IS verfuumlge sowohl uumlber die noumltigen finanziellen Mittel als auch das erforderliche Know- how Tatsaumlchlich hatte sich die Terrorvereinigung bereits still und heimlich etabliert ehe die Weltoumlffent-lichkeit auf sie aufmerksam geworden war Zu ihren Mitgliedern ge-houmlrten gebildete Leute aus westlichen Laumlndern erstklassig ausgebildete Elitesoldaten aus Saddam Husseins Republi kanischer Garde und ehe-malige al- Qaida- Kaumlmpfer laquoGlauben Sie ernstlich uns wuumlrden sich nur Schwachkoumlpfe anschlieszligenraquo fragte er laquoVon wegen In unseren Reihen stehen Bruumlder aus England mit Uni- Abschluumlssen Bruumlder mit pakistani-schen somalischen jeme nitischen ja sogar kuwaitischen Wurzelnraquo Spauml-ter begriff ich dass er von den Wachen sprach die mehrere IS- Geiseln als die laquoBeatlesraquo bezeichnet hatten Jihadi John und drei andere mit eng-lischem Akzent

13

Tuumlrkei 2014

Ich fragte was ihn dazu bewogen hatte sich der Organisation an-zuschlieszligen Abu Yusaf erwiderte er haumltte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker die immer von Menschenrechten und Religionsfreiheit faselten muslimische Buumlrger aber wie Menschen zwei-ter Klasse behandelten laquoSehen Sie sich doch an wie wir in Europa behandelt worden sindraquo sagte er laquoIch wollte dazu gehoumlren Teil der Ge-sellschaft sein in der ich aufgewachsen bin aber ich hatte immer das Gefuumlhl Du bist nur ein Muslim nur ein Marokkaner die werden dich nie akzeptierenraquo

Die US- Invasion im Irak sei ungerechtfertigt gewesen sagte er Es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben im Abu- Ghraib- Ge faumlng-nis seien Irakis gefoltert und die Amerikaner nicht dafuumlr zur Rechen-schaft gezogen worden laquoUnd dann zeigen sie auch noch mit dem Finger auf uns und beschimpfen uns als Barbarenraquo

laquoSie behaupten Sie wollen nicht dass Unschuldige zu Schaden kom-menraquo sagte ich laquoUnd weshalb entfuumlhren und toumlten Sie dann selbst Un-schuldigeraquo

Er schwieg ein paar Sekunden lang laquoJedes Volk hat die Chance sich zu befreienraquo gab er dann zuruumlck laquoWenn die Menschen es nicht tun wollen ist das ihr Problem Nicht wir haben sie angegriffen ndash sie haben uns angegriffenraquo

laquoWas erwarten Sie wenn Sie Menschen als Geisel nehmenraquo fragte ich

Er begann von seinem marokkanischen Groszligvater zu erzaumlhlen der gegen die franzoumlsischen Kolonialherren gekaumlmpft hatte zog Parallelen von einem Dschihad zum anderen laquoDie Amerikaner wollten den Irak zu ihrer Kolonie machenraquo sagte er laquoUnd jetzt fuumlhren wir den Heiligen Krieg um die muslimische Welt zu befreienraquo

Mein eigener Groszligvater aber hatte ebenfalls in Marokko fuumlr die Frei-heit gekaumlmpft Als ich ein kleines Maumldchen gewesen war hatte er mir oft von jenem laquoDschihadraquo erzaumlhlt davon wie die Muslime und ihre laquojuumldi-schen Bruumlderraquo alles darangesetzt hatten die Fran zosen aus dem Land ihrer Vaumlter zu vertreiben laquoAber Frauen und Kinder haben wir nicht ge-toumltet auch keine Zivilistenraquo hatte mein Groszligvater gesagt laquoIm Dschihad

Prolog Verabredung mit ISIS

14

ist das verbotenraquo Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Graumlueltaten die der IS veruumlbte

laquoAber er hat in seinem Heimatland gekaumlmpftraquo wandte ich ein laquoDas hier ist nicht Ihr Landraquo

laquoDas hier ist das Land aller MuslimeraquolaquoIch bin in Europa aufgewachsen habe dort studiertraquo sagte ich laquoGe-

nau wie SieraquolaquoUnd wieso glauben Sie dann immer noch das europaumlische System sei

fair und gerechtraquolaquoWas ist die AlternativeraquolaquoDie Alternative ist das KalifatraquoUnsere Debatte war hitzig geworden persoumlnlich Es schien so viele

Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen ndash wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war den eine Muslimin einschlagen sollte

laquoWarum tun Sie sich das anraquo fragte er laquoGlauben Sie ernstlich der Westen wuumlrde uns respektieren Uns Muslimen die gleichen Rechte ein-raumlumen Es gibt nur einen richtigen Weg ndash unseren Wegraquo Wobei er mit laquounsraquo den sogenannten Islamischen Staat meinte

laquoIch habe Ihre Sachen gelesenraquo sagte er laquoSie haben den Kopf von al- Qaida im Maghreb interviewt Warum sind Sie nur Zeitungsreporte-rin Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen Warum sitzen Sie nicht laumlngst in der Chefetage bei all den Auszeichnun-gen die Sie bekommen habenraquo

Mir war durchaus bewusst wovon er sprach Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder sagen wir unbequeme Fragen zu Auszligenpolitik oder Isla-mophobie stellt muss mit heftigem Gegenwind rechnen

Das Kalifat war definitiv keine Loumlsung Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten die Radikalisierung junger muslimi-

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 8: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

Prolog Verabredung mit ISIS

10

laquoIch bin nicht verheiratetraquo sagte ich den IS- Anfuumlhrern laquoIch kann nicht mit euch allein seinraquo

Als muslimische in Deutschland geborene und aufgewachsene Frau marokkanisch- tuumlrkischer Abstammung bin ich ein Sonderfall unter den Journalisten die sich mit dem globalen Dschihad beschaumlftigen Seit ich als Studentin meine ersten Artikel uumlber die Selbstmordattentaumlter des 11 September schrieb hat meine Herkunft es mir ermoumlglicht mit Chef-strategen des Dschihad in Verbindung zu treten ndash wie eben dem Mann den ich an jenem Julitag in der Tuumlrkei treffen sollte

Mir war bekannt dass der IS Journalisten als Geiseln nahm Nicht bekannt war mir dass der Kommandeur der mich erwartete fuumlr die Geiselnahmen zustaumlndig war zudem Vorgesetzter des Killers mit dem britischen Akzent der immer wieder in den Enthauptungsvideos des IS auftauchte und als laquoJihadi Johnraquo weltweit beruumlchtigt werden sollte Spauml-ter erfuhr ich dass besagter Kommandeur ndash Abu Yusaf ndash maszliggeblich bei den Folterungen der Geiseln mitwirkte einschlieszliglich Waterboarding

Ein Treffen am Tag an einem oumlffentlichen Ort war mir verwehrt wor-den Stattdessen sollte es nun nachts stattfinden unter vier Augen Ein paar Stunden vorher verschoben meine Kontakte den Zeitpunkt aber-mals auf 2330 Uhr Keine sonderlich beruhigende Entwicklung Ein Jahr zuvor hatten mich Beamte des Staatsschutzes in meiner Wohnung aufgesucht Offenbar planten radikale Islamisten mich mit der Zusage eines Exklusiv- Interviews in den Nahen Osten zu locken dort zu ent-fuumlhren und anschlieszligend mit einem Kaumlmpfer zu verheiraten Waumlhrend ich mich an diese Warnung erinnerte fragte ich mich ob ich verruumlckt ge-worden war Doch trotz meiner Angst knickte ich nicht ein Wenn alles glatt lief wuumlrde ich die erste westliche Journalistin sein die einen hoch-rangigen IS- Kommandeur interviewte und mit heiler Haut davonkam

Es war ein heiszliger Tag gegen Ende des Ramadans ich saszlig in Jeans und T- Shirt in meinem Hotel und bereitete meine Fragen vor Bevor ich auf-brach zog ich eine schwarze Abaya an ein traditionelles islamisches Uumlberkleid das auszliger Gesicht Haumlnden und Fuumlszligen den gesamten Koumlrper bedeckt Einer von Abu Musab al- Zarqawis Gefolgsleuten hatte es ein paar Jahre zuvor fuumlr mich ausgesucht als ich die Heimatstadt des mittler-

11

Tuumlrkei 2014

weile verstorbenen al- Qaida- An fuumlhrers besucht hatte Al- Zarqawis Ge-folgsmann hatte sogar noch betont die mit rosa Stickereien versehene Abaya sei ein besonders schoumlnes Exemplar und der Stoff so fein dass man sie auch bei heiszligem Wetter problemlos tragen koumlnne Seither ist sie fuumlr mich zu einer Art Gluumlcksbringer geworden Ich trage sie immer bei heik-len Missionen

Das Treffen mit Abu Yusaf sollte an der tuumlrkisch- syrischen Grenze stattfinden unweit des Grenzuumlbergangs bei Reyhanli Ich kannte die Ge-gend gut Meine Mutter war in der Naumlhe aufgewachsen und ich als Kind oft dort gewesen

Ich verabschiedete mich von meinem Reporterkollegen An thony Faiola hinterlieszlig ihm ein paar Telefonnummern unter denen er meine Familie erreichen konnte falls etwas schiefging Um 2215 Uhr holte mich der Mann der den Kontakt hergestellt hatte vom Hotel ab ich werde ihn hier Akram nennen Nach etwa fuumlnfundvierzig Minuten Fahrt bogen wir auf den Parkplatz eines Ho telrestaurants nahe der Grenze ab und warteten Kurz darauf tauchten zwei Autos aus der Dunkelheit auf Der Fahrer des ersten Wagens eines weiszligen Honda stieg aus Akram setzte sich hinters Steuer und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz

Ich wandte mich zu meinem Interviewpartner der auf der Ruumlckbank saszlig Ich schaumltzte Abu Yusaf auf etwa siebenundzwanzig achtundzwanzig er trug eine weiszlige Baseballkappe und eine dunkle Brille die seine Augen verbarg Er war groszlig und gut gebaut hatte einen kurzen Bart und schul-terlange Locken Mit seinem Polohemd und der khakifarbenen Cargo- Hose waumlre er auf europaumlischen Straszligen nicht weiter aufgefallen

Neben ihm lagen drei Nokia- oder Samsung- Handys alles aumlltere Mo-delle Er erklaumlrte aus Sicherheitsgruumlnden wuumlrde kein Kaumlmpfer in seiner Position ein iPhone benutzen sie lieszligen sich zu leicht orten Er trug eine Digitaluhr wie ich sie haumlufig an den Handgelenken amerikanischer Sol-daten im Irak und in Afghanistan gesehen hatte Seine rechte Hosen-tasche war ausgebeult offensichtlich war er bewaffnet Ich fragte mich was passieren wuumlrde wenn uns die tuumlrkische Polizei anhielt

Akram startete den Motor und wir fuhren durch das naumlchtliche Grenzgebiet kamen durch ein paar kleine Doumlrfer Das Geraumlusch des

Prolog Verabredung mit ISIS

12

Fahrtwinds drang an meine Ohren Ich versuchte mir zu merken wo wir langfuhren doch mein Gespraumlch mit Abu Yusaf lenkte mich immer wie-der ab

Er sprach ruhig und leise versuchte zu verbergen dass er marokka-nischer Herkunft war zudem wollte er offenbar keinen Anhaltspunkt lie-fern wo genau in Europa er gelebt hatte Doch seine Gesichtszuumlge waren unverkennbar nordafrikanisch und als ich vom klassischen Arabisch ins marokkanische Arabisch wechselte verstand er auf Anhieb und beendete sein Versteckspiel Es stellte sich heraus dass er zwar in Marokko ge-boren aber als Teenager nach Holland gekommen war laquoWenn Sie wissen wollen ob ich auch Franzoumlsisch spreche brauchen Siersquos nur zu sagenraquo Er laumlchelte Hollaumlndisch sprach er auch Spaumlter fand ich heraus dass er ein Ingenieurstudium absolviert hatte

Waumlhrend der Fahrt schilderte er mir seine Vision Der IS wuumlrde die Muslime von Palaumlstina bis Marokko und Spanien befreien und den Islam schlieszliglich uumlber die ganze Welt verbreiten Jeder der Widerstand leistete wuumlrde dafuumlr mit dem Leben bezahlen laquoWenn die Vereinigten Staaten Blumen regnen lassen werden wir ebenfalls Blumen regnen lassenraquo sagte Abu Yusaf laquoAber wenn sie Feuer regnen lassen zahlen wir es ihnen ebenso mit gleicher Muumlnze heim auch auf ihrem eigenen Terrain Und das gilt genauso fuumlr jedes andere westliche Landraquo1

Er erklaumlrte mir der IS verfuumlge sowohl uumlber die noumltigen finanziellen Mittel als auch das erforderliche Know- how Tatsaumlchlich hatte sich die Terrorvereinigung bereits still und heimlich etabliert ehe die Weltoumlffent-lichkeit auf sie aufmerksam geworden war Zu ihren Mitgliedern ge-houmlrten gebildete Leute aus westlichen Laumlndern erstklassig ausgebildete Elitesoldaten aus Saddam Husseins Republi kanischer Garde und ehe-malige al- Qaida- Kaumlmpfer laquoGlauben Sie ernstlich uns wuumlrden sich nur Schwachkoumlpfe anschlieszligenraquo fragte er laquoVon wegen In unseren Reihen stehen Bruumlder aus England mit Uni- Abschluumlssen Bruumlder mit pakistani-schen somalischen jeme nitischen ja sogar kuwaitischen Wurzelnraquo Spauml-ter begriff ich dass er von den Wachen sprach die mehrere IS- Geiseln als die laquoBeatlesraquo bezeichnet hatten Jihadi John und drei andere mit eng-lischem Akzent

13

Tuumlrkei 2014

Ich fragte was ihn dazu bewogen hatte sich der Organisation an-zuschlieszligen Abu Yusaf erwiderte er haumltte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker die immer von Menschenrechten und Religionsfreiheit faselten muslimische Buumlrger aber wie Menschen zwei-ter Klasse behandelten laquoSehen Sie sich doch an wie wir in Europa behandelt worden sindraquo sagte er laquoIch wollte dazu gehoumlren Teil der Ge-sellschaft sein in der ich aufgewachsen bin aber ich hatte immer das Gefuumlhl Du bist nur ein Muslim nur ein Marokkaner die werden dich nie akzeptierenraquo

Die US- Invasion im Irak sei ungerechtfertigt gewesen sagte er Es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben im Abu- Ghraib- Ge faumlng-nis seien Irakis gefoltert und die Amerikaner nicht dafuumlr zur Rechen-schaft gezogen worden laquoUnd dann zeigen sie auch noch mit dem Finger auf uns und beschimpfen uns als Barbarenraquo

laquoSie behaupten Sie wollen nicht dass Unschuldige zu Schaden kom-menraquo sagte ich laquoUnd weshalb entfuumlhren und toumlten Sie dann selbst Un-schuldigeraquo

Er schwieg ein paar Sekunden lang laquoJedes Volk hat die Chance sich zu befreienraquo gab er dann zuruumlck laquoWenn die Menschen es nicht tun wollen ist das ihr Problem Nicht wir haben sie angegriffen ndash sie haben uns angegriffenraquo

laquoWas erwarten Sie wenn Sie Menschen als Geisel nehmenraquo fragte ich

Er begann von seinem marokkanischen Groszligvater zu erzaumlhlen der gegen die franzoumlsischen Kolonialherren gekaumlmpft hatte zog Parallelen von einem Dschihad zum anderen laquoDie Amerikaner wollten den Irak zu ihrer Kolonie machenraquo sagte er laquoUnd jetzt fuumlhren wir den Heiligen Krieg um die muslimische Welt zu befreienraquo

Mein eigener Groszligvater aber hatte ebenfalls in Marokko fuumlr die Frei-heit gekaumlmpft Als ich ein kleines Maumldchen gewesen war hatte er mir oft von jenem laquoDschihadraquo erzaumlhlt davon wie die Muslime und ihre laquojuumldi-schen Bruumlderraquo alles darangesetzt hatten die Fran zosen aus dem Land ihrer Vaumlter zu vertreiben laquoAber Frauen und Kinder haben wir nicht ge-toumltet auch keine Zivilistenraquo hatte mein Groszligvater gesagt laquoIm Dschihad

Prolog Verabredung mit ISIS

14

ist das verbotenraquo Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Graumlueltaten die der IS veruumlbte

laquoAber er hat in seinem Heimatland gekaumlmpftraquo wandte ich ein laquoDas hier ist nicht Ihr Landraquo

laquoDas hier ist das Land aller MuslimeraquolaquoIch bin in Europa aufgewachsen habe dort studiertraquo sagte ich laquoGe-

nau wie SieraquolaquoUnd wieso glauben Sie dann immer noch das europaumlische System sei

fair und gerechtraquolaquoWas ist die AlternativeraquolaquoDie Alternative ist das KalifatraquoUnsere Debatte war hitzig geworden persoumlnlich Es schien so viele

Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen ndash wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war den eine Muslimin einschlagen sollte

laquoWarum tun Sie sich das anraquo fragte er laquoGlauben Sie ernstlich der Westen wuumlrde uns respektieren Uns Muslimen die gleichen Rechte ein-raumlumen Es gibt nur einen richtigen Weg ndash unseren Wegraquo Wobei er mit laquounsraquo den sogenannten Islamischen Staat meinte

laquoIch habe Ihre Sachen gelesenraquo sagte er laquoSie haben den Kopf von al- Qaida im Maghreb interviewt Warum sind Sie nur Zeitungsreporte-rin Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen Warum sitzen Sie nicht laumlngst in der Chefetage bei all den Auszeichnun-gen die Sie bekommen habenraquo

Mir war durchaus bewusst wovon er sprach Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder sagen wir unbequeme Fragen zu Auszligenpolitik oder Isla-mophobie stellt muss mit heftigem Gegenwind rechnen

Das Kalifat war definitiv keine Loumlsung Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten die Radikalisierung junger muslimi-

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 9: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

11

Tuumlrkei 2014

weile verstorbenen al- Qaida- An fuumlhrers besucht hatte Al- Zarqawis Ge-folgsmann hatte sogar noch betont die mit rosa Stickereien versehene Abaya sei ein besonders schoumlnes Exemplar und der Stoff so fein dass man sie auch bei heiszligem Wetter problemlos tragen koumlnne Seither ist sie fuumlr mich zu einer Art Gluumlcksbringer geworden Ich trage sie immer bei heik-len Missionen

Das Treffen mit Abu Yusaf sollte an der tuumlrkisch- syrischen Grenze stattfinden unweit des Grenzuumlbergangs bei Reyhanli Ich kannte die Ge-gend gut Meine Mutter war in der Naumlhe aufgewachsen und ich als Kind oft dort gewesen

Ich verabschiedete mich von meinem Reporterkollegen An thony Faiola hinterlieszlig ihm ein paar Telefonnummern unter denen er meine Familie erreichen konnte falls etwas schiefging Um 2215 Uhr holte mich der Mann der den Kontakt hergestellt hatte vom Hotel ab ich werde ihn hier Akram nennen Nach etwa fuumlnfundvierzig Minuten Fahrt bogen wir auf den Parkplatz eines Ho telrestaurants nahe der Grenze ab und warteten Kurz darauf tauchten zwei Autos aus der Dunkelheit auf Der Fahrer des ersten Wagens eines weiszligen Honda stieg aus Akram setzte sich hinters Steuer und ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz

Ich wandte mich zu meinem Interviewpartner der auf der Ruumlckbank saszlig Ich schaumltzte Abu Yusaf auf etwa siebenundzwanzig achtundzwanzig er trug eine weiszlige Baseballkappe und eine dunkle Brille die seine Augen verbarg Er war groszlig und gut gebaut hatte einen kurzen Bart und schul-terlange Locken Mit seinem Polohemd und der khakifarbenen Cargo- Hose waumlre er auf europaumlischen Straszligen nicht weiter aufgefallen

Neben ihm lagen drei Nokia- oder Samsung- Handys alles aumlltere Mo-delle Er erklaumlrte aus Sicherheitsgruumlnden wuumlrde kein Kaumlmpfer in seiner Position ein iPhone benutzen sie lieszligen sich zu leicht orten Er trug eine Digitaluhr wie ich sie haumlufig an den Handgelenken amerikanischer Sol-daten im Irak und in Afghanistan gesehen hatte Seine rechte Hosen-tasche war ausgebeult offensichtlich war er bewaffnet Ich fragte mich was passieren wuumlrde wenn uns die tuumlrkische Polizei anhielt

Akram startete den Motor und wir fuhren durch das naumlchtliche Grenzgebiet kamen durch ein paar kleine Doumlrfer Das Geraumlusch des

Prolog Verabredung mit ISIS

12

Fahrtwinds drang an meine Ohren Ich versuchte mir zu merken wo wir langfuhren doch mein Gespraumlch mit Abu Yusaf lenkte mich immer wie-der ab

Er sprach ruhig und leise versuchte zu verbergen dass er marokka-nischer Herkunft war zudem wollte er offenbar keinen Anhaltspunkt lie-fern wo genau in Europa er gelebt hatte Doch seine Gesichtszuumlge waren unverkennbar nordafrikanisch und als ich vom klassischen Arabisch ins marokkanische Arabisch wechselte verstand er auf Anhieb und beendete sein Versteckspiel Es stellte sich heraus dass er zwar in Marokko ge-boren aber als Teenager nach Holland gekommen war laquoWenn Sie wissen wollen ob ich auch Franzoumlsisch spreche brauchen Siersquos nur zu sagenraquo Er laumlchelte Hollaumlndisch sprach er auch Spaumlter fand ich heraus dass er ein Ingenieurstudium absolviert hatte

Waumlhrend der Fahrt schilderte er mir seine Vision Der IS wuumlrde die Muslime von Palaumlstina bis Marokko und Spanien befreien und den Islam schlieszliglich uumlber die ganze Welt verbreiten Jeder der Widerstand leistete wuumlrde dafuumlr mit dem Leben bezahlen laquoWenn die Vereinigten Staaten Blumen regnen lassen werden wir ebenfalls Blumen regnen lassenraquo sagte Abu Yusaf laquoAber wenn sie Feuer regnen lassen zahlen wir es ihnen ebenso mit gleicher Muumlnze heim auch auf ihrem eigenen Terrain Und das gilt genauso fuumlr jedes andere westliche Landraquo1

Er erklaumlrte mir der IS verfuumlge sowohl uumlber die noumltigen finanziellen Mittel als auch das erforderliche Know- how Tatsaumlchlich hatte sich die Terrorvereinigung bereits still und heimlich etabliert ehe die Weltoumlffent-lichkeit auf sie aufmerksam geworden war Zu ihren Mitgliedern ge-houmlrten gebildete Leute aus westlichen Laumlndern erstklassig ausgebildete Elitesoldaten aus Saddam Husseins Republi kanischer Garde und ehe-malige al- Qaida- Kaumlmpfer laquoGlauben Sie ernstlich uns wuumlrden sich nur Schwachkoumlpfe anschlieszligenraquo fragte er laquoVon wegen In unseren Reihen stehen Bruumlder aus England mit Uni- Abschluumlssen Bruumlder mit pakistani-schen somalischen jeme nitischen ja sogar kuwaitischen Wurzelnraquo Spauml-ter begriff ich dass er von den Wachen sprach die mehrere IS- Geiseln als die laquoBeatlesraquo bezeichnet hatten Jihadi John und drei andere mit eng-lischem Akzent

13

Tuumlrkei 2014

Ich fragte was ihn dazu bewogen hatte sich der Organisation an-zuschlieszligen Abu Yusaf erwiderte er haumltte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker die immer von Menschenrechten und Religionsfreiheit faselten muslimische Buumlrger aber wie Menschen zwei-ter Klasse behandelten laquoSehen Sie sich doch an wie wir in Europa behandelt worden sindraquo sagte er laquoIch wollte dazu gehoumlren Teil der Ge-sellschaft sein in der ich aufgewachsen bin aber ich hatte immer das Gefuumlhl Du bist nur ein Muslim nur ein Marokkaner die werden dich nie akzeptierenraquo

Die US- Invasion im Irak sei ungerechtfertigt gewesen sagte er Es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben im Abu- Ghraib- Ge faumlng-nis seien Irakis gefoltert und die Amerikaner nicht dafuumlr zur Rechen-schaft gezogen worden laquoUnd dann zeigen sie auch noch mit dem Finger auf uns und beschimpfen uns als Barbarenraquo

laquoSie behaupten Sie wollen nicht dass Unschuldige zu Schaden kom-menraquo sagte ich laquoUnd weshalb entfuumlhren und toumlten Sie dann selbst Un-schuldigeraquo

Er schwieg ein paar Sekunden lang laquoJedes Volk hat die Chance sich zu befreienraquo gab er dann zuruumlck laquoWenn die Menschen es nicht tun wollen ist das ihr Problem Nicht wir haben sie angegriffen ndash sie haben uns angegriffenraquo

laquoWas erwarten Sie wenn Sie Menschen als Geisel nehmenraquo fragte ich

Er begann von seinem marokkanischen Groszligvater zu erzaumlhlen der gegen die franzoumlsischen Kolonialherren gekaumlmpft hatte zog Parallelen von einem Dschihad zum anderen laquoDie Amerikaner wollten den Irak zu ihrer Kolonie machenraquo sagte er laquoUnd jetzt fuumlhren wir den Heiligen Krieg um die muslimische Welt zu befreienraquo

Mein eigener Groszligvater aber hatte ebenfalls in Marokko fuumlr die Frei-heit gekaumlmpft Als ich ein kleines Maumldchen gewesen war hatte er mir oft von jenem laquoDschihadraquo erzaumlhlt davon wie die Muslime und ihre laquojuumldi-schen Bruumlderraquo alles darangesetzt hatten die Fran zosen aus dem Land ihrer Vaumlter zu vertreiben laquoAber Frauen und Kinder haben wir nicht ge-toumltet auch keine Zivilistenraquo hatte mein Groszligvater gesagt laquoIm Dschihad

Prolog Verabredung mit ISIS

14

ist das verbotenraquo Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Graumlueltaten die der IS veruumlbte

laquoAber er hat in seinem Heimatland gekaumlmpftraquo wandte ich ein laquoDas hier ist nicht Ihr Landraquo

laquoDas hier ist das Land aller MuslimeraquolaquoIch bin in Europa aufgewachsen habe dort studiertraquo sagte ich laquoGe-

nau wie SieraquolaquoUnd wieso glauben Sie dann immer noch das europaumlische System sei

fair und gerechtraquolaquoWas ist die AlternativeraquolaquoDie Alternative ist das KalifatraquoUnsere Debatte war hitzig geworden persoumlnlich Es schien so viele

Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen ndash wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war den eine Muslimin einschlagen sollte

laquoWarum tun Sie sich das anraquo fragte er laquoGlauben Sie ernstlich der Westen wuumlrde uns respektieren Uns Muslimen die gleichen Rechte ein-raumlumen Es gibt nur einen richtigen Weg ndash unseren Wegraquo Wobei er mit laquounsraquo den sogenannten Islamischen Staat meinte

laquoIch habe Ihre Sachen gelesenraquo sagte er laquoSie haben den Kopf von al- Qaida im Maghreb interviewt Warum sind Sie nur Zeitungsreporte-rin Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen Warum sitzen Sie nicht laumlngst in der Chefetage bei all den Auszeichnun-gen die Sie bekommen habenraquo

Mir war durchaus bewusst wovon er sprach Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder sagen wir unbequeme Fragen zu Auszligenpolitik oder Isla-mophobie stellt muss mit heftigem Gegenwind rechnen

Das Kalifat war definitiv keine Loumlsung Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten die Radikalisierung junger muslimi-

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 10: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

Prolog Verabredung mit ISIS

12

Fahrtwinds drang an meine Ohren Ich versuchte mir zu merken wo wir langfuhren doch mein Gespraumlch mit Abu Yusaf lenkte mich immer wie-der ab

Er sprach ruhig und leise versuchte zu verbergen dass er marokka-nischer Herkunft war zudem wollte er offenbar keinen Anhaltspunkt lie-fern wo genau in Europa er gelebt hatte Doch seine Gesichtszuumlge waren unverkennbar nordafrikanisch und als ich vom klassischen Arabisch ins marokkanische Arabisch wechselte verstand er auf Anhieb und beendete sein Versteckspiel Es stellte sich heraus dass er zwar in Marokko ge-boren aber als Teenager nach Holland gekommen war laquoWenn Sie wissen wollen ob ich auch Franzoumlsisch spreche brauchen Siersquos nur zu sagenraquo Er laumlchelte Hollaumlndisch sprach er auch Spaumlter fand ich heraus dass er ein Ingenieurstudium absolviert hatte

Waumlhrend der Fahrt schilderte er mir seine Vision Der IS wuumlrde die Muslime von Palaumlstina bis Marokko und Spanien befreien und den Islam schlieszliglich uumlber die ganze Welt verbreiten Jeder der Widerstand leistete wuumlrde dafuumlr mit dem Leben bezahlen laquoWenn die Vereinigten Staaten Blumen regnen lassen werden wir ebenfalls Blumen regnen lassenraquo sagte Abu Yusaf laquoAber wenn sie Feuer regnen lassen zahlen wir es ihnen ebenso mit gleicher Muumlnze heim auch auf ihrem eigenen Terrain Und das gilt genauso fuumlr jedes andere westliche Landraquo1

Er erklaumlrte mir der IS verfuumlge sowohl uumlber die noumltigen finanziellen Mittel als auch das erforderliche Know- how Tatsaumlchlich hatte sich die Terrorvereinigung bereits still und heimlich etabliert ehe die Weltoumlffent-lichkeit auf sie aufmerksam geworden war Zu ihren Mitgliedern ge-houmlrten gebildete Leute aus westlichen Laumlndern erstklassig ausgebildete Elitesoldaten aus Saddam Husseins Republi kanischer Garde und ehe-malige al- Qaida- Kaumlmpfer laquoGlauben Sie ernstlich uns wuumlrden sich nur Schwachkoumlpfe anschlieszligenraquo fragte er laquoVon wegen In unseren Reihen stehen Bruumlder aus England mit Uni- Abschluumlssen Bruumlder mit pakistani-schen somalischen jeme nitischen ja sogar kuwaitischen Wurzelnraquo Spauml-ter begriff ich dass er von den Wachen sprach die mehrere IS- Geiseln als die laquoBeatlesraquo bezeichnet hatten Jihadi John und drei andere mit eng-lischem Akzent

13

Tuumlrkei 2014

Ich fragte was ihn dazu bewogen hatte sich der Organisation an-zuschlieszligen Abu Yusaf erwiderte er haumltte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker die immer von Menschenrechten und Religionsfreiheit faselten muslimische Buumlrger aber wie Menschen zwei-ter Klasse behandelten laquoSehen Sie sich doch an wie wir in Europa behandelt worden sindraquo sagte er laquoIch wollte dazu gehoumlren Teil der Ge-sellschaft sein in der ich aufgewachsen bin aber ich hatte immer das Gefuumlhl Du bist nur ein Muslim nur ein Marokkaner die werden dich nie akzeptierenraquo

Die US- Invasion im Irak sei ungerechtfertigt gewesen sagte er Es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben im Abu- Ghraib- Ge faumlng-nis seien Irakis gefoltert und die Amerikaner nicht dafuumlr zur Rechen-schaft gezogen worden laquoUnd dann zeigen sie auch noch mit dem Finger auf uns und beschimpfen uns als Barbarenraquo

laquoSie behaupten Sie wollen nicht dass Unschuldige zu Schaden kom-menraquo sagte ich laquoUnd weshalb entfuumlhren und toumlten Sie dann selbst Un-schuldigeraquo

Er schwieg ein paar Sekunden lang laquoJedes Volk hat die Chance sich zu befreienraquo gab er dann zuruumlck laquoWenn die Menschen es nicht tun wollen ist das ihr Problem Nicht wir haben sie angegriffen ndash sie haben uns angegriffenraquo

laquoWas erwarten Sie wenn Sie Menschen als Geisel nehmenraquo fragte ich

Er begann von seinem marokkanischen Groszligvater zu erzaumlhlen der gegen die franzoumlsischen Kolonialherren gekaumlmpft hatte zog Parallelen von einem Dschihad zum anderen laquoDie Amerikaner wollten den Irak zu ihrer Kolonie machenraquo sagte er laquoUnd jetzt fuumlhren wir den Heiligen Krieg um die muslimische Welt zu befreienraquo

Mein eigener Groszligvater aber hatte ebenfalls in Marokko fuumlr die Frei-heit gekaumlmpft Als ich ein kleines Maumldchen gewesen war hatte er mir oft von jenem laquoDschihadraquo erzaumlhlt davon wie die Muslime und ihre laquojuumldi-schen Bruumlderraquo alles darangesetzt hatten die Fran zosen aus dem Land ihrer Vaumlter zu vertreiben laquoAber Frauen und Kinder haben wir nicht ge-toumltet auch keine Zivilistenraquo hatte mein Groszligvater gesagt laquoIm Dschihad

Prolog Verabredung mit ISIS

14

ist das verbotenraquo Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Graumlueltaten die der IS veruumlbte

laquoAber er hat in seinem Heimatland gekaumlmpftraquo wandte ich ein laquoDas hier ist nicht Ihr Landraquo

laquoDas hier ist das Land aller MuslimeraquolaquoIch bin in Europa aufgewachsen habe dort studiertraquo sagte ich laquoGe-

nau wie SieraquolaquoUnd wieso glauben Sie dann immer noch das europaumlische System sei

fair und gerechtraquolaquoWas ist die AlternativeraquolaquoDie Alternative ist das KalifatraquoUnsere Debatte war hitzig geworden persoumlnlich Es schien so viele

Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen ndash wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war den eine Muslimin einschlagen sollte

laquoWarum tun Sie sich das anraquo fragte er laquoGlauben Sie ernstlich der Westen wuumlrde uns respektieren Uns Muslimen die gleichen Rechte ein-raumlumen Es gibt nur einen richtigen Weg ndash unseren Wegraquo Wobei er mit laquounsraquo den sogenannten Islamischen Staat meinte

laquoIch habe Ihre Sachen gelesenraquo sagte er laquoSie haben den Kopf von al- Qaida im Maghreb interviewt Warum sind Sie nur Zeitungsreporte-rin Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen Warum sitzen Sie nicht laumlngst in der Chefetage bei all den Auszeichnun-gen die Sie bekommen habenraquo

Mir war durchaus bewusst wovon er sprach Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder sagen wir unbequeme Fragen zu Auszligenpolitik oder Isla-mophobie stellt muss mit heftigem Gegenwind rechnen

Das Kalifat war definitiv keine Loumlsung Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten die Radikalisierung junger muslimi-

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 11: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

13

Tuumlrkei 2014

Ich fragte was ihn dazu bewogen hatte sich der Organisation an-zuschlieszligen Abu Yusaf erwiderte er haumltte die Nase voll gehabt von der Heuchelei westlicher Politiker die immer von Menschenrechten und Religionsfreiheit faselten muslimische Buumlrger aber wie Menschen zwei-ter Klasse behandelten laquoSehen Sie sich doch an wie wir in Europa behandelt worden sindraquo sagte er laquoIch wollte dazu gehoumlren Teil der Ge-sellschaft sein in der ich aufgewachsen bin aber ich hatte immer das Gefuumlhl Du bist nur ein Muslim nur ein Marokkaner die werden dich nie akzeptierenraquo

Die US- Invasion im Irak sei ungerechtfertigt gewesen sagte er Es habe keine Massenvernichtungswaffen gegeben im Abu- Ghraib- Ge faumlng-nis seien Irakis gefoltert und die Amerikaner nicht dafuumlr zur Rechen-schaft gezogen worden laquoUnd dann zeigen sie auch noch mit dem Finger auf uns und beschimpfen uns als Barbarenraquo

laquoSie behaupten Sie wollen nicht dass Unschuldige zu Schaden kom-menraquo sagte ich laquoUnd weshalb entfuumlhren und toumlten Sie dann selbst Un-schuldigeraquo

Er schwieg ein paar Sekunden lang laquoJedes Volk hat die Chance sich zu befreienraquo gab er dann zuruumlck laquoWenn die Menschen es nicht tun wollen ist das ihr Problem Nicht wir haben sie angegriffen ndash sie haben uns angegriffenraquo

laquoWas erwarten Sie wenn Sie Menschen als Geisel nehmenraquo fragte ich

Er begann von seinem marokkanischen Groszligvater zu erzaumlhlen der gegen die franzoumlsischen Kolonialherren gekaumlmpft hatte zog Parallelen von einem Dschihad zum anderen laquoDie Amerikaner wollten den Irak zu ihrer Kolonie machenraquo sagte er laquoUnd jetzt fuumlhren wir den Heiligen Krieg um die muslimische Welt zu befreienraquo

Mein eigener Groszligvater aber hatte ebenfalls in Marokko fuumlr die Frei-heit gekaumlmpft Als ich ein kleines Maumldchen gewesen war hatte er mir oft von jenem laquoDschihadraquo erzaumlhlt davon wie die Muslime und ihre laquojuumldi-schen Bruumlderraquo alles darangesetzt hatten die Fran zosen aus dem Land ihrer Vaumlter zu vertreiben laquoAber Frauen und Kinder haben wir nicht ge-toumltet auch keine Zivilistenraquo hatte mein Groszligvater gesagt laquoIm Dschihad

Prolog Verabredung mit ISIS

14

ist das verbotenraquo Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Graumlueltaten die der IS veruumlbte

laquoAber er hat in seinem Heimatland gekaumlmpftraquo wandte ich ein laquoDas hier ist nicht Ihr Landraquo

laquoDas hier ist das Land aller MuslimeraquolaquoIch bin in Europa aufgewachsen habe dort studiertraquo sagte ich laquoGe-

nau wie SieraquolaquoUnd wieso glauben Sie dann immer noch das europaumlische System sei

fair und gerechtraquolaquoWas ist die AlternativeraquolaquoDie Alternative ist das KalifatraquoUnsere Debatte war hitzig geworden persoumlnlich Es schien so viele

Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen ndash wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war den eine Muslimin einschlagen sollte

laquoWarum tun Sie sich das anraquo fragte er laquoGlauben Sie ernstlich der Westen wuumlrde uns respektieren Uns Muslimen die gleichen Rechte ein-raumlumen Es gibt nur einen richtigen Weg ndash unseren Wegraquo Wobei er mit laquounsraquo den sogenannten Islamischen Staat meinte

laquoIch habe Ihre Sachen gelesenraquo sagte er laquoSie haben den Kopf von al- Qaida im Maghreb interviewt Warum sind Sie nur Zeitungsreporte-rin Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen Warum sitzen Sie nicht laumlngst in der Chefetage bei all den Auszeichnun-gen die Sie bekommen habenraquo

Mir war durchaus bewusst wovon er sprach Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder sagen wir unbequeme Fragen zu Auszligenpolitik oder Isla-mophobie stellt muss mit heftigem Gegenwind rechnen

Das Kalifat war definitiv keine Loumlsung Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten die Radikalisierung junger muslimi-

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 12: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

Prolog Verabredung mit ISIS

14

ist das verbotenraquo Sein Krieg war nichts im Vergleich zu den Graumlueltaten die der IS veruumlbte

laquoAber er hat in seinem Heimatland gekaumlmpftraquo wandte ich ein laquoDas hier ist nicht Ihr Landraquo

laquoDas hier ist das Land aller MuslimeraquolaquoIch bin in Europa aufgewachsen habe dort studiertraquo sagte ich laquoGe-

nau wie SieraquolaquoUnd wieso glauben Sie dann immer noch das europaumlische System sei

fair und gerechtraquolaquoWas ist die AlternativeraquolaquoDie Alternative ist das KalifatraquoUnsere Debatte war hitzig geworden persoumlnlich Es schien so viele

Parallelen zwischen seiner und meiner Vorgeschichte zu geben Und doch hatten wir komplett andere Wege eingeschlagen ndash wobei der meinige in seinem Weltbild eindeutig nicht der war den eine Muslimin einschlagen sollte

laquoWarum tun Sie sich das anraquo fragte er laquoGlauben Sie ernstlich der Westen wuumlrde uns respektieren Uns Muslimen die gleichen Rechte ein-raumlumen Es gibt nur einen richtigen Weg ndash unseren Wegraquo Wobei er mit laquounsraquo den sogenannten Islamischen Staat meinte

laquoIch habe Ihre Sachen gelesenraquo sagte er laquoSie haben den Kopf von al- Qaida im Maghreb interviewt Warum sind Sie nur Zeitungsreporte-rin Warum haben Sie keine eigene Sendung im deutschen Fernsehen Warum sitzen Sie nicht laumlngst in der Chefetage bei all den Auszeichnun-gen die Sie bekommen habenraquo

Mir war durchaus bewusst wovon er sprach Um in meinem Heimatland als Muslimin mit Migrationshintergrund selbst als Kind von Einwanderern beruflich aufzusteigen muss man sich anpassen und Europas Fortschrittlichkeit preisen Wer die Regierung allzu deutlich kritisiert oder sagen wir unbequeme Fragen zu Auszligenpolitik oder Isla-mophobie stellt muss mit heftigem Gegenwind rechnen

Das Kalifat war definitiv keine Loumlsung Dennoch konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren dass die westlichen Gesellschaften kaum Fortschritte dabei gemacht hatten die Radikalisierung junger muslimi-

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 13: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

Tuumlrkei 2014

scher Maumlnner zu verhindern Mehr geheimdienstliche Aktivitaumlten mehr Restriktionen sind nicht die Loumlsung ebenso we nig wie globale Uumlber-wachungsnetzwerke mit denen die Freiheit unschuldiger Buumlrger ebenso eingeschraumlnkt wird wie die von Verdaumlchtigen Abu Yusaf gehoumlrte zu einer Generation junger Muslime die durch den amerikanischen Einmarsch im Irak radikalisiert worden waren aumlhnlich wie sich die vorhergehende Generation nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 radi kalisiert hatte Ein wenig erinnerte er mich an meinen juumlngeren Bruder und ich fuumlhlte mich ploumltzlich verantwortlich fuumlr ihn Aber es war zu spaumlt ich konnte nichts mehr ungeschehen machen

laquoMag sein dass wir diskriminiert werden und die Welt ungerecht istraquo sagte ich laquoAber Ihr Kampf ist nicht der Dschihad Haumltten Sie in Europa Karriere gemacht das waumlre der wahre Dschihad gewesen Wenn auch ein bisschen muumlhevoller Sie haben es sich ziemlich einfach gemachtraquo

Ein paar Sekunden lang herrschte SchweigenAbu Yusaf hatte darauf bestanden mich nach Antakya zuruumlck zu-

bringen statt mich an unserem urspruumlnglichen Treffpunkt ab zusetzen und inzwischen befanden wir uns in der Naumlhe meines Hotels Ich be-dankte mich und stieg aus dem Wagen Selbst um diese Uhrzeit waren die Cafeacutes und Imbisse voll mit Leuten die vor Sonnenaufgang aszligen wie es im Ramadan uumlblich ist wenn Muslime tagsuumlber fasten Ich war froh das Interview bekommen zu haben aber gleichzeitig beschlich mich ein Gefuumlhl tiefen Unbehagens laquoEgal ob die USA Frankreich England oder irgendein arabisches Landraquo hatte er gesagt laquoWer auch immer uns an-greift dem werden wir es doppelt und dreifach heimzahlen auf seinem eigenen Territoriumraquo

Wir verlieren einen nach dem anderen dachte ich Aus diesem Typen haumltte etwas ganz anderes werden koumlnnen Er haumltte ein ganz anderes Leben fuumlhren koumlnnen

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 14: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

16

1 Fremde in einem fremden LandDeutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Ich kam mit dichten schwarzen Locken und groszligen braunen Augen zur Welt Meine Eltern waren mehr oder weniger die einzigen Einwanderer in unserem Frankfurter Viertel und ich wurde zu so etwas wie einem lokalen Kuriosum Ich hatte ein besonders ausdrucksvolles Gesicht zog die Blicke aber auch deshalb auf mich weil ich ganz und gar nicht deutsch aussah Im Park lieszligen Eltern ihre Kinder stehen um mich anzugaffen In der Naumlhe der Klettenbergstraszlige wo sich unsere Wohnung befand waren viele ameri kanische Soldaten mit ihren Familien statio-niert Sie gruumlszligten uns freundlich wenn wir ihnen begegneten

laquoDu sahst ganz anders aus als die anderen Kinderraquo erzaumlhlte mir spaumlter Antje Ehrt die im Lauf der Jahre zu einer Art Patentante fuumlr mich ge-worden war laquoWie kritisch du dreingeblickt hast wenn du wegen irgend-etwas sauer warst Richtig boumlse und wie Alle haben sich in dich ver-liebt ndash du warst so lustig und huumlbsch unglaublich suumlszligraquo

Ich wurde im Fruumlhling 1978 geboren am Vorabend einer Periode dra-matischer Veraumlnderungen in der muslimischen Welt In den Monaten nach meiner Geburt kam es im Iran in Saudi- Arabien und Afghanistan zu einer Reihe von Ereignissen die die muslimische Welt erschuumltterten und jahrzehntelange Wirren nach sich zogen ndash Umstuumlrze Invasionen und Kriege1

Im Januar 1979 dankte der Schah von Persien ab und floh mit seiner Familie Am 1 Februar kehrte Ayatollah Khomeini aus dem Exil zuruumlck rief die Islamische Republik Iran aus und wandte sich gegen seine ehema-ligen Verbuumlndeten Intellektuelle und Liberale Er initiierte eine Ruumlck-

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 15: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

17

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

kehr zu konservativen religioumlsen und gesellschaftlichen Werten be-schraumlnkte die Frauenrechte und setzte islamische Bekleidungsvorschriften durch Am 4 November besetzten radikale Studenten die amerikanische Botschaft in Teheran und nahmen achtundsechzig Geiseln von denen zweiundfuumlnfzig uumlber ein Jahr lang festgehalten wurden

Sechzehn Tage spaumlter am ersten Tag des islamischen Jahrs 1400 stuumlrmte eine Gruppe schwer bewaffneter religioumlser Extremisten die hei-ligsten Staumltten des Islam die Groszlige Moschee in Mekka und die Kaaba die sich im Innenhof des Gebaumludes befindet Scharfschuumltzen erklom-men die Minarette und feuerten auf Pilger und Polizisten ndash mit dem Ziel die saudische Monarchie zu destabilisieren und ein radikalislamistisches Regime zu etablieren

Die Besetzung der Groszligen Moschee dauerte zwei Wochen geschaumltzt tausend Menschen kamen ums Leben und die heiligen Staumltten wurden massiv beschaumldigt bevor es saudischen Truppen unter Mitwirkung einer franzoumlsischen Antiterror- Einheit gelang die letzten Aufstaumlndischen zur Aufgabe zu zwingen2 Die Auswirkungen der Aktion waren auf der gan-zen Welt zu spuumlren und sollten lange nachhallen Osama bin Laden gei-szligelte die Entweihung des heiligen Schreins durch saudische Truppen in Videobotschaften beschuldigte das saudische Koumlnigshaus und pries die laquowahren Muslimeraquo die die heiligen Staumltten verwuumlstet hatten Ein paar Wochen spaumlter marschierten sowjetische Besatzungstruppen in Af ghanistan ein was neun Jahre Krieg zur Folge hatte bin Laden und an-dere muslimische Kaumlmpfer schlossen sich dem afghanischen Widerstand an legten den Grundstein fuumlr die Aumlra des glo balen Dschihad

Das Leben meiner Eltern war sehr viel weltlicher Meine Mutter Ayda-nur stammte aus der Tuumlrkei mein Vater Boujema war Ma rokkaner Beide waren in den fruumlhen Siebzigerjahren nach Westdeutschland gekommen ndash als Gastarbeiter Teil einer Flut von Migranten aus Suumldeuropa der Tuumlrkei und Nordafrika die Arbeit suchten und sich ein besseres Leben aufbauen wollten Zu jener Zeit hatte sich Deutschland noch nicht ganz von den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs erholt war aber im Begriff sich zu einer der fuumlhrenden Industrienationen zu entwickeln Das Land be-noumltigte Arbeiter junge gesunde Menschen die die Aumlrmel hoch krempeln

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 16: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

1 Fremde in einem fremden Land

18

konnten und sich nicht zu schade waren fuumlr die Jobs die viele Deutsche nicht uumlbernehmen wollten Deutsche Firmen stellten Arbeitskraumlfte aus Griechenland Italien der Tuumlrkei Jugoslawien Spanien und Marokko ein3 Unter ihnen meine Eltern

Meine Mutter war als Neunzehnjaumlhrige allein nach Deutschland ge-kommen mit einem Zug voller Tuumlrken In Hildesheim unweit der ost-deutschen Grenze verpackte sie Radios und Fernseher sie wohnte in einem Haus mit lauter Migranten teilte sich ein Zimmer mit drei ande-ren Frauen Spaumlter zog sie nach Frankfurt wo einer ihrer Bruumlder lebte Sie hatte langes Haar das sie aber nicht traditionell mit einem Kopftuch bedeckte und sie trug gern Kleider die ihre Beine zur Geltung brachten

Meinen Vater lernte sie 1972 uumlber einen aumllteren Marokkaner kennen der die beiden zusammenbrachte nachdem ihm meine Mutter in einem Cafeacute in einem Frankfurter Einkaufszentrum aufge fallen war wo sie als Bedienung arbeitete Zu jener Zeit verdiente mein Vater sein Geld als Koch in einem Restaurant namens laquoDippeguckerraquo bekannt fuumlr inter-nationale und regionale Spezialitaumlten wie die Frankfurter Gruumlne Sauce die mit Kraumlutern und saurer Sahne zubereitet und mit gekochten Eiern und Pellkartoffeln serviert wird All das war Neuland fuumlr meinen Vater der sich als Marokkaner um einiges besser mit der franzoumlsischen Kuumlche auskannte Doch er hatte lange davon getraumlumt nach Europa zu kom-men und seit seiner Ankunft in Deutschland ein Jahr zuvor hatte er sich schwer ins Zeug gelegt und galt als fleiszligiger zuverlaumlssiger Mitarbeiter

Meine Mutter mochte ihn auf Anhieb Trotzdem war sie skeptisch bei Marokkanern solle man lieber Vorsicht walten lassen sie wuumlrden zwar gut aussehen aber nur die Algerier waumlren noch groumlszligere Hallodris sagten ihre Freundinnen Aus Neugier schaute sie im laquoDippeguckerraquo vorbei und stellte zu ihrer Uumlberraschung fest dass er dort tatsaumlchlich als Koch taumltig war nicht bloszlig als Spuumller wie sie angenommen hatte Er war groszlig und muskuloumls hatte kraumlftige dunkle Locken und sah in seiner bluumltenweiszligen Montur mit Kochmuumltze ziemlich beeindruckend aus Zudem fiel ihr auf dass er sich auch anderen Leuten gegenuumlber auszligerordentlich freundlich und zuvorkommend verhielt Ihr gegenuumlber sowieso er lud sie auf einen Kaffee ein und fragte wann sie sich wiedersehen wuumlrden Und als sie am

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 17: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

19

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

naumlchsten Tag von der Arbeit nach Hause kam wartete er mit einem Blu-menstrauszlig und Pralinen auf sie

laquoWenn du glaubst du kannst mit mir nach oben kommen hast du dich getaumluschtraquo sagte sie Aber dann lud sie ihn trotzdem ein und sie tranken noch ein paar Tassen Kaffee zusammen

Ihre Gefuumlhle fuumlreinander vertieften sich schnell und ein paar Wochen spaumlter lieszligen sie sich im Frankfurter Rathaus standesamtlich trauen Trauzeuge meines Vaters war sein Chef Trauzeugin meiner Mutter ihre japanische Mitbewohnerin

Bald darauf war meine Mutter schwanger Doch das Leben ver aumlnderte sich drastisch fuumlr Muslime und Araber in Westdeutschland als eine Gruppe von acht palaumlstinensischen Terroristen waumlhrend der Olympi-schen Spiele 1972 in das Quartier des israelischen Olym pia- Teams ein-drang einen Trainer und einen Gewichtheber toumltete und neun andere Sportler als Geiseln nahm4 Die Extremisten waren Mitglieder einer Ter-rororganisation die sich Schwarzer September nannte Sie verlangten die Freilassung von zweihundert ara bischen Gefangenen die in israelischen Gefaumlngnissen einsaszligen sowie freies Geleit fuumlr sich selbst andernfalls wuumlrden sie die Geiseln erschieszligen Israel lehnte es ab sich erpressen zu lassen Die Deutschen hingegen erklaumlrten sich bereit die Terroristen und ihre Geiseln nach Tunesien auszufliegen Eine Finte Am Flughafen er-oumlffneten deutsche Scharfschuumltzen das Feuer auf die Palaumlstinenser Aber die Terroristen waren gut ausgebildet sie erschossen die Geiseln und der Sturm auf das deutsche Flugzeug endete in einem Desaster Alle Geiseln fuumlnf der Geiselnehmer und ein deutscher Polizeiobermeister kamen ums Leben

Jahre spaumlter stellte sich heraus dass hinter dem Schwarzen September die Fatah steckte eine von Jassir Arafat gegruumlndete Guerilla- Organisation der PLO Direkt nach dem Muumlnchner Terroranschlag jedoch standen Muslime und Araber unter kollektivem Verdacht Meine Eltern spuumlrten den allgemeinen Argwohn insbesondere mein Vater der haumlufig von der Polizei angehalten wurde und seine Papiere vorzeigen musste Die Woh-nungen arabischer Studenten wurden durchsucht weil die Polizei sie verdaumlchtigte militante Zellen zu unterstuumltzen oder ihren Mitgliedern

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 18: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

1 Fremde in einem fremden Land

20

Unterschlupf zu ge waumlhren laquoManche Leute forderten sogar lsaquoAraber rausrsaquoraquo erzaumlhlte mir mein Groszligvater spaumlter Er stieszlig sich allerdings nicht daran weil etwas Schlimmes passiert war und die Deutschen herauszu-finden versuchten wer hinter dem Anschlag steckte Er verstand ihren Argwohn

Die Lage blieb angespannt denn in den Siebzigerjahren waren Terror-anschlaumlge in der Bundesrepublik Deutschland quasi an der Tagesord-nung Gruppierungen wie der Schwarze September oder die aus der Baader- Meinhof- Bande5 hervorgegangene Rote Armee Fraktion waren getrieben von ihrem Hass auf Israel und den laquoImperialismus des Wes-tensraquo doch ideologisch waren sie links und nicht religioumls motiviert Zur Baader- Meinhof- Bande gehoumlrten auch Soumlhne und Toumlchter deutscher Intellektueller die hochrangige Politiker und Wirtschaftsbosse als Fa-schisten betrachteten und sie bezichtigten Nazis zu sein6 Aber waumlhrend die Baader- Meinhof- Bande sich auf Bankuumlberfaumllle und Bombenan-schlaumlge spezialisierte verlegte sich die Rote Armee Fraktion auf Flug-zeugentfuumlhrungen Kidnapping und Mordanschlaumlge Beide Gruppen hatten Verbindungen in den Nahen Osten Ende der Sechziger reisten Mitglieder der Baader- Meinhof- Bande in den Libanon wo sie sich in ei-nem palaumlstinensischen Ausbildungslager im Bombenbau und in Guerilla-techniken schulen lieszligen und einige RAF- Angehoumlrige arbeiteten bei verschiedenen Aktionen mit der PLO zusammen Die RAF entfuumlhrte westdeutsche Politiker und Industriebosse darunter Hanns- Martin Schleyer einen einflussreichen Wirtschaftsfunktionaumlr und ehemaligen SS- Untersturmfuumlhrer er wurde im Oktober 1977 von seinen Entfuumlhrern ermordet

1973 wurde meine aumllteste Schwester Fatma geboren ein Jahr spaumlter meine Schwester Hannan 1977 erfuhr meine Mutter dass sie zum drit-ten Mal schwanger war Die Aumlrzte rieten ihr zu einem Abbruch da sie fuumlrchteten dass ich mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen wuumlrde moumlglicherweise ohne Arme oder Haumlnde Meine Mutter war zutiefst be-unruhigt

laquoAlles liegt in Gottes Handraquo sagte mein Vater laquoLass uns das Kind be-kommen Wir kriegen das schon hin was immer auch geschiehtraquo

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 19: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

21

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Damals kam es in Krankenhaumlusern nicht selten vor dass tuumlr kische Maumlnner ein Riesentheater veranstalteten wenn ihre Frauen Maumldchen zur Welt brachten Sie wollten Soumlhne

Als ich geboren wurde sah der Arzt meine Mutter entschuldigend an laquoTut mir leidraquo sagte er laquoEs ist ein Maumldchenraquo

laquoGeht es ihr gutraquo fragte meine Mutter laquoHat sie Arme und BeineraquolaquoEs geht ihr nicht nur gutraquo antwortete der Arzt laquoSie hat mich gerade

angepinkeltraquoWeil ich entgegen aller aumlrztlichen Prognosen gesund und munter war

nannten meine Eltern mich laquoSouadraquo was Arabisch ist und so viel wie laquoGluumlckskindraquo bedeutet Und in vielerlei Hinsicht war ich ein sehr gluumlck-liches Kind Die Klettenbergstraszlige in der wir damals wohnten ist eine der schoumlnsten Straszligen Frankfurts Der Chef meines Vaters dem auch das Restaurant gehoumlrte in dem er arbeitete wohnte in der Klettenberg-straszlige 8 und vermittelte uns eine Wohnung im selben Haus im obersten Stock gleich unter dem Dach In dem schon recht alten Gebaumlude gab es sechs Wohnungen unsere Nachbarn waren hauptsaumlchlich Banker Manager oder Geschaumlftsleute In der anderen Wohnung auf unserer Etage lebte eine Stewardess der Lufthansa Wir waren die einzige Gast-arbeiterfamilie

Die Gegend war schoumln unsere Wohnung nicht Bei Regen tropfte es manchmal so stark durch die Decke dass meine Mutter Eimer aufstellen musste Meine Eltern arbeiteten beide und nicht nur um uns zu ver-sorgen Sie fuumlhlten sich verantwortlich fuumlr ihre Fa milien und schickten jeden Monat Geld nach Marokko und in die Tuumlrkei Meine beiden Schwestern kamen tagsuumlber zu einer deutschen Babysitterin Und auf mich passte die juumlngere Schwester meiner Mutter auf die nach Deutsch-land gekommen war um ihre Bruumlder zu besuchen

Als ich acht Wochen alt war erfuhren meine Eltern dass der Vater meiner Mutter schwer krank war Einen Flug konnten sie sich so kurz-fristig nicht leisten die Reise mit dem Bus war guumlnstiger nahm aber vier Tage in Anspruch Und meine Eltern befuumlrchteten die Reise wuumlrde zu viel fuumlr mich sein

Antje Ehrt und ihr Mann Robert die in unserem Haus lebten boten

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 20: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

1 Fremde in einem fremden Land

22

an waumlhrend der vierwoumlchigen Abwesenheit meiner Eltern auf mich aufzupassen Meine Eltern nahmen an bestanden aber darauf fuumlr die Kosten aufzukommen Doch ihre Ruumlckkehr ver zoumlgerte sich weil sich der Gesundheitszustand meines Groszligvaters verschlechterte und sie beschlossen hatten laumlnger zu bleiben Dort wo sie waren gab es kein Telefon Die Ehrts begannen allmaumlhlich sich Sorgen zu machen Wie sollten sie den Behoumlrden erklaumlren wie dieses Baby in ihre Haumlnde gera-ten war

Nachdem meine Eltern zuruumlckgekehrt waren wurden die Ehrts zu so etwas wie Patentante und Patenonkel fuumlr mich Sie hatten zwei eigene Kinder und waren aufgeschlossener und weltoffener als andere Leute in unserer Nachbarschaft Sie lieszligen mich in meinem Babykoumlrbchen im Schlafzimmer wenn sie in der Kuumlche aszligen Doch das gefiel mir gar nicht Ich wollte dort sein wo etwas los war Und so bruumlllte ich mir die Lunge aus dem Leib bis sie mich holten Das Babykoumlrbchen mit der kleinen laquoMadameraquo stellten sie dann auf die Arbeitsplatte so dass ich bei ihnen sein konnte

Im Erdgeschoss wohnte noch ein anderes Ehepaar das mich praumlgen sollte Ruth und Alfred Weiss waren Uumlberlebende des Holo caust Mein Vater holte manchmal beim Baumlcker Brot fuumlr sie und meine Mutter brachte ihnen Kekse oder Essen vorbei

laquoViele meiner Lehrer waren Judenraquo sagte mein Vater uns immer laquoUnd ich bin ihnen uumlberaus dankbar fuumlr alles was sie mir beigebracht habenraquo

Als ich ein paar Monate alt war beschloss die Schwester meiner Mut-ter ndash diejenige die zwischendurch auf mich aufgepasst hatte ndash in die Tuumlrkei zuruumlckzukehren um sich um meinen Groszligvater zu kuumlmmern Meine Eltern uumlberlegten ob sie mich in die Obhut meiner marokkani-schen Groszligmutter geben sollten damit jemand rund um die Uhr fuumlr mich da war auszligerdem wuumlrde ich so Arabisch lernen und im Sinne des Islam erzogen werden

Es schien eine kluge Entscheidung Weil ich noch gestillt wurde und meine Mutter nicht bei mir sein konnte machte meine Groszligmutter in ihrer Nachbarschaft eine Berberfrau ausfindig die meine Amme wurde Aber meine Mutter war zu Tode betruumlbt ndash die ersten praumlgenden Erfah-

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 21: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

23

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

rungen meines Lebens wuumlrde ich ohne sie machen in einem weit ent-fernten Land

Meine Groszligmutter Ruqqaya war nach einer der Toumlchter des Propheten benannt worden Sie und ihre Verwandten hieszligen mit Nachnamen Sa-diqqi und waren Nachkommen von Moulay Ali al- Cherif einem marok-kanischen Adligen dessen Familie aus dem heutigen Saudi- Arabien stammte und dabei geholfen hatte Marokko im 17 Jahrhundert zu verei-nigen Er gehoumlrte zur Dynastie der noch heute uumlber Marokko herrschen-den Alawiden und war somit ein Scherif ndash ein Ehrentitel der ausschlieszlig-lich den Nachfahren von Mohammeds Enkel Hasan vorbehalten ist7

Meine Groszligmutter stammte aus einer vermoumlgenden Familie aus der Provinz Tafilalt und war in den fruumlhen Jahren des 20 Jahrhunderts in der Stadt Er- Rachidia aufgewachsen Zu jener Zeit wurden Geburtstage nicht immer sorgfaumlltig registriert doch sie konnte sich daran erinnern wie die Franzosen 1912 in Marokko einmarschiert waren8 Ihre Familie besaszlig Land in der Region und sie erzaumlhlte mir haumlufig von den Dattel-palmen dort von den Kuumlhen Schafen Ziegen und Pferden die sie ge-halten hatten Wegen ihrer Verbindung zum Propheten galt ihre Familie als adlig weshalb ihre Angehoumlrigen und sie gelegentlich mit ihrem Eh-rentitel angesprochen wurden ndash die Maumlnner mit moulay und scharif die Frauen mit scharifa oder lalla ndash auch wenn meine Groszligmutter nie Wert auf derartige Formalien legte

Als junges Maumldchen mit gerade dreizehn oder vierzehn Jahren wurde sie mit dem Sohn eines engen Freundes ihres Vaters ver heiratet einem gut situierten Jungen aus besten Verhaumlltnissen der nur wenige Jahre aumllter war als sie Ein Jahr spaumlter schenkte sie einem kleinen Jungen das Leben Im Lauf der naumlchsten Jahre brachte sie einen weiteren Sohn und eine Tochter zur Welt doch ihr Mann wurde immer oumlfter gewalttaumltig schlug sie und die Kinder weshalb sie ihren Eltern erklaumlrte dass sie sich schei-den lassen wolle Das wurde in der Familie zwar diskutiert doch ihr Vater und ihr Schwiegervater waren freundschaftlich und geschaumlftlich zu eng verbunden Hab Geduld wurde ihr geraten manchmal geben sich solche Probleme auch wieder Meine Groszligmutter aber spielte nicht mit Sie lieszlig sich von ihrem Mann scheiden und nahm ihre drei Kinder mit

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 22: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

1 Fremde in einem fremden Land

24

Damals war das ein radikaler Schritt und meine Groszligmutter wurde verstoszligen Sie war jung und auf sich allein gestellt konnte weder lesen noch schreiben und hatte nie einen richtigen Beruf erlernt schlicht weil es nicht noumltig gewesen war Sie fluumlchtete mit ihren Kindern nach Mek-nes eine der vier Koumlnigsstaumldte Marokkos und heiratete dort erneut Sie sprach nie uumlber ihren zweiten Ehemann erwaumlhnte lediglich dass diese Ehe von nur sehr kurzer Dauer gewesen war Er hatte sie verlassen waumlh-rend sie ein weiteres Kind erwartete ein Maumldchen namens Zahra Nun war sie wieder allein noch dazu mit Kindern von zwei verschiedenen Maumlnnern Sie schwor sich nie wieder zu heiraten sondern sich Arbeit zu suchen und ihre Familie allein durchzubringen Sie schlug sich als Krankenpflegerin und Hebamme durch und verkaufte selbst hergestellte Heiloumlle

Meine Groszligmutter hatte ihren eigenen Kopf nahm groszlige Risiken auf sich vergaszlig dabei aber nie ihre Wurzeln Sie erzaumlhlte mir dass die Frauen des Propheten ihre wichtigsten Vorbilder gewesen waren9 Seine erste Frau Chadidscha war eine erfolgreiche Geschaumlftsfrau um einige Jahre aumllter als er hatte sie Mohammed finanziell unterstuumltzt und ihm nicht zuletzt den Ruumlcken gestaumlrkt als sich sein eigenes Volk gegen ihn gewandt hatte Sie wird von Sunniten und Schiiten als die Frau verehrt die als Erste an Mohammeds religioumlse Botschaft glaubte als seine ergebenste und treueste Vertraute Eine andere seiner Frauen Aischa war bekannt fuumlr ihre Intelligenz und ihre umfassende Kenntnis der Sunna der Uumlber-lieferung der Worte und Taten Mohammeds die von vielen Muslimen neben dem Koran als wichtigste theologische Quelle und verbind liches Regelwerk angesehen wird Doch waumlhrend Sunniten Aischa als Inspira-tionsquelle des Propheten verehren wird sie von manchen Schiiten kri-tischer betrachtet Sie unterstellen ihr dem Propheten untreu gewesen zu sein und machen geltend ihr Aufbegehren gegen Mohammeds Schwie-gersohn Ali sei eine unverzeihliche Suumlnde gewesen laquoLass dir bloszlig nicht einreden dass die Frau im Islam unbedingt schwach sein mussraquo sagte meine Groszligmutter

Den Mann der mein Groszligvater werden sollte lernte sie in Meknes kennen Er hieszlig Abdelkader und stammte ebenfalls aus einer reichen

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 23: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

25

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Familie Zu dem Zeitpunkt aber als sie sich begeg neten hatten ihn Ge-faumlngnis und Folter koumlrperlich gebrochen und von seinem Vermoumlgen war nichts mehr uumlbrig

Mein Groszligvater kam aus der Provinz Al Haouz in der Naumlhe von Marrakesch Dort war der Widerstand gegen die franzoumlsischen Besatzer besonders stark ausgepraumlgt in Al Haouz und anderen Teilen Marokkos kaumlmpften Muslime und Juden Seite an Seite fuumlr die Unabhaumlngigkeit Mein Groszligvater ein Stammesfuumlrst und fuumlhrender Kopf der regionalen Unabhaumlngigkeitsbewegung half dabei Strategien zu entwickeln und die Widerstandskaumlmpfer mit Waffen und Material zu beliefern Sie nannten es einen Dschihad doch mein Groszligvater und seine Kameraden hatten strikte Regeln Sie attackierten nur franzoumlsische Soldaten und Folterer die fuumlr die Fran zosen arbeiteten ndash keine Frauen oder Zivilisten

Ende der Vierzigerjahre wurde mein Groszligvater eines Tages verhaftet die Franzosen wollten Namen von ihm wollten in Er fahrung bringen wer in der Gegend sich dem Widerstand angeschlossen hatte laquoDu wirst sogar noch mehr Land und Privilegien erhaltenraquo sagte der Franzose der ihn verhoumlrte laquoAber wenn du nicht mit uns zusammenarbeitest gehst du ins Gefaumlngnis und wir enteignen dichraquo

Groszligvater lieszlig sich nicht einschuumlchtern Selbst wenn ihm die Franzo-sen sein Land wegnahmen so glaubte er wuumlrde er es zuruumlckbekommen sobald Marokko die Unabhaumlngigkeit erlangt hatte Sie steckten ihn ins Gefaumlngnis schlugen ihn zwangen ihn und andere Gefangene stunden-lang nackt in grotesken Stellungen auszuharren sie urinierten auf sie uumlbergossen sie mit eiskaltem oder siedend heiszligem Wasser manche wur-den mit Flaschen vergewaltigt Sie nahmen ihm seine Olivenhaine weg seine Mandelbaum- und Orangenplantagen seine Pferde Ein Groszligteil seiner Besitztuumlmer ging an Kollaborateure

Er verbrachte mehrere Monate im Gefaumlngnis Nach seiner Ent lassung durfte er nicht auf sein Gut zuruumlckkehren auszliger seinem Stolz und seiner Hoffnung war ihm nichts geblieben Er ging nach Meknes und verdingte sich als Maurer er verstand davon nichts aber schlieszliglich musste er uumlber-leben Meknes entwickelte sich zu einem Handels- und Industriezent-rum und Haumluser schossen wie Pilze aus dem Boden

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 24: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

1 Fremde in einem fremden Land

26

Der Mann dem einst Pferde und viele Morgen Land gehoumlrt hatten beschloss sich in Sidi Masoud niederzulassen einem Viertel das an eine Barackenstadt erinnerte In Sidi Masoud lebten Menschen die aus den verschiedensten Regionen und aus den verschiedensten Gruumlnden nach Meknes gekommen waren ihre notduumlrf tigen Behausungen errichteten sie in aller Eile aus Holz Blech und allen moumlglichen anderen billigen Materialien

Eines Tages traf eine Frau aus adliger Familie mit ihren Kindern in Sidi Masoud ein Einer von Abdelkaders Freunden der von seiner Vergangen-heit als Stammesfuumlrst wusste erzaumlhlte ihm lachend dass er vom Status her nur noch an zweiter Stelle rangierte da nun eine waschechte scharifa unter ihnen lebte

Abdelkader wusste dass besagte Frau Kinder hatte weshalb er Suumlszligig-keiten mitbrachte als er sie besuchte um sie willkommen zu heiszligen Ihr Misstrauen war sofort geweckt sie beschied ihm dass sie weder Suumlszligig-keiten noch sonstige Geschenke benoumltige Er war schwer beeindruckt Nach nur wenigen Wochen machte er ihr einen Heiratsantrag Abdel-kader war Mitte zwanzig einige Jahre juumlnger als meine Groszligmutter doch obwohl er immer noch ein gluumlhender Verfechter der marokkanischen Unabhaumlngigkeit war hatten Haft und Folter deutliche Spuren hinterlas-sen Als ich ihn als kleines Maumldchen fragte was das fuumlr Narben an seinen Haumlnden und Armen waumlren erklaumlrte er mir dass die Franzosen gluumlhende Ziga retten auf seiner Haut ausgedruumlckt haumltten die Narben auf seinem Ruumlcken stammten von einer Pferdepeitsche Ich glaube dass er sich zum Teil zu meiner Groszligmutter hingezogen fuumlhlte weil sie eine starke Frau und nicht zuletzt eine Heilerin war Er sorgte fuumlr sie und die Kinder so gut es ihm moumlglich war adoptierte sogar ihre juumlngste Tochter die ohne Vater aufgewachsen war auf ihrer Geburtsurkunde stand lediglich der Name ihrer Mutter

1950 knapp ein Jahr nach ihrer Hochzeit brachte meine Groszligmutter meinen Vater zur Welt er war der Juumlngste und ihr absoluter Liebling Die Familie lebte in einem Haumluschen das kaum mehr als ein Verschlag aus Blech und Brettern war Durch die Ritzen der duumlrftig zusammengenagel-ten Waumlnde konnten sie das Blau des Himmels sehen Es gab zwei kleine

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 25: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

27

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Zimmer weder flieszligend Wasser noch eine Kuumlche Das laquoBadraquo befand sich in einer abgetrennten Ecke mit einem Loch im Boden als Toilette und einem Eimer Wasser zum Waschen

laquoEs gab einen einzigen Brunnen mit Trinkwasserraquo erzaumlhlte mir mein Vater laquoEr war zwei Kilometer entfernt und man musste die vollen Eimer den ganzen Weg zuruumlckschleppenraquo

Die Franzosen luden meinen Groszligvater immer noch gelegentlich vor wenn sie ihn nicht einfach abfuumlhrten Sie sagten ihm er koumlnne sein Land immer noch zuruumlckbekommen er muumlsse nur mit ihnen kooperieren Doch er weigerte sich obwohl er sich um seine Familie sorgte Er fuumlrch-tete besonders dass die Franzosen meine Groszlig mutter abholen wuumlrden um ihm noch mehr Schmerz zuzufuumlgen Es ging das Geruumlcht dass fran-zoumlsische Soldaten und ihre Kollaborateure Frauen vergewaltigten Mein Vater erinnerte sich dass mein Groszligvater eine Pistole im Haus versteckt hatte Einmal ndash mein Vater war vier oder fuumlnf Jahre alt ndash stritten sich meine Groszligeltern und meine Groszligmutter drohte den Franzosen von der Waffe meines Groszligvaters zu erzaumlhlen laquoDie werden dich einsperren und dann bin ich dich ein fuumlr alle Mal losraquo sagte sie und das war nur halb im Scherz gemeint Mein Groszligvater wollte definitiv nicht zuruumlck ins Gefaumlngnis Er nahm die Pistole mit in die Moschee und warf sie in die Latrine

Meine Groszligeltern waren beide weiter im Widerstand aktiv leisteten Uumlberzeugungsarbeit forderten Nachbarn auf an den Protestmaumlrschen gegen die franzoumlsischen Besatzer teilzunehmen 1956 erlangte Marokko endlich die Unabhaumlngigkeit doch mein Groszlig vater erhielt seinen Grund-besitz nie zuruumlck Stattdessen versuchte ihn der Buumlrgermeister mit zwei Kilo Zucker abzuspeisen Meine Groszligeltern lehnten ab Beide waren zutiefst frustriert und mein Groszligvater verfiel in eine Depression

Als mein Vater sieben Jahre alt war lieszligen sich meine Groszlig eltern scheiden Mein Groszligvater zog in einen anderen Stadtteil und meine Groszligmutter war einmal mehr mit ihren Kindern auf sich allein gestellt

laquoSie stand morgens auf betete bereitete das Fruumlhstuumlck fuumlr uns und weckte meine aumllteste Schwesterraquo erinnerte sich mein Vater laquoDann ver-lieszlig sie das Haus in aller Fruumlhe und kam erst kurz vor Einbruch der Dun-

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 26: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

1 Fremde in einem fremden Land

28

kelheit zuruumlckraquo Sie kochten auf einem primi tiven Gasherd oder grillten ihr Essen uumlber gluumlhenden Kohlen Sie besaszligen ein kleines Radio das aber nur funktionierte wenn meine Groszligmutter genug Geld fuumlr Batterien hatte zur Beleuchtung dienten Kerzen und Petroleumlampen

Als ich noch ein ganz kleines Maumldchen in Marokko ankam lebte meine Groszligmutter nicht mehr in dem Elendsviertel Dank der finan-ziellen Unterstuumltzung meines Vaters war es ihr moumlglich gewesen ein Haus im Zentrum von Meknes zu kaufen es hatte drei Zimmer Kuumlche und ein Bad mit traditioneller Hocktoilette und einem Wasserhahn in der Wand

Mein Groszligvater erzaumlhlte mir vom Kampf gegen die franzoumlsischen Kolonialherren Auszligerdem sagte er mir einmal die maumlchtigsten Leute seien diejenigen die lesen und schreiben koumlnnten weil sie anderen die Welt erklaumlren wuumlrden die Deutungshoheit uumlber die Geschichte innehaumlt-ten Er befuumlrchtete die Leute wuumlrden nur die Lesart der Kolonisatoren zu houmlren bekommen und die Geschichten der einfachen Leute wuumlrden dadurch in Vergessenheit geraten

Drei Haumluser entfernt von meiner Groszligmutter lebte eine juumldische Fa-milie Oft brachte uns die Mutter freitags hausgemachtes Brot das sie wie sie erklaumlrte speziell fuumlr diesen Tag gebacken hatte Inzwischen weiszlig ich dass es sich um fuumlr den Schabbat zubereitetes Challa handelte Meine Groszligmutter revanchierte sich mit Couscous oder Plaumltzchen Oft spielte ich mit ihrer Tochter Miriam Sie war zwei Jahre aumllter als ich und sprach flieszligend Franzoumlsisch wir nannten sie laquoMeriemraquo das war die marokka-nische Variante ihres Namens Ich war noch nicht ganz vier Jahre alt als sie und ihre Familie nach Frankreich zogen

Meine Groszligmutter hatte tiefliegende dunkle Augen und weiszliges Haar das sie manchmal mit Henna faumlrbte Sie war etwa 170 Meter groszlig hatte kraumlftige Haumlnde und einen festen muskuloumlsen Koumlrper geformt von Jahr-zehnten harter Arbeit ihr dunkler Teint kam von den Heiloumllen mit de-nen sie sich einrieb Sie hatte ein unwiderstehliches ansteckendes Lachen

Sie lebte in der Stadt aber bei ihr ging es zu wie auf einem Bauernhof Sie besaszlig zwar kein Land aber sie hielt Huumlhner Kaninchen und Tauben in einem winzigen Hof zwischen Wohnzimmer und Kuumlche Den lokalen

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 27: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

29

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

Metzgern traute sie nicht uumlber den Weg Sie kuumlmmerte sich um ein paar Katzen in der Nachbarschaft und fuumltterte sie der Prophet Mohammed hat Katzen geliebt und wir sollen sie gut behandeln sagte sie stets Stand ein Bettler vor unserer Tuumlr lieszlig sie ihn nie ziehen ohne ihm etwas zu essen gegeben zu haben manchmal kam ich heraus setzte mich auf die Stufen vor der Tuumlr und stellte dem Bettler naseweise Fragen etwa warum er so arm sei Meiner Groszligmutter war das sehr peinlich laquoWarum laumlsst du den Mann nicht essenraquo unterbrach sie mich dann aber ich wollte alles ganz genau wissen Auszligerdem hatte sie stets ein paar aufmunternde Worte fuumlr die armen Kerle uumlbrig versuchte ihnen ein wenig Hoffnung zu geben laquoDu machst gerade schwierige Zeiten durch aber Gott ist groszlig und alles wird wieder besserraquo Sie nannten sie respektvoll Haddscha ein Ehrentitel der eigentlich Frauen vorbehalten ist die den Haddsch vollzogen haben die groszlige Pilgerreise nach Mekka wo meine Groszligmut-ter aber nie gewesen war

Obwohl sie aus beguumlterten Verhaumlltnissen stammte war sie eine per-fekte Wirtschafterin Da sie Huumlhner hielt mussten wir auch nicht hun-gern wenn das Geld knapp war Die Eier verwendete sie zum Kochen und Backen Ihre Tauben hatte sie darauf abgerichtet Botschaften zu uumlberbringen ein lukratives Nebengeschaumlft und gelegentlich arbeitete sie als Melkerin auf einem Bauernhof (wenn sie mich mitnahm zog ich die Kuumlhe immer am Schwanz) Zudem arbeitete sie nach wie vor als Pflege-rin und Hebamme und stellte ihre Heiloumlle her

Muumlnzen ndash ihr laquokleines Geldraquo wie sie zu sagen pflegte ndash trug sie in einem Taschentuch mit sich herum das sie in ihren langen marokkanischen Gewaumlndern versteckte ihr laquogroszliges Geldraquo ndash die Scheine ndash verbarg sie hin-gegen in ihrem BH laquoBewahre niemals all dein Geld an einem einzigen Ort aufraquo schaumlrfte sie mir ein laquoDu musst es verstecken damit die Soumlhne der Suumlnde nicht mitkriegen wie viel du hastraquo Soumlhne der Suumlnde ndash so nannte meine Groszligmutter alle schlimmen Finger vom Nachbarschafts-ruumlpel bis zum Schwerverbrecher Damals fand ich ihren BH- Trick ir-gendwie skurril doch viele Jahre spaumlter stellte ich fest dass er fuumlr eine Reporterin in heiklen Situationen ausgesprochen nuumltzlich sein kann Fuumlr Bargeld oder Speicherchips ist ein BH ein nahezu perfektes Versteck und

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 28: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

1 Fremde in einem fremden Land

30

gerade in der muslimischen Welt wuumlrden es nur wenige Leute wagen einen Buumlstenhalter zu inspizieren

Meine Groszligmutter war streng aber uumlberaus liebenswert Wenn mein Groszligvater zu Besuch kam fragte er haumlufig laquoWarum heiraten wir eigent-lich nicht noch malraquo Doch sie hatte ihren eigenen Kopf und genau das unterschied sie von anderen Frauen Sie fuumlrchtete sich nicht davor Risi-ken einzugehen in dieser Hinsicht habe ich sie mir immer zum Vorbild genommen

Egal welchen Status welche Stellung jemand hat erklaumlrte mir meine Groszligmutter wenn er oder sie im Unrecht ist muss man den Mund aufmachen Einmal waren wir in einem uumlberfuumlllten Bus in Meknes unterwegs lauter junge Maumlnner hatten es sich auf den Sitzen bequem gemacht waumlhrend wir stehen mussten laquoHat keiner von euch so viel Kin-derstube seinen Platz einer alten Frau mit einem kleinen Kind anzu-bietenraquo fragte sie Als ihr niemand auch nur die geringste Beachtung schenkte platzte ihr der Kragen laquoIhr Soumlhne der Suumlnderaquo rief sie laquoSchaumlmt euch in Grund und Boden In Deutschland wuumlrden alle zugleich aufste-hen ndash dort weiszlig man noch was die Houmlflichkeit gebietetraquo Der Busfahrer lachte und meinte sie solle sich nicht so aufregen doch schlieszliglich ge-nierte sich einer der jungen Kerle offenbar doch so sehr dass er aufstand und ihr seinen Platz uumlberlieszlig

Zu jener Zeit war die politische Lage in Marokko schwierig Wer die Polizei oder die Regierung kritisierte lief Gefahr ernste Pro bleme zu be-kommen Meine Groszligmutter scherte sich nicht darum Als ein Polizist sie einmal um eine laquoSpenderaquo bat als sie gerade aus der Bank kam fragte sie ob die Polizei neuerdings fuumlr wohltaumltige Zwecke sammle Als der Po-lizist durchblicken lieszlig dass er das Geld selbst einstecken wollte begann meine Groszligmutter ihn auszuschimpfen ndash ob er sich nicht schaumlme nicht nur weil er korrupt sei sondern auch weil er ausgerechnet ihr das Geld aus der Tasche zu ziehen versuche einer alten Frau die fuumlr ihre Enkelin sorgen muumlsse laquoWieso fragst du nicht ein paar Anzugtraumlger ob die dir das Leben mit einer kleinen Spende erleichtern wollen Ich sage dir warum Weil du nicht den Mumm dazu hast Stattdessen versuchst dursquos lieber bei armen Schluckern die sowieso nichts habenraquo Der Polizist

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 29: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

31

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

wollte sie beschwichtigen doch sie wurde nur noch lauter damit sie auch alle auf der Straszlige houmlren konnten Und tatsaumlchlich es funktionierte Schlieszliglich zog er von dannen ohne auch nur einen Centime eingestri-chen zu haben

Ich werde nie vergessen wie sie sich fuumlr mich einsetzte Meine Groszlig-mutter konnte nicht lesen allerdings kannte sie den Groszligteil des Korans in- und auswendig Als ich fast vier war beschloss sie mich zur Koran-schule zu schicken Und so hockte ich jeden Tag morgens zusammen mit den anderen Kindern auf dem Boden und lernte Suren auswendig und freitags houmlrte mich meine Groszlig mutter ab Unser Lehrer ein sogenannter fqih las die Verse vor und wir wiederholten sie Doch der Lehrer war ein aggressiver junger Mann und wenn eins von uns Kindern nicht spurte schlug er ihm mit einem eisernen Lineal auf die Finger

Meine Groszligmutter wachte wie eine Glucke uumlber mich nahm die Ver-antwortung die meine Eltern ihr uumlbertragen hatten keine einzige Se-kunde auf die leichte Schulter An meinem ersten Tag in der Koranschule sprach sie mit dem fqih Si Abdullah laquoMeine Enkelin wird nicht be-straftraquo warnte sie ihn laquoUnterstehen Sie sich sie jemals zu schlagenraquo Ei-nes Nachmittags erwischte er mich wie ich waumlhrend des Unterrichts mit einem anderen Kind redete Er zuumlckte sein Lineal und befahl mir die Haumlnde auszustrecken Handflaumlchen nach oben und schlug zu Dann wies er mich an die Haumlnde umzudrehen und schlug noch einmal zu Ich jaulte laut auf vor Schmerz brach in Traumlnen aus und rannte aus dem Klassenzimmer die Straszlige hinunter zum Haus meiner Groszligmutter

Weinend erzaumlhlte ich ihr dass Si Abdullah mich geschlagen hatte Als sie die Striemen auf meinen Haumlnden sah platzte ihr der Kragen Sie nahm mich an der Hand und lief mit mir zuruumlck zur Schule Wir stuumlrm-ten mitten in den Unterricht hinein Meine Groszligmutter streifte eine ihrer Sandalen vom Fuszlig und drosch damit vor der ganzen Klasse auf Si Abdullah ein waumlhrend sie ihn in einem fort anschrie laquoWas faumlllt Ihnen ein meine Enkelin zu schlagenraquo herrschte sie ihn an Ich weinte im-mer noch doch alle anderen Kinder lachten waumlhrend Si Abdullah er-schrocken vor ihr zuruumlckwich und den Kopf einzog

Groszligmutter war so inspirierend dass ich mir ihre Streitlust zum Vor-

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 30: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

1 Fremde in einem fremden Land

32

bild nahm und staumlndig Widerworte gab Einmal als ein Freund meines Vaters namens Mahmoud bei uns zu Besuch war bereitete sie mir eine meiner uumlblichen Mahlzeiten zwei bis drei Tage altes Brot mit warmer Milch Honig und Zimt laquoIch will das nicht schon wiederraquo sagte ich laquoJeden zweiten Tag muss ich das essenraquo

laquoDu isst was auf den Tisch kommtraquo erwiderte sielaquoAber warum machst du immer dieses Brot mit Milch Meine Eltern

schicken dir genug Geld ndash wir koumlnnten uns auch andere Sachen leistenraquolaquoDu solltest lieber Alhamdulillah sagen und dankbar dafuumlr sein dass

du etwas zu essen hast du kleine Teufelinraquo benutzte sie eine oft verwen-dete arabische Formulierung fuumlr laquoGelobt sei Gottraquo laquoEs gibt so viele arme Menschen die froh waumlren wenn sie uumlberhaupt etwas zu beiszligen haumlttenraquo

Sie und Mahmoud waren verbluumlfft uumlber die Vehemenz mit der ich meine Argumente vorbrachte zumal ich erst vier Jahre alt war Mahmoud lachte laut als er meine Antwort houmlrte laquoAlso Groszligmutter wenn dir die armen Leute so sehr am Herzen liegen warum laumldst du sie dann nicht ein und laumlsst sie das hier essenraquo

Meine Groszligmutter war sehr reinlich In unserem Bad hatten wir flie-szligend Wasser doch zwei Mal pro Woche schleifte sie mich ins hammam Ich hasste diese Dampfbaumlder die Hitze das Dunkel den Geruch der Olivenoumllseife die lauten schrillen Stimmen der nackten Frauen die mir schier das Trommelfell zerrissen Die Frauen die dort arbeiteten schrubb-ten mich grob mit heiszligem Wasser und Seife ab Meine Groszligmutter sagte ich solle die Augen schlieszligen und leise sein aber fuumlr mich war es die pure Folter

Im Sommer war es in Meknes bruumltend heiszlig Der Geruch des sandi-gen Bodens hing in der Luft Wenn es regnete ndash was nur selten vorkam ndash oumlffneten alle die Tuumlren und atmeten tief durch Ich liebte es im Regen zu tanzen erwischte mich meine Groszligmutter dabei rief sie ich solle sofort wieder ins Haus kommen sonst wuumlrde ich mir noch den Tod holen laquoAber wenn mich der Regen jetzt sauberwaumlschtraquo rief ich zuruumlck laquomuumls-sen wir diese Woche nicht mehr ins hammamraquo

Meine Groszligmutter haumltte mich am liebsten fuumlr immer bei sich in Ma-rokko behalten doch nach drei Jahren beschlossen meine Eltern mich

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 31: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

33

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

nach Deutschland zuruumlckzuholen Meine Groszligmutter traf die Ankuumlndi-gung wie ein Schock

Waumlhrend sie mit meinen Eltern sprach sah ich sie zum ersten Mal weinen Aber sie verstand auch dass meine Mutter mein Vater und meine Geschwister endlich wieder mit mir vereint sein wollten

Drei Monate spaumlter holte mein Vater mich ab Ich kann mich noch er-innern wie ich meine Groszligeltern umarmte und wir alle Traumlnen vergos-sen Meine Groszligeltern baten mich meine Herkunft nicht zu vergessen laquoIch werde euch bald wieder besuchenraquo sagte ich laquoUnd ich werde ganz bestimmt nicht vergessen woher wir kommen Niemals Ehrenwortraquo

In Frankfurt traf ich endlich meine beiden Schwestern wieder Es war Dezember und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Schnee Ich erfuhr dass meine aumllteste inzwischen neun Jahre alte Schwester Fatma wegen Komplikationen bei ihrer Geburt einen Hirnschaden davonge-tragen hatte Sie war auf Hilfe und Unter stuumltzung angewiesen und in einer speziellen Einrichtung unter gebracht Hannan war nur ein Jahr juumlnger als Fatma und wir freundeten uns schnell an

Meine Groszligeltern fehlten mir sehr und ich brauchte eine ganze Weile bis ich mich wieder an meine Eltern gewoumlhnte Meine Mutter sprach Arabisch aber ich verstand sie kaum wenn sie kein darija sprach den maghrebinischen Dialekt sie beherrschte ihn zwar doch ihren Akzent fand ich ausgesprochen seltsam Und dann war da noch jene merkwuumlr-dige Sprache die sonst alle um mich herum sprachen Ich verstand kein einziges Wort Deutsch

Eines Abends stellten Fatma und Hannan je einen frisch geputzten Stiefel vor unsere Zimmertuumlr und sagten ich solle dasselbe tun ndash der laquoNikolausraquo wuumlrde heute Nacht kommen Ich hatte keine Ahnung wo-von sie redeten und fragte ob dieser Nikolaus ein Freund unserer Eltern sei Meine Schwestern erzaumlhlten mir dass der Nikolaus in der Nacht Suumlszligigkeiten brachte und je sorgsamer der Stiefel geputzt war desto mehr Suumlszliges wuumlrde es geben

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 32: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

1 Fremde in einem fremden Land

34

Ich putzte also ebenfalls meine Stiefel ndash Trick siebzehn der Nikolaus wuumlrde bestimmt beide fuumlllen Als meine Eltern uns ins Bett schickten wollte mir der Nikolaus nicht aus dem Kopf gehen Dann houmlrte ich ein Geraumlusch und Sekunden spaumlter knipsten meine Eltern das Licht aus

Ich stieg aus dem Bett oumlffnete leise die Tuumlr und sah nach meinen Stiefeln Der eine war leer der andere aber randvoll mit Bonbons und Schokolade gefuumlllt Dieser Unbekannte entzuumlckte mich ndash es war mehr Schokolade als ich waumlhrend meiner fast drei Jahre in Marokko zu Ge-sicht bekommen hatte Im Dunkeln machte ich mich uumlber die Suumlszligigkei-ten her bis mein Stiefel beinahe leer war Dann aber kamen mir meine Schwestern in den Sinn sie wuumlrden bestimmt ein schlechtes Gewissen bekommen wenn sie sahen dass mein Stiefel leer war Weshalb ich Bonbons und Schokolade aus ihren Stiefeln in meinen befoumlrderte bis alle etwa gleich gefuumlllt waren

Am naumlchsten Morgen fragten sich meine Schwestern warum der Nikolaus ihre Stiefel nicht bis ganz oben gefuumlllt hatte

laquoIhr solltet froh sein dass er uumlberhaupt vorbeigekommen istraquo sagte ich laquoAls ich in Marokko war hat er mich immer vergessenraquo

Meine Eltern lachten laquoWasch dir lieber mal die Schokolade abraquo sagte meine Mutter

Meine Eltern feierten mit uns den Nikolaustag damit wir uns in Deutschland heimisch fuumlhlten Meine Mutter arbeitete in einer kirch-lichen Einrichtung ich ging in einen christlichen Kindergarten und spaumlter in den angeschlossenen Hort Meine Eltern erklaumlrten uns dass die drei monotheistischen Weltreligionen vieles gemein hatten Die Ge-schichte von Adam und Eva die aus dem Paradies verbannt werden fin-det sich nicht nur in der juumldischen und der christlichen Religion son-dern auch im Koran und anderen islamischen Uumlberlieferungen Abraham der laquoVater der Glaumlubigenraquo wird im Koran der Tora und der Bibel er-waumlhnt Jesus gilt im Islam als bedeutender Prophet und spielt fuumlr Chris-ten als Sohn Gottes ebenfalls eine wichtige Rolle Der Prophet Mose ist Juden Christen und Muslimen gleichermaszligen ein Begriff Feste Be-standteile aller drei Religionen sind das Fasten der Glaube an einen Gott und die Bedeutung der heiligen Schriften Meine Eltern erklaumlrten weiter

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 33: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den

35

Deutschland und Marokko 1978 ndash 1993

dass wir als Muslime alle Propheten verehrten und der Hauptunterschied zum Juden- und Christentum darin bestand dass wir Mohammed als den letzten und groumlszligten Propheten an sahen

Neben den islamischen Festtagen feierten wir auch Weihnachten mit einem Plastikbaum elektrischen Kerzen ndash meine Eltern hatten zu viel Angst ein echter Baum mit echten Kerzen koumlnnte Feuer fangen ndash und huumlbsch verpackten Geschenken Zusammen besuchten wir den Weih-nachtsmarkt fuhren Karussell und aszligen Weihnachtsplaumltzchen geroumlstete Kastanien (meine Mutter konnte nicht genug davon kriegen) und salzi-ges und suumlszliges Popcorn hinterher gingen wir meist noch zu McDonaldrsquos Burger King oder Nordsee wo wir uns den Bauch mit Fish amp Chips voll-schlugen

Meine Mutter arbeitete als Waumlscherin fuumlr die evangelische Kirchen-gemeinde Eine Diakonisse leitete den Kindergarten in den ich ging unter den Erzieherinnen war auch eine Schreckschraube die uns Maumld-chen manchmal Maumlrchen vorlas laquoSiehst du alle suumlszligen Prinzessinnen sind blond und alle boumlsen Maumldchen haben schwarze Haareraquo lieszlig sie mich einmal wissen Ihre Bemerkung traf mich bis ins Mark da ich das einzige dunkelhaarige Maumldchen in der Gruppe war laquoAber war Schnee-wittchens Haar nicht schwarz wie Ebenholzraquo gab ich zu bedenken was sie allerdings nicht weiter zu in teressieren schien Dann und wann verpasste sie mir einen Klaps wenn niemand hinsah bis Hannan sie einmal dabei erwischte und sie anfauchte dass sie das bleiben lassen solle

In der Gemeindewaumlscherei arbeitete meine Mutter mit einer Diako-nisse namens Schwester Helma und zwei Frauen aus Jugoslawien zusam-men Tante Zora und Tante Dschuka Sie wuschen und buumlgelten die Schwesterntrachten und die weiszligen Hauben In der Waschkuumlche stan-den mehrere Waschmaschinen ndash eine nur fuumlr Bettwaumlsche eine andere nur fuumlr Hauben ndash sowie ein groszliger Trockner Von der Arbeit mit dem schweren Buumlgeleisen bekam meine Mutter Ruumlckenschmerzen die sie noch Jahrzehnte spaumlter quaumllen sollten Waumlhrend der Pause tranken sie Kaffee und aszligen Brot oder Burek ein mit Schafskaumlse gefuumllltes Gebaumlck das eine der jugoslawischen Frauen mitbrachte Die Kopfbedeckungen

Page 34: Nur wenn du allein kommst Eine Reporterin hinter den