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Migrations- und IntegrationsforschungMultidisziplinäre Perspektiven

Band 1

Herausgegeben von Heinz Fassmann, Richard Potz

und Hildegard Weiss

Page 3: Migrations- und Integrationsforschung – multidisziplinäre

Heinz Fassmann / Julia Dahlvik (Hg.)

Migrations- und Integrations-forschung – multidisziplinärePerspektiven

Ein Reader

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

V& R unipress

Vienna University Press

Page 4: Migrations- und Integrationsforschung – multidisziplinäre

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89971-942-0

ISBN 978-3-86234-942-5 (E-Book)

2., erweiterte und überarbeitete Auflage

Veröffentlichungen der Vienna University Press

erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH.

Ó 2012, 2011, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede

Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen

schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Printed in Germany.

Titelbild: Foto: Heinz Fassmann, Bearbeitung: Walter Lang

Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Page 5: Migrations- und Integrationsforschung – multidisziplinäre

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

A Gesellschaft und Raum: sozialwissenschaftliche Sichtweisen

Christoph Reinprecht / Hilde WeissMigration und Integration: Soziologische Perspektiven undErklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Sabine StrasserÜber Grenzen verbinden: Migrationsforschung in der Sozial- undKulturanthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

Heinz FassmannKonzepte der (geographischen) Migrations- und Integrationsforschung . 61

B Historische und ökonomische Perspektiven

Josef EhmerMigrationen in der historischen Forschung – Themen und Perspektiven . 95

Karin MayrDie ökonomischen Auswirkungen von internationaler Migration . . . . . 109

Jürgen NautzFrauenhandel: Eine spezifische Form der internationalen Migration. Eindunkles Kapitel der Globalisierungswelle im 19. und 20. Jahrhundert . . 123

C Kommunikation, Schule und Kulturalität

Mikael LuciakIntegration : Macht : Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

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Dagmar Strohmeier / Christiane SpielPeer-Beziehungen in multikulturellen Schulen . . . . . . . . . . . . . . . 167

Rudolf de CilliaMigration und Sprache / n. Sprachenpolitik – Sprachförderung –Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Wiebke SieversZwischen Ausgrenzung und kreativem Potenzial : Migration undIntegration in der Literaturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Petra HerczegMassenmedien und Integration. KommunikationswissenschaftlicheFragestellungen und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

D Politik, Recht und Religion

Ilker AtaÅMigrationspolitik und Inkorporation von MigrantInnen:politikwissenschaftliche Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

Gerhard MuzakMigration und öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Richard PotzReligionspolitische und religionsrechtliche Herausforderungen in einermultikulturellen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

Regina PolakReligion im Kontext von Migration: mehr als ein Integrationsfaktor . . . 315

HerausgeberInnen und AutorInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

Inhalt6

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Vorwort

Die meisten Staaten der EU haben sich zu Einwanderungsländern entwickelt,nicht aus freien Stücken und auch nicht politisch geplant, sondern durch diefaktische Entwicklung. Spätestens seit Anfang der 1960er Jahre übertrifft diejährliche Zuwanderung von Arbeitskräften, Familienangehörigen und Flücht-lingen die Abwanderung. Wurden die ersten Zuwanderer noch als willkommeneUnterstützung am Arbeitsmarkt herzlich begrüßt, so veränderte sich im Laufeder Zeit die Stimmung. Zuwanderung wurde zunehmend gegensätzlich beurteiltund immer häufiger zum Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Die»Ausländerfrage« dominierte Wahlkämpfe und entschied über Erfolg undMisserfolg von politischen Parteien – nicht nur in Österreich. Spätestens indieser Situation wurde wissenschaftliche Forschung zunehmend wichtig, denndie Bevölkerung und später auch die Politik wollten Antworten auf zentraleFragen haben: Wie ist Migration demographisch, sozial und ökonomisch zubeurteilen? Wie soll eine angemessene Integrationspolitik aussehen? In wel-chem Ausmaß können politische Maßnahmen Migration steuern und Integra-tionsprozesse fördern.

Die Antworten, die die Wissenschaft geben konnte, waren und sind jedoch oftnur Teilantworten und nicht immer eindeutig und einheitlich. Das hängt mitklar erkennbaren Forschungsdesiderata zusammen, aber auch mit dem Faktum,dass sich der Forschungsgegenstand selbst verändert. Dazu kommt ein imma-nentes Kennzeichen der einschlägigen Forschung: Es gibt nicht die Migrations-und Integrationsforschung, die disziplinär geschlossen und institutionellsichtbar verankert ist, sondern viele Disziplinen und ebenso viele universitäreund außeruniversitäre Forschungseinrichtungen befassen sich mit Migrations-und Integrationsprozessen aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus, mitunterschiedlichen Methoden und theoretischen Konzepten. Ob das nachteiligist, oder sogar der Weiterentwicklung der Forschung dient, kann unterschiedlichbeurteilt werden. Tatsache ist jedenfalls, dass es im Bereich der Migrations- undIntegrationsforschung an gemeinsamen und disziplinübergreifenden Koope-rationen zur Begriffsklärung, Theorieentwicklung und empirischen Beweis-

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führung mangelt und dass die jeweiligen Diskurszusammenhänge maßgeblichinnerhalb der jeweiligen Kerndisziplinen verbleiben.

Um dieses klar erkennbare Defizit auszugleichen, wurde in der Österreichi-schen Akademie der Wissenschaften eine Kommission für Migrations- undIntegrationsforschung gegründet und an der Universität Wien eine For-schungsplattform »Migration and Integration Research«. Während die zuerstgenannte Institution der universitätsübergreifenden Kooperation dient, insbe-sondere auch mit dem Ausland, so agiert die Plattform sehr viel stärker inner-universitär.

Die Forschungsplattform »Migration and Integration Research« wurde 2009gegründet. Die Fakultäten für Sozialwissenschaften, für Rechtswissenschaftenund für Geowissenschaften, Geographie und Astronomie waren dabei feder-führend. Eine der ersten Initiativen der Plattform war die Begründung einerRingvorlesung »Migrations- und Integrationsforschung – multidisziplinärePerspektiven«, in deren Rahmen die an der Migrations- und Integrationsfor-schung beteiligten Wissenschaften vertreten waren: Die Geschichte, die Geo-graphie, die Pädagogik, die Politikwissenschaft, die Psychologie, die Rechts-wissenschaften, die Soziologie, die Sprachwissenschaft oder die katholischeTheologie, um nur einige zu nennen. Die Ringvorlesung füllte ganz offensicht-lich eine Lücke im Angebot an Lehrveranstaltungen der Universität aus, dennviele Studierende aus unterschiedlichen Disziplinen belegten diese Ringvorle-sung und demonstrierten damit das Interesse an einer umfassenden undübergreifenden Vermittlung von Grundlagen und Konzepten der Migrations-und Integrationsforschung. Mit der Herausgabe eines Readers, der grundsätz-liche und jeweils disziplinär ausgerichtete Beiträge zur Migrations- und Inte-grationsforschung beinhaltet, wurde ein offensichtlich bestehendes Informati-onsbedürfnis abgedeckt, denn die Erstauflage war relativ rasch nach Erscheinenvergriffen. Die nun erscheinende Zweitauflage ermöglichte des den Autoren undAutorinnen, ihre Beiträge durchzusehen, notwendige Änderungen und Ergän-zungen vorzunehmen und am Ende jedes Kapitels die wesentlichen Aussagenkompakt zusammenzufassen und Fragen der weiterführenden Auseinander-setzung zu stellen.

Die grundsätzliche Idee des Readers ist gleichgeblieben. Der Reader kompi-liert die unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen Wissenschaftsdisziplinenin Bezug auf die Migrations- und Integrationsforschung. Der Reader soll damiteinen Überblick vermitteln, welche typischen Fragestellungen, Methoden oderSichtweisen vorherrschen. Die Beiträge des Readers sind nicht primär als For-schungsberichte ausgewählter Projekte konzipiert, sondern rücken immer auchdas Allgemeine der Migrations- und Integrationsforschung aus dem Blickwinkelder jeweiligen Disziplin in den Vordergrund. Der Reader umfasst nun 15 Bei-träge und richtet sich in erster Linie an die an der Thematik interessierten

Vorwort8

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Studierenden, aber auch an ein breiteres Publikum, welches an der Migrations-und Integrationsforschung interessiert ist.

Vorwörter stellen immer auch eine Gelegenheit dar, den Personen zu danken,die am Zustandekommen eines Werkes maßgeblich beteiligt waren. Im vorlie-genden Fall sind das in erster Linie die Autorinnen und Autoren, die uns ihreBeiträge zur Verfügung gestellt haben und die auch geduldig blieben, als immerneue Anforderungen an ihre Manuskripte gestellt wurden. Die Manuskripteselbst wurden bereits im Zuge der Erstauflage von Ruth Vachek (Verlag V&Runipress) lektoriert und die Grafiken von Walter Lang (Institut für Geographieund Regionalforschung der Universität Wien) erstellt. Die verlagsseitige Be-treuung des Readers oblag abermals Susanne Franzkeit.

Wir danken allen beteiligten Personen für ihre aktive Mitarbeit, der ViennaUniversity Press für die Eröffnung einer Reihe, die Aufnahme dieses Readers alsEröffnungsband und die Unterstützung bei Fertigstellung der zweiten Auflage.Wir sind aber auch der Universität Wien für die Bereitstellung der personellenund materiellen Rahmenbedingungen verpflichtet und geben mit diesem Readereinen wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch relevanten Leistungsnachweiszurück.

Heinz FassmannJulia Dahlvik

Vorwort 9

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A Gesellschaft und Raum: sozialwissenschaftlicheSichtweisen

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Christoph Reinprecht / Hilde Weiss

Migration und Integration: Soziologische Perspektiven undErklärungsansätze

1 Einleitung

Die soziologische Forschung untersucht die Ursachen und Folgen von Migra-tion, in den Herkunfts- wie in den Einwanderungsländern, auf verschiedenenEbenen und aus unterschiedlichen Blickwinkeln: Erklärungsansätze für Wan-derungsprozesse beziehen sich auf die makrostrukturelle Ebene, etwa aufwirtschaftliche und soziale Strukturen, auf institutionelle Rahmenbedingungenund historische Kontexte, aber auch auf die Mikroebene individueller Migrati-onsentscheidungen. Migrationen verändern die sozialen Beziehungen zwischenund innerhalb der Mehrheits- und Migrationspopulation. Sie haben soziale,ökonomische und kulturelle Auswirkungen, stoßen Entwicklungsprozesse anund sind ein wesentlicher Aspekt gesellschaftlichen Wandels.

Zentrale Forschungsfragen lauten: Welcher Form und Logik folgen Wande-rungsprozesse? Wohin platziert das bestehende Ungleichheitssystem die neuHinzukommenden, welche Chancen bestehen für MigrantInnen, auch in derGenerationenfolge, die ihnen durch rechtliche und ökonomische Mechanismenzugewiesenen Positionen zu verlassen? Wie offen ist die Aufnahmegesellschaftfür die Integration anderer Lebensweisen und Kulturstile? Welche Konflikt-konstellationen entwickeln sich, und was kann getan werden, damit Konfliktewie Vorurteile oder Konkurrenzängste seitens der Mehrheit, Diskriminierungder Minderheit, nicht in soziale Aggressivität münden, sondern in soziale In-novation umgewandelt werden können? Wie verändern sich Alltagsroutinen,Wahrnehmungs- und Deutungsmuster auf beiden Seiten?

Die Anfänge der soziologischen Migrationsforschung reichen bis zum Beginndes 20. Jahrhunderts zurück, als in den USA, wohin zwischen 1815 und 1930 etwa54 Millionen Menschen aus Europa eingewandert waren (vgl. Castles / Miller2009), viele Fragen, die noch heute intensiv diskutiert werden, erstmals zumGegenstand systematischer wissenschaftlicher Betrachtung wurden: Der lang-jährige Prozess der Eingliederung in die Strukturen des Arbeits- und Woh-nungsmarkts und in die städtischen Nachbarschaften; die Bedeutung von

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Spracherwerb und sozialen Kontakten, von Diskriminierung und Rassismus indiesem Prozess; der Wandel von Identitäten und Gruppenbindungen, von fa-miliären Beziehungen und Bindungen zum Herkunftsland; die Sozialisation dernachfolgenden Generation, ihr Bildungszugang und die damit verbundenenChancen auf sozialen Aufstieg. Diese Themen fordern auch heute die Auf-merksamkeit der Soziologie und ihrer Nachbarwissenschaften; verändert habensich jedoch die typischen Formen und Charakteristika von Migrationsverläufensowie die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen.

Im Kontext der Globalisierung gewinnen Migrationsprozesse eine neueQualität und Aktualität. So erleichtern die Verkehrs- und Kommunikations-mittel die Möglichkeit zu Mobilität, auch zu wiederholten Wanderungen, undsomit zu neuen transnationalen Formen der Lebensführung. Gleichzeitig sorgendie weltweit verschärften ökonomischen und sozialen Ungleichheiten, wirt-schaftliche Notlagen sowie ökologische und politische Krisen für wachsendenMigrationsdruck. In den Zielländern entstehen aus ökonomischem Kalkül auftransstaatlicher Ebene neue und restriktivere Mechanismen von Kontrolle undMigrationsmanagement, während jedoch ein kontinuierlicher bzw. steigenderBedarf an Zuwanderung prognostiziert wird.

Migration wird häufig mit internationaler, grenzüberschreitender Wande-rung gleichgesetzt. Ein großer Teil des Wanderungsgeschehens geschieht jedochinnerhalb von Staatensystemen, etwa in Form von Land-Stadt-Wanderungen.Den Daten der internationalen Organisationen (World Migration Report) zu-folge lebten 2010 weltweit rund 214 Millionen Menschen außerhalb ihres Ge-burtslandes, das sind 3,1 Prozent der Weltbevölkerung, 1965 waren es erst75 Millionen (United Nations 2010). Seit damals hat der »migration stock«(= kumulierte Anzahl jener Personen, die zum jeweiligen Erfassungszeitpunktaußerhalb ihrer Herkunftsländer leben) im Jahresdurchschnitt um fast zweiProzent zugenommen. Das jährliche Durchschnittswachstum der Weltbevöl-kerung betrug im gleichen Zeitraum 1,8 Prozent. Der Großteil der internatio-nalen Wanderung ist auf relativ wenige Staaten konzentriert. So beherbergen diewohlhabenden Länder USA, Kanada, Japan, Deutschland, Großbritannien,Frankreich und Italien ein knappes Drittel der MigrantInnen, stellen aber we-niger als ein Achtel der Gesamtweltbevölkerung. Der Charakter der internatio-nalen Migration in den Staaten des Südens (Fluchtmigration) unterscheidet sichvon jenem im Norden (Arbeitsmigration). Von den geschätzten 43 MillionenBinnen- und internationalen Flüchtlingen sucht nur ein geringer Teil in Europaund Nordamerika Schutz, der Anteil der nicht registrierten Flüchtlinge ist be-sonders hoch in Asien und Afrika, nimmt aber auch in Europa zu.

Dieses Kapitel gibt, ausgehend von einem Exkurs zur Begrifflichkeit und dengebräuchlichen Migrationsformen, einen Überblick über Forschungskonzepteund historisch-nationalstaatlich geprägte Modelle von Einwanderung und Ein-

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gliederung. Es wird weiters auf soziologische Erklärungsansätze von Wanderungs-und Integrationsprozessen und auf die Folgen von Migration auf gesellschaftlicherund individueller Ebene eingegangen. Zur Sprache kommen Themen wie ethni-sche Gruppenbildung und Identitätskonstruktion sowie Formen transnationalerVergesellschaftung, die im Kontext der Globalisierung zunehmend an Sichtbarkeitund Bedeutung gewinnen. Der Beitrag greift aktuelle Forschung im Speziellen ausÖsterreich auf und schließt mit einigen Hinweisen auf forschungsrelevante Ent-wicklungstendenzen im Migrationsgeschehen ab.

2 Definitorische Eingrenzungen. Formen von Migration undMobilität

In den Sozialwissenschaften wird Migration als dauerhafte Ortsveränderungdefiniert, die mit einer Grenzüberschreitung verbunden sein kann und miteinem Wechsel des sozialen und kulturellen Bezugssystems einhergeht. Diesoziologische Perspektive verknüpft systematisch die Dimensionen Raum undZeit (Ortsveränderung und Zeithorizont), Grenze (Überschreitung politisch-administrativer Trennlinien), Sozialstruktur (Statusordnungen, Schichtgefüge)und kulturelles System (Werte- und Normensystem). Aus dieser komplexenMehrdimensionalität resultieren auch die in der Literatur vorgeschlagenenKlassifikationen und Problemsichten. Der Bogen spannt sich von kurzfristigerräumlicher Mobilität bis zu verschiedenen Formen dauerhafter Aus- bzw. Ein-wanderung. Neben der räumlichen Dimension erweist sich deshalb auch diezeitliche Dimension als bedeutsam. Zirkuläre Migrationsformen, wie Pendel-oder Saisonarbeit, unterscheiden sich strukturell von Wanderungen im Le-benszyklus oder Formen unfreiwilliger Migration (Flucht, Asyl) und werdenauch politisch-administrativ unterschiedlich erfasst. Andere Klassifikationenwerden nach Organisationsform, wie Anwerbemigration, Familiennachzug, ir-reguläre Migration, aber auch nach den (wirtschaftlichen, kulturellen, politi-schen, ökologischen) Kontexten der Migration vorgenommen. Die Motivlagenfür Migration sind meist vielschichtig, zwischen den beiden Polen von Auto-nomie (im Sinne individueller Entscheidung) und Zwang (in Form systemischerLogiken, Herrschaft oder Gewalt) (vgl. Treibel 2003).

Die Auswirkungen der Zuwanderung werden einerseits aus der Perspektiveder Sozialstruktur untersucht – der Veränderung der sozialen Schichtung undKlassenbildung, der sozialräumlichen Segregation und des Sozialmilieus – an-dererseits im Hinblick auf die Eingliederung, sei es in Bezug auf die individuellePlatzierung in der Sozialstruktur oder in Hinblick auf die Stellung der Min-derheit als kollektive Gruppe in der Gesellschaft. Da diese zu Beginn meist am

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unteren Ende der sozialen Hierarchie (niedrigere Löhne, geringer qualifizierteBerufe) platziert ist, gilt der soziale Aufstieg, besonders in der zweiten unddritten Generation, als wesentliches Kriterium der Eingliederung.

In der soziologischen Forschung wurde Migration lange Zeit primär unterdem Aspekt von dauerhafter Aus- bzw. Einwanderung konzeptualisiert, wasbedeutete, dass die permanente Verlagerung des Lebensmittelpunktes zugleicheinen radikalen Schritt weg von der Herkunftsgesellschaft und letztendlich eineAssimilation an die Bedingungen der Aufnahmegesellschaft erfordert.

Die Entscheidung zur Auswanderung, so die Annahme, impliziert auch dieBereitschaft zur Neuorientierung im Bereich sozialer Normen und Lebens-muster. Migration gilt deshalb als ein psychisch belastender und über mehrereGenerationen reichender Prozess. Er impliziert Entfremdung von der verin-nerlichten Herkunftskultur auf der einen Seite, während auf der anderen Seitedie Akzeptanz der Neuhinzukommenden auf Widerstände in der Aufnahme-gesellschaft stößt – Prozesse, die zumeist erst in der zweiten oder gar drittenGenerationenfolge überwunden werden können. Die herkömmlichen Basis-konzepte der Migrationsforschung wie Integration (Einbindung in die gesell-schaftlichen Teilsysteme), Akkulturation (Werte- und Normenanpassung) undAssimilation (Verschmelzung mit der Aufnahmegesellschaft) folgen diesemVerständnis von Migration als Projekt definitiver Aus- bzw. Einwanderung, daserst dann seinen erfolgreichen Abschluss findet, sobald die Neuzugewandertenan allen Bereichen der Mehrheitsgesellschaft teilhaben, d. h. Unterschiede in denLebenschancen schwinden und keine kulturelle Differenz mehr besteht. Den»formalen« Abschluss findet Zuwanderung in der Anerkennung der Staats-bürgerschaft, die die vollständige rechtliche Gleichheit herstellt. Aktuelle For-schungen rücken dagegen stärker die Übergänge, das Fließende und Unabge-schlossene von Migrationsprozessen in den Mittelpunkt: Rückkehr und Pen-deln, transnationale Netzwerke und Doppelzugehörigkeit werden als gleich-wertige Lebensentwürfe, im Unterschied zu dauerhafter Migration betrachtet.

Mit ihren Definitionen, Klassifikationen und Kategorisierungen beteiligt sichdie Migrationssoziologie an der gesellschaftlichen »Konstruktion« von Migra-tion, indem sie Klassifikationen etwa juristischer Art (z. B. In- / Ausländer) oderökonomischer Art (»Arbeitsmigration«, »temporäre Arbeitskräfte« u. a.) über-nimmt. Sie entwickelt ihre Perspektiven aus konkreten historischen Kontextenheraus und übernimmt oft unbemerkt die Sichtweise der (eigenen) Gesellschaft:Kategorien wie Legalität / Illegalität, Asyl oder »Migrationshintergrund« teilendie Population der MigrantInnen auf und ordnen diese korrespondierendenProblemfeldern zu, die nun wissenschaftlich beobachtet werden. Die verbreiteteund zumeist unhinterfragte Gleichsetzung von Gesellschaft und Nationalstaatbegünstigt generell die Bestimmung des Migrationsgeschehens als »sozialesProblem«.

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3 Forschungskonzepte im Wandel:Historisch-nationalstaatlich geprägte Modelle vonEinwanderung und Eingliederung

Im internationalen Vergleich zeigen sich verschiedene Muster von Wanderun-gen und verschiedene Modelle des Weges zur Eingliederung. Diese differieren inrechtlicher Hinsicht, z.B. im Zugang zu Staatsbürgerschaft, zum Arbeitsmarkt,zu den zivilen Teilhaberechten und sozialen Rechten, und verbinden sich auchmit unterschiedlichen Konzeptionen des Eingliederungsprozesses und derMinderheits-Mehrheitsbeziehungen. Im folgenden Abschnitt werden wichtigeModelle, ihre Entwicklungen und Forschungstraditionen zusammengefasst. Ausder idealtypischen Gegenübergestellung soll nicht auf starre Gegensätze ge-schlossen werden; die Modelle überschneiden sich und beeinflussen einander inden aktuellen Auseinandersetzungen.

Melting Pot versus ethnischer PluralismusNach den frühen Forschungen der Chicago School (vgl. v. a. Park 1928) vollziehtsich das Einschmelzen der Kulturen im amerikanischen melting pot in ersterLinie durch die Realität des Arbeitsmarktes, in dem nur Erfolg hat, wer sichdessen Regeln rasch anpasst. Die Verschmelzung mit der neuen Gesellschaftwird als ein längerer Prozess der Anpassung beschrieben, in dessen Folge dietraditionelle, durch die patriarchalischen Züge der feudalen Herkunftsgesell-schaften (gemeint waren die Clan-Strukturen des agrarisch-rückständigen Eu-ropas) geprägte Identität abgestreift wird. Der Prozess der Werte- und Norm-anpassung (Akkulturation) erstreckt sich über mindestens drei Generationen:Während die erste Generation die Sitten und Gewohnheiten weiter praktiziert,lebt die zweite Generation »zwischen den Kulturen«. Erst der dritten Generationgelingt die gänzliche soziale und kulturelle Eingliederung, sei es in Berufskar-rieren, Sprache, Lebensweise und Kontakten, einschließlich Heirat. Im Kontextder US-amerikanischen Einwanderungsgesellschaft ist Park zufolge das Zu-rücklassen der Herkunftsidentität unumgänglich, da in der kapitalistischenMarktgesellschaft mit ihrem bedingungslosen Individualismus in Leistung undWettbewerb andernfalls kein Erfolg möglich wäre.

In späteren Forschungen wurden die Phasen der Akkulturation erweitert,auch wurde deutlich, dass sich nicht alle migrantischen Gruppen dem linearenModell von sozialem Aufstieg und kultureller Assimilation fügten. So etwazeigten Milton M. Gordon (1964) und Stephen Steinberg (1989), dass der sozialeAufstieg in die Mittelklasse für manche Gruppen strukturellen Restriktionenunterliegt, sodass ethnische Zugehörigkeit oft eng mit sozialer Klasse, lokalenund sozialen Bedingungen – insbesondere Rassismus und Diskriminierung –

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verknüpft ist. Gordon spricht daher von der »ethclass«, womit die dauerhafteund sichtbare Segregation und Exklusion bestimmter Minderheiten, vor allemder hispanoamerikanischen und farbigen Einwanderergruppen, gemeint ist.Andere Studien wiederum zeigten, dass Heiraten entlang religiöser oder eth-nischer Merkmale trotz materieller Erfolge zwecks Machterhalts auch überGenerationen gepflogen werden, und stellten auch aus dieser Perspektive dasAssimilationsmodell des melting pot infrage.

Berry (1990) postuliert, dass zwischen Assimilation (oder Absorption) undMarginalität (Randständigkeit) auch andere Wege und Formen der Integrationmöglich sind, und unterscheidet vor allem zwischen freiwilliger und nicht frei-williger Anpassung: Jemand kann sich im Markt erfolgreich integrieren, aberseine Kultur bewahren wollen. In diesem Falle kann dennoch von Integrationgesprochen werden. Gleichzeitig kann jemand, der kulturelle Anpassung anstrebt,dennoch von der Mehrheitsgesellschaft zurückgewiesen werden (Gettoisierung).Andererseits kann Assimilation auch erzwungen werden, ohne Teilhabe an derGesellschaft zu gewähren, wie z. B. die Lage der indigenen Bevölkerung in Aus-tralien zeigt. Auch die den ethnischen Gemeinschaften in den USA traditionellzugeschriebene Rolle als Brücke zur Anpassung unterliegt einer gewissen kriti-schen Revision: Diese Gemeinschaften gelten zwar als wesentliche Stütze desImmigranten im Prozess der Eingliederung, sowohl in materieller wie emotionalerHinsicht, werden inzwischen aber auch unter dem Blickpunkt langlebiger ethni-scher Vergemeinschaftungen diskutiert. Forschungen beziehen daher heute vielstärker die strukturellen und sozialen Bedingungen der Aufnahmegesellschaft einund dokumentieren den Wandel der amerikanischen Gesellschaft vom meltingpot (Verschmelzung) zur »salad bowl« (ethnischer Pluralismus).

Multikulturalismus versus Republikanismus?Wie sich im Rückblick auf die Geschichte der europäischen Migrationsfor-schung zeigt, entwickelten sich aus den verschiedenen historischen Traditionender Einwanderung (etwa aus ehemaligen Kolonien oder aufgrund kulturellerNähe) und der nationalen Einwanderungspolitik unterschiedliche Vorstellun-gen über Zusammenleben und Ablauf von Integration. Das heute viel diskutierteModell des europäischen Multikulturalismus, das vorwiegend Großbritannien(und teilweise auch den Niederlanden) zugeordnet wird, rückt insbesondere diepositiven Funktionen ethnischer Gemeinschaften im Eingliederungsprozessstärker in den Blickpunkt; gerade indem sie seitens des Staates unterstütztwerden, können Anpassungsleistungen der Einzelnen besser realisiert und zu-gleich auch deren Identitätsbedürfnisse geschützt werden. Rex (1996) trenntzwischen der privaten »ethnischen« Welt des Einzelnen (Geschmack, Lebensstil,Religion etc.) und den öffentlichen Sphären der Gesellschaft, die einem strengenUniversalismus gemäß den Rechtsnormen verpflichtet sind. Können ethnische

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Traditionen in der »multi-kulturellen« Gesellschaft gepflegt, Identität auchsymbolisch in der Öffentlichkeit gezeigt werden (z. B. in Form von Kleidung),stehen jedoch die universalistischen Regeln der Demokratie bzw. des staatlichenRechtswesens nicht zur Debatte.

Das französische Modell des Republikanismus orientiert sich an der Inte-gration der politischen Nation, in der im Idealfall alle im nationalen TerritoriumGeborenen ohne Berücksichtigung kultureller oder herkunftsbezogener Merk-male als bürgerrechtlich gleich angesehen werden. Herkunft und ethnische Zu-gehörigkeit begründen keinen Anspruch auf Anerkennung und Wertschätzung,im Gegenteil: Die Prinzipien des Laizismus verbieten die Repräsentanz ethni-scher sowie vor allem religiöser Symbole im öffentlichen Leben. Das republika-nische Modell markiert damit nicht nur einen Gegensatz zum britischen Modellder »Multicultural Race Relations«, sein tragendes Prinzip des »ius solis« stehtauch im Kontrast zum Selbstverständnis der meisten zentraleuropäischen Länder(Österreich und Deutschland eingeschlossen), deren Nationsmodell auf demAbstammungsprinzip (»ius sanguinis«) beruht. In der gesellschaftlichen Praxiserzeugt jedoch auch das egalitäre französische Modell erhebliche Ungleichheitender Chancen je nach Herkunft und Ethnizität. Dass trotz formal-rechtlicherGleichstellung Bevölkerungsgruppen ausländischer Herkunft und ethnischeMinderheiten systematisch Missachtung und Zurückweisung erfahren, verweistauf bedeutsame strukturelle und institutionelle Diskriminierungen sowie auf dieVirulenz von Strategien des Othering, die im Spiegel des Postkolonialismus zusehen sind und auf eine Distanzierung der Dominanzgesellschaft gegenüberzugewanderten Bevölkerungsgruppen abzielen (vgl. Wieviorka 2003).

Transnationalismus oder ethnische Unterschichtung?Im Unterschied zur US-amerikanischen Forschung, die den Prozess der Assi-milation der verschiedenen Einwanderergruppen an den »American way of life«untersuchte, blieb ein Großteil der soziologischen Forschung in Europa langeZeit auf den defizitären Status ausländischer Arbeitskräfte fokussiert. Die Eta-blierung der Migrationssoziologie ist im engen Zusammenhang mit dem in denprosperierenden nord- und westeuropäischen Industrieländern geschaffenenSystem der »Gastarbeit« zu sehen, dessen Kalkül es war, durch Import vonkostengünstigen und flexibel einsetzbaren ausländischen Arbeitskräften auf diesteigende wirtschaftliche Nachfrage zu reagieren, bei gleichzeitiger Privilegie-rung der autochthonen Arbeiterschaft am nationalen Arbeitsmarkt (Gastarbeitals Konjunkturpuffer). Soziologische Forschungen machten zwar auf die Folgen»feudaler Unterschichtung« (Hoffmann-Nowotny 1973) aufmerksam, d. h. aufdie Herausbildung einer Unterschicht, die nun anstelle der heimischen Arbei-terschicht die unteren Ränge in der gesellschaftlichen Hierarchie besetzt undüber die Akzentuierung ethnisch-kultureller Unterschiede marginalisiert und

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ausgegrenzt wird. Fragen der sozialen Eingliederung blieben hingegen bis in diespäten 1980er-Jahre weitgehend ausgeklammert.

Das Modell des Imports von Arbeitskräften beruhte auf dem Kriterium derRotation (befristeter Aufenthalt, Rückkehr, Anwerbung neuer Arbeitskräfte)und den damit verbundenen systematischen Kontrollen sowie Einschränkungenim Rechtsstatus, im Arbeitsmarktzugang und in der Familienzusammenfüh-rung. Dieses System scheiterte aus verschiedenen Gründen; Industrien wurdenabhängig von ausländischen Arbeitskräften, MigrantInnen etablierten Bleibe-strategien etc. Die Folgen der sozialen Schließung reichen jedoch bis in dieGegenwart. In Österreich, wo die Arbeitsmigration ab Mitte der 1960er-Jahreeinsetzt und um 1973 ihren Höhepunkt erreicht (vgl. Perchinig 2009; Fass-mann / Münz 1990), dokumentieren Studien erstmals in den 1970er-Jahren diemangelhaften Lebensbedingungen der ausländischen Arbeitskräfte (z. B. Leitner1983; Lichtenberger 1984), die sich nunmehr im Alter, im Übergang in dienachberufliche Lebensphase, mit einem hohen Risiko einer Kumulation vonProblemlagen konfrontiert sehen, insbesondere mit dem Risiko von materiellerArmut und gesundheitlichem Verschleiß sowie einem beschränkten Zugang zuangemessenen Formen der Altersversorgung (Reinprecht 2006).

Aber auch die Lebenschancen der nachfolgenden Generationen sind auf-grund von Bildungssegregation, verfestigter ethnischer Segmentierung am Ar-beits- und Wohnungsmarkt sowie aufgrund rechtlicher und sozialer Barriereneingeschränkt (Biffl 2007; Gächter 2006). Aktuelle Forschungen zeigen für diezweite Generation zwar fortschreitenden Bildungserfolg, jedoch ohne Anglei-chung an die Bildungs- und Qualifikationsstrukturen der autochthonenGleichaltrigen. Die Untersuchungen deuten darüber hinaus darauf hin, dass sichinnerhalb der zweiten Generation eine Kluft zwischen Bildungserfolg und gutenTeilhabechancen am Arbeitsmarkt einerseits und frühzeitigem Abbruch derBildungslaufbahn andererseits auftut. Gemessen an den Parametern Bildungs-erfolg (strukturelle Integration), Kontaktstruktur (soziale Integration) undethnische Orientierung ist nach den Ergebnissen einer repräsentativen Studiefür 12 Prozent der zweiten Generation der Integrationsprozess missglückt undfür 18 Prozent geglückt; der Großteil der Jugendlichen ist in sehr unterschied-licher Weise in die österreichische Gesellschaft eingebunden (vgl. Weiss 2007;Weiss / Unterwurzacher 2007; Herzog-Punzenberger 2003 und 2009).

Angeregt durch US-amerikanische Forschungen zur Arbeitskräftemigrationaus Mittel- und Südamerika, für die gewisse Ähnlichkeiten mit dem europäi-schen Modell der Gastarbeit beobachtet werden können, rücken heute Praktikentransnationaler Migration und Lebensführung stärker in den Mittelpunkt. Dieüber mehrere Orte und Länder aufgespannten transnationalen Beziehungsge-flechte, die durch Kommunikations- und Transporttechnologien dauerhafteingerichtet werden können, sind funktional für Mobilität und für den Aufbau

Christoph Reinprecht / Hilde Weiss20

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von Beziehungen (»soziales Kapital«) sowie für den Transfer von materiellenund kulturellen Gütern (Rücküberweisungen, Know-how-Transfer).

Mit dem »transnational turn« (Basch / Schiller / Blanc 1994; Pries 1997) ver-ändern sich auch die Konzepte von Identität und Ethnizität. Während her-kömmliche Identitätskonzepte an Vorstellungen von Normalbiographien ge-knüpft sind und das Überwinden von Randständigkeit (»marginal man«) alsGelingen der Integration deuten, haben Aspekte wie der Wechsel zwischenKulturen, Traditionen und Sprachen oder die Verknüpfung bzw. Mischung vonkulturellen Elementen und Identitäten lange Zeit nur wenig Beachtung gefunden(vgl. Mecheril 2000). Das kontinuierliche Überschreiten nationaler Grenzen undkultureller Räume, das hybride Lebensformen und Identitäten begünstigt, wirdheute normalisiert, wobei die Bedeutung homogener nationaler Kulturen imKontext zunehmender Verflechtungen der Weltgesellschaft (in Wirtschaft bzw.Arbeitsmarkt, Ausbildung u. a.) schon längst zur Debatte steht.

Welchen Einfluss die beschriebenen Integrationstraditionen bzw. Einwan-derungsregime auf die gesellschaftliche Stellung von migrantischen Bevölke-rungsgruppen haben, insbesondere auf die der zweiten und dritten Generation,wird in der Forschung je nach Erklärungsansatz unterschiedlich bewertet.Vergleichende Studien unterstreichen die Bedeutung der institutionellen Rah-menbedingungen (Einfluss von Institutionen, besonders von Bildungssystemen,Arbeitsmarktstrukturen), während der Einfluss der Integrationsregime beson-ders für die zweite Generation, deren Chancen von der Gestaltung des Bil-dungssystems beeinflusst werden, eher als geringer eingeschätzt wird (vgl.Worbs 2003; Crul / Vermeulen 2003). Forschungen zeigen zudem, dass die Si-tuation und die Handlungsräume von MigrantInnen und ethnischen Minder-heiten von der Existenz symbolischer Grenzziehungen zwischen »uns« und »denanderen«, beeinflusst werden (Barth 1998).

Interessant ist, dass Länder, in denen sich ähnliche Abgrenzungs- und Dis-tinktionspraktiken wiederfinden, unterschiedliche Integrationsmodelle habenkönnen. So etwa unterscheiden sich Frankreich, Großbritannien, die Nieder-lande und Deutschland zwar hinsichtlich der historisch entstandenen Integra-tionsregime, zeigen jedoch starke Ähnlichkeiten in den Mustern symbolischerGrenzziehung. Das weist auf eine Konvergenz der Fragen und Probleme inEinwanderungsländern mit hoher Arbeitsmigration hin. (Davon abweichendeCluster bilden Skandinavien sowie die neuen Einwanderungsländer in euro-päischer Randlage; vgl. Bail 2008.) Vor diesem Hintergrund gewinnt auch dieNeuorientierung der Einwanderungspolitik unter dem Titel der »Europäisie-rung« im Sinne einer Angleichung nationaler Politiken (etwa hinsichtlich Re-striktionen, Sicherheitsdiskurs, Vorrang für hoch qualifizierte MigrantInnen,Ausbau von Modellen saisonaler Migration) an Signifikanz.

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4 Migration: Konzeptionelle Ansätze

Generell lassen sich Migrationsprozesse entlang der Achsen Zentrum – Peri-pherie und Süd – Nord einordnen. So ziehen ökonomisch prosperierende,wohlhabende und industrialisierte Städte, Regionen und Staaten Arbeitskräftean; zum anderen bilden Dependenzbeziehungen in der Folge von Kolonialismusund Imperialismus einen bedeutsamen Kontext für internationale Wanderun-gen. Soziologische Erklärungsansätze setzen an der Struktur- und Handlungs-ebene sowie an der Mesoebene sozialer Netzwerke und organisationeller Rah-menbedingungen an. Über die Analyse demographischer und ökonomischerAspekte hinaus – Lohndifferenzen, Unterbeschäftigung oder Arbeitslosigkeit inden Herkunftsregionen; Arbeitskräftenachfrage und attraktive Arbeitsbedin-gungen in den Zielregionen als wichtige Pull- und Push-Faktoren; Formierungglobaler Arbeitsmärkte (vgl. Sassen 2008) – untersucht die Soziologie den Ein-fluss von Migration auf Machtverhältnisse, Statushierarchien und sozialeSchichtung.

So etwa analysiert Hoffmann-Nowotny (1973) Arbeitsmigration als Prozessstruktureller Spannungsverschiebung: Soziale Spannungen in der Herkunfts-gesellschaft können durch Auswanderung gemindert werden, während Ein-wanderung in den Zielländern zu einer selektiven Differenzierung der Sozial-struktur führt. Ausländische Arbeitskräfte unterschichten die Sozialstruktur,während die in der Statushierarchie aufgestiegenen einheimischen Arbeitskräftesich gegenüber den neu Zugewanderten unter Rückgriff auf ethnische (askrip-tive) Merkmale sozial distanzieren. Aus dieser Konstellation resultieren ano-mische Spannungen: Sozialer Aufstieg wird nicht über (Eigen-)Leistung, son-dern über »feudale Absetzung« (ethnische Abgrenzung) erreicht, umgekehrtbleiben für MigrantInnen auch bei hoher Leistungserbringung die Aufstiegs-möglichkeiten durch rechtliche Barrieren oder informelle Diskriminierungblockiert.

Auf der Mikroebene (Handlungsebene) werden Migrationsprozesse aus derPerspektive von Theorien der rationalen Wahl individueller Akteure untersucht.Bei diesen Wahlen stellen ein höheres Einkommen, die Verbesserung von Le-bensqualität und der Zugewinn an Sicherheit zentrale Motive für Migrations-entscheidungen dar. Entscheidungen finden unter Risiko und Unsicherheit stattund sind durch zahlreiche Randbedingungen beeinflusst, wozu die Einschät-zung der zu erwartenden Kosten oder die Verfügbarkeit von Informationen überdie Bedingungen im Zielland zählen. Als wichtige Informationsträger fungierensoziale Netzwerke, die ein Nachwandern, aber auch die Orientierung im Ziellanderleichtern (»Kettenmigration«).

Netzwerke spielen im Zusammenhang mit der Herausbildung transnationa-ler Praktiken (also auf der Meso-Ebene) eine bedeutende Rolle (vgl. Haug 2000).

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Spezifische Funktionen dieser sozialen Kontakte liegen in der Herstellung vonSolidarität sowie in Ressourcentransfers, die reziproke Tauschbeziehungen aufBasis von Traditionen sicherstellen und der Gemeinschaftsmoral oder denZielen der Gruppe unterworfen sind (vgl. Portes 1995).

Andere Aspekte der Organisation von Migration sind die institutionellenRahmenbedingungen, wozu die gesetzlichen Einwanderungsbestimmungenund andere Elemente der Migrationspolitik zählen, die sich auf die Filterung vonMigration auswirken. Der Erfolg der Zulassungssteuerung ist aber umstritten.Länder, die hohe Anforderungen an MigrantInnen formulieren, indem sie be-stimmte Kriterien (Qualifikation, Vermögen) vorgeben, sind gezwungen, ihreGrenzen mit intensiven Kontrollen zu sichern. Die Schließung führt jedoch oftnur zu Verlagerungen und verstärktem Einwanderungsdruck auf andere »gates«.Das hat Auswirkungen auf die Qualifikationsstruktur der MigrantInnen, aberauch auf den rechtlichen Status bei nicht regulärer Zuwanderung (bzw. auf dieErzeugung eines unrechtmäßigen Status als Folge rechtlicher Bestimmungenund Behördenpraktiken, »sans papiers«) sowie auf das Abdrängen von Migra-tion in graue bis hin zu kriminellen Zonen von Schlepperwesen oder Trafficking.Zuwanderungsregime erzeugen Kategorisierungen und Schichtungen derWandernden (vgl. Morris 2002); auch stark selektive Aufnahmebedingungenkönnen Migration global gesehen nicht verhindern.

Fasst man die Erklärungsansätze zusammen, zeigt sich eine Verlagerung vonden individuellen Entscheidungstheorien einerseits hin zu mesotheoretischenAnsätzen, welche die Rolle von (transnationalen) Netzwerksstrukturen, ethni-schen Bezugsgruppe und Milieus der Diaspora in den Mittelpunkt rücken.Andererseits verlagern sich die Ansätze insbesondere zu strukturellen Theorien,die untersuchen, wodurch Migrationssysteme insgesamt gesteuert werden. Dassallerdings das Gefälle zwischen Wohlstands- und Entwicklungsgesellschafteneine massive Ursache von Wanderungen – von den Peripherien in die Zentren –ist, die durch ökologische Katastrophen oder politische Krisen verstärkt wird, istunbestritten.

5 Konzept von Integration

Unter dem Begriff Integration werden in den Sozialwissenschaften unter-schiedliche Inhalte und theoretische Modelle beschrieben. Das Konzept derIntegration ist nicht unumstritten, da es auf dem Gedanken der Herstellunggesellschaftlichen Gleichgewichts und Stabilität beruht. In Hinblick auf Fragender Migration steht die Einbindung von neuen Gruppen in das gesellschaftlicheGefüge zur Debatte: objektiv durch die gleichberechtigte Teilhabe an den Teil-

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systemen der Gesellschaft (Arbeitsmarkt, Bildung, soziale Sicherung, Recht,Politik); subjektiv durch die Entwicklung von Gefühlen der Zugehörigkeit.

Die Teilhabe am Arbeitsmarkt, an die weitere wichtige Ressourcen wie Ein-kommen, aber auch Risiken und Chancen der Lebensplanung gekoppelt sind,gilt als der zentrale Integrationsmechanismus schlechthin. Der Kampf um einemöglichst gute Positionierung ist an den Erwerb von Ausbildungsqualifikatio-nen gebunden; den Bildungsinstitutionen kommt eine Schlüsselrolle für sozialeIntegration der zweiten Generation zu. Integration umfasst alle wichtigen Le-bensbereiche: Arbeit, Wohnen, soziale Interaktion, Kommunikation, politischeund kulturelle Partizipation. Kriterium für gelungene Integration ist das Ver-schwinden von Diskriminierung, die Abflachung von sozialen Ungleichheiten,die Ermöglichung von sozialer Aufwärtsmobilität, die Vermeidung von Exklu-sion

Wie bereits dargestellt, wird in der US-amerikanischen ForschungstraditionIntegration als Zyklus von Assimilationsschritten definiert. Nach dem »race-relations-cycle« (Park 1928) folgt auf die Kontaktaufnahme ein Wettbewerb umBerufspositionen innerhalb der migrantischen Gruppen, der in einer drittenStufe zu ethnischer Nischenbildung und Segregation führt, aus der herausStrategien der Assimilation, d. h. der Angleichung an die Mehrheitsbevölkerungentwickelt werden, was zur Auflösung der ethnischen Dimension führt. Da dieAuswirkungen der Migration auch die nachfolgenden Generationen erfassen,wurde der Eingliederungsprozess seit jeher in eine langfristige, die Generatio-nen umspannende Perspektive gestellt. Dieses Konzept eines »sozialdarwinis-tischen« Kampfes um Positionen in der gesellschaftlichen Ungleichheitsord-nung wird heute kritisiert (vgl. Wilson 1987; Wacquant 2008).

Neuere Forschungen über Einwandererfamilien in den USA zeigen zudem(Portes et al. 2005), dass Anpassungsprozesse der Generationen parallel zuein-ander verlaufen und dass den familiären Beziehungen zwischen den Genera-tionen eine wichtige Bedeutung zukommt (Foner 2009; zur Thematik desWertetransfers innerhalb der Familie und der Bedeutung von innerfamiliärenNetzwerken und deren Funktionen vgl. auch Nauck 2004 / 2009). Sie machenaber auch darauf aufmerksam, dass sich Anpassung an der jeweiligen sozialenUmwelt ausrichtet, also auch an der jeweiligen Schichtkultur. Als »downwardassimilation« bezeichnen sie die Anpassung Jugendlicher, die frühzeitig dieSchule verlassen und in benachteiligten Wohnvierteln leben. Anpassungs- undEingliederungsprozesse vollziehen sich also nicht für alle sozialen Gruppengleichartig, sondern innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Segmente. Daherwird in der Literatur von »segmentierter Assimilation« gesprochen.

Wurde in der US-Forschung das Modell einer offenen Gesellschaft derChancengleichheit und des Leistungsprinzips lange idealisiert, zeigen dieneueren Forschungen die Wirksamkeit von Rassismus und institutioneller

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Diskriminierung, Arbeitsmarktungleichheiten und residenzieller Segregationauf. Gelingt es der zweiten Generation, also den Kindern der Zuwanderer nicht,ihre Position im Vergleich zu den Eltern zu verbessern, besteht die Gefahr, aufDauer vom Mainstream der Gesellschaft abgeschnitten zu werden. Die zuneh-mende Prekarisierung und Polarisierung am Arbeitsmarkt – Billig-Jobs, un-qualifizierte versus qualifizierte Beschäftigung – markieren den strukturellenWandel, der sich vor allem für die Kinder farbiger Einwanderer negativ auswirkt(Rumbaut 2008). Auch in Europa verweisen zahlreiche Studien auf die überGenerationen »vererbte« benachteiligte Schichtposition der MigrantInnen (vgl.Seifert 1995). Soziale Ungleichheit und Schließungstendenzen, Diskriminierungund Stigmatisierung von Minderheiten und deren Auswirkungen auf die Inte-gration von MigrantInnen stehen daher heute in den neueren Forschungen vielstärker im Blickpunkt.

Fasst man die rezenten Ergebnisse der Integrationsforschung knapp zu-sammen, so diagnostiziert man in den USA zwei Tendenzen, deutlich sichtbar ander zweiten Generation: einerseits eine »downward assimilation« (Abgleitenbestimmter Herkunftsgruppen in die »urban underclass«), auf der anderen Seiteerfolgreiche Aufwärtsmobilität. Letztere erfolgt häufig durch die Unterstützungder eigenen ethnischen Gemeinschaft (vgl. Portes / Fern�ndez-Kelly / Haller2005). Die sozialen Bindungen der Community forcieren den Aufstieg, dabeisetzen sie ihr soziales Kapital, d. h. Unterstützungen durch die eigene Gruppe,voll ein. Diese Unterstützung würde die Minderheit in der Mehrheitsgesellschaftnicht finden. Diese Form unterschiedlicher Anpassung (»segmentierte Assimi-lation«) polarisiert zwar zwischen den Ethnien, doch tritt auch innerhalb dereinzelnen Ethnien eine starke Differenzierung nach selbst gewählten Lebens-stilen – zwischen ethnisch-traditionell und postmodern – zutage (vgl. Waters1990; Boos-Nünning / Karakasouglu 2005).

Während der Begriff der Assimilation einen typischen, stufenförmigen Pro-zess der Eingliederung im Generationenverlauf postuliert, in welchem dieökonomische, soziale und kulturelle Integration zum »Einschmelzen« in denMainstream führt, unterstreicht das Integrations-Konzept, dass die Eingliede-rung in unterschiedlichen Pfaden verlaufen kann. Die Überlegungen gehen nichtvon einer vollständigen Assimilation aus, sondern von einer partiellen, die inden verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen unterschiedlich verläuft. Sokann jemand beruflich und sozial gut integriert sein, aber dennoch weiterhinemotionale Bindungen an seine Herkunftskultur haben, Traditionen und Kon-takte mit seiner ethnischen Gemeinschaft pflegen. Insbesondere die kulturelleAssimilation und Identifikation mit dem Einwanderungsland gelten nicht not-wendigerweise als Indikatoren gelungener Integration; emotionale Bindungenan die Herkunftskultur (Sitten, Bräuche, Sprache) gelten nicht als Hindernisbzw. Mangel an Integration.

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