leseprobe aus: péter esterházy verbesserte ausgabe · 2018. 1. 18. · umschlag: peter-andreas...

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© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2018 Leseprobe aus: Péter Esterházy Verbesserte Ausgabe Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.hanser-literaturverlage.de

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Page 1: Leseprobe aus: Péter Esterházy Verbesserte Ausgabe · 2018. 1. 18. · Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, nach einem Entwurf von Gitta Esterházy Druck und Bindung: CPI

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2018

Leseprobe aus:

Péter Esterházy Verbesserte Ausgabe

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf www.hanser-literaturverlage.de

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P É T E R E S T E R H Á Z Y

VE RB E S S E RTE

AU S GAB E

Aus dem Ungarischenvon Hans Skirecki

B E R L I N V E R L A GBerlin Verlag Taschenbuch

Page 3 15-NOV-16

0135 | BERLIN VERLAG | Esterházy | Verbesserte Ausgabe

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PÉTER ESTERHÁZY

Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki

Hanser Berlin

P É T E R E S T E R H Á Z Y

VE RB E S S E RTE

AU S GAB E

Aus dem Ungarischenvon Hans Skirecki

B E R L I N V E R L A GBerlin Verlag Taschenbuch

Page 3 15-NOV-16

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Die ungarische Originalausgabe erschien 2002unter dem Titel Javított kiadás – melléklet a Harmonia cælestishez

bei Magvető, Budapest.

1. Auflage 2018

ISBN 978-3-446-25905-8© 2002, 2016 Péter Esterházy ErbenAlle Rechte der deutschen Ausgabe

© 2018 Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG MünchenUmschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München,

nach einem Entwurf von Gitta EsterházyDruck und Bindung: CPI books, Leck

Printed in Germany

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Vo rwo rt

»Wir machen weiter, solange wir Rohmaterial haben, wen immer,was immer es kosten werde« – diesen Satz, einen Satz aus MiklósMészölys Roman »Rückblenden«, höre ich gerade in dem Augen-blick im Radio (am 23. Januar 2001, nachmittags, kurz nach zweiUhr, ich habe versäumt, mir die Minute zu notieren), in dem ichnach langem Hin und Her endlich mit diesem Text begonnenhabe; als würde mich mein alter Kollege ermutigen und bestär-ken, ein bißchen enttäuscht darüber, daß ich sein Drängeln nötighabe, es nicht von allein kann.

Dabei käme mir gerade jetzt jede Hilfe recht. Und gerade jetztbin ich so allein wie noch nie. (Von jetzt an werde ich mich da-rum bemühen, Selbstmitleid zu vermeiden, aber ich sehe schon,glaube zu sehen, daß es vergeblich sein wird. )

Ich hätte gern, daß man dieses Buch nur liest, wenn man »Har-monia Cælestis« gelesen hat. Aber natürlich macht der Leser,was er will, und betteln will ich nicht. Obwohl . . . Sie werdensehen, beim Schreiben, genauer: inmitten der Ereignisse wäreich oft zu allem fähig gewesen; Betteln wäre das wenigste ge-wesen.

Ich würde es vorziehen, weiter in Rätseln zu sprechen, aberdas geht nicht.

Auch das ist Arbeit.

Im Herbst 1999 bat ich K. um Hilfe, ich würde gern im Amt fürGeschichte meine Akten einsehen, falls es welche geben sollte.

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Ich möchte wissen, ob ich seinerzeit überwacht oder abgehörtwurde; hier glaubt ja jeder, daß die halbe Geheimpolizei mit ihmbeschäftigt war, ich glaubte es aber nicht, war mir sogar beinahesicher, daß es nicht so gewesen ist, aber ich wollte es definitivwissen, und außerdem hielt ich es für meine staatsbürgerliche, de-mokratische Pflicht – wenn auch nicht die Klärung der Vergan-genheit, so doch die Aufmerksamkeit ihr gegenüber, die sich inder Einsicht in die eventuell vorhandenen Akten offenbart.

K. ist Fachmann, er kennt sich aus und weiß mit Sicherheit,wie man an diese Sache herangehen muß. Bezeichnend ist, daßich sofort eine privilegierte Hintertür suchte und es mir gar nichtin den Sinn kam, daß es reicht, einfach ins Amt zu gehen, das jagegründet wurde, damit die Leute einfach hingehen. Und in derTat, K. erklärte mir, wenn ich nicht nur meine staatsbürgerlichenRechte in Anspruch nehmen, sondern das »Thema« quasi erfor-schen wolle, könne ich an mehr Unterlagen herankommen.

Und was ich denn eigentlich wolle. Nun, wissen, ob es etwasüber mich gibt. Und dann würde ich vielleicht auch gleich dieAkten über die ganze Familie einsehen. Kann sein, daß mein Va-ter abgehört wurde. (K. hatte eine Zeitlang mit ihm in der »Bu-dapester Rundschau« seligen Angedenkens zusammengearbei-tet, ich hatte vorgehabt, ihn für den Roman »zum Reden« zu brin-gen, aber das Gespräch war dann nicht zustande gekommen. Ichhatte auch mit Tanten und Onkeln, mit den legendären kosmi-schen »Tantis«, gesprochen, manchmal mit einem Tonbandgerät,und obwohl sich diese Begegnungen als überaus interessant her-ausstellten, war bald klar – klar, weil ich klar sah –, daß es damitnicht getan wäre. Denn ich hatte mir etwas ersparen wollen, Ar-beit nämlich, und gehofft, daß es etwas gibt, was nicht ich zu ma-chen hätte. Aber alles habe ich zu machen. So bedauerte ich fürden Roman nicht, daß das Gespräch mit K. nicht zustande ge-kommen war, später, dachte ich, wenn ich fertig bin, würde ich

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immer noch gern dies oder jenes (über meinen Vater) erfahren,jetzt genügt es; es reicht. )

Ich habe noch den Zettel, auf dem ich mir damals Notizenmachte, als ich mit K. telefonierte. Wie ein Kind schrieb ich mit,was zu tun war. Daß ich den Informationsdienst des Amts für Ge-schichte anschreiben und um ein offizielles Blankett – um einwas? – um ein Blankett für wissenschaftliche Forschung ersu-chen solle. Ich habe es mir zweimal wiederholen lassen. Und dasGesuch würde dann vom 1956er- Institut befürwortet. Und wassoll ich nun als Forschungsthema angeben? Meine Rolle in derungarischen Literatur seit den 70er Jahren. (Erst hatte es »P. E.und seine Zeit« geheißen, aber das mochte ich nicht hinschrei-ben. ) Und mir scheint, daß ich es dann auf »die Familie E. « hätteerweitern sollen, aber daran kann ich mich nicht mehr genau er-innern. – Dieses Problem kehrt hier, wie bisher noch nie, ständigwieder: Ich muß mich jetzt der Wirklichkeit anpassen, bisher nurden Wörtern.

Mit alldem befaßte ich mich nur halbherzig, denn ich war dabei,»Harmonia Cælestis« abzuschließen und arbeitete Tag und Nachtwie im Rausch. Ich schloß die Arbeit auch mehrmals ab, das heißt,ich hielt sie mehrmals für abgeschlossen, beziehungsweise das,was noch zu tun war, für eine bloße Formalität. Dabei hätte ichnatürlich wissen müssen, rein logisch und auch aus Erfahrung,daß es so etwas nicht gibt, es gibt keine bloße Formalität undkeine »nur technische Frage«; solange etwas nicht wirklich fertigist, kann alles noch Mögliche geschehen, steht alles auf MessersSchneide. Wenn etwas fast fertig ist, ist es nicht fertig.

Ich mußte die Arbeit für drei Tage unterbrechen, ein Coitusinterruptus, eigentlich einem anderen Coitus zuliebe (in Anbe-tracht dessen, was nun folgt, ist das stilistisch mehr als bedenk-lich und schief, aber ich selber bin schief, ich lebe so, als ob es all

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Ich möchte wissen, ob ich seinerzeit überwacht oder abgehörtwurde; hier glaubt ja jeder, daß die halbe Geheimpolizei mit ihmbeschäftigt war, ich glaubte es aber nicht, war mir sogar beinahesicher, daß es nicht so gewesen ist, aber ich wollte es definitivwissen, und außerdem hielt ich es für meine staatsbürgerliche, de-mokratische Pflicht – wenn auch nicht die Klärung der Vergan-genheit, so doch die Aufmerksamkeit ihr gegenüber, die sich inder Einsicht in die eventuell vorhandenen Akten offenbart.

K. ist Fachmann, er kennt sich aus und weiß mit Sicherheit,wie man an diese Sache herangehen muß. Bezeichnend ist, daßich sofort eine privilegierte Hintertür suchte und es mir gar nichtin den Sinn kam, daß es reicht, einfach ins Amt zu gehen, das jagegründet wurde, damit die Leute einfach hingehen. Und in derTat, K. erklärte mir, wenn ich nicht nur meine staatsbürgerlichenRechte in Anspruch nehmen, sondern das »Thema« quasi erfor-schen wolle, könne ich an mehr Unterlagen herankommen.

Und was ich denn eigentlich wolle. Nun, wissen, ob es etwasüber mich gibt. Und dann würde ich vielleicht auch gleich dieAkten über die ganze Familie einsehen. Kann sein, daß mein Va-ter abgehört wurde. (K. hatte eine Zeitlang mit ihm in der »Bu-dapester Rundschau« seligen Angedenkens zusammengearbei-tet, ich hatte vorgehabt, ihn für den Roman »zum Reden« zu brin-gen, aber das Gespräch war dann nicht zustande gekommen. Ichhatte auch mit Tanten und Onkeln, mit den legendären kosmi-schen »Tantis«, gesprochen, manchmal mit einem Tonbandgerät,und obwohl sich diese Begegnungen als überaus interessant her-ausstellten, war bald klar – klar, weil ich klar sah –, daß es damitnicht getan wäre. Denn ich hatte mir etwas ersparen wollen, Ar-beit nämlich, und gehofft, daß es etwas gibt, was nicht ich zu ma-chen hätte. Aber alles habe ich zu machen. So bedauerte ich fürden Roman nicht, daß das Gespräch mit K. nicht zustande ge-kommen war, später, dachte ich, wenn ich fertig bin, würde ich

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immer noch gern dies oder jenes (über meinen Vater) erfahren,jetzt genügt es; es reicht. )

Ich habe noch den Zettel, auf dem ich mir damals Notizenmachte, als ich mit K. telefonierte. Wie ein Kind schrieb ich mit,was zu tun war. Daß ich den Informationsdienst des Amts für Ge-schichte anschreiben und um ein offizielles Blankett – um einwas? – um ein Blankett für wissenschaftliche Forschung ersu-chen solle. Ich habe es mir zweimal wiederholen lassen. Und dasGesuch würde dann vom 1956er- Institut befürwortet. Und wassoll ich nun als Forschungsthema angeben? Meine Rolle in derungarischen Literatur seit den 70er Jahren. (Erst hatte es »P. E.und seine Zeit« geheißen, aber das mochte ich nicht hinschrei-ben. ) Und mir scheint, daß ich es dann auf »die Familie E. « hätteerweitern sollen, aber daran kann ich mich nicht mehr genau er-innern. – Dieses Problem kehrt hier, wie bisher noch nie, ständigwieder: Ich muß mich jetzt der Wirklichkeit anpassen, bisher nurden Wörtern.

Mit alldem befaßte ich mich nur halbherzig, denn ich war dabei,»Harmonia Cælestis« abzuschließen und arbeitete Tag und Nachtwie im Rausch. Ich schloß die Arbeit auch mehrmals ab, das heißt,ich hielt sie mehrmals für abgeschlossen, beziehungsweise das,was noch zu tun war, für eine bloße Formalität. Dabei hätte ichnatürlich wissen müssen, rein logisch und auch aus Erfahrung,daß es so etwas nicht gibt, es gibt keine bloße Formalität undkeine »nur technische Frage«; solange etwas nicht wirklich fertigist, kann alles noch Mögliche geschehen, steht alles auf MessersSchneide. Wenn etwas fast fertig ist, ist es nicht fertig.

Ich mußte die Arbeit für drei Tage unterbrechen, ein Coitusinterruptus, eigentlich einem anderen Coitus zuliebe (in Anbe-tracht dessen, was nun folgt, ist das stilistisch mehr als bedenk-lich und schief, aber ich selber bin schief, ich lebe so, als ob es all

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das gar nicht gäbe, worüber ich berichten werde) – in Wiennahm ich den Österreichischen Staatspreis entgegen. Drei guteTage, elegantes Hotel, gute Restaurants, ungezwungene Spazier-gänge, ein Festbankett im Bundeskanzleramt, leichter goldenerRuhm. Und als ich der Saxophon- Laudatio von Dés lauschte,war ich nicht einmal ungeduldig, es war eher wie ein großes, ru-higes Atemholen vor dem letzten Arbeitsgang. Ich wußte nicht,daß es in meinem Leben der letzte Augenblick gewesen seinsollte, in dem ich mich so freuen durfte, wie ich kann, wie nur iches kann, denn das kann ich sehr, es liegt mir im Blut, ich habe dasTalent, mich zu freuen, es ist ein Geschenk des Himmels (undder Herr sprach aus den Wolken: Freue dich, verfickt noch mal!,und es geschah so zu seinem Ruhme), ich wußte nicht, daß damitin Kürze Schluß sein und sich ein solch großer Schatten in mirfestsetzen würde . . . , also eigentlich ein gar nicht so großer: sogroß wie ich, und ich wußte nicht, daß mir in diesem Augenblickein letztes Mal leicht ums Herz sein würde. So wie niemals wie-der.

Am 16. Dezember 1999 schloß ich »Harmonia« zum erstenMal ab, und es zeugt von der Ernsthaftigkeit meiner Absicht, daßich unbescheiden in mein Notizbuch eintrug: 23 Uhr 7 Minuten,und dahinter: FERTIG. So, in Großbuchstaben. Der Anfang desersten Teils war noch nicht in Ordnung, den hätte ich zwar schonim Sommer fertig machen wollen, aber dazu war ich nicht ge-kommen (die Zeit ging für die Eröffnungsrede zur FrankfurterBuchmesse drauf ), ich maß dem keine Bedeutung bei, techni-scher Kleinkram, die Reihenfolge der ersten zehn Sätze mußte inOrdnung gebracht werden, ein angenehmer Arbeitstag.

Und ich begann den angenehmen Arbeitstag, und er endetein Entsetzen. Denn – ich vereinfache ein wenig – als die erstenzehn Sätze ihren Platz gefunden hatten – ja, da sollte der erstelauten: »Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit

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nicht kennt«, und an die zweite Stelle mußte ein neuer kommen –,und als ich nach dem 11. griff, wurde mir klar, daß der hier nichtstehen durfte, sondern an seiner Stelle (sagen wir) der bisherige87. Satz. Und daß der 12. nicht der 12. ist, sondern der 301. Satzsein müßte. Das heißt, ich mußte das Ganze noch einmal neudurchdenken, wieder Listen erstellen, mir wieder alles neu mer-ken, und weil das jedoch schwierig ist, mußte ich auch über dieListen Listen führen, aber vor allem mußte ich in voller Konzen-tration den ganzen ersten Teil neu durch- und überdenken, wor-auf ich nicht vorbereitet war.

Ich taumelte irgendwie durch die Feiertage, und es begann dievielleicht schwerste Arbeitswoche meines Lebens, ich zog michnicht mehr ordentlich an, aß nur zufällig, rasierte mich nicht undfiel um Mitternacht so ins Bett, daß es im nächsten Augenblickschon sieben Uhr morgens war; ich tastete mich in mein Zimmervor, niemand und nichts existierte mehr, nur der Text und dieZahlen, das heißt die Reihenfolge. Nachmittags legte ich michfür eine Viertelstunde hin, das tue ich gelegentlich auch sonst,aber jetzt schlief ich so fest wie ein Toter, in leichenhafter Starre(wie mein Vater, siehe »Harmonia Cælestis«, Seite 887).

Ich war an die Grenze meiner geistigen, physischen und mo-ralischen Leistungsfähigkeit gelangt. Es ist ein gutes Gefühl, anseine Grenze zu gelangen. Man fühlt sich nur ein wenig ausge-liefert. Wenn mich jetzt einer bloß ansieht, dachte ich, heule ichsofort los. Oder ich haue ihm eine runter. Es muß in dieser Zeitinteressant gewesen sein, mit mir zusammenzuleben.

Aber nur Miklós (13) begehrte auf, oder ich bemerkte es ebennur bei ihm. Ein Vater, der ist nicht so, ein ordentlicher Vater.Also, wie ist er?, fragte ich, apathisch in der Küche sitzend. Einordentlicher Vater beschäftigt sich mit seinem Kind, ein ordent-licher Vater spielt Tischtennis mit seinem Kind!, mit seinemSohn!, ein ordentlicher Vater unternimmt Ausflüge in die Berge

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das gar nicht gäbe, worüber ich berichten werde) – in Wiennahm ich den Österreichischen Staatspreis entgegen. Drei guteTage, elegantes Hotel, gute Restaurants, ungezwungene Spazier-gänge, ein Festbankett im Bundeskanzleramt, leichter goldenerRuhm. Und als ich der Saxophon- Laudatio von Dés lauschte,war ich nicht einmal ungeduldig, es war eher wie ein großes, ru-higes Atemholen vor dem letzten Arbeitsgang. Ich wußte nicht,daß es in meinem Leben der letzte Augenblick gewesen seinsollte, in dem ich mich so freuen durfte, wie ich kann, wie nur iches kann, denn das kann ich sehr, es liegt mir im Blut, ich habe dasTalent, mich zu freuen, es ist ein Geschenk des Himmels (undder Herr sprach aus den Wolken: Freue dich, verfickt noch mal!,und es geschah so zu seinem Ruhme), ich wußte nicht, daß damitin Kürze Schluß sein und sich ein solch großer Schatten in mirfestsetzen würde . . . , also eigentlich ein gar nicht so großer: sogroß wie ich, und ich wußte nicht, daß mir in diesem Augenblickein letztes Mal leicht ums Herz sein würde. So wie niemals wie-der.

Am 16. Dezember 1999 schloß ich »Harmonia« zum erstenMal ab, und es zeugt von der Ernsthaftigkeit meiner Absicht, daßich unbescheiden in mein Notizbuch eintrug: 23 Uhr 7 Minuten,und dahinter: FERTIG. So, in Großbuchstaben. Der Anfang desersten Teils war noch nicht in Ordnung, den hätte ich zwar schonim Sommer fertig machen wollen, aber dazu war ich nicht ge-kommen (die Zeit ging für die Eröffnungsrede zur FrankfurterBuchmesse drauf ), ich maß dem keine Bedeutung bei, techni-scher Kleinkram, die Reihenfolge der ersten zehn Sätze mußte inOrdnung gebracht werden, ein angenehmer Arbeitstag.

Und ich begann den angenehmen Arbeitstag, und er endetein Entsetzen. Denn – ich vereinfache ein wenig – als die erstenzehn Sätze ihren Platz gefunden hatten – ja, da sollte der erstelauten: »Es ist elend schwer zu lügen, wenn man die Wahrheit

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nicht kennt«, und an die zweite Stelle mußte ein neuer kommen –,und als ich nach dem 11. griff, wurde mir klar, daß der hier nichtstehen durfte, sondern an seiner Stelle (sagen wir) der bisherige87. Satz. Und daß der 12. nicht der 12. ist, sondern der 301. Satzsein müßte. Das heißt, ich mußte das Ganze noch einmal neudurchdenken, wieder Listen erstellen, mir wieder alles neu mer-ken, und weil das jedoch schwierig ist, mußte ich auch über dieListen Listen führen, aber vor allem mußte ich in voller Konzen-tration den ganzen ersten Teil neu durch- und überdenken, wor-auf ich nicht vorbereitet war.

Ich taumelte irgendwie durch die Feiertage, und es begann dievielleicht schwerste Arbeitswoche meines Lebens, ich zog michnicht mehr ordentlich an, aß nur zufällig, rasierte mich nicht undfiel um Mitternacht so ins Bett, daß es im nächsten Augenblickschon sieben Uhr morgens war; ich tastete mich in mein Zimmervor, niemand und nichts existierte mehr, nur der Text und dieZahlen, das heißt die Reihenfolge. Nachmittags legte ich michfür eine Viertelstunde hin, das tue ich gelegentlich auch sonst,aber jetzt schlief ich so fest wie ein Toter, in leichenhafter Starre(wie mein Vater, siehe »Harmonia Cælestis«, Seite 887).

Ich war an die Grenze meiner geistigen, physischen und mo-ralischen Leistungsfähigkeit gelangt. Es ist ein gutes Gefühl, anseine Grenze zu gelangen. Man fühlt sich nur ein wenig ausge-liefert. Wenn mich jetzt einer bloß ansieht, dachte ich, heule ichsofort los. Oder ich haue ihm eine runter. Es muß in dieser Zeitinteressant gewesen sein, mit mir zusammenzuleben.

Aber nur Miklós (13) begehrte auf, oder ich bemerkte es ebennur bei ihm. Ein Vater, der ist nicht so, ein ordentlicher Vater.Also, wie ist er?, fragte ich, apathisch in der Küche sitzend. Einordentlicher Vater beschäftigt sich mit seinem Kind, ein ordent-licher Vater spielt Tischtennis mit seinem Kind!, mit seinemSohn!, ein ordentlicher Vater unternimmt Ausflüge in die Berge

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denen sich allenfalls der Pförtner einen Bart wachsen ließ, in denverschlossenen Räumen lebten die Porträts jener, die einander ge-liebt hatten, nach Laune ihr trautes Leben, oder die Verfeindetendrehten einander den Rücken zu: – die Dienerschaft trank untenin der Gaststätte Ivkoff in der Josephsstraße, wohin seit Men-schengedenken die müßigen Herrschaftsdiener gehen. Der Name,hier folgt der Name meines Vaters, ist eine Legende, am Ende des19. Jahrhunderts, als die ungarischen Herrenhäuser in Wahrheitschon einzustürzen begannen, waren in jenen Stunden, in denender Ungar träumerisch seinen Pfeifenrauchringen hinterher-blickte, mehr oder weniger nur zwei Namen zu vernehmen. Dereine Name: der meines Vaters. Der andere Name: Rothschild. Esgab natürlich noch andere Namen in Ungarn, die jedes Kindkannte: solche Namen waren zum Beispiel: Franz Josef, oder deralte Tisza – während die Angehörigen des weiblichen Geschlechtsmanchmal auch den Namen Mihály Timárs, des Schiffers mitdem langen Bart, Jókais Patenkind, vor sich hin seufzten, wennsonst nicht, dann in ihren Träumen –, aber die ernsthafte, beson-nene, gediegene Einwohnerschaft des Landes hing, wenn sie sichschon Tagträumen hingab, nur noch am Namen meines Vaters,oder ebenjenes Rothschilds. Wie oft träumte der Wanderer imSchatten einer altehrwürdigen mythischen Trauerweide, daß dieLandstraße, die sich lang vor ihm hinstreckte, auf Befehl mei-nes Vaters einst mit Salz schneeweiß bestreut worden war, da-mit Maria Theresia auch im Hochsommer noch mit einem vonElenhirschen gezogenen Moskauer Schlitten von Wien nach Ei-senstadt gebracht werden konnte. Wie oft sah sich der der Phan-tasterei ohnehin zugeneigte transdanubische Reisende mit auf-gerissenen Augen um, wenn der Fuhrmann mit einem Schwungseines Peitschenstiels auf glanzerfüllte Märchenschlösser zeigte;auf von der Sonne gestreichelte, wegschlummernde riesige Parks;auf bis zum Himmelskreis silbrig dahinwogende Seen, aus denen

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manchmal der Goldfisch seinen Kopf herauswarf; auf Tiergärten,aus denen die Rehlein so zahm hervorlugten wie aus den Bilder-büchern der Kinder . . . und der Fuhrmann murmelte unter seinemrötlichen Bart: Auch das gehört dem, hier folgte der Name mei-nes Vaters. Und die Schmiede, in der wir die Pferde beschlagenlassen werden, auch die gehört dem, hier folgte der Name meinesVaters. Zusammengefaßt: Wer vermöchte all jene süßen Echosaufzuzählen, die in den alten Ungarn erklangen, wenn der Namemeines Vaters fiel, wer, zusammengefaßt.M ein Vater gab nur langsam klein bei, er vertraute seinem

Sohn nicht wirklich. Und der schlug und schlug nur aufihn ein.Unsere Familie ist nach dem Abendstern (auf ungarisch: est-

hajnal ) benannt. Im Anfang hatten wir keine Namen, inden ersten Jahrhunderten des Jahrtausends wurden die Amtsträ-ger, die in den Urkunden und deren Klauseln erwähnt sind, nurmit dem Vornamen und, seltener, mit dem Namen ihrer Sippe ge-nannt, und wenn es keinen Namen gibt, gibt es auch keine Fami-lie. (Eine Familie ist die Summe von Personen, die aufgrund vonAbstammung miteinander verbunden, von demselben Blute,durch dieselbe historische Vergangenheit vereint sind und des-wegen zusammengehören. Der Respekt vor den Altvorderen unddie Pflege der Erinnerung an sie ist die Grundlage der Familien-wie der Heimatliebe. Deswegen zerhackt jede Familie, die ihreVergangenheit vernachlässigt und das Gedenken an die Ahnennicht in Ehren hält, die Wurzeln des Lebensbaumes der Nationundsoweiter. ) Denn wodurch wird eine Familie zu einer Familie?(»Wer eine Cousine ist, bestimme ich. «) Kurz: dadurch, daß sie esaussprechen kann, sich auszusprechen traut: wir. Und sie will esauch. Es kommt ihr leicht über die Lippen. Und dann braucht

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man auch einen Namen. Denn wer keinen Namen hat, der japstnur stumm vor sich hin wie ein Fisch. Wir . . . Pause. Japse nur,mein Junge, japse, die Luft ist dein Lebenselement. Man brauchteinen Namen. Wir, die Baradlays. In der Umgebung, in den Tüm-peln der Großen Schüttinsel, der Csallóköz, denn dort war unserDonaueschingen, nannte man sie (uns): die Ritter Blaubart. >Blau-bart<*, das ist kein guter Name, denn es hatten auch andere Leuteblaue Bärte, während so mancher Ritter Blaubart überhaupt kei-nen hatte, denn entweder hatte er keinen Bart, oder er war nichtblau. Mit einem Wort, weder Ritter noch Blaubärte. So läßt sichkeine hoffnungsträchtige Familie etablieren. Die Blaubärtigkeitselbst hat sich auch als zu konkret und nebulös eindeutig gezeigt,als wäre die gesamte Mischpoke eine Art Poussierstengel gewe-sen, wenngleich das naturgemäß auf einer Der- eine- so- der-andere- so- Basis ablief, wenn überhaupt; allerdings müssen wirmangels entsprechender Urkunden auch das als von Dunkelheitumhüllt betrachten. Der Name scharwenzelte schon eine ganzeWeile um uns herum, kam vom Himmel, kam aus der Erde undkam aus uns selbst, aus unserem Bart. Welcher Stern sonst hätteder Stern der Blaubärte sein können als die Venus, der fünfte Pla-net, der Stern der Liebe, Advokatin weltlicher Lustbarkeit, desSingens, allerlei Geigen- , Trompeten- und Flötenspiels, teurenGeschmeides und Zierats. Im übrigen ist ihre Farbe das Grün, ihrGeruch der Salbeiduft, sie ist der Sonne am nächsten, in einemJahr steht sie vor ihr, dann nennt man sie Luzifer, also morgend-licher Stern, im nächsten Jahr folgt sie ihr, dann nennt man sieHesperus, abendlicher Stern; esthajnal ist der Name für beide.Wenn ein Mann in der Stunde des Abendsterns krank wird, ist essicher wegen einer Weibsperson. Der Knabe oder das Mädchen,

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* Im Text in einfache Anführungen gesetzte kursivierte Passagen im Ori-ginal deutsch.

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das in seiner Stunde geboren wird, wird unfruchtbar, bewahre,daß es buhlerisch werde. Der Mensch des Abendsterns ist einsehr weicher Mensch, zweifelt in der Hauptsache, zweifelt dort,wo er nicht sollte, sägt an dem Ast, auf dem er sitzt. Er sägt undpflanzt, er sägt und pflanzt. Mein Vater: wer im Abendstern steht,dem schwindelt erschrocken, denn er steht im Leeren, wederhier noch dort, es ist kein Tag und es ist keine Nacht, der Himmelist leer, nur ein einziger Stern ist zu sehen, nichts als dieser zit-ternde Schimmer, dieses vibrierende Nichts, das aber plötzlichmehr und reicher als alles ist, kernig und leicht wie Lachscreme,farbig und streng, es bewegt sich und ist konstant, die Stunde derMelancholie; wer in der blauen Stunde steht, mag frohlockendschwelgen, denn er steht im Jetzt, in der Ewigkeit – ach, derFaustsche Augenblick, so genant das auch ist! –, kein schlüpfrigerTang der Vergangenheit zieht an ihm, keine unbedachte Zukunftbedrückt ihn, es gibt kein Wo und kein Wohin, es gibt das Jetzt,die goldene Gegenwart, den silbernen Augenblick, das eiserneSein, und dann gibt es nichts anderes mehr als dieses Eisen, denRost, die Schönheit des Rosts und seine Derbheit, dieses wahr-haftige, dieses schwere Gemorsch, Materie in der Immaterialität:mein Vater.Der 1700 erschienene große Foliant, das »Trophaeum Nobi-

lissimae ac Antiquissimae Domus Estorasianae«, dieses»geschmacklos hergestellte« Lügenwerk, dieses »Attentat gegenden gesunden Menschenverstand« enthält die Genealogie mei-nes Vaters und zeigt 171 imaginäre und tatsächliche Ahnen inGanzkörper- Kupferstichen. Ein Teil der Bilder wurde vom Hof-maler des Fürsten, einem gewissen Petrus, hergestellt. Der Ma-rien- und Familienkult meines Vaters entspringt derselben Quelle,schön symbolisiert durch den Stich auf dem Titelblatt, eine Alle-gorie, in der Heldenmut (Fortitudo), verkörpert durch die Figur

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Page 15: Leseprobe aus: Péter Esterházy Verbesserte Ausgabe · 2018. 1. 18. · Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, nach einem Entwurf von Gitta Esterházy Druck und Bindung: CPI

des Herkules, und Edelmut (Generositas), dargestellt in der Fi-gur des Mars, jene Halle bewachen, in der ein Engel die, hier folgtder Name meines Vaters, - Krone auf einem Kissen der Recht-schaffenheit (Honor) darbringt, und wo Honor fast eindeutig inder Gestalt der Heiligen Jungfrau erscheint, mit der Krone Un-garns auf dem Kopf. Nach Zeugnis des »Trophaeum« leitet meinVater unsere Herkunft nicht nur von Adam, Noah usw. und nähervon Attila ab, sondern, noch näher, von Csaba, dem PrinzenCsaba, den er gleichzeitig auch für den Urvater des Árpáden-Hauses hält. So war der Stammesvater Eurs, der laut dieser Fik-tion am längsten von allen landnehmenden Stammesfürsten ge-lebt hatte, zu seiner Zeit eigentlich ein souveräner Herrscher,und noch dazu der Cousin der heiligen Könige. Von ihm stammtunser Urvater ab, Estoras, dessen Mutter, die dakische PrinzessinIda, >noch dazu< die Enkelin Decebals war – wie wir wissen, wardie Wiederangliederung Siebenbürgens an Ungarn eine der be-vorzugten, aber niemals in Erfüllung gegangenen Ideen meinesVaters. Estoras steht in nichts hinter dem heiligen István zurück,auch er wurde vom heiligen Adalbert getauft, selbstverständlichauf den Namen Paulus. Und so folgen die Ahnen einer auf den an-deren, sie kommen daher in endloser Reihe, bis hin zu Benedek,der im fünfzehnten Jahrhundert tatsächlich gelebt hat. In einemExtrakapitel führt der Band jene vom ersten bis zum letztenBuchstaben erlogenen königlichen Bullen an, ausgestellt vomheiligen László, Endre von Jerusalem, Lajos dem Großen, Sieg-mund, Mátyás Corvinus usw. , die diesen – im übrigen nicht exi-stenten – Ahnen verschiedene Privilegien zugesprochen habensollen. Der heilige László selbst, so bezeugt es diese virtuelleUrkunde, habe sich außerordentlich gefreut, daß sein lieber Ver-wandter aus einer Familie stammt, die es schon zu Zeiten JesuChristi zu etwas gebracht hat. Mein Vater deutete im übrigen dieMöglichkeit an, daß diese Behauptungen fiktiv sind. Zwar nur auf

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persisch, aber immerhin. Dabei verpaßt er unserem Namen eineneue Etymologie. Wonach der Drache auf persisch Ezder ge-nannt wird, also heißt die Familie eigentlich Drachenhauser, undder Drache ist nichts anderes als der in unserem Wappen befind-liche Greif, welcher mit gezücktem Schwert die Heimat vertei-digt. Aber damit noch nicht genug: Nach all dem sinniert meinVater auch noch lange darüber, daß nicht jede Familie über soeine urkundlich belegbare Herkunft verfügt, in Ungarn laufenauch Familien herum, die, so mein Vater (!), nur zwei- bis drei-tausend Jahre alt sind, denn infolge der vielen Schicksalsschläge,die das Vaterland heimgesucht haben, sind die Archive zu Ascheverbrannt, aber was soll’s, schließlich ist Adel sowieso nur etwaswert, wenn er mit Tugend gepaart ist, ha- ha, wohingegen dieHerkunft für sich allein nur wie ein gekalkter Sarg ist: inwendiggepackt mit Abscheulichkeit..

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I ch hatte einen entfernten, geheimnisvollen Meinvater – nen-nen wir meinen Vater so –, um dessen Wiege die letzten Mond-

lichter des alten Jahrhunderts und das erste Morgenrot des neuenspielten; esthajnal, Abendschimmer, Morgenrot, da kommt unserName her.Mein Vater hatte ein echtes Táltos - Pferd wie aus dem Mär-

chen, und so hieß es auch, Táltos. Es war schwarz wieKohle, nur am linken Hinterbein trug es ein weißes Mal. Es lebtevon Zucker und Weizen, was anderes aß es gar nicht. Aber es warein echter Táltos : Es verstand die Worte meines Vaters und gabihm sogar Ratschläge! Es riet meinem Vater, es rückwärts be-hufen zu lassen, dann wüßte der Feind niemals Fährte aufzuneh-men: man würde sie anhand der Stellung der Hufabdrücke in diegenau entgegengesetzte Richtung verfolgen. (Als dann alle Pferderückwärts beschlagen wurden, gab mein Vater mit herkömmli-chem Hufstand Fersengeld und Anlaß zur Überraschung. ) WennGefahr im Verzug war, wieherte und scharrte Táltos, und wennsich mein Vater auf seinen Rücken setzte, flog er dahin, daß seineHufe den Boden gar nicht mehr berührten, er flog mit meinemVater bis in die Wolken hinauf. Wenn der Feind herannahte, schluger mit seinem Fuß, wie viele Garnisonen es sind. Einmal verlormein Vater die Schlacht und wurde verfolgt. Da brachte ihn dasTáltos - Pferd in ein Versteck, legte sich selbst zwischen die totenPferde und versteckte seinen Kopf, seinen lebendigen Kopf unterdem Hals des neben ihm liegenden Pferds. Der Feind zog treff-lich vorüber. Das passierte in zwei Fällen: einmal im August 1652und das zweite Mal im Frühjahr 1969.

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