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Liebe Leserinnen und Leserdes ULMER ECHO,Untersuchungshaft ist in bestimmten Fällen Folter. Dasweist die Ihnen hier im neuen Layout vorliegendeSonderausgabe auf. Sie ist der einzige Text, den dasULMER ECHO seit nunmehr 13 Jahren immer wiederunverändert auflegt. „Wodurch wird Untersuchungs-haft zur Folter?” hat fundamentale Bedeutung für dieFrage nach Grund- und Menschenrechten unter denBedingungen der Untersuchungshaft. Was in der wis-senschaftlichen Literatur abstrakt abgehandelt wird,erhält hier besondere, ja, die eigentlich angemesseneBrisanz. Die konkreten Bedingungen werden auf höch-stem juristischen und rechtsphilosophischen Niveaudurchdekliniert. Das Ergebnis weist Lücken im gesetz-lichen Schutz für Untersuchungsgefangene auf, die bisheute keineswegs beseitigt sind. Daher wünscht anre-gende Lektüre, aber auch Einsatz für Grund- und Men-schenrechte anallen relevantenOrten Ihr

Impressum

ULMER ECHOGefangenenmagazin aus der JVA Düsseldorf

– seit 1975 –Herausgeber und für den Inhalt verantwortlich:P. Wolfgang Sieffert OP

Sonderausgabe„Wodurch wird U-Haft zur Folter”

8. Auflage, unveränderter Text, Neubearbeitung2008. Gesamtauflage bisher 7.500 Exemplare

Titelgestaltung Alex B., Wolfgang Sieffert OPTitelbild Blick aus dem B-Flügel [Foto: ws]Layout Oliver C., Alex B., Wolfgang Sieffert OPDruck Eigendruck auf Risograph RN 2000 EPAnschriftULMER ECHO, Ulmenstraße 95, 40476 DüsseldorfEmailadresse [email protected] ECHO im Internet (seit 1996)www.ulmerecho.de (mit Archiv, Fotos u.v.a.m.)Träger Kath. Gefängnisverein Düsseldorf e.V.Auskünfte 0211/9486-230 oder -348Finanzierung Das ULMER ECHO finanziert sichausschließlich aus Spenden und wird kostenlos abge-geben. Ohne Spenden kein ULMER ECHO.

Spenden bitte an: Kath. Gefängnisverein,Postbank Köln; BLZ 370 100 50Kto.-Nr. 74558-506, Vermerk: ULMER ECHO

Nachdruck erwünscht! Unter Angabe der Quel-le und gegen Zusendung zweier Belegexemplare istNachdruck ausdrücklich gestattet.

Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis1999 hat die Jury des Ingeborg-Drewitz-Literaturpreisesfür Gefangene der Redaktion des ULMER ECHO denSonderpreis für engagierten Journalismus zugesprochen.Die hier erneut aufgelegte Arbeit „Wodurch wird Untersu-chungshaft zur Folter?” des unter dem Pseudonym „CecilHenderson” schreibenden ULMER ECHO-Autors fand dieseehrenhafte Anerkennung. Am 7. Juni 1999 konnten derHerausgeber P. Wolfgang Sieffert OP und „Cecil Hender-son” in Dortmund die Ehrung aus den Händen des Schirm-herrn Martin Walser entgegennehmen (s. Foto).

Prof. Dr. Koch, der Schriftsteller Martin Walserund „Cecil Henderson” (v.l.)

In der Laudatio hieß es:„Der diesjährige Sonderpreis für engagierten Journa-lismus wird an die Redaktion des ULMER ECHO verlie-hen. Sie hat 1995 in drei Ausgaben ihrer Zeitung eineSerie unter dem Titel „Wodurch wird Untersuchungs-haft zur Folter?” veröffentlicht. Die Anerkennung giltinsbesondere dem Autor Cecil Henderson. Durch dieArtikelserie hat die Debatte zu Menschenrechtsverlet-zungen im Gefängnis eine neue Qualität erhalten. Eszeigt sich, dass die Untersuchungsgefangenen durchihre eigenen Erfahrungen und Reflektionen einenauthentischeren Zugang zur Vollzugsrealität habenals staatliche und wissenschaftliche Institutionen. DieJury erkennt zugleich die Zivilcourage der Redaktionan, die sich trotz ihrer Beschränkungen in einer tota-len Institution zum freien Wort bekannt hat. Ebenfallsanzuerkennen ist, dass solch ein engagierter Journa-lismus mit den brisanten Thesen zur Folter in Unter-suchungshaft mitgetragen wurde durch die Liberalitätdes langjährigen Herausgebers Pater Edelbert Rübertund des ehemaligen Anstaltsleiters Hans Seibert.”

Cecil Henderson, ehemaliger Redakteur des ULMER ECHO,wurde 1996 aus der Haft entlassen. Bereits im August2000 starb er an einer schweren Krankheit. Hendersonhat die inhaltliche Arbeit unseres Gefangenenmagazins inden Jahren 1994 bis 1996 entscheidend mitgetragen undauch für die Zeit danach Maßstäbe gesetzt.

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3ULMER ECHO 2008 Wodurch wird U-Haft zur Folter?

Die Folter ist in Deutschland indiesem Jahrhundert gleich

zweimal offiziell abgeschafft worden,nachdem sie zweimal inoffiziell inKraft war und wobei sich auch diejeweiligen Justizorgane mit Blut besu-delt haben. Einmal, von 1933 bis 1945,also in der Nazizeit des 3. Reiches,wurde ausgiebig in den Kellern derGestapo, in den Konzentrationslagernund in den Sonderzellen des Volks-gerichtshofes gefoltert. Das zweiteMal, von 1949 - 1989, wurde in derDeutschen Demokratischen Republik,in den Kellern der Stasi und in soberüchtigten Gefängnissen wie Baut-zen, Brandenburg und Waldheim,gefoltert. Offiziell wurde die Folterabgeschafft als die BundesrepublikDeutschland der Europäischen Kon-vention zum Schutze der Menschen-rechte (EMRK) von 1950 per eigenemGesetz vom 7. August 1952 beigetre-ten war. Nach Auflösung der DDR unddem Beitritt von fünf neuen Bundes-ländern durch den Einigungsvertragvon 1990 erlangte das Folterverbot derKonvention zum Schutze der Men-schenrechte auch Rechtskraft inDeutschland. Der entsprechende Arti-kel 3 der o.a. Konvention lautet: „Nie-mand darf der Folter oder unmensch-licher oder erniedrigender Strafe oderBehandlung unterworfen werden.”Dies bedeutet nach dem Wortlaut, esgibt die Folter an sich, und mit ihr ver-boten ist sowohl die unmenschlicheoder erniedrigende Strafe als auch dieunmenschliche oder erniedrigendeBehandlung. Damit ist noch nichtgesagt, was Folter ist. Eigenartiger-weise wird in der EMRK nicht nähererläutert, was unter Folter eigentlichgenau und zwar im Sinne einer Defini-tion verstanden werden soll. Dies giltübrigens auch für den wortgleichenArtikel 5 der „Allgemeinen Erklärungder Menschenrechte” der VereintenNationen vom 10. Dezember 1948, derals Vorlaufmuster vom Europarat 1950

übernommen worden war. Diese Fragehaben die Vereinten Nationen erst 36Jahre später genauer beantwortet.

Was ist Folter?Im „Übereinkommen gegen Folter

und andere grausame, unmenschlicheoder erniedrigende Behandlung oderStrafe” vom 10. Dezember 1984 heißtes dazu in Artikel 1 Absatz 1: „ImSinne dieses Übereinkommens

bezeichnet der Ausdruck „Folter” jedeHandlung, durch die einer Person vor-sätzlich große körperliche oder seeli-sche Schmerzen oder Leiden zugefügtwerden, zum Beispiel um von ihr odereinem Dritten eine Aussage oder einGeständnis zu erlangen, um sie füreine tatsächlich oder mutmaßlich vonihr oder einem Dritten begangene Tatzu bestrafen oder um sie oder einenDritten einzuschüchtern oder zu nöti-gen, oder aus einem anderen, aufirgendeiner Art von Diskriminierungberuhenden Grund, wenn diese Leidenoder Schmerzen von einem Angehöri-gen des öffentlichen Dienstes odereiner anderen in amtlicher Eigenschafthandelnden Person, auf deren Veran-lassung oder mit deren ausdrücklichemoder stillschweigendem Einverständ-

nis verursacht werden.„Der Ausdruck umfasst nicht

Leiden oder Schmerzen, die sichlediglich aus gesetzlich zulässigenSanktionen ergeben, dazugehörenoder damit verbunden sind.” (Her-vorhebung durch die Redaktion)

Die Persönlichkeit desGefangenen ist zu achten

In Bezug auf unser Thema scheidetFolter als Strafe aus, und zwar nichtdeswegen, weil es nicht vorstellbarwäre oder tatsächlich nicht gegebensein könnte, dass Folter als Strafe inder Strafhaft eine Rolle spielte, son-dern nur deswegen, weil nicht dieStrafhaft, sondern nur die Untersu-chungshaft unser Thema begrenzt.

Es kommt hinzu, dass die Nr.1 Abs.3 der Untersuchungshaftvollzugsord-nung lautet: „Die Persönlichkeit desGefangenen ist zu achten und sein Ehr-gefühl zu schonen. Im Umgang mitihm muss selbst der Anschein vermie-den werden, als ob er zur Strafe festge-halten werde. Schädlichen Folgen desFreiheitsentzuges ist entgegenzuwir-ken”.

Hier ist also kein Spielraum fürFolter oder unmenschliche oder ernie-drigende Strafe oder Behandlung. Dawir uns also im Bereich der Untersu-chungshaft bzw. des Untersuchungs-haftvollzuges bewegen, genügt es kurzfestzustellen, was die juristische Lite-ratur und Kommentierung zu denStichworten Folter und unmensch-licher oder erniedrigender Behandlunghergibt. Dazu heißt es bei Klein-knecht/Meyer-Goßner: „Folter ist dievorbedachte Auferlegung körperlicherQualen, die ernste und grausame Lei-den hervorruft, vornehmlich zur Erlan-gung von Informationen oder Geständ-nissen, aber auch als Quälerei zu ande-ren Zwecken”. (1993 S. 1824)

Und zur unmenschlichen odererniedrigenden Behandlung vermerkt

Wodurch wird Untersuchungshaft zur Folter?In Deutschland wurde gefoltert

von Cecil Henderson

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4 ULMER ECHO 2008Wodurch wird U-Haft zur Folter?

der zitierte Kommentar: „Unmensch-lich ist eine Behandlung, die absicht-lich körperliche Leiden verursacht undin der besonderen Situation nicht zurechtfertigen ist. Unmenschlichkeitgreift den Kern des Menschseins desBetroffenen an und missachtet seineMenschenwürde.”

Der Kern des Menschseinsliegt in der Persönlichkeit

„Eine erniedrigende Behandlungliegt vor, wenn sie den Betroffenen voranderen in hohem Maße demütigt oderihn dazu bringt, gegen Willen undGewissen zu handeln, wenn demnachseine Stellung als freie, auf Entfaltungder geistigen und seelischen Kräfte inder Gemeinschaft angelegte Persön-lichkeit nicht unerheblich in Fragesteht”. (1824)

Soweit die herrschende Komment-armeinung zu den Begriffen Folter,unmenschliche Behandlung und ernie-drigende Behandlung. Allerdingsbedarf der erste Satz der zitiertenKommentardefinition einer prakti-schen Darstellung. Der Satz„unmenschlich ist eine Behandlung,die absichtlich körperliche Leiden ver-ursacht und in der besonderen Situa-tion nicht zu rechtfertigen ist” darfnicht so missverstanden werden, dasses etwa von Amts wegen eine „beson-dere Situation” geben, in der „absicht-lich körperliche Leiden verursacht undin der besonderen Situation” ebendoch gerechtfertigt werden könnten.Prinzipiell gibt es diese Situation imRechtsstaat nicht, ebensowenig wieeine Rechtfertigung dafür. Ganzanders ist die Situation etwa in einermedizinisch sinnvollen Behandlung,während der auch absichtlich körperli-che Leiden verursacht und eben auchzu Heilzwecken gerechtfertigt seinkönnen. In der Regel geschieht dies

auch nicht ohne vorherige Einwilli-gung des „Opfers”, das in WirklichkeitPatient ist. Der klassische Grenzfall isthierbei die Zwangspsychiatrie, also diegerichtlich angeordnete Zwangsbe-handlung eines für heilbar gehaltenenGeisteskranken oder Triebtäters, derbeispielsweise mit den heftig umstrit-tenen Elektroschocks oder Psycho-pharmaka gequält wird.

Kultur und Zivilisation sindkeine Garanten gegen Folter

Die Bundesrepublik Deutschlandhat, wie andere Kulturnationen auch,einen seit langem hohen zivilisatori-schen Standard. Dieser schließt auchdie heimliche Duldung staatlicher oderjustizieller Folterpraktiken aus, die andas finstere Mittelalter oder an dieNazi- bzw. SED-Zeit erinnern undgleichwohl heute noch in vielen latein-amerikanischen Staaten und in aufspätkommunistischen Ideologien undauf islamischen Religionsspielartengegründeten alten und neuen Staatsge-bilden der afrikanischen, arabischenund asiatischen Welt üblich sind.

Freilich schließt selbst eine moder-ne, auf Grund- und Menschenrechteberuhende Verfassung und eine kultu-rell hochstehende Zivilisation dieMöglichkeit nicht aus, dass sich auchdie Foltermethoden ebenso verfeinerthaben könnten wie eine unmenschli-che und erniedrigende Behandlung.

Alle Arten staatlicher bzw. gesetz-lich erlaubter Zwangsmittel, insbeson-dere diejenigen, die mit Strafe verbun-den sind, stellen grundsätzlich das Ein-fallstor dar, für objektiv verbotene,vielleicht auch subjektiv nicht gewoll-te, gleichwohl praktisch in Erschei-nung tretende peinigende Auswirkun-gen bei den Betroffenen.

Dies ist der Grund, warum es sinn-voll, aus der Sicht von Untersuchungs-gefangenen vielleicht sogar dringendnotwendig ist, eine Folterdebatte auchim demokratischen Rechtsstaat zu füh-ren.

Der schuldige Selbstmördersühnt wirklich

In Deutschland, wo mit der Errich-

tung des Grundgesetzes auch dieTodesstrafe für abgeschafft erklärtworden ist, müsste diese Debatteeigentlich jedesmal dann geführt wer-den, wenn bekannt wird, dass sich wie-der einmal ein Untersuchungshäftlingim Gefängnis getötet hat, und zwarzumindest in den Fällen, in denen fest-steht, dass es sich nicht um einen frei-willigen Akt der Selbstjustiz handelt,mit welcher der Selbstmörder dieSchuld für sein schweres Verbrechenanzeigt und damit zugleich sein eige-nes Sühneopfer bringt.

Wenn überhaupt, dann findet dieseDebatte nur hinter verschlossenenTüren der Gefängnisse statt und allen-falls noch in der Heimlichkeit derAmtsstuben der Justiz, die den Falldiskret untersucht und dann endgültigdie Akten schließt.„Das tiefste Glück des Menschenbesteht darin, dass er geopfertwird, und die höchste Befehls-kunst darin, Ziele zu zeigen, diedes Opfers würdig sind.” (ErnstJünger)

Wie wenn es etwas zu verbergengäbe, erfährt davon die Öffentlichkeitgenauso wenig Konkretes wie bei-spielsweise eine jährliche Todesbilanz,aufgegliedert in Justizvollzugsanstal-ten, Bundesländer und Tatverdächti-gungen, die dem Selbstmörder zur Lastgelegt waren.

Unabhängig davon hat es inDeutschland zu Beginn der 90er Jahreeine, wenn auch verhaltene Debatteüber Folter in Deutschland gegeben,und zwar anlässlich einer Stipvisitedes UN - „Ausschusses zur Verhütungvon Folter und unmenschlicher odererniedrigender Behandlung oder Stra-fe”.

Dieser Ausschuß (Commitee for thePrevention of Torture; nachfolgendCPT genannt) wurde laut Artikel 17des „UN-Übereinkommens gegen Fol-ter und andere grausame, unmenschli-che oder erniedrigende Behandlungoder Strafe” vom 10. Dezember 1984gebildet. Deutschland ist diesem Über-einkommen im Jahre 1989 beigetreten.

CPT hat Deutschland bisher einmal

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5ULMER ECHO 2008 Wodurch wird U-Haft zur Folter?

besucht nämlich 1991 zwölf Tage lang.Während dieser Zeit wurden Einrich-tungen der Polizei (Polizeizellen), desJustizvollzuges (Strafvollzug undUntersuchungshaft) und der Psychia-trie (Einweisungen nach Maßregel-vollzug und Psyche KG) besucht,allerdings beschränkt auf die Bundes-länder Bayern, Berlin und Sachsen.

Stippvisite gegen die FolterÜber diesen Besuch wie über den

Bericht der Kommission CPT hat dasStrafvollzugsarchiv an der UniversitätBremen 1994 eine interessante Nach-untersuchung geliefert, von welcherdie Wissenschaftler meinten: „Zielunserer Erhebungen war es, Strukturenin deutschen Gefängnissen zu identifi-zieren, die das Risiko eines Verstoßesgegen Art.3 EMRK erhöhen” (Materi-alien zur Kriminalpolitik Band 4, Bre-men 1994).Je vornehmer die Delegation, um

so geringer der Erfolg

Diese eigenartige Fragestellung„erhöhtes Risiko eines Verstoßesgegen Art.3 EMRK” (gemeint ist hier-bei das Folterverbot) und nicht etwadie Frage, ob in Deutschland gefoltertwird, ist geschehen unter Berücksichti-gung des Ergebnisses des CPT-Berich-tes, zu dem festgestellt wird: „DieCPT-Delegation hat in keiner derbesuchten Einrichtungen Beschuldi-gungen über Folter gehört, noch wur-den irgendwelche andere Anzeichenfür Folter gefunden. Sie hat allerdingsin drei Fällen Informationen über kör-perliche Misshandlung erhalten. Inzwei dieser drei Fälle hat sie keineEmpfehlung ausgesprochen, sondernlediglich um nähere Informationen er-sucht”.

Dieses zunächst erstaunlich magereErgebnis ändert sich auch dadurchnicht, dass der CPT-Bericht in Bezugauf Deutschland insgesamt „nur” 23allgemeine Empfehlungen ausspricht,sowie „7 Empfehlungen, die sich spe-ziell auf die Situation in Bayern, 12Empfehlungen, welche sich auf Berlinund 6 Empfehlungen, welche sich aufSachsen beziehen” (44). Dass diese

Empfehlungen nicht als kritischeBeanstandungen oder gar als Vorwürfevon Folter u.ä. zu verstehen sind, zeigtder Charakter der Bereiche, auf die siesich beziehen: „Solche die (1) denrechtlichen Rahmen und das Verfahrendes Freiheitsentzuges, (2) Einzelheitender Vollzugsgestaltung, (3) materielleBedingungen der Unterbringung undVerpflegung, (4) Ausbildung und Ver-halten der Bediensteten und (5) dieBehandlung der ausländischen Gefan-genen betreffen” (44).

Harmlose Stichproben undEmpfehlungen

Gleichwohl meinen die BremerWissenschaftler, ihre Analyse desCPT-Berichtes habe gezeigt, „dass dieBundesrepublik in mancher Hinsichtzu gut weggekommen ist, auch habensich manche Probleme seit demBesuch des CPT deutlich verschärft(Ausländerproblematik, Überbele-gung)”.

Dies war für die Bremer mit einGrund, anhand eigener Untersuchun-gen zu überprüfen, ob sich die Situa-tion in Deutschland tatsächlich so

harmlos darstellte, wie der CPT wäh-rend 12 Tagen Stichproben in 3 von16(!) Bundesländern herauszufindengeglaubt hat und wie dies auch die „invielen Punkten ausweichende undbeschönigende Reaktion der Bundes-regierung” (65) glauben machen will.

Zu diesem Zweck hatten die Bre-mer Presseberichte der Jahre 1991 bis1993 herangezogen und ausgewertet,sowie Mitte 1993 eine schriftlicheUmfrage durchgeführt mittels Frage-bögen bei sachkundigen Personen undOrganisationen (darunter Wissen-schaftler, Praktiker und auch Betroffe-ne) und bei Behörden des Bundes undder Länder- (Justiz und Innenminister,Generalbundesanwalt, Bundeskrimi-nalamt etc.).

Die Definition der Folter istnicht mehr zeitgemäß

Sehr sinnvoll erscheint auch, dassfür diese neue Untersuchung der imjuristischen Schrifttum vorherrschendeFolterbegriff nicht einfach als Maßstabverwendet, sondern kritisch hinterfragtund hinsichtlich der damit verbunde-nen Ziele und Mittel gewissermaßenmodernisiert erweitert wurde.

Dazu meinten die Bremer: „Sowohldie Beschränkung auf körperlicheQualen wie auch die auf das Ziel derGeständniserpressung entspricht nichtmehr allgemeinem Sprachgebrauch.Wir haben daher folgende Definition

vorgegeben: Folter im engeren Sinneist vorsätzliche Auferlegung schwererkörperlicher oder geistig-seelischerLeiden zur Erlangung von Informatio-nen oder Geständnissen, zur Ein-schüchterung oder zur Strafe”.

Diese Definition beruht auf der

Ulmer Höh’: Außenseite 20. Jahrhundert ...

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6 ULMER ECHO 2008Wodurch wird U-Haft zur Folter?

UNO-Resolution Nr. 3452 (XXX)vom 9.12.1975. Sie schließt nicht aus,alle länger dauernden und verschärftenFormen des Freiheitsentzuges unterden Begriff „Folter” zu fassen (16).

Bei angepaßtem Folter-begriff sieht die Sacheschon anders aus

Aufgrund dieser definiertenMaßgabe bei der Untersuchungberichten die Bremer im Ergeb-nis: „Wir haben insgesamt 14Hinweise auf Folter erhalten;neun davon stammen von Gefan-genen, drei von Personen/Orga-nisationen aus der Gefangenen-arbeit, die übrigen von je einemHochschullehrer bzw. einemJournalisten. Manche dieser Hin-weise betreffen Fälle vor demBerichtszeitraum, andere sindunzureichend spezifiziert”. (17)

Über insgesamt 4 dieser Hin-weise berichten die Bremer aus-führlicher. Dabei handelt es sichum Fälle körperlicher Misshand-lungen, die zum Teil wegen Kör-perverletzung im Amt strafrecht-lich geahndet, zum Teil aberauch nur von den JVAen bestä-tigt wurden, allerdings straf-rechtlich folgenlos blieben.(18-20)

Zum Thema unmenschliche odererniedrigende Behandlung kritisierendie Bremer Wissenschaftler zu Recht,dass über die Auslegung dieser verbo-tenen Tatbestände in Rechtsprechungund Literatur noch weniger Überein-stimmung besteht als wie beim Begriffder Folter. „Die Europäische Kommis-sion für Menschenrechte nennt„unmenschliche” eine Behandlung, dieabsichtlich schwere geistige oder kör-perliche Leiden verursacht und in derbesonderen Situation nicht zu rechtfer-tigen ist. Als „erniedrigend” bezeich-net die gleiche Kommission eineBehandlung, welche die Betroffenenvor anderen in hohem Maße demütigtoder dazu bringt, gegen Willen undGewissen zu handeln”. (20/21)

Naturgemäß ist die Ausbeute anFallbeispielen in der Bremer Untersu-chung größer. Dazu werden vier

Kategorien genannt: 1. Menschenun-würdige Unterbringung, 2. Isolation, 3.Zwangsbehandlung und 4. Sonstigeerniedrigende oder unmenschlichePraktiken (z.B. Haftfortdauer ohneEntlassungsperspektiven, Nachtkon-

trollen und Urinkontrollen). (21-30)Wenn die Gerechtigkeit unter-geht, so hat es keinen Wert mehr,dass Menschen auf Erden leben.(Immanuel Kant)

Untersuchungsergebnisseohne Folgen

Allen aufgeführten Einzelfällen,die zum Teil auch gerichtsbekanntbzw. sogar strafrechtlich geahndetwurden, ist gemeinsam, dass sie unter-schiedslos für den Vollzug von Unter-suchungshaft oder Strafhaft geltenbzw. vorkommen können, auch wennsie sich tatsächlich nur auf die eineoder andere Haftart konkret beziehen.Die Ursachen für diese Übergriffe sindnatürlich vielschichtig. Ganz allge-mein könnte man sagen, dass es sich invielen Fällen um womöglich beider-seitiges menschliches Versagen han-

delt. Es ist aber auch denkbar, dass indie Konfliktsituationen gesetzlicheund institutionelle Vorbedingungenund Konstellationen mit hineinspielen,die besonders dann eskalieren, wennauf der Seite des Gefangenen, aber

auch auf der Seite des Bedienste-ten, ein gewisser Mutwille entwe-der bewusst oder auch nur gedan-kenlos vorhanden ist. Dies meinendie Bremer Wissenschaftler, wennsie in ihrer FelduntersuchungRaum bzw. Auftrag geben, „Situa-tionen/Konstellationen zu benen-nen, in denen das Risiko von Folteroder unmenschlicher oder erniedri-gender Behandlung ... besondersgroß ist”. (31)

Ihre Nachforschungen bzw.Ergebnisse haben die Wissen-schaftler auf vier ins Auge fallendeGrundtypen reduziert, die aller-dings auch nicht neu sind:

1. Konflikteskalation: „In dergefängnistheoretischen Literaturwird auf die strukturelle Unmög-lichkeit hingewiesen, sich in tota-len Institutionen einem Konfliktdurch Ausweichen zu entziehen.Deshalb besteht hier mehr alsanderswo die Gefahr einer Eskala-tion von Konflikten. Als klassi-

sches Misshandlungsszenario wird inder ausländischen Literatur vor allemdie Situation nach einer Festnahmeoder Gefangennahme genannt”. (31)

2. Kontrollreduktion: „In Gefäng-nissen ist die öffentliche Kontrollezumindest reduziert. Das erhöht dieGefahr von Machtmissbrauch.Zumeist besteht jedoch wenigstenseine interne Öffentlichkeit, die aus denMitgefangenen und internen Mitarbei-tern und Besuchern besteht. Zu einerexternen Reduzierung von Kontrollekommt es dann, wenn diese institu-tionsinterne Öffentlichkeit fehlt oderausgeschaltet wird”. (33)

Macht ohne Recht ist UnrechtAusgeschaltet wird diese institu-

tionsinterne Öffentlichkeit bei Alarm,wenn zum Beispiel ein Gefangener„beruhigt” werden soll oder wenn einSelbstmord diskretbürokratisch ver-

... und Innenseite 19. Jahrhundert

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7ULMER ECHO 2008 Wodurch wird U-Haft zur Folter?

sorgt werden muss. Dann wird allesunter Verschluss genommen, ohneweitere Erklärung, bis diese Situationin Griff genommen und für erledigterklärt worden ist.

Eine geradezu klassische Situationeingeschränkter, wenn nicht vollkom-men ausgeschlossener öffentlicherKontrolle liegt in der Notwendigkeit,besonders Untersuchungsgefangene zuverschuben, d.h. sie von einer JVA zuranderen oder an die Gerichtsplätze inder Minizelle von Gefängnisbussen zutransportieren .

3. Beschwerdemachtlosigkeit:„Die Beschwerdemacht von Insassentotaler Institutionen und damit dieFähigkeit, sich gegen rechtswidrigeZustände zur Wehr zu setzen, ist inaller Regel stark reduziert. Dies beruhtletztlich auf dem in die Institution ein-gebauten Statusunterschied zwischendem mit der Bewachung beauftragtenVollzugsstab einerseits und den Gefan-genen andererseits (...).

Diese generell höchst problemati-sche Rechtsschutzsituation betrifftjedoch einzelne Gruppen von Gefan-genen stärker als andere und setzt siedaher einem höheren Risiko von Folterund anderer unmenschlicher und ernie-drigender Behandlung aus. Dieseserhöhte Risiko kann entweder daraufberuhen, dass Gefangene außerstandesind, ihre Beschwerden effektiv zu for-mulieren und/oder darauf, dass ihrenBeschwerden von vornherein geringe-res Gewicht beigemessen wird”.(36)Der Bericht hebt mit Recht dabeibesonders die Situation von ausländi-schen Gefangenen hervor, u.a. asylsu-chenden Abschiebehäftlingen, die derdeutschen Sprache nur wenig oder garnicht mächtig sind. Kaum anders dürf-te diese Situation auch für psychischbehinderte Gefangene sein.

4. Überbelegung: „Das Risikomenschenunwürdiger Unterbringungaber auch von Friktionen mit Personalund Mitgefangenen steigt typischer-weise an, wenn Anstalten stark überbe-legt sind”. (39)

Dass es sich hierbei besonders beiAnstalten mit überwiegender Bele-gung mit Untersuchungsgefangenen

schon nicht mehr um ein hypotheti-sches Risiko, sondern um jederzeitfeststellbare Tatsachen handelt, ergibtsich ohne weiteres aus dem Ist-Standder zur Verfügung stehenden Haftzel-len und dem der Gefangenen selbstsowie der Anzahl von Freizeiträumen,Duschen etc..

Zusammenfassend muss man fest-stellen, dass beide Berichte schon ander Oberfläche steckengeblieben sindund dass sich mehrmonatige, ja sogarmehrjährige Untersuchungsgefangenedarin nicht wiederfinden können undsich in ihrer Situation missverstandenfühlen müssen.

Wer versteht etwas vonUntersuchungshaft?

Die Wirklichkeit schon der Unter-suchungshaft ist eine ganz andere.Diese lässt sich nicht erschließen,wenn eine hochoffizielle internationaleUntersuchungsdelegation mit entspre-chender „diplomatischer” Vorankündi-gung für ein paar Stunden in einer ent-sprechend vorgewarnten und vorberei-teten Haftanstalt Stippvisite macht. Eininternationaler Ausschuß zur Verhü-tung von Folter und unmenschlicheroder erniedrigender Behandlung oderStrafe kann nicht erwarten, in einemLand mit ständig 60 - 70.000 Gefange-

nen während mehrstündiger Aufent-halte in ein paar Haftanstalten, geradedann diejenigen herauszufinden odervorgeführt zu bekommen, die even-tuell Opfer von Folterungen oder

unmenschlicher oder erniedrigenderBehandlung geworden sind. Es istauch nicht möglich, die eventuell vor-handenen sichtbaren oder unsichtbareninstitutionellen und/oder strukturellenPotentiale und Ursachen in den Anstal-ten besuchs- oder gesprächsweise her-auszufinden, die den Gedanken oderauch die Tatsache von Folterungenoder unmenschlicher oder erniedrigen-der Behandlung zwingend nahelegen.Es erscheint auch fraglich, ob diese Artder Erkenntnis tatsächlich so gewolltist, wenn es in dem Übereinkommenzur Aufgabe des Ausschusses heißt:„Der Ausschuss prüft durch Besuchedie Behandlung von Personen, denendie Freiheit entzogen ist, um erforder-lichenfalls den Schutz dieser Personvor Folter und unmenschlicher odererniedrigender Behandlung oder Strafezu verstärken”.Staat I: Ein Ordnungsverbandeines abgegrenzten Gebietes, derdurch gemeinsames Gesetz gere-gelt wird. (H. Hartwich)

Nachträgliche Kontrollenbeseitigen nicht alles Unrecht

Das heißt mit anderen Worten, derAusschuss konzentriert seine Überwa-chungsaufgabe von Anfang an nur auf

eine Nachkontrolle von mög-lichem Unrecht, das schoneingetreten ist. Er hat dannauch kaum eine brauchbareChance, auf die Situationeines Gequälten besserndenEinfluss zu nehmen, dem dieTorturen aufgrund desGewohnheitsniveaus desAnstaltspersonals nochbevorstehen. Aber schließlichmuss auch gefragt werden,welchen Schutz solcher Per-sonen der Ausschuss noch„verstärken” kann, die sichder Folter und unmensch-licher oder erniedrigender

Behandlung oder Strafe durch die letz-te Flucht entzogen haben, nämlichdurch Selbstmord?

Den Bericht des CPT-Ausschussesdurchzieht ein Geist, der von der

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8 ULMER ECHO 2008Wodurch wird U-Haft zur Folter?

Erwartung enttäuscht ist, gegen mittel-alterliche Torturen zu Felde ziehen zudürfen, und der zu diesem Themanichts rechtes finden kann, und derdeswegen umsoweniger Hartnäckig-keit an die entscheidende Frage ver-schwendet, ob die wenigen festgestell-ten körperlichen Misshandlungen nurUrsache menschlichen Versagens oderauch Folge rechtsstaatlicher Gesetzesind bzw. sein können.

Auch die Bremer Wissenschaftlerscheitern in ihrer Nachuntersuchungan diesem Tabu des Rechtsstaates, dasssie als solches gar nicht erkannt haben,und das sie blind macht vor einer Rea-lität, die sich ihrer schriftlichen Befra-gungsaktion naturgemäß entzieht. Die-ses Tabu des Rechtsstaates ist der Vor-rang seiner nationalen Gesetze vor ste-hengebliebenen moralischen Über-ordnungsversuchen internationalerVerträge und Übereinkommen.Einen solchen Fall kann man inArtikel 1 des o.a. Übereinkommensgegen Folter etc. von 1984 genaunachvollziehen. Denn dort ist imersten Absatz der Ausdruck „Fol-ter” hinreichend als vorsätzlicheZufügung großer seelischer oderkörperlicher Schmerzen oder Lei-den definiert. Dieser Absatz endetaber auch so: „Der Ausdruckumfasst nicht Schmerzen oder Lei-den, die sich lediglich aus gesetz-lich zulässigen Sanktionen erge-ben, dazu gehören oder damit ver-bunden sind” („Übereinkommen...” a.a.o. Art. 1, Absatz 1, Satz 2)

Sind Schmerzen oder Leidendurch Untersuchungshaft einegesetzlich zulässige Sanktion?

Diese Klausel kann in zweierleiRichtungen interpretiert und angewen-det werden. In der einen würde siebedeuten, dass Sanktionen (= Strafen)als Schmerzen und Leiden dannerlaubt sind, wenn sie aufgrund eineseinwandfreien rechtsstaatlichen Geset-zes möglich sind und dann auch ange-ordnet werden. Um die damit verbun-denen Sachverhalte (Personen, dieLeiden und Schmerzen „von amts-wegen” erdulden müssen), braucht

sich eine internationale Kommissiongegen Folter nicht zu kümmern.

Die andere Richtung könnte sein,dass gerade die Schmerzen und Lei-den, die sich aus gesetzlich zulässigenSanktionen ergeben, dazugehören oderdamit verbunden sind, einer strengenUntersuchung unterworfen werden,weil entweder in ihrer häufigenAnwendung oder in ihrer Übertrei-bung, grundsätzlich aber in ihren Aus-wirkungen Ergebnisse und Situationenentstehen, die vom Gesetzgeber ent-weder übersehen und damit auch nichtgewollt wurden oder sogar von diesemhätten gar nicht beschlossen werdendürfen.

Hier liegt der Unterschied zwischeneinem totalen Rechtsstaat, der mög-lichst alle Lebensbereiche gesetzlich

zu regeln versucht und einem totalitä-ren Staat, der alle Lebensbereicheumfassend steuert und den Gehorsam(die Unterwerfung) darunter nicht nurmit dem Gesetz, sondern auch mit denMitteln des Terrors erzwingt.

Das ULMER ECHO weiß vonGefangenen (und wird darüber nochberichten), die von anderen Haftanstal-ten glaubhaft berichten, wie dort schonHausordnungen, die weit unter Geset-zesniveau rangieren, Terror erzeugenund auch als Mittel der Unterwerfungverwendet werden.

Wer unschuldig ist,muss leiden

Wir werden daher die Frage zu klä-ren haben, warum und wieweit Geset-ze und der Gesetzgeber gehen dürfen,wenn es richtig sein soll, dass imRechtsstaat zulässig ist, Gefangenenvon Amts wegen Schmerzen und Lei-den zuzufügen. Ganz besonders inter-essant dürfte diese Frage für Untersu-chungsgefangene sein, die noch unterdem Schutz der Unschuldsvermutungstehen, solange sie nicht rechtskräftigverurteilt sind. Welchen Sinn und wel-chen Wert haben Menschenrechte,Menschenwürde u.a. wichtige Verfas-sungsgrundrechte, und was bedeutetvor diesem Hintergrund das „Monopolder physischen Gewaltsamkeit” desStaates, das durch das Monopol derUnabhängigkeit der Gerichte entwedergemäßigt oder verschärft wird?Staat II : Eine aus Personen, z.B.Abgeordneten und Beamten undSachen bestehende Institution,die dem Gemeinwesen Gesetzegibt, für die Ausführung dieserGesetze sorgt, Gefahren abwehrt,Rechtsbrecher verfolgt undbestraft. (H. Hartwich)

Wodurch wird Untersu-chungshaft Zur Folter?

Das Strafrecht hinkt der Entwick-lung hinterher, und es bietet keinenangemessenen Schutz gegen Folter. Imwesentlichen bestand das Ergebnisunserer Untersuchung bisher in mehre-ren Erkenntnissen und Feststellungenderen wichtigste folgende sind: Dermittelalterliche Folterbegriff hat mitden modernen Foltermethoden nichtSchritt gehalten. Erstens ist der gesetz-liche Tatbestand der Folter unzeitge-mäß und deswegen änderungs- bzw.ergänzungsbedürftig. Dies gilt sowohlfür die zu enge Begriffsbestimmungals auch für die übergewichtige Beto-nung der Ziel- und Zweckbestimmungund schließlich der Mittel und Metho-den der Folter.

Als Folter wird bezeichnet „dievorsätzliche Zufügung großer körper-licher oder seelischer Schmerzen oder

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9ULMER ECHO 2008 Wodurch wird U-Haft zur Folter?

Leiden” gemäß Europäischem Über-einkommen zur Verhütung von Folterund unmenschlicher oder erniedrigen-der Behandlung oder Strafe. Diese imSchrifttum relativ kritiklos verwendeteBegriffsbestimmung orientiert sichviel zu eng an dem fast schon banalenMechanismus Handlung/Zufügungvon körperlichen und seelischenSchmerzen und Leiden.Unter Umständen ist Strafrechtnicht das Ende, sondern der Auf-takt der Gewalt. Und so wird dasGefängnis zur Hammerschmiede,in der die alte Welt in neue Gren-zen und neue Gemeinschaftenzerschlagen wird. (R.Olson)

Praktisch ausgeschlossen wird da-durch die Notwendigkeit, Folter vorallem als den Körper und Geist verän-dernden Eingriff zu begreifen bzw. zuverbieten. Wer gefoltert wird, isthinterher, im Überlebensfalle, ein ganzanderer Mensch; Körper und vor allemder Geist haben sich verändert. DieFolter zielt somit nicht nur auf unfrei-willige Aussagen und Geständnisse,auf Einschüchterung oder Diskriminie-rung, sondern auch auf Persönlich-keitsveränderung. Es ist nur eine aka-demische Frage, wieviel Würde derMensch unter der Folter verliert; wich-tiger erscheint der damit verbundenegeistig-seelische Vernichtungsprozess,der ab einem bestimmten Punkt unum-kehrbar ist. Auch die Mittel undMethoden der Folter haben sich geän-dert und müssten stärker schon in derBegriffsbestimmung der Folter berük-ksichtigt werden. Es stehen nicht mehrdie mittelalterlichen körperlichen Quä-lereien mit dafür eigens angefertigtenInstrumenten im Vordergrund, son-dern das nicht weniger erfolgverspre-chende und wirksame, und geradezugrenzenlose Spektrum geistiger, bzw.bürokratisch institutioneller Attacken,mit denen man scheinbar spurenlosund klammheimlich die allergrößtengeistig-seelischen Leiden und Qualenverursacht. Auch diese erfüllen denobjektiven Tatbestand der Folter heuti-ger Prägung. Darauf wird noch aus-führlicher einzugehen sein.

Wer foltert, wird nicht wegenFolter bestraft

Zweitens hat sich Deutschland inmehreren internationalen Abkommen(Konventionen) zum Rechtsgrundsatzverpflichtet, dass hierzulande nichtgefoltert werden darf.

Das Folterverbot ist im Grunde nurtheoretisch unmittelbar geltendesRecht, tatsächlich ist es nämlich ohnebesonders schützende und eigenständi-ge Rechtsfolgen ausgestattet, weil eskein selbständiger Straftatbestand inunserem Strafgesetz ist. Das heißt, werfoltert, der kann nicht wegen Folterbestraft werden, sondern allenfalls undhilfsweise z.B. wegen Freiheitsberau-bung, Beleidigung, Nötigung, Körper-verletzung (ev. mit Todesfolge) etc.sozusagen in Tateinheit. Im übrigensteht dem Gefolterten nur ein „wirksa-mes” Beschwerderecht z.B. nach Arti-kel 13 Menschenrechtskonvention(MRK) zu, dass als banale Feststel-lungsklage im ordentlichen Rechtswegendet ohne direkte Strafsanktionengegen den Folterer!

Folter ist kein Zufall, sondern Absicht

Drittens muss, um den Tatbestandder Folter als Zufügung grausamerkörperlicher und seelischer Schmerzenund Leiden zu erfüllen, diese Foltertatvorsätzlich, also wissentlich undgewollt geschehen.

Foltert nur der Staat?Viertens kann Foltertäter wesensbe-

dingt nur der Staat selbst sein und zwarin Person eines Angehörigen vorwie-gend aus den Bereichen Polizei, Justiz,Geheimdienst und/oder Militär. DasFolter also ein Obrigkeitsdelikt bzw.ein Staatsverbrechen ist, erklärt sichaus der Geschichte. Religiöse, territo-riale sowie gerichtliche Macht- bzw.Gewalthaber erfolterten Geständnisseoder bestimmte Handlungen oder siebestraften durch Folter. Dies zeigt,dass der Folterbegriff heute noch zueng ausgelegt wird, aus der Vergan-genheit kommt und den heutigen Ver-hältnissen nicht gerecht wird. EinzelneVerbrecher und Bandenverbrecher

können sehr wohl foltern, um bei-spielsweise Geständnisse oder Löse-geld zu erpressen, aber sie könnenwegen des fehlenden Folterstraftatbe-standes nicht, allenfalls wegen Erpres-sung, Freiheitsberaubung und Körper-verletzung etc. bestraft werden.

Staatliches Monopol derphysischen Gewaltsamkeit

Fünftens umfasst das Folterverbotnicht Schmerzen oder Leiden, die sichlediglich aus gesetzlich zulässigenSanktionen ergeben, dazu gehörenoder damit verbunden sind. Im allge-meinen Sprachgebrauch sind gesetzli-che Sanktionen nichts anderes alszulässige Sicherungs- und Zwangs-maßnahmen. Die muss man u.U. dul-den, aber man soll sie nicht erleiden,d.h. der davon Betroffene muss dieeigenartige Fähigkeit besitzen, die

damit verbundenen seelischen undkörperlichen Leiden und Schmerzenohne das Recht auf Widerspruch odergar Widerstand heroisch zu ertragen.

Was hier schon durchschimmert, istdas sogenannte Monopol der physi-schen Gewaltsamkeit des Staates alsodas alleinige Recht des Staates, bei derAnwendung oder Durchsetzung vonGesetzen äußerstenfalls auch nackteGewalt anzuwenden.

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Es kommt also zunächst einmalnicht auf die Gefühle und dasSchmerzempfinden des Folterop-fers an, sondern nur darauf, obder Foltertäter die Absicht hat zufoltern und im übrigen weiß, dasser mit seinen Handlungen jeman-den foltert. „Ich habe nichtgewusst und gewollt, was ichtat”! Wer kennt nicht diese Stan-dardentschuldigung für vieleStraftaten? Wir werden spätersehen, wem sie beim Folternmehr nützt, dem Täter oder sei-nem Opfer. Die Unschuldigenund die Schönen haben keinenFeind außer der Zeit! (R. Olson)

Gegen Folter, unmenschlicheoder erniedrigende Behand-lung bzw. Strafe ist dieBeschwerde zulässig

Sechstens sind dem Folterverbotdas Verbot unmenschlicher oder ernie-drigender Behandlung oder Strafegleichgestellt. Auch für diese wichti-gen Vorschriften gelten die unter denPunkten 1-4 genannten Besonderhei-ten und Einschränkungen vor allem imBezug auf die Rechtsfolgen bzw. ihrenRechtsschutz. Wie beim Folterverbothandelt es sich auch beim Verbotunmenschlicher oder erniedrigenderBehandlung oder Strafe nicht umeigenständige Straftatbestände, son-dern nur um Rechtsgarantien. Ihre Ver-letzung kann nur hilfsweise z.B. überKörperverletzung im Amt(„Unmenschlich ist eine Behandlung,die absichtlich schwere geistige oderkörperliche Leiden verursacht.” Klein-knecht/Meyer-Gossner S.1824) oderz.B. über Nötigung im Amt („Eineerniedrigende Behandlung liegt vor,wenn sie den Betroffenen vor anderenin hohem Maß demütigt oder ihn dazubringt, gegen Willen und Gewissen zuhandeln..”, S.1824) verfolgt undbestraft werden. Im übrigen findet sichdiese Rechtsgarantie im Grundgesetz,das für den Fall der Freiheitsentzie-hung verlangt: „Festgehaltene Perso-nen dürfen weder seelisch noch kör-perlich misshandelt werden” (Art. 104,

Absatz 1, Satz 2). Allerdings stehtauch dieses grundgesetzliche Verbotunter dem Vorbehalt näherer gesetz-licher Regelungen, d.h. zugunsten derRechtsgarantien beim der Freiheitsent-zug könnte nur aufgrund eines Geset-zes eingegriffen werden. Ein solchesGesetz müsste sich eindeutig vor seeli-sche oder körperliche Misshandlungstellen, indem es diese als Straftatbe-stände genau beistimmt, und die damitverbundenen Strafsanktionen festlegt.Ein solches Gesetz gibt es aber (noch)nicht. Und der §119 StPO, der denVollzug der U-Haft regelt, kann nichtim mindesten als Ersatz für das immernoch fehlende U-Haftvollzugsgesetzangesehen werden.Ich hatte viele schlaflose Nächte.Was würden die Behörden mei-ner Frau antun? Wie würde siedamit fertigwerden? Es ist eineArt seelischer Folter, wenn mansich ständig mit solchen Fragenherumschlagen muss, ohne dassman die Möglichkeit hat, sie zubeantworten. (Nelson Mandela)

Die Definitionsmacht derJustiz ist im Falle der Folterlebensgefährlich

Zusammengefasst hat es den An-schein, als wenn in Deutschland schonallein aus Gründen des gleich in meh-reren Abkommen unterzeichneten Fol-

terverbotes, aber auch aus Gründengesetzestreuer und moralisch einwand-freier Amtsausübung Folter, sowieunmenschliche oder erniedrigendeBehandlung kaum denkbar, letztenEndes nicht ohne Entdeckung undstrafrechtliche Verfolgung machbarwären. Tatsächlich wird aber sowohl inder Rechtslehre als auch in der Rechts-politik mit dem Problem Folter undunmenschlicher oder erniedrigenderBehandlung unzulänglich und unseriösumgegangen, etwa nach dem Grund-satz von Ringelnatz, dass nicht seinkann, was nicht sein darf. Der Mangel,dass die Folter kein eigenständigerStraftatbestand ist wie z.B. Mord oderTotschlag, wird kein Stück dadurchbehoben, dass das Strafrecht eineReihe von Hilfskonstruktionen anbie-tet wie z.B. den §136a StPO, der inAbsatz 1 Satz 1 bestimmte Verneh-mungsmethoden verbietet: „Die Frei-heit der Willensentschließung und derWillensbestätigung des Beschuldigtendarf nicht beeinträchtigt werden durchMisshandlung, durch Ermüdung,durch körperlichen Eingriff, durchVerabreichung von Mitteln, durchQuälerei, durch Täuschung oder Hyp-nose”. Geschähe mindestens eine die-ser verbotenen Vernehmungsmaßnah-

men doch, wäre die eine Rechtsfolge,dass die mit diesen verbotenen Maß-nahmen oder Methoden gewonnenenErkenntnisse oder Aussagen nicht

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gegen den Beschuldigten verwendetwerden dürfen (§136a Abs. III Satz 2).Die andere Rechtsfolge wäre, dass diesich verbotener Vernehmungsmetho-den bedienenden Personen z.B. sichwegen Nötigung, Misshandlungund/oder Körperverletzung im Amtstrafrechtlich verantworten müssten.Wie die unlängst bekanntgewordenenuner-laubten polizeilichen Verneh-mungsmethoden bei einem der vierBeschuldigten im Solinger Brandfallzeigen, bleibt jedoch die Anerkennungdieser strafrechtlichen Hilfskonstruk-tionen schon im Vorfeld von Folter undunmenschlicher oder erniedrigenderBehandlung im Dickicht der Justizstecken, sofern es nicht, wie gesche-hen, von der Verteidigung anhängiggemacht wird. Die rechtspolitisch voll-kommen unverständliche Nichtaner-kennung von Folter und unmensch-licher oder erniedrigender Behandlungals drei eigenständige und unabhängi-ge Straftatbestände fördert einerseitsden Justizirrtum zugunsten von Straf-tätern im Amt und offenbart anderer-seits eine u.U. lebensgefährliche Defi-nitionsmacht der Justiz zu Lasten vonbloßen Verdächtigten, die durch dasgesetzlich relativ ungeschützte Unter-suchungsverfahren und Haftvollzug allzu leicht zu Opfern werden können.

Widerstand gegen die Staatsgewalt steigert die Staatsgewalt

Dies gilt grundsätzlich für alle mitgesetzlich zulässigem Zwang ausge-stattete Rechtsvorschriften, soweit sienicht gleich geordnete (privat-) rechtli-che Verhältnisse regeln, sondernungleich geordnete (straf-) rechtlicheUnterwerfung verlangen. Die für letz-teres klassischen Beispiele sind u.a.der Polizeieinsatz gegenüber akutenStraftätern, ihre Verfolgung, Festnah-me und Vorführung beim Untersu-chungsgericht, die Durchführung vonHaftbefehlen und Hausdurchsuchun-gen, schließlich der Vollzug vonUntersuchungshaft selbst.

Gerade im Zusammenwirken vonHaftrichtern und Untersuchungshaft-anstalten können die persönlichen und

freiheitlichen Rechte des Verdächtigenauch deshalb so verlustreich enden,weil es hierzu immer noch keine eige-ne gesetzliche Grundlage, d.h. nur eineUntersuchungshaftvollzugsordnunggibt. Im übrigen gilt: Jedekörperliche Auflehnung,jeder handgreifliche Wider-stand gegen die Polizei- undJustizbehörden bzw. gegenderen Maßnahmen könnenamtlicherseits mit Gewaltunterdrückt oder gebrochenwerden. Dies ist der wesent-liche Kerngedanke dessen,was in der Rechtsstaatstheo-rie als Monopol der physi-schen Gewaltsamkeit desStaates bezeichnet wird.Der Wert der Demokra-tie steht und fällt mit denWerten, die sie verkörpert undfördert: Grundlegend und unum-gänglich sind sicherlich dieWürde jeder menschlichen Per-son, die Achtung ihrer unerläßli-chen und unveräußerlichenRechte sowie die Übernahme desGemeinwohls als Ziel und regel-rechtes Kriterium für das poli-tische Leben. (Johannes Paul II.)

Grundrechte schützen nichtvor staatlichem Mißbrauch

Das Alleinrecht der Gewaltanwen-dung (bürgerliche Notwehr wäre nochdie hier nennenswerte Ausnahme)staatlicher Stellen bzw. Amtspersonengegenüber Straftatverdächtigen kannnur dann nicht in Akte brutaler Gewaltund körperlicher sowie seelischer Ver-letzungen ausarten, wenn sich Exeku-tive und Judikative jederzeit strikt andie auch für sie geltenden übergeord-neten Verfassungsgrundsätze halten. InFällen staatlicher Gewaltanwendung,zu der auch der Freiheitsentzug durchHaft gehört, lauten die wichtigstenVerfassungsgebote Einhaltung der Ver-hältnismäßigkeit der angewandtenMittel und Maßnahmen und Beach-tung der Menschenwürde. Der Grund-satz der Verhältnismäßigkeit verlangt,„dass eine Maßnahme unter Wür-

digung aller persönlichen und tatsäch-lichen Umstände des Einzelfalles zurErreichung des angestrebten Zwecksgeeignet und erforderlich ist, was nichtder Fall ist, wenn ein milderes Mittel

ausreicht, und das der mit ihr verbun-dene Eingriff nicht außer Verhältniszur Bedeutung der Sache und zur Stär-ke des bestehenden Tatverdachts steht”(Kleinknecht/Meyer-Gossner, Straf-prozessordnung 1993, S.5). Um schonan dieser Stelle einem weit verbreite-ten Irrtum entgegenzuwirken: Esgenügt nicht, die Einhaltung der Ver-hältnismäßigkeit von Polizei undJustiz etwa deshalb zu erwarten, weildie Verfassung behördliches Übermaßverbietet. Dieser eventuell verletzteRechtsanspruch muss erst gegen dieBehörden erstritten werden, womög-lich durch alle Instanzen. Am Endestellt sich für beide streitenden Par-teien die einzig gültige und sieghafteWahrheit heraus: Geltendes Recht istnichts anderes als das, was die letztenGerichtsinstanzen für Recht erklären!

Wer also von der Verletzung derMenschenwürde spricht oder ihre Ein-haltung einklagt, der muss wissen, wassie bedeutet! Würde ist ein absoluterBegriff, d.h. er ist von den Gesetzenlosgelöst und bezieht sich auf dieNatur des Menschen. Diese Natur desMenschen wird bestimmt „sowohl vonder christlichen Lehre vom Menschenals dem Ebenbild Gottes, wie in dervor allem seit Kant geläufigen Ideevon der sittlichen Autonomie des Men-

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schen” (Hesselberger, Das Grundge-setz, Kommentar S. 59). Die sittlicheoder moralische Autonomie des Men-schen beinhaltet seine Fähigkeit, Gutesum seiner selbst Willen anzustreben,nicht nur, weil es einem selbst nützt.Darin liegt auch, niemanden von seinersittlichen Bestimmung abzubringen.Wer sich an diese Menschenwürdehält, hat auch die Verpflichtung, sichselbst und auch den Mitmenschennicht zu schaden und ihnen gemäßeigener Möglichkeiten Hilfe zu leisten.Die Menschenwürde bezeichnet alsoeinen Wert, dem der Mensch unbe-dingt verpflichtet ist. Dieser Wert, d.h.die Würde kann nicht gegen etwasanderes ausgetauscht oder aufgewogenwerden. Kurz gesagt, die Menschen-würde beruht nur auf der Fähigkeit desMenschen zur Sittlichkeit (Moral),nicht auf deren Realisierung.

Was immer auch die Würde desMenschen ist, sie ist unantastbar,... solange sich jeder daran hält

Der Straftäter handelt gegen seineWürde, setzt diese durch seine Tat aufsSpiel, verliert sie aber nicht, weil ihmdie Möglichkeit zur Umkehr bleibt.Die Verfassungsauslegung der Men-schenwürde durch das Bundesverfas-sungsgericht hat bisher keinen Zweifeldaran zugelassen, dass der einzelneMensch und seine Würde im Mittel-punkt aller grundgesetzlichen Rege-lungen stehen. Ebenso hat das BVGklargemacht, dass die Würde des Men-schen als oberster Grundwert dasBekenntnis zu unverletzlichen undunveräußerlichen Menschenrechtenenthält. In der Auslegung dieser ober-sten Schutzvorschrift tut sich aller-dings auch das Verfassungsgerichtrecht schwer. Es kann nicht auf eineeindeutige Festlegung der Menschen-würde zurückgreifen, weil es diesenicht gibt und, weil nicht ausgeschlos-sen werden kann, dass selbst ein fest-gemachter Begriff von der Würde desMenschen nicht auch einen gewissenWandel von Anschauung und Zeitunterworfen ist (sein muss). Die Men-schenwürde ist, wie einige andereGrund- und Schutzrechte unserer Ver-

fassung auch, lediglich in ihrer bloßenAufrechterhaltung und Anwendungnach Art.79 Abs.3 jeder Verfassungs-änderung entzogen. In seinen relativfrühen Entscheidungen hat das

Bundesverfassungsgericht hervorge-hoben, dass das Grundgesetz einewertgebundene Ordnung aufgerichtethat, die den einzelnen Menschen undseine Würde in den Mittelpunkt allerseiner Regelungen stellt. „Dem liegt,... die Vorstellung zugrunde, dass derMensch in der Schöpfungsordnungeinen eigenen selbständigen Wertbesitzt”. Im übrigen handele es sichum eine Menschenwürde aus der sich„die unbedingte Achtung vor demLeben jedes einzelnen Menschen”zwangsläufig ergebe (BVerfGE 39,67). Soviel zum zentralen geistesge-schichtlichen und verfassungsrecht-lichen Begriff der Menschenwürde.

Das Recht staatlicher Gewalt istdurch das allgemeine Verbot der Folterund unmenschlicher oder erniedrigen-der Behandlung oder Strafe kaum zukontrollieren. FreiheitsentziehendeMaßnahmen infolge des Alleinrechtesder Gewaltanwendung staatlicher Stel-len bzw. Amtspersonen gegenüberstraftatverdächtigen Bürgern - undneuerdings auch gegenüber nicht straf-tatverdächtigten, sondern nur flucht-verdächtigten asylsuchenden Abschie-behäftlingen - können ohne weitereshierzulande in Akte brutaler Gewalt

und körperlicher sowie seelischer Ver-letzungen ausarten. Dies geschieht nurdann nicht, wenn sich Exekutive undJudikative (beide Institutionen werdennicht ohne Hintersinn im allgemeinen

Sprachgebrauch als vollziehende undrechtssprechende Gewalt bezeichnet)strikt an die verfassungsmäßigen Ver-bote der Verletzung der Menschenwür-de, der Verhältnismäßigkeit und derweder seelischen noch körperlichenMisshandlung festgehaltener Personenhalten. Es ist theoretisch überzeugendund beruhigend, wenn beispielsweiseder BGH-Richter Hesselberger in sei-nem Kommentar zum Grundgesetzmeint: „Die Würde des Menschen unddas Grundrecht auf freie Entfaltungder Persönlichkeit (Art.2 Abs. 1)sichern dem einzelnen einen unantast-baren Bereich privater Lebensgestal-tung, welcher der Einwirkung deröffentlichen Gewalt entzogen ist. Dasverfassungskräftige Gebot der Ach-tung der Intimsphäre verbietet ja denEingriff in den absolut geschütztenKernbereich privater Lebensgestal-tung. Selbst überwiegende Interessender Allgemeinheit, etwa das Interessean einer effektiven Strafverfolgung,rechtfertigen nicht Maßnahmen, diediesen Kernbereich verletzen”.

Wer dies liest und zugleich selbsteine Untersuchungshaft erleidet, weiß,dass hier etwas nicht stimmen kann.Wir werden in unserer Untersuchung

Besuchsraum – ohne Raum für Intimität ...

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13ULMER ECHO 2008 Wodurch wird U-Haft zur Folter?

feststellen, ob solche richterlichenÜberzeugungen ausreichen und ob esausreicht, die Kontrolle solcher zentra-len Grundwerte dem Rechtsweg, d.h.dem Prozess durch alle Instanzenanzuvertrauen. Die Vorstellung vieler,mit dem Erlass und mit dem beschwö-renden Appell, ja selbst mit der prozes-sualen Inanspruchnahme von Rechts-normen (Gesetzen) lasse sich einbestimmter Schutz zweckgarantierterreichen, ist ein von der Justiz tagtäg-lich widerlegtes Dogma papiergläubi-ger Romantiker. Dies wird sich an eini-gen wenigen, aber doch symptomati-schen Beispielen aus dem Alltag desU-Haftvollzuges zeigen.

Folter durch U-Haft:kein Systemfehler!

An dieser Stelle scheint uns eineVorbemerkung angebracht zu sein:Über die Anwendung der StPO und derUVollzO bei U-Haft wird für gewöhn-lich aus der Sicht des Gerichts, derStaatsanwaltschaft oder der Verteidi-gung berichtet bzw. geschrieben.Erkennbar ist dann immer, dass diegröbere Trennlinie zwischen der Justizauf der einen und der Verteidigung aufder anderen Seite verläuft. Die ganzsorgfältige und seriöse öffentlicheBerichterstattung zeigt auch noch diemöglichen oder tatsächlichen Unter-schiede auf Seiten der Justiz, nämlichzwischen fordernder Staatsanwalt-schaft und letztendlich entscheiden-dem Gericht auf. Vor allem bei letzte-rer, sehr differenzierter Berichterstat-tung entsteht der Eindruck, als handlees sich um eine vollständige undobjektive Wiedergabe der Argumenteder Notwendigkeit und der Situationzur U-Haft, gleichgültig ob es sich umihre Anordnung, Durchführung oderdie Beschwerde dagegen handelt. Aberdieser Eindruck täuscht eine Vollstän-digkeit der Interessen- und Problemla-ge vor, die es aus zwei ganz einfachenGründen noch nicht geben kann.Erstens vermittelt selbst die differen-zierte Wiedergabe der Argumente vonStaatsanwaltschaft, Gericht und Vertei-digung nur die Spannweite des gesetz-lichen Rahmens zur U-Haft, der inner-

halb der herrschenden Kommentierungliegt und nicht darüber hinausgehen.Es bleibt also offen, ob es neben dieserimmanenten Betrachtungsweise etwaauch noch eine transzendente gibt, alsoeine, die über den gesetzlichen Rah-men hinausschaut und mindestensnoch legitim, d.h. gerechtfertigterscheint. Zweitens kommt der in derSache eigentliche und Hauptbetroffe-ne, nämlich der U-Häftling selbst, inkeiner Betrachtungsweise direkt vor.

Er kommt als Fall vor, er kommt alsVerdächtigter oder Beschuldigter vor,und er kommt als Angeklagter vor. Erkommt nicht vor als Mensch, der in derJVA lebt und dort u.U. leidet. Die U-Haft ist in dieser immanenten Betrach-tungsweise eine geradezu anonyme,nebensächliche Angelegenheit. Genaudiese ist unser Hauptthema, das wiraus der Sicht des Betroffenen und desBetroffenseins zu schildern und zuproblematisieren haben.

Soweit nachfolgend teilweise abs-trakt Gerichtsentscheidungen aufge-führt werden, stammen diese aus-schließlich aus dem Düsseldorfer

Gerichtsbezirk und sind über die denGefangenen vorliegenden Schrift-stücke belegt.

Warum will das Gesetz,dass U-Gefangene leiden?

Im Gesetz scheint Klarheit darüberzu bestehen, dass im Zusammenhangmit dem Vollzug der Untersuchungs-haft davon ausgegangen werden muss,dass diese „erlitten” wird. So steht esjedenfalls wörtlich in den Paragraphen

51 StGB („Anrechnung derU-Haft auf die Strafhaft”)und 450 StPO (ebenso).

Nur im kritischenSchrifttum findet sich gele-gentlich die warnende Mei-nung, dass sich hinter die-sem Erleiden neben der Pro-blematik vieler Grund-rechtseinschränkungen auchsoziale, psychische undpsychosomatische Schädenund Folgeschäden bei denGefangenen verbergen kön-nen.

Auf den äußerst grob-schrötigen Streueffekt dernegativen Auswirkungender U-Haft auch auf dieAngehörigen dieser Häftlin-ge und den Rückschlagwiederum auf die Häftlingeselbst, wird in der herr-schenden Kommentierungso gut wie nicht hingewie-sen. Dahinter muss nichtunbedingt böse Absicht

stecken, eher schon die dem gesundenRechtsempfinden unbegreifliche Refe-renz vor der Arroganz staatlicherMacht, es so und nicht anders einzu-richten.

Warum das Strafgesetz will, dassauch schon Untersuchungsgefangeneihre Haft erleiden, lässt sich auch nichtaus der Bereichsausnahme des Folter-verbotes, noch aus dem hergebrachtenGrundsatz über das staatliche Monopolzur physischen Gewaltsamkeit begrün-den bzw. herleiten.

Manchmal hilft ein Blick in dasGrundgesetz weiter. Die darin veran-kerten Grundrechte stehen für nichts

... und Wohnen im „Wohnklo”

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und niemanden zur Disposition, siekönnen weder durch den Staat nochdurch ein Gesetz in ihrem Wesensge-halt angetastet bzw. verletzt werden.Sie sind nicht nur Abwehrrechte desBürgers gegen den Rechtsstaat(!), sieverpflichten den Staat auch dazu, vol-len Schutz für den Wesensgehaltbestimmter Grundrechte jederzeit zugewährleisten. Von daher gesehenerscheint es eigentlich völlig ausge-schlossen, dass die durch ein genaubestimmtes Gesetz einschränkbarepersönliche Freiheit des Einzelnen

auch dazu führt, dass diese Maßnahmezusätzlich mit Schmerzen oder Leidenverbunden werden darf. Ist es so, dannwäre das die Freiheit einschränkendeGesetz nicht hinreichend zweckbe-stimmt und dadurch grundgesetzwid-rig oder der mit Schmerzen oder Lei-den verbundene Freiheitsentzug würdein gesetzlich unzulässiger Weise einenUntersuchungsgefangenen schon ineinem Stadium bestrafen, in dem ernoch gar nicht zur eventuellen Strafeverurteilt ist. Im übrigen ist das deut-sche Strafrecht bedeutend älter als dieÜbereinkunft gegen Folter von 1984,in der das staatliche Monopol zur phy-sischen Gewaltsamkeit aus Gründensprachlicher Vereinfachung und unter-schiedlicher Rechtstraditionen der Sig-natarstaaten von dem im Grundsatzgewollten Folterverbot mit der Formu-lierung ausgenommen wurde: „Folter

umfasst nicht Schmerzen oder Lei-den, die sich lediglich aus gesetzlichzulässigen Sanktionen ergeben,dazugehören oder damit verbundensind.”

Nähere Hinweise, wodurch oderwarum die U-Haft erlitten wird,fehlen in diesen Gesetzen wie inihrer Kommentierung weitge-hend.

Die Frage, warum im Gesetz vonU-Haft gesprochen wird, die erlittenwerden muss, lässt sich also weder

rechtshistorisch noch rechtssystema-tisch genau beantworten. Sie bleibtoffen, solange man sich nicht mit demVollzug der U-Haft selbst befasst. Dortscheint es an vorgeblich unvermeid-lichen institutionellen Zwängen, derArchitektur, den Sicherungseinrichtun-gen, der Hausordnung, also angeblichprägend feststehenden Tatsachen zuliegen (was die Juristen gerne als „nor-mative Kraft des Faktischen” bezeich-nen), dass Leiden entstehen undSchmerzen erduldet werden müssen.

Dies ist eine typisch bürokratischeund im übrigen die Tatsachen ver-schleiernde Betrachtungsweise, dieaußer acht lässt, dass sie nicht für sichallein gelten kann, weil und solangedas Räderwerk von Menschen bedientwird. Haben die etwa den Auftrag, U-Häftlinge zu Sonderopfern für die All-gemeinheit zu machen?

Warum ist U-Haft ein Sonder-opfer für die Allgemeinheit?

Wer objektiv zutreffend feststellt,dass U-Haft Freiheitsberaubunggegen-über einem Unschuldigen ist,der muss sich die höchstrichterlicheFestlegung entgegenhalten lassen, dassmit der U-Haft vom Verdächtigten ein„Sonderopfer für die Allgemeinheit”verlangt werden darf(Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO,41. Aufl. S. 436; im folgenden wirddieser Hauptkommentar nur mit Sei-tenzahlen zitiert).

Dies ist eine seltsame, nämlichstaatshörige statt bürgerfreundliche Artder Rechtsauffassung. Sie erzeugt dieGefahr, dass wichtige Bürgerrechtedem Gemeinwohl, das die JuristenRechtsfrieden nennen, geopfert wer-den. Ob dies Opfer immer so seinmuss, hängt nicht zuerst von der Frageab, ob das Gesetz dies zwingend erfor-derlich macht, sondern von der primäran Menschen und seinen Grundrechtenorientierten Geisteshaltung des Haft-richters, die strafprozessuale Verfah-renssicherung auch ohne das übelsteMittel einer U-Haft zu bewerkstelli-gen.

Natürlich sind Gründe vorstellbar,die eine U-Haft rechtfertigen, wie z.B.bei dem schon vorbestraften, erneutdringend Tatverdächtigen, von demeine in seiner Tat liegende Wiederho-lungsgefahr ausgeht. Das Gleiche hätteauch zu gelten für den dringend tatver-dächtigten Triebtäter, von dem eineWiederholungsgefahr ausgeht, diedurch U-Haft vermieden werden müs-ste, ebenso der „in flagranti” bei einerschweren Straftat Gestellte, sowie dieauf der Flucht gestellten oder mitflucht- und/oder verdunklungsbeschäf-tigten dringend Tatverdächtigten undschließlich für einer dringend straftat-verdächtigten Wohnungslosen. Es isteinsichtig, dass in diesen vorgenanntenFällen das Sonderopfer der U-Haftohne weiteres gerechtfertigt erscheint.

In den vielen anderen Fällen ist dieRechtfertigung ihrer U-Haft mit demGedanken des Sonderopfers ein demdemokratischen Rechtsstaat wesens-fremder Ausdruck über das Verhältnis

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zwischen Bürger und Staat. Nur dertotalitäre Obrigkeitsstaat, die antide-mokratische Diktatur von rechts oderlinks unterwirft den Bürger beliebigaustauschbaren Opferanforderungen,weil er grundsätzlich nicht den Vor-rang von Individualrechten anerkennt,wo sie dem Staat im Wege stehen.

Dass dies nicht soweit hervorgeholtist, belegt die Untersuchung von Frie-der Dünkel über Daten und Fakten zurPraxis der Untersuchungshaft in den90er Jahren (in: „Neue Kriminalpoli-tik” Heft 4/1994, Greifswald). Darinheißt es u.a.: „In Zeiten ökonomischerRezession und zunehmender sozialerSpannungen, wie sie an den ausländer-feindlichen Gewalttaten sichtbar wer-den, erwächst die Gefahr, dass die U-Haft als Instrument der Kriseninter-vention oder zur Beruhigung derBevölkerung entgegen den staf-prozessualen Zielsetzungen (derVerfahrenssicherung) instrumen-talisiert wird.”

Auf die Bekanntgabe steigen-der Kriminalitätsraten reagiertein Teil der Bevölkerung erwar-tungsgemäß mit dem Ruf nachdem starken Staat. Dem ent-spricht ein Teil der Politik durchdas öffentliche Gelöbnis, härtereStrafen einzuführen, aber auchschneller verhaften zu lassen.Gefangene, gleichgültig ob U-Häftlinge oder Strafgefangene,übernehmen bei dieser Gelegen-heit die Rolle von Prügelknaben,ob zur Ablenkung oder gar alseine Art Feindersatz, braucht hiernicht untersucht zu werden.

Fest steht, dass sich hierdurch in der JVA das Klima ver-schlechtert, weil nicht ausge-schlossen werden kann, dass mancheBedienstete die Vollzugsmaßnahmenrigoroser anwenden, obwohl sich diegesetzliche Grundlage nicht geänderthat. Auch dies kann zur Ursache vonSchmerzen und Leiden in der U-Haftführen, an deren Anfang versteckteoder offene Beleidigungen, Demüti-gungen und schließlich menschenun-würdige Behandlungen stehen.

U-Haft als Sonderopfer für die All-

gemeinheit ist eine fatalerweise imStrafrecht stehengebliebene, nochnicht entrümpelte menschenfeindlicheIdeologie, mit der kein auf seine Sou-veränitätsrechte bedachter U-Häftlingnoch nicht einmal kurzfristig einenKompromiss schließen kann. Diesumsoweniger, wenn sich herausstellt,dass im Vollzug der U-Haft Leiden undSchmerzen begründet werden, die denHäftling und die Angehörigen bedro-hen bzw. ernsthaft schädigen können.

Dies schließt nicht aus, dass einefreiheitlich organisierte Gesellschaftdurchaus, aber dann eben grundsätz-lich auf freiwilliger Basis beruhende,überwiegend physische Schmerzenund Leiden erzeugende Sonderopferkennt bzw. erfordert. Im Dienste derBundeswehr, der Feuerwehr und derPolizei ist dies möglich und muss auch

im Extremfall hingenommen werden.Für die Betroffenen und ihre Angehö-rigen entstehen dann auch automatischbeistimmte Ausgleichs- und Entschä-digungsansprüche.

Freilich hat dieser berufsbedingte,unvermeidliche Risikoaspekt infolgeeiner grundsätzlich freiwilligen Be-rufsausübung in der U-Haft keinenlegalen Platz.

Können Schmerzen und Lei-den infolge U-Haft verhält-nismäßig sein?

U-Haft als Sonderopfer für die All-gemeinheit wird vom Staat auch des-halb für begründbar gehalten, weil dieJustiz vorgibt, sie würde anhand aus-gerechnet des unbestimmten Rechtsbe-griffes der Verhältnismäßigkeit dafürSorge tragen, dass sich die Repressi-vität des Vollzuges der U-Haft wederin primitive noch in fein dosierte,große Schmerzen und Leiden verursa-chende Brutalität wandelt. Was ist undwas kann der Grundsatz der Verhält-nismäßigkeit?

„Der Grundsatz der Verhältnis-mäßigkeit von Mittel und Zweck,Methode und Ziel, Stärke desZugriffs und Gemeinwohlnutzen istmit Verfassungsrang ausgestattet.Er verlangt, dass eine Maßnahmeunter Würdigung aller persönlichenund tatsächlichen Umstände desEinzelfalles zur Erreichung desangestrebten Zweckes geeignet underforderlich ist, was nicht der Fallist, wenn ein milderes Mittel aus-reicht, und das der mit ihr verbun-dene Eingriff nicht außer Verhältniszur Bedeutung der Sache und zurStärke des bestehenden Tatverdach-tes steht” (StPO, S. 4-5, Hervorhe-bung durch UE).Angeblicher dringender Tatverver-dacht und angebliche Fluchtge-

fahr überwinden zu oft die Skrupelder Verhältnismäßigkeit der U-Haft

Der Grundsatz der Verhältnismäs-sigkeit ist in mehreren gesetzlichenBestimmungen aufgenommen worden,darunter in solchen, die für U-Häftlin-ge von Bedeutung sind, z.B. die §§ 112StPO („Voraussetzungen der U-Haft”)und 120 StPO („Aufhebungsgründedes Haftbefehls”). Ferner ist durchUrteil des Bundesverfassungsgerichtsfestgelegt, dass im § 119 StPO („Voll-zug der U-Haft”) der Grundsatz derVerhältnismäßigkeit „den Vollzug derU-Haft in besonderem Maße beherr-schen muss” durch „eine Abwägungaller Umstände des Einzelfalles”(StPO S. 479).

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16 ULMER ECHO 2008Wodurch wird U-Haft zur Folter?

Tatsächlich spielt dieser an sichvernünftige und sehr wichtige Grund-satz bei der Anordnung und im Vollzugder U-Haft nur eine untergeordneteRolle.

Die Anordnung des Haftbefehlswird immer mit dem vermeintlichdringenden Tatverdacht und fastimmer mit gleichzeitig vorliegendervermeintlicher Fluchtgefahr begrün-det. In vielen Haftbefehlen entsteht derunabweisbare Eindruck, dass derangeblich dringende Tatverdachtnichts anderes ist als die suggestiveVoraussetzung für die angeblicheFluchtgefahr, die vom Haftgerichtohne weitere Begründung oder auchmit erschreckend fadenscheinigerBegründung einfach postuliert wird.

Für den Leser mag dies lächerlichklingen, für den Verdächtigten sindsolche Insignien beruflichen Erfolgesschwerwiegende Haftargumente, die erdem misstrauisch gesonnenen Haft-richter nicht widerlegen kann.

Geld auf dem eigenen Konto, derVerdacht oder die Tatsache, eineFremdsprache zu beherrschen, auf-gefundene Korrespondenz mit demAusland, ausländische Freunde undBekannte reichen vielen Haftrich-tern mangels tatsächlicher Fluchtin-dizien wie z.B. konkreter Vorberei-tungen aus, um Fluchtgefahr zuunterstellen.

Vielfach wird auch der Haftbefehloder die Zurückweisung der Haftbe-schwerde vom Gericht damit begrün-det, dass das wegen des dringendenTatverdachtes zu erwartende hoheStrafmaß einen Fluchtanreiz darstellt,der die U-Haft oder ihre Fortdauerrechtfertigt.

Nicht von Rechts wegen, sondernvon Gerichts wegen beikommt mit die-ser Prognose der Verdächtigte imErmittlungsverfahren eine kaum zubewältigende Beweislast entweder sei-ner Unschuld oder seiner, eine hoheStrafe eben nicht rechtfertigende,geringfügigen Schuld aufgebürdet.

Aber die Umkehr der Beweislast istim Strafrecht ebensowenig statthaftwie der durch vorverurteilende Straf-maßprognostizierung manifestierte

Entzug der Unschuldsvermutung.„Die Unschuldsvermutung folgt

schon aus dem Rechtsstaatsprinzip.Sie will verhüten, dass jemand alsschuldig behandelt wird, ohne dassihm in einem gesetzlich geregeltenVerfahren seine Schuld nachgewie-sen ist. Maßnahmen, die vollenNachweis der Schuld erfordern,dürfen nicht getroffen werden,bevor er erbracht ist" (StPO,S.1833).

Jeder Haftbefehl, der wegen einesangeblich dringenden Tatverdachteseine hohe Strafe prognostiziert unddeswegen einen Fluchtanreiz vermutetbzw. Fluchtgefahr unterstellt, ist eine„Maßnahme, die den vollen Nachweis

der Schuld erfordert” und dürfte nichtgetroffen werden, bevor dieser Nach-weis erbracht ist. Schließlich stellt dierichterliche Eröffnung bzw. Anord-nung eines Haftbefehls nicht einenVorgriff und auch nicht den Ersatz fürdas gesetzlich geregelte Verfahren(z.B. in der Hauptverhandlung) dar,mit dem allein Schuld nachgewiesenwerden kann. Mithin wird in unddurch diese so begründeten Haftbe-fehle regelmäßig das Rechtsstaat-sprinzip der Unschuldsvermutungverletzt.

Bei diesem, Prinzipien des Rechts-staats verletzenden Rigorismus ist esvielen Haftrichtern auch ganz gleich-gültig, ob verdächtigte Familienväterihre Unschuld beteuern und keine kon-

kreten Anzeichen dafür sprechen, dasssie durch Flucht das Wohl ihrer Fami-lie aufs Spiel setzen würden.

Wer einer Straftat (welcher?) ver-dächtigt wird, der muss nicht automa-tisch auch im Verdacht stehen, dieInteressen seiner Familienangehörigendurch Flucht zu verletzen. Es dürfteklar sein, dass sich der Leidensdruckvon Untersuchungsgefangenen Fami-lienvätern im Vergleich zu einem Sin-gle besonders dann potenziert, wenndie Familie den Ernährer bzw. dessenbisher laufendes Arbeitseinkommenverliert und größere Mittel zum Durch-halten nicht vorhanden oder durch Pro-zesskostenvorschüsse rasch aufge-braucht sind. In diesen wegen der

anhaltend hohen Arbeitslosigkeit ansich schon häufiger auftretenden wirt-schaftlichen Notfällen produziert eineU-haftfreudige Justiz anhand derFamilienmitglieder weit mehr Sonder-opfer als in den Haftbefehlen stehen.Für einen in U-Haft einsitzendenFamilienvater, der seine bürgerlicheReputation aus einer - vom Haftrichterleicht nachprüfbaren - bisher tadello-sen Arbeitsethik bezogen hat, ist dieMöglichkeit der Sozialhilfe für seineFamilie kein Trost, sondern eineSchande, welche die seiner U-Haftnoch vergrößert.

Da nicht alle U-Häftlinge ohne sol-che an sich normalen und festen fami-liären Bindungen und Verpflichtungensind, und da nicht alle U-Häftlinge in

B-Zelle für die Gegenwart ...

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17ULMER ECHO 2008 Wodurch wird U-Haft zur Folter?

ihrem Zivilleben arbeitslos oderarbeitsscheu und in ihrem sozialenGewissen abgestumpft sind, mussgerade von diesen die U-Haftbesonders schmerzhaft erlitten wer-den.

Wo oder wann hören in der U-Haftsolche Leiden auf und beginnt die Fol-ter? Wer mit der Überzeugung seinerUnschuld in Untersuchungshaftkommt, der kann darauf zumindestkaum anders als mit einem aufwühlen-den Gefühl der Ungerechtigkeit rea-gieren. Schlagartig empfindet er dieInnenwelt des Gefängnisses als absolutfeindliches Terrain, jeder Bedienstetescheint sein persönlicher Gegner. Die-ser fatale Eindruck bleibt eine ganzeZeit lang auch dann, wenn dem U-Häftling die Aufsicht freundlichbegegnen sollte, weil sie ständig undim wesentlichen damit beschäftigt ist,seine Bewegungsfreiheit auf die 7 bis8 Quadratmeter einer Gefängniszellezu reduzieren, welches „Wohnklo” ersich in vielen Fällen auch noch miteinem anderen Gefangenen teilenmuss. Den Unschuldigen foltert in der U-Haft nicht das Gewissen, sondern

die persönliche Unbeeinflussbarkeitund die Ungewissheit seines Schik-

ksalsIn dieser Lage muss jede Anord-

nung oder Maßnahme des Gefängnis-personals nicht anders als Attacke aufdie persönliche Individualität und Pri-vatheit verstanden werden. Sie wirdmit der scheinbar unumstößlichenRechtstatsache schon dadurch perma-nent demonstriert, dass praktisch jederBedienstete die Gefängniszelle Tagund Nacht jederzeit und ohne anzu-klopfen betreten kann und dies auchtut (zu welcher Regel auch die Aus-nahme gehört, dass wenige Bediens-tete es auch fertigbringen anzuklopfen,besonders wenn sie die Zelle betretenwollen, in der ein älterer U-Häftlingist).

Der U-Häftling erfährt in der Regelauch nicht, welche Haftbedingungendas Haftgericht für den Vollzug der U-Haft angeordnet hat, d.h. „für ange-messen” hält.

Für den U-Häftling beginnt also dienervige Arbeit zu testen, welcheAnordnungen seine „Gefängnisfrei-heit” zusätzlich einschränken und obund wie er dagegen vorgehen kann. Ermuss auch herausfinden, wer für dievielen als schikanös und sachlichungerechtfertigt erlebten Maßnahmenin der JVA zuständig bzw. verantwort-lich ist. Ein negativ eingestellter Voll-zugsbeamter, die Hausordnung oderdas ominöse Einweisungsformular desHaftgerichtes?

Was an alledem besonders dieMentalität des Unschuldigen anfangsnur erschüttert und quält, aber späterund bei längerer Andauer foltert, istnicht so sehr die situationsbezogene

demütigende und menschenunwürdigePrimitivität und Unbequemlichkeitvon Hausordnung und Tagesablauf, alsvielmehr die viel tiefer gehende undverletzende bittere Erkenntnis vomunaufhaltsamen Verlust der eigenenpersonalen Identität und Kultur.

Für diese innere Befindlichkeitkommt es nicht so sehr darauf an, obeiner, der so fühlt, letztendlich tatsäch-lich unschuldig ist oder dies nur meintund im späteren Urteil erfährt, dassund wie er sich geirrt hat. In dieserLage nützt auch die rechtsstaatlichgebotene Unschuldsvermutung nichts,weil sie keinen Respekt erzeugt undtendenziell sogar offen missachtetwird („Es wird schon seinen Grundhaben, warum man Sie hier eingelie-fert hat!”)

Schließlich hilft es dem Häftlingnicht viel weiter, ob er in der JVA

allein mit seinesgleichen oder tatsäch-lich zusammen mit rechtskräftig verur-teilten Straftätern und im übrigen mitsolchen Personen eingesperrt ist, die inder Lage und willens sind, gesprächs-weise ihren Tatverdacht geständig zubekennen. Denn nicht er, sondern letz-tere und die schon rechtskräftig Verur-teilten sind in der tendenziell komfor-tablen geistigen Lage, ihren Gefängni-saufenthalt - fast für jede Dauer -wenigstens insgeheim, wenn nichtauch offen, vor sich selbst und voranderen so zu rechtfertigen, wie erempfunden wird: Vorschuss oder Quit-tung für etwas, dass man hätte ebenauch anders tun oder gänzlich unterlas-sen können.

Eine derart ehrliche Flucht in dieRealität fast jeglichen Gefängnisall-tages steht einem, der sich unschul-dig weiß oder fühlt, nicht zu, seinebürgerliche Existenz, seine Ehre, ev.auch seine Familie erlauben keineFlucht, weder die in die Resignation,noch die ins Exil, wohin er nicht ver-folgt werden könnte.

Solche U-Häftlinge müssen für sichdie Frage beantworten, ob es Sinnmacht, es im Lager derjenigen, die sichvon der Gesellschaft ausgegrenzthaben oder von dieser ins Abseitsgestellt wurden, noch auf die Einhal-tung ausgerechnet der Ideale vonHumanität, Gerechtigkeit und Pazi-fismus zu bestehen?

Das Mittel, das Schafe und Wölfein einem Pferch in Wirklichkeit daranhindert, sich zu zerfleischen, sind nichtdie Hunde, die sie bewachen, sondern

... und Gedenktafel für gestern

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18 ULMER ECHO 2008Wodurch wird U-Haft zur Folter?

die lähmende Angst vor der Ungewiss-heit ihrer aller Zukunft. Die Angst voreinem unbekannten Schicksal, aberauch die solidarische Erkenntnis, die-ses Schicksal gemeinsam erleiden zumüssen, nivelliert die an sich unver-träglichen Instinkte der Wölfe undSchafe im Gefängnis.

Es herrscht ein angespannter Burg-frieden, der gerade im U-Gefängniskaum größere Störungen erfährt undvon dem die Justiz allein profitiert:Alle warten mehr oder weniger gedul-dig wie Schafe auf ihren Metzger.

Tatsächlich bezahlen U-Häftlingeihr Sonderopfer für die Allgemein-heit im unterschiedlichen Ausmaß,anfänglich nur mit psychischen, spä-ter dann auch mit physisch irrepara-blen Schäden.

Unter der Überschrift „Zelltoddurch Angst” - „Zwei US-Studien zei-gen: Schwere psychische Belastungenschädigen langfristig das Gehirn” hatFocus Nr. 33/95 S.122 darüber wiefolgt berichtet: „SchwerwiegendeAngstzustände kennt die Psychiatrieals Spätfolge bei Menschen, die mittraumatischen Erlebnissen konfron-tiert wurden. So etwa bei Insassenvon Konzentrationslagern oder vomTode bedrohter Soldaten; bei Gei-seln, Opfern von frühkindlicherMisshandlung oder Vergewaltigungsowie Häftlingen, die Folter erlittenoder mitansehen mussten. Etwa dieHälfte der Betroffenen entwickeltPTSD (das ist die Krankheit derposttraumatischen Belastungsreak-tion, Anmerkung des UE), die sichnoch in Angstzuständen, Panikat-tacken oder depressiven Störungenäußert ...”. „Doch PTSD manife-stiert sich entgegen der bisherigenAuffassung nicht nur psychisch. DieBelastungsreaktion vermag dasGehirn dauerhaft anatomisch zuschädigen..” „Dennoch ist der Hypo-campus bei PTSD-Patienten verklei-nert. Diese Gehirnstruktur spielt fürdie Funktion des Gedächtnisses einezentrale Rolle.” „Aufgrund derErgebnisse von Tierversuchen ver-muten die beiden Forscher, dass daskörpereigene Streßhormon Cortisol

die Nervenzellen im Hypocampuszerstört, weil es während der Ang-stattacken in überhöhten Konzen-trationen ausgeschüttet wird. Dieswürde auch erklären, warum PTSD-Patienten häufig unter Gedächtnis-schwäche leiden.”

Die Mühlen der Justiz zersetzen die Seele und

beschädigen Geist und Körper

Angststress wird vom Menschennatürlich ganz unterschiedlich erlebtbzw. bewältigt. Dies hängt nicht nurvon der Stressursache ab wie z.B.Krieg, Kriminalität,Gefangenschaft undextremer Leistungs-druck oder lang andau-ernde Arbeitslosigkeitetc., sondern auch vonder persönlichen, psy-chischen und physi-schen Verfassung deseinzelnen.

Gar nicht von derHand zu weisen ist, dassinfolge sicherheitsver-schärfter und/oder über-langer U-Haft haftunfä-hig gewordene Gefan-gene auch an PTSDerkranken und dadurchschließlich einen Teilihrer Gedächtnisfähig-keit verlieren. Deshalbmuss gefragt werden:

Gehören eineordentliche PortionGedächtnisschwund alsErgebnis der posttrau-matischen Belastungs-reaktion auch oder noch zu denSonderopfern für die Allgemeinheitdurch Untersuchungshaft?

Dagegen kann nicht eingewandtwerden, dass U-Haftanstalten im heu-tigen Deutschland nicht mehr mit Kon-zentrationslagern im Vorkriegs-deutschland verglichen werden kön-nen. Identisch ist die in beiden Anstal-ten produzierte Kategorie von Angstund ihre äußeren Symptome der Pani-kattacken und depressiven Störungen,welche in posttraumatische Bela-

stungsreaktion zusammenlaufen. Nurdarauf kommt es an und das genügtauch für den Vorwurf der Folter als„vorsätzliche Zufügung großer körper-licher oder seelischer Schmerzen oderLeiden”.

Vorsatz setzt Wissen und Wollenvoraus. Gerade der Staat, der seinenBürgern Sonderopfer für die Allge-meinheit durch U-Haft abverlangt,muss wissen, was er damit wirklichtut. Er kann solche Forschungsergeb-nisse nicht einfach ignorieren, umeinen Zustand der Unwissenheit vor-zutäuschen. Im übrigen wollte er schon

immer, dass U-Haft „erlitten” wird.Darf er dabei auch z.B. PTSD undseine Folgen in Kauf nehmen? Weilder Staat dieses Leiden in und durchU-Haft weder qualitativ noch quantita-tiv steuern und in wirklich zumutba-ren, d.h. schadensmindernden Grenzenstatt schadensverursachenden Ausufe-rungen für die Betroffenen haltenkann, muss er die U-Haft endlich soor-ganisieren, dass sie weder men-schenverachtend noch menschenver-nichtend ausarten kann.

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19ULMER ECHO 2008 Wodurch wird U-Haft zur Folter?

Wenn beim Typus des Tatmenschenoder bei dem des Geistmenschen dieKategorie der Angst nicht ausreicht,die körperliche Auslieferung an dasFremde und Feindliche einer U-Haftunerträglich zu machen, dann hilft dieKategorie der Zeit, das Zerstörungs-werk zu vollenden. In seiner o.a.Untersuchung stellt Frieder Dünkelfest: Die nach der gesetzlichen Syste-matik nur ausnahmsweise zu über-schreitende Dauer von 6 Monatenwurde bei Mord/Totschlag in 78,1 %der U-Haftfälle überschritten, aberauch bei jedem dritten wegen Raub-(32,9%) Sexual- (41,2%) und Betäu-bungsmitteldelikten (32,2%; beischweren Verstößen gegen das BtMGsogar 44,2 %) beschuldigten U-Gefan-genen.

Dünkel irrt, wenn er meint: „DiesErgebnis scheint insoweit wenig über-raschend als mit zunehmender Schwe-re des Deliktes in der Regel umfang-reiche Ermittlungen notwendig sind,die das Verfahren verzögern können.”

Auf der Ulmer Höh' hat es U-Häft-linge gegeben und gibt essie immer wieder, die sichschon vor ihrer Inhaftie-rung oder kurz danach denErmittlungsbehörden mitderart umfangreich unddetailgetreu nachvollzieh-baren und auch dokumen-tierten Geständnissen prä-sentieren, dass hernachdas Gericht nicht mehr instreitigen, sondern binnenweniger Tage in gelenkten Verfahrenzur Entscheidung kommt. Gleichwohlist es geradezu eine Regel, dass jederdieser Blitzhauptverhandlungen eineU-Haftdauer von mindestens 2 Jahrenvorausgegangen ist, die z.T. (obwohles sich um leichte und schwere Vermö-gensbetrugsdelikte handelt, bei denenim Haftbefehl Verdunklungsgefahrnicht notiert war) mit 6 bis 12 monati-ger Isolationshaft erlitten werden mus-ste.

In anderen schweren Beschuldigun-gen wie z.B. Mord kommt hinzu, dasssich die Hauptverhandlungen überweit mehr als ein Jahr hinziehen kön-

nen und dabei immer deutlicher denCharakter eines in Wirklichkeitgerichtlich geführten Nachermittlungs-verfahrens annehmen. Vor diesemHintergrund scheint es eine Verhöh-nung des „Sonderopfers für die Allge-meinheit”, dass die Gerichte Haftbe-schwerden trotz solcher Zeitextrememit der stereotypen Formel abschmet-tern, das „besonders komplizierte”Ermittlungsverfahren sei zügig undmit Fleiß gefördert worden und bewe-ge sich deshalb auch noch im Rahmender angeblich zulässig vertretbarenVerhältnismäßigkeit.

Das Gesetz verlangt nicht zwin-gend, dass U-Haft auch bei schwerenDeliktsfällen angesichts einer länger-fristig terminierten Hauptverhandlungum jeden Preis fortbestehen muss.„Daher ist die Schwere der demBeschuldigten vorgeworfenen Tatohne Bedeutung” (S.497).

Das Gesetz verlangt, dass die Aus-nahmevorschrift des § 121 StPO(„Fortdauer der U-Haft über 6 Mona-te”) eng ausgelegt wird, „dabei sind

um so strengere Anforderungen zustellen, je länger die U-Haft dauert”(S.496).

Da die Entscheidung in der Regelnicht davon abhängig gemacht wird,ob der U-Häftling etwa schon genuggelitten hat, sondern davon, „ob dieStrafverfolgungsbehörden undGerichte alle zumutbaren Maßnah-men getroffen haben, um die Ermitt-lungen so schnell wie möglich abzu-schließen und ein Urteil herbeizu-führen” (S.496) dürfte klar sein, dasssich die zuständigen Obergerichte innur ganz wenigen Extremfällen zueiner für den U-Häftling positiven Ent-

scheidung hinreißen lassen, weil diesja schließlich auch mit einem Unwer-turteil über den mangelnden Arbeitsei-fer und über die zu kostspielige Pro-zessökonomie nachgeordneter Behör-den und Gerichte verbunden wäre.

Die Mühlen der Justiz mahlenaber nicht nur langsam, sondernmitunter so gründlich, dass sie inihrem Räderwerk den U-Häftlingvöllig opfern.

Dies tritt zutage in der 44-monati-gen U-Haft, die den Mordprozess ohneLeiche gegen den 56-jährigen Kauf-mann Hansen begleitete. Als Hansenam 28. Januar 1992 wegen des Ver-dachts des Betruges und der Urkun-denfälschung inhaftiert wurde (derMordhaftbefehl kam später), folgte diehaftrichterliche Anordnung besondererSicherungsmaßnahmen nach § 88StVollzG in Verbindung mit der Nr.2UVollzO auf dem Fuße.

Dies bedeutete eine strenge Einzel-haft über 10 Monate, u.a. totalen Zelle-neinschluss mit Ausnahme des täg-lichen einstündigen Hofganges allein,

des zweimal wöchentlichenDuschens und des zweiwö-chentlichen, halbstündigenFamilienbesuches. Keine Teil-nahme an Gruppenveranstal-tungen, darunter auch keinsonntäglicher Gottesdienstbe-such. Eine fast perfekte Iso-lationshaft also. Weihnachtenund Neujahr „feierte” Hansenallein in der Zelle, während andiesen Tagen der mehrstündi-

ge Umschluss in andere Zellen huma-ne Tradition ist. In den ersten Monaten1993 erlaubte die Strafanstalt Hansenstundenweise die Mitarbeit in der Red-aktion des ULMER ECHO.

Im Mai wurde Hansen wegen uner-laubten Telefonierens in die JVA Bo-chum verlegt, wieder in strenger Ein-zelhaft. Dort lernte Hansen u.a. auch,dass sein Versuch, den Anstaltsleiterauf dem Hof direkt anzusprechen alsunentschuldbares Sakrileg betrachtetund mit einem schriftlichen Diszipli-narverweis in seiner Führungsaktegeahndet wurde.

Während seines Aufenthaltes in

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Bochum wurde Hansen nach Düssel-dorf gerichtlich vorgeladen, wo ihmdann der Mordhaftbefehl verkündetwurde. Ende Dezember wurde Hansenwieder nach Düsseldorf verlegt. Diestrenge Einzelhaft wurde nach undnach etwas lockerer, als im April 94die Hauptverhandlung gegen ihnwegen des Mordverdachtes eröffnetwurde.

Es steht also fest, dass Hansen nochvor Beginn der Hauptverhandlung dieHöhen und Tiefen des landesüblichenVollzuges von Untersuchungshaft inverschiedenen Anstalten auch unterverschärften Sicherungsbedingungendurchlitten hat, und zwar mehr alszwei Jahre lang. Seine Widerstands-kraft zerbrach in dieser Zeit stückchen-weise, wie auch der Kitt von Durchhal-teparolen, den ihm die fürsorglicheAnstalt reichlich und mit Hilfe ihr ver-trauter Gefangener angedeihen ließ.Ob Hansen bewusst und gewollt in dieHaft- und Verhandlungsunfähigkeitsteuerte, wie die Staatsanwaltschaftspäter behauptete, ist für jeden verstän-digen Menschen, der ihn gerade injener Zeit auf der Ulmer Höh beobach-ten konnte, völlig ausgeschlossen. Tat-sächlich hat ihn der Marasmus diesesProzesses angesteckt wie eine unheil-bare Krankheit, zu deren Heimtückeauch zählt, dass ihre Inkubationszeitvöllig unberechenbar bleibt.

So wurde Hansen in den Zustandder Haft- und Verhandlungsunfä-higkeit getrieben, institutionell durchdie ungewöhnlich lang dauernde U-Haft, und die damit zeitweise verbun-denen Sicherungsmaßnahmen, undprozessual durch den wechselhaftenStellungskrieg, in dem die Staatsan-waltschaft scheinbar aufgegebeneBelastungspositionen wiederholterneut zur Debatte stellte. Das sagt dieherrschende Kommentierung zur Ver-handlungsfähigkeit?

„Die Verhandlungsfähigkeit desBeschuldigten ist die Fähigkeit, in oderaußerhalb der Verhandlung seine Inter-essen vernünftig wahrzunehmen, dieVerteidigung in verständiger und ver-ständlicher Weise zu führen, Prozes-

serklärungen abzugeben und entgegen-zunehmen. Bei Volljährigen entfälltdie Verhandlungsfähigkeit in der Regelnur durch schwere körperliche oderseelische Mängel oder Krankheiten.Verhandlungsunfähigkeit kann sichaus konkreten Anhaltspunkten für dieBefürchtung ergeben, der Beschuldigtewerde bei Fortführung des Verfahrens,vor allem der Hauptverhandlung, seinLeben einbüßen oder schwerwiegendeDauerschäden für seine Gesundheiterleiden” (S.22).

Gutachten bestätigen u.a.: Hansen ist jetzt ein vorgealterter,

gebrochener Mann

Im Frühjahr 95 wurde die Bühnefreigemacht für den vorletzten Akt desDramas. Im Rampenlicht stand jetztdie Frage der Haft- und Verhandlungs-unfähigkeit Hansens.

Die erste Gutachterwelle bestätigtein der Summe unzweideutiger geisti-ger und körperlicher Krankheitssymp-tome den vorherrschenden Zustandeines „vorgealterten gebrochenenMannes, der nicht mehr imstande war,seine Rechtsinteressen im Strafverfah-ren aktiv und vernünftig wahrzuneh-men”. Infolgedessen entschied dasGericht Mitte April die Außervollzug-setzung des Haftbefehls und eine Ver-handlungspause.

Das Gericht meint: Hansen simu-liert, seine Haft- und Verhandlungs-unfähigkeit sei vorgetäuscht bzw.selbst herbeigeführt

Bei der Wiederaufnahme der Ver-handlung Mitte Mai zeigte die Staats-anwaltschaft einen Videofilm, in wel-chem Hansen in keineswegs gebro-chen erscheinender Körperhaltung aufdem Flughafen in Zürich zu sehen war.Daraufhin schickte das Gericht Hansenwieder ins Gefängnis, auch diesmalwieder wegen Fluchtgefahr. Neu warallerdings der Vorwurf seiner bloß vor-getäuschten Haft- und Verhandlungs-unfähigkeit.

Insgesamt fünf Gutachter unter-suchten Hansen. Das Gericht stütztesich nur auf jenes Gutachten, in wel-chem Hansen für bedingt haft- undverhandlungsfähig begutachtet wor-den war.

Der Angeklagte Hansen wirdzum stationären Pflegefall

Hansen baute ersichtlich so schnellab, dass er bereits Anfang Juni in dasGefängniskrankenhaus Fröndenbergeingeliefert wurde zum Zwecke derVerbesserung wenigstens seines physi-schen Zustandes. Mitte Juni kam Han-sen zurück und hing bis Ende desMonats in der JVA am Tropf, weil erkein Essen mehr bei sich behaltenkonnte, selbst wenn er noch gelegent-

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lich Appetit zeigte. Seinen geistigenZustand konnte man laienhaft als mil-den Dämmerzustand mit unregelmäs-sigen, sich schnell erschöpfendenGesprächsklarheiten bezeichnen.

Jetzt hatte Hansen auch die Gutach-terei satt, er ließ nur noch solche Gut-achter an sich heran, zu denen er Ver-trauen hatte. Ende Juni wurde Hansenin die geschlossene Abteilung des Lan-deskrankenhauses nach Langenfeldüberführt. Mittlerweile war er kör-perlich so heruntergekommen, dasser im Rollstuhl gefahren werdenmusste.

Wer ihn gut kennt, erlebt ihn dortals Schatten seiner selbst, ansprechbarund konzentrationsfähig für kaummehr als eine Viertelstunde. Ohnespürbaren Lebenswillen oder Neugier-de am Fortschritt seiner noch laufen-den Geschäfte und schon gar keinInteresse mehr am aktuellen Prozess-geschehen.

Hat das Gericht Zweifel an derVerhandlungsfähigkeit,

darf die Hauptverhandlungnicht weitergeführt werden!

Bestätigt sich hier der Gutachter,der bei Hansen schon im April eineendogene Psychose konstatierte oderder Staatsanwalt, der im August Han-sen von der Teilnahme am Verfahrenausschließen ließ, weil Staatsanwalt-schaft und Gericht davon überzeugtsind, Hansen habe den Zustand derVerhandlungsunfähigkeit selbst her-beigeführt?

Auch jetzt bleibt alles im Dunkelnund mehrdeutig. Über die herbeige-führte Verhandlungsunfähigkeit sagtder § 231a der StPO: „Hat sich derAngeklagte vorsätzlich in einen seineVerhandlungsfähigkeit ausschließen-den Zustand versetzt und verhindert erdadurch wissentlich die ordnungsmä-ßige Durchführung oder Fortsetzungder Hauptverhandlung in seinerGegenwart, so wird die Hauptverhand-lung, wenn er noch nicht über dieAnklage vernommen war, in seinerAbwesenheit durchgeführt oder fortge-setzt, soweit das Gericht seine Anwe-senheit nicht für unerlässlich hält”.

In der Kommentierung werden alsMittel zur Herbeiführung der Verhand-lungsunfähigkeit im wesentlichen ge-nannt.

„Nichtinanspruchnahme derBehandlungsmöglichkeiten währendder U-Haft, bewusstes Sichhineinstei-gern in einen psychischen Ausnahme-zustand und andere Selbstbeschädi-gungen” (Kleinknecht u.a. op.cit. S.861). In demselben Kommentar wirdaber auch hervorgehoben imZusammenhang mit § 216 StPO(„Freie Beweiswürdigung”): „Hat derRichter jedoch Zweifel an der Ver-handlungsfähigkeit, darf die Hauptver-handlung nicht gegen den Angeklagtengeführt werden” (op. cit. S. 1011).Dabei wird Bezug genommen auf eineentsprechende BGH-Entscheidung.

Offensichtlich hatte das Gericht bisdahin solche Zweifel nicht gehabt.Außer Zweifel ist, dass der psychische

und physische Zustand von Hansenheute ein ganz anderer wäre, wennman ihn nicht der Tortur einer 44-monatigen Untersuchungshaft unter-worfen hätte. Vermutlich hätte schondie Außervollzugsetzung der Haftbe-fehle, wenn auch mit Auflagen, ausge-reicht, um sicherzustellen, dass sichein unschuldig verfolgt fühlender Han-sen dem Verfahren stellt und dadurchweitgehend seine Gesundheit behält.

Im Falle Hansen kann man nichtmehr wegsehen, wie hier die Konstel-lation von U-Haft und Hauptverhand-

lung eine Situation geschaffen haben,die nicht nur von dem Betroffenen sub-jektiv als Folter erlebt wurde, sondernauch eine ganze Reihe objektiverMerkmale enthält, die nur für sichallein genommen harmlos sind, in ihrerSumme sich jedoch verheerend, näm-lich folternd auswirken. Es steht fest,dass Hansen infolge der besonderenund besonders langandauernden U-Haftbedingungen zunehmend geistigunter Druck geraten ist bis zu jenem,vorläufig unbekannten Zeitpunkt desqualitativen Umschlages seines inne-ren Zustandes, wo ein übermächtigesRäderwerk zu mahlen begonnen hat,erst seine Seele zersetzte und dann sei-nen hilflosen Geist mit praktischjedem Gedanken an das Gefängnis undüber das Gericht folterte. Es ist ein Irr-tum zu glauben, dass die Empfindungvon erlittener oder zu erleidenderUngerechtigkeit in oder durch die U-

Haft als Sonderopfer, d.h. als zulässi-ger Beitrag für die Erhaltung oderDurchsetzung des Rechtsfriedensangesehen werden kann. Handelt essich in Wirklichkeit nicht um denuntauglichen Versuch, vermutetes, undmanchmal auch nicht beweisbaresUnrecht durch anderes Unrecht, näm-lich das der U-Haft, aufzuwiegen und„wiedergutzumachen”, durch eine vor-gezogene Art von Strafe? Fest steht: Esgibt kein Gesetz für solche VOR-Stra-fen!

No stairway to heaven

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22 ULMER ECHO 2008Wodurch wird U-Haft zur Folter?

Pilatus wäschtsich immer die Hände!

Der Fall Hansen ist ein Beispiel zu-viel. Der Fall Hansen ist Kronzeugnisfür das Ergebnis unserer Recherche,dass Untersuchungshaft in bestimmtenFällen Folter ist. Es hat in der Redak-tion eine hitzige Debatte schon darübergegeben, ob der Fall Hansen nament-lich als Beispiel und damit auch alsBeweis für die These aufgeführt wer-den soll, dass durch den besonderenVollzug und durch die Länge einerUntersuchungshaft nicht einfach nurLeiden, sondern auch solche von grau-samer und unmenschlicher Natur, ebenals Folter, erzeugt werden. DieAnstaltsleitung hat auf derFeststellung bestanden,dass in ihrem Haus nie-mand gefoltert wird. Tat-sächlich haben wir keinenFolterkeller entdecken kön-nen oder typische Folter-knechte. Abgesehen vonden zum Glück nur ganzwenigen Beamten, die esmit ihrem Gewissen odermit ihrem Diensteid verein-baren können, prinzipielljeden Untersuchungsgefan-genen für einen schuldigenVerbrecher zu halten und jenach Tageslaune hier unddort, offen oder ohne Zeu-gen Gefangene zu provozieren oder zuschikanieren. Auf diese Beschwerdekam es uns nicht an, so kleinlich woll-ten wir gar nicht sein. Abhilfe durchVorgesetzte war (oder ist) im übrigenimmer möglich.

Machtlos ist eine noch so mensch-lich gesonnene Anstalt aber dann,wenn der Untersuchungsgefangene imVerlaufe von Monaten oder Jahren dieihm aufgezwungenen Bedingungenimmer unerträglicher, ihn physischund psychisch immer stärker belastendund allmählich hoffnungslos entkräf-tend, schließlich als Folter empfindenlässt. Wem außer Pilatus nützt der Hin-weis, dies sei ein vom Gesetz wedergedecktes noch gewolltes Ergebnis,wenn es sich unzweifelhaft doch in derPerson eines Untersuchungsgefange-

nen manifestiert? Ob hier Kausalitätoder Finalität eine Rolle spielen, bleibtim Ergebnis für das Leiden des davonBetroffenen eine völlig akademische,nutzlose, weil nicht abhelfende Frage.

Darf die Justizkrank machen?

Es wurde auch die Gefahrbeschworen, dass mit dieser Recher-che nicht in ein laufendes Verfahreneingegriffen werden dürfe, und dassder Anschein vermieden werdenmüsse, es handle sich um eine Gefäl-ligkeit für einen Angeklagten, dereventuell auch für schuldig befundenwerden könne. Die Redaktion ist sich

ganz sicher, dass keine dieser Sorgenberechtigt ist. Der Prozess interessierthier nur als Leidensverschärfung, alsErlebniszwang des Angeklagten in denUrzustand seiner leidvollen Untersu-chungshaft. Und bei dieser nehmen wirselbstverständlich die für den Ange-klagten immer noch geltendeUnschuldsvermutung in Anspruch,d.h. wenn wir dies wollten, könntenwir in den Prozess gar nicht eingreifenoder ihn beeinflussen.

Im übrigen geht es um die Frage,wie wörtlich die herrschende Kom-mentarmeinung zum Strafprozessrechtüber das „Sonderopfer” einer Untersu-chungshaft angewendet werden darf.Bis das der Häftling zum „Patienten”geworden ist, wie die Rheinische Postschon im April 1995 anmerkte, oder

bis der Häftling ein vorgealterter,gebrochener Mann geworden ist, wiespäter ein Gerichtsgutachter notierte?Darf es noch ein bißchen mehr sein?Was ist, wenn der Angeklagte noch vordem Urteil stirbt? Was ist, wenn derAngeklagte freigesprochen ist und denGerichtssaal, den er einmal aufrechtbetreten hat, für immer an den Roll-stuhl gefesselt verlässt? Darauf mussein Gefangenenmagazin keine Antwortgeben, andere aber doch schon.

Für das ULMER ECHO bestandkein Zweifel darüber, dass eine detail-lierte und konkrete Recherche über diepersönliche Befindlichkeit und dieinterne Erlebniswelt eines zumindest

vom Angeklagten alsschreiend ungerecht, alsTag und Nacht quälendund schließlich als fol-ternd erlebten U-Haft-vollzuges von extremerÜberlänge bitter not-wendig ist. Es wäre einWitz und würde denLeser draußen gar nichterreichen, wenn dasULMER ECHO seineRecherche etwa in dervielen Juristen gewohn-ten und geübten Formder Abstraktion, d.h. dervom konkreten Fallabgehobenen, gewisser-

maßen neutralen Beschreibung leistenwürde.

Es geht nicht um den Fall an sich,es geht um Menschen und um ihrekonkret erfahrbaren Leiden. Dies mussmöglichst ungeschminkt an die Öffent-lichkeit, die nicht von der Frage abge-lenkt zu werden braucht, ob sichjemand aus prozesstaktischen Gründendem Gericht im Rollstuhl wie einSimulant präsentiert. Wie es dazugekommen ist, dass ein Angeklagterplötzlich den Rollstuhl braucht, daskönnen doch in der Regel die nach-denklichsten und phantasiebegabtestenunserer Zunftgenossen bei den Mediendraußen kaum wie wir in Erfahrungund „rüberbringen”. Darauf kommt esan.

Hansen als Beispiel zu nehmen, hat

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freilich noch andere Gründe. Einerdavon liegt in der nützlichen Provoka-tion zeitgenössischer Aufklärung: Weilunsere Gesellschaft die Wirklichkeitfast nur noch im Teil, das für ein Gan-zes steht, wahrzunehmen vermag, wer-den Einzelne zwangsläufig zu symbo-lischen und manchmal auch zu tragi-schen Figuren. Über sie muss dieGesellschaft ihr eigenes Verhältnis zurMenschlichkeit erkennen und diskutie-ren. Und sie muss Rechenschaft darü-ber abgeben, wenn nicht vor höherenSchranken, dann doch wenigstens vordenen, die sie ohne Urteil leiden lässt.Es bedarf dabei immer einer gewissenParteilichkeit, um überhaupt erst dieAugen für die Dimensionen der mög-lichen oder tatsächlichen Unmensch-lichkeit zu schärfen.

Es ist ein unentschuldbarer Mangel,dass die universale Verteidigung derPrinzipien unserer Zivilisation (z.B.der Grundrechte) nicht nur während,sondern auch aufgrund eines laufendenStrafverfahrens nicht zum Pflichtpro-gramm öffentlicher Berichterstattunggehört. Zuviel bleibt dadurch im Dun-keln und wird versteckt hinter dickenGefängnismauern. Wir leben nicht inder Zeit und nicht am Ort, wo deröffentliche Prozess nur der formaleAbschluss eines Vernichtungsverfah-rens ist, dessen Ausgang von Anfangan feststeht. Aber wir auf der UlmerHöh leben in einer Situation, in der wirden Widerspruch als sehr großenNachteil empfinden, dass die Herstel-lung von Rechtsfrieden oder vonGerechtigkeit offenbar nur durch denmassiven Verzicht auf (unveräusserli-che?) Grundrechte angestrebt wird. Istes nicht schrecklich und unannehmbar,dass der Unschuldige wie der Schuldi-ge gleichermaßen darunter leiden undverzweifeln müssen, dass mit Unrechtaufgeklärt werden soll?

Da der Menschenrechtsgedankenicht nur die Unantastbarkeit derWürde, sondern auch das Verbot ent-hält, dies von etwas anderem abhängigzu machen als von der Tatsache,Mensch zu sein, müsste dies auchjederzeit bedeuten, dass die damit ver-bundenen Grundrechte prinzipiell der

Untersuchungshaft vorgehen oder indieser konsequent angewendet wer-den.

Wo steht in unserer Rechtsordnunggeschrieben, dass ein Angeklagter sobuchstäblich durch die Mühle derJustiz gehäckselt werden darf, dass esfür diesen selbst nicht mehr vonBedeutung sein kann, ob er freigespro-chen oder verurteilt ist? Ist er nichtschon vorher bestraft genug, obwohl essich ja nicht um Strafe handelt? DieFrage, ob ein solcher Rekonvaleszentin Freiheit oder in Strafhaft schnelleroder überhaupt noch geheilt wird, ent-scheiden dann nicht mehr Richter son-dern Ärzte. Darin liegt der Skandal.Unsere Meinung: Kein Zweck hei-ligt die Mittel!

Die Macht, liebe Leser, neigt oftdazu, sich mit Tugend zu verwechseln.

Dieser Irrtum hat meistens dann sehrschlimme Folgen, wenn die Macht sichin Gesetze verkleidet und wenn dieseGesetze nicht der Ordnung desmenschlichen Zusammenlebens die-nen. Strafgesetze sind, wie schon ihrName verrät, keine Ordnungsgesetze.Ihr Sinn besteht darin, bestimmteRechte durch Verbotsgesetze zu schüt-zen. Wer zum Beispiel das Recht einesanderen auf Leben, körperliche Unver-sehrtheit, seine Freiheit, sein Eigentum

etc. verletzt, muss sich dafür verant-worten. Nach heutiger moderner Auf-fassung ist eine Straftat nichts anderesals eine sozial abweichende Verhal-tensweise, die mit einem Unwerturteilbelegt ist. Das Strafrecht ist daher daswichtigste Instrument des Staates zursozialen Kontrolle des einzelnen. Mitden Mitteln des Strafrechts wird dassozial abweichende Verhalten aufge-klärt, aber korrigiert nur in dem Sinne,dass dem Straftäter das Verwerflicheseiner Tat vor Augen gehalten wird mitder Drohung oder auch mit der Durch-führung des Entzuges seiner Freiheit.Abgesehen von Geldstrafen und inAnsätzen steckengebliebenen Wieder-gutmachungsauflagen (Täter-Opfer-Ausgleich) ersetzt die Strafe die Ver-letzung des Rechts und stellt esdadurch nur theoretisch wieder her,weil es praktisch nicht mehr andersmöglich ist (z.B. bei Angriffen aufLeib und Leben etc.). Gefährlich wirddiese staatliche soziale Kontrolle andem Punkt, wo abgewogen werdenmuss, welche Rechte zurücktretenmüssen, damit andere Rechte zumZuge kommen können. Das zeigt derDauerkonflikt im Strafprozess recht.Wieviele oder welche Rechte desAngeklagten dürfen eingeschränkt,sogar verletzt werden, damit sein sozi-al abweichendes Verhalten (eine ev.Straftat) aufgeklärt und kontrolliertwird? Vielleicht belebt das ULMERECHO mit dem nun vorliegendenAbschluss seiner Recherche über diemögliche bzw. tatsächliche Folterdurch U-Haft nur die alte Frage, oboder wann die eingesetzten Mittelwegen des Ziels gerechtfertigt erschei-nen. Sicher ist, dass eine solche Debat-te dann Not tut, wenn sich zeigt, dassdie Macht von Gesetzen außer Kon-trolle gerät, denn dann wird dieTugend zum Terror.

Anmerkung der Redaktion desULMER ECHO: Das Verfahren gegenHans Hansen wurde im August 1996eingestellt. Hans Hansen befindet sichauf freiem Fuß und leidet noch immeran den Folgen der erlittenen Untersu-chungshaft.

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Sonderausgabe Drogen und Gitterlebenebenfalls als PDF im Internet

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