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Jeder dritte Deutsche ist angeblich psychisch labil. Therapeut Michael Mary rät, kleine Krisen nicht überzubewerten. Denn sie bieten die Chance, etwas zu verändern Lasst euch keine Krankheiten einreden!

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Page 1: Lasst euch keine Krankheiten - WordPress.com · 2014. 1. 15. · Wie sieht eine gute Therapie aus? Sie muss auf Augenhöhe sein. Der Therapeut sollte sich nicht einbilden, dass er

Jeder dritte Deutsche ist angeblich psychisch labil. Therapeut Michael Mary rät, kleine Krisen nicht überzubewerten. Denn sie bieten die Chance, etwas zu verändern

Lasst euch keine Krankheiten einreden!

Page 2: Lasst euch keine Krankheiten - WordPress.com · 2014. 1. 15. · Wie sieht eine gute Therapie aus? Sie muss auf Augenhöhe sein. Der Therapeut sollte sich nicht einbilden, dass er

tv hören und sehen 2/14 | 19

Bei Trauerphasen, Liebeskummer oder beruflichem Stress wird immer öfter eine Therapie verordnet. Gut? Oder total krank? tv Hören und Sehen sprach mit dem Paarberater und Au-

tor Michael Mary, 60, über den vermeintlich immensen Bedarf an Psychologen. In seinem Buch „Ab auf die Couch“ kritisiert er das Ge-schäft mit der Seele.Neue Statistiken besagen, dass jeder Dritte psychisch krank ist. Mag sein. Man will uns aber auch einreden, wir seien krank. Die Realität sieht anders aus? Nur 6 Prozent der Bevölkerung sind tatsächlich psychisch schwer auffällig und auf Hilfe angewiesen. Zum Beispiel wenn jemand an unerträglichen Zwängen leidet, sich selbst verletzt oder sein Leben nicht mehr organisieren kann. Das be-zeichne ich als Schwarzbereich. Aber im Mo-ment dehnt sich die Psychotherapie auf den Graubereich aus. Das finde ich unerträglich.Was meinen Sie mit Graubereich? Ganz nor-male psychische Probleme, die zum Leben dazugehören. Etwa bei Krisen in der Ehe oder Problemen im Job. Da stellen Therapeuten oft viel zu schnell Diagnosen, die berühmtesten sind ja Burn-out und Depression. Das Hand-buch, nach dem Therapeuten sich richten, listet immer mehr Diagnosen für psychische Krankheiten – inzwischen sind es über 400. Neuerdings ist jemand psychisch krank, wenn er länger als zwei Wochen um einen Verstor-benen trauert. Das ist doch lächerlich. Es gibt also nicht mehr seelische Probleme als früher? Es sind vielleicht andere. Wir leben

ich einschätzen, ob der Therapeut etwas kann? Welche Ausbildung er hat, spielt eine untergeordnete Rolle. Ich persönlich bin der Meinung, dass die meisten selbst beurteilen können, ob das, was derjenige mit ihnen macht, hilft oder nicht. Da verlässt man sich lieber auf das Gefühl als auf den Titel. Wie sieht eine gute Therapie aus? Sie muss auf Augenhöhe sein. Der Therapeut sollte sich nicht einbilden, dass er besser Bescheid weiß als der Patient selbst. Alle Probleme, die Men-schen mitbringen, bergen meist auch schon eine Lösung. Die beste Beratung ist die, die dem Klienten empfiehlt, woran er selbst bereits als Lösung arbeitet. Was kann ein Therapeut, was ein guter Freund oder Partner nicht kann? Der Thera-peut kann Dinge beobachten, die der Klient selbst nicht reflektiert. Freunde sind wichtig, aber das können sie nicht leisten. Denn der Freund kennt Sie nur als Freund, er kennt so-zusagen nur eine Identität von uns.Sie sagen, dass Krisen Chancen bieten? Ja, denn wenn Probleme im Job oder in der Fami-lie uns psychisch belasten, ist es an der Zeit zu hinterfragen. Was stresst uns, wie lässt sich das ändern? Probleme motivieren, Wege zu finden, etwas zu ändern. INA BRZOSKA ■

| Medizin |

in Zeiten, die für die Psyche sehr anspruchsvoll sind. In der Familie müssen wir einfühlsam sein, im Job hart, in der Nachbarschaft diplo-matisch, bei Freunden offen und so weiter. Die meisten von uns leben als Identitäts-Chamä-leon, weil sie permanent zwischen vielen Ver-haltensmöglichkeiten wechseln müssen. Es kann passieren, dass wir uns zwischen all den Identitäten verheddern. Wann passiert das? Wenn sich die äußeren Umstände ändern, etwa wenn wir den Job ver-lieren, wenn jemand stirbt oder der Partner sich trennt. Auch wenn die inneren Bedürfnis-se sich verschieben, geraten viele ins Wanken. Zum Beispiel wenn wir krank oder älter werden und wir plötzlich einige Dinge hinterfragen.Warum sind Diagnosen so problematisch? Es erleichtert doch auch Ihre Arbeit!Diagnosen schreiben die Art der Behandlung vor. Ich finde das höchst schwierig. Man kann bei der Psyche nicht vorgehen wie in der Me-dizin. Nehmen Sie eine Herz-OP, da können Sie in den Körper eingreifen, da macht eine Behandlung nach Lehrbuch Sinn. Bei seeli-schen Problemen geht es aber um vage Dinge. Da braucht es Einfühlungsvermögen des The-rapeuten in die jeweilige Person. Warum gibt es immer mehr Diagnosen? Psychotherapie ist ein Markt geworden, durch den der Patient weitgehend entmachtet wird. Stattdessen profitieren Therapeuten und die Pharmaindustrie, denn Psychopharmaka wer-den auch immer häufiger verschrieben. Andererseits wünschen sich viele Men-schen in Krisen ja Unterstützung. Wie kann

SA 19.30 3SAT Exclusiv – Die Reportage Deutschland im Stress. Reise durch ein krankes Land 1.304.411

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Lasst euch keine Krankheiten einreden!

Michaela H., Wuppertal

Hannes K., Frankfurt

Margit W. aus München

Ich will trauern, ohne Pillen Im vergangenen Jahr starb mein Mann an Krebs. Das hat mich aus der Bahn gewor-fen, und Freunde rieten mir, Hilfe anzuneh-men. Die Gespräche mit dem Psychothera-peuten brachten mir gar nichts. Dann riet er mir auch noch zur Einnahme von Schlafmit-teln und Antidepressiva. Ich habe daraufhin die Sitzungen abgebrochen. Es hat viele Monate gedauert, bis ich den Verlust mei-nes Mannes überwinden konnte. Mich hat es stärker gemacht.

Unser Sohn ist völlig normalDie Klassenlehrerin unseres Sohnes mein-te, dass Christoph auffällig sei. Er wäre viel zu zappelig, eine Verhaltenstherapie würde helfen. Was für eine Unverschämtheit, dem Jungen seine Quirligkeit vorzuwerfen! Statt einer Verhaltenstherapie haben wir ihn beim Fußball angemeldet.Ich bin nicht passiv-aggressiv!

Als meine Ehe kriselte, ließ ich mich zu einer Paartherapie überreden. Dort wurde mir unterstellt, ich verhielte mich passiv-aggressiv. Nur weil ich keine Lust mehr auf Sex mit meinem Mann hatte. Es hat sich alles wieder von selbst eingerenkt, nach einem gemeinsamen Urlaub.