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Joseph Conrad Jugend Bibliothek Suhrkamp

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Joseph Conrad

Jugend

Bibliothek Suhrkamp

SV

Band der Bibliothek Suhrkamp

Joseph ConradJugendEin Bericht

Mit einem Essay von Erich Franzen›Über Joseph Conrad‹

Suhrkamp Verlag

Die englische Originalausgabe erschien unter demTitel »Youth: A Narrative«Deutsch von Fritz Lorch

Erste Auflage in der Bibliothek Suhrkamp Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des

S. Fischer Verlages, Frankfurt am Main© Deutsche Ausgabe: S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main

Der Essay Über Joseph Conrad wurde entnommen ausErich Franzen: Aulärungen, erschienen als Band der

edition suhrkamp© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehaltenDruck: Poeschel & Schulz-Schomburgk, Eschwege

Printed in Germany

JugendEin Bericht

Dies hätte sich nirgends sonst als in England zu-tragen können, wo sozusagen Menschen undMeer einander wechselseitig durchdringen – wodas Meer in das Leben der meisten Menschen ein-grei und wo die Menschen auf dem Weg des Ver-gnügens, des Reisens oder des Broterwerbs man-ches oder alles über das Meer erfahren.Wir saßen um einen Mahagonitisch, in welchemsich die Flasche, die Rotweingläser und, da wirdie Ellbogen aufstützten, unsere Gesichter spiegel-ten. Unsere Runde bestand aus einem Direktorvon Handelsgesellschaen, einem Bücherrevisor,einem Rechtsanwalt, Marlow und mir. Der Di-rektor war Schiffsjunge auf der Conway gewesen,der Bücherrevisor war vier Jahre zur See gefah-ren, der Rechtsanwalt – ein eingefleischter Tory,Anhänger der Hochkirche, der feinste alte Kerl,die Ehrenhaigkeit in Person – war Erster Offi-zier bei der P. & O. Linie gewesen, in jenen gu-ten alten Zeiten, als die Postdampfer noch minde-stens zwei vollgetakelte Masten hatten und dieChina-See bei günstigem Monsun mit allen Lee-segeln im Topp herunterzulaufen pflegten. Wiralle hatten das Leben in der Handelsschiffahrt be-gonnen. Zwischen uns fünfen bestand das starkeBand der See und dann auch jene Kameradscha

des Seemannsberufes, wie keine Begeisterung fürJachtsegeln, für Vergnügungsfahrten und ähnli-ches, sie herzustellen vermag, da das eine nur dieKurzweil des Lebens und das andere das Lebenselbst ist.Marlow (ich glaube wenigstens, er schrieb sich so)erzählte die Geschichte, oder besser, die Chronikeiner Reise:»Ja, ich habe ein bißchen von den Östlichen Mee-ren gesehen; am besten aber erinnere ich mich anmeine erste Reise dorthin. Ihr, meine Freunde,wißt ja, daß es Reisen gibt, die wie zur Illustrie-rung des Lebens geschaffen sind, die als Sinnbilddes Daseins gelten könnten. Man kämp, arbeitet,schwitzt, bringt sich fast um, bringt sich zuweilenwirklich um, in dem Versuch, etwas zu leisten –und vermag es doch nicht. Ohne daß man schulddaran hätte. Man kann einfach nichts tun, wederGroßes noch Kleines – nichts auf der Welt – nichteinmal eine alte Jungfer heiraten oder eine elen-de Fracht von sechshundert Tonnen Kohle an ihrenBestimmungshafen bringen.Es war durchaus eine denkwürdige Angelegenheit.Es war meine erste Reise in den Osten und meineerste Reise als Zweiter Offizier; es war auch daserste Kommando meines Kapitäns. Ihr werdet

zugeben, daß es langsam Zeit wurde. Er war bei-nahe sechzig Jahre alt; ein kleiner Mann mit ei-nem breiten, nicht sehr geraden Rücken, mit hän-genden Schultern und einem Bein krummer als dasandere; und er hatte jenes wunderlich knorrigeAussehen, dem man o bei Männern begegnet, dieauf dem Felde arbeiten. Er besaß ein Nußknak-kergesicht – Kinn und Nase hatten das Bestreben,über einem eingesunkenen Mund zusammenzusto-ßen –, umrahmt von eisgrauem Flaum, der sichausnahm wie ein mit Kohlenstaub gesprenkelterKinnriemen. Und in diesem alten Gesicht hatte erblaue Augen, erstaunlich jungenha und mit je-nem offenen Ausdruck, den sich zuweilen ganzgewöhnliche Menschen dank einer seltenen Gabeder Redlichkeit und Herzenseinfalt bis ans Endeihrer Tage bewahren. Was ihn bewog, mich anzu-nehmen, war mir ein Rätsel. Ich kam von einemder grandiosen Austral-Klipper, auf dem ich Drit-ter Offizier gewesen war, und er schien ein Vor-urteil gegen solche Klipper zu haben, die ihn ari-stokratisch und protzig dünkten. Er sagte zu mir:›Wohlgemerkt, auf diesem Schiff werden Sie ar-beiten müssen.‹ Ich erwiderte, ich hätte auf sämt-lichen Schiffen arbeiten müssen, auf denen ich bis-her gewesen. ›Ah, aber das hier ist etwas anderes,

und ihr feinen Herren von den großen Schiffen;… nun! Ich denke, Sie werden’s schon schaffen.Treten Sie morgen an.‹Ich trat an. Es war vor zweiundzwanzig Jahren;und ich war eben zwanzig. Wie die Zeit vergeht!Es war einer der glücklichsten Tage meines Lebens,Denkt euch nur! Zum erstenmal Zweiter Steuer-mann – ein wirklich verantwortlicher Offizier!Ich hätte meine neue Stellung nicht um alles inder Welt aufgegeben. Der Erste musterte michsehr sorgfältig. Er war ebenfalls ein alter Geselle,doch von anderem Schlag. Er hatte eine römischeNase, einen schneeweißen, langen Bart, und erhieß Mahon, doch er bestand darauf, daß derName ›Mann‹ ausgesprochen wurde. Er hatte ein-flußreiche Verwandte; aber irgendwie war ihmdas Glück nicht hold gewesen, und er war nie vor-angekommen.Was den Kapitän anlangt, so war er jahrelang inder Küstenschiffahrt gewesen, dann im Mittel-meer und schließlich in der Westindienfahrt. Erwar um keines der Kaps herumgekommen. Erbrachte nur eben eine Art Krakelschri zustandeund hielt überhaupt nicht viel vom Schreiben.Beide waren natürlich von Grund auf gute See-leute, und zwischen diesen alten Gesellen kam ich

mir wie ein kleiner Junge zwischen zwei Großvä-tern vor.Das Schiff war gleichfalls alt. Es hieß Judea. Son-derbarer Name, nicht wahr? Es gehörte einemMann namens Wilmer, Wilcox – oder so ähnlich;doch er ist schon gute zwanzig Jahre bankerott undtot, und sein Name tut nichts zur Sache. Die Ju-dea hatte endlos lange im Shadweller Hafenbek-ken aufgelegen. Ihr könnt euch ihren Zustandvorstellen. Sie war über und über mit Rost, Staubund Schmutz bedeckt – die Toppen voller Ruß,das Deck verschmutzt. Für mich war es, als kämeich aus einem Palast in eine zerfallene Bauernka-te. Die Judea war ungefähr vierhundert Tonnengroß, hatte ein altmodisches Ankerspill, hölzerneTürriegel, und nicht das kleinste Stück Messingwar zu sehen. Auf ihrem breiten Plattgatt standin großen Lettern der Name des Schiffes, und dar-unter war eine Menge Schnörkelwerk angebracht,von dem die Vergoldung abgeblättert war unddas eine Art Wappen mit der Devise ›Kämpfenoder untergehen‹ umgab. Ich weiß noch, wie ge-waltig mich diese Devise anzog. Ein Hauch Ro-mantik lag darüber, etwas, das mir den alten Ka-sten lieb und teuer machte – etwas, das meine Ju-gend für ihn einnahm!

Wir verließen London mit Ballast – Sandballast –,um in einem nördlichen Hafen eine Ladung Koh-le für Bangkok überzunehmen. Bangkok! EinSchauer durchrieselte mich. Ich war sechs Jahrezur See gefahren, hatte jedoch nur Melbourne undSydney gesehen, sehr anständige Plätze, reizen-de Plätze in ihrer Art – aber Bangkok!Wir liefen unter Segeln und mit einem Nordsee-Lotsen an Bord aus der emsemündung. DerLotse hieß Jermyn. Er strich den lieben langenTag um die Kombüse herum und trocknete seinTaschentuch vor dem Herd. Anscheinend schliefer nie. Er war ein trübsinniger Mann, dem be-ständig ein glitzernder Tropfen an der Nasen-spitze hing, und der entweder Verdruß gehabthatte, oder noch immer Verdruß hatte, oder dochVerdruß erwartete – der jedenfalls nur glücklichwar, wenn irgend etwas schiefging. Er mißtrautemeiner Jugend, meinem gesunden Menschenver-stand und meinem seemännischen Können, under ließ es sich angelegen sein, mir das auf hunder-terlei Arten zu spüren zu geben. Nun, er hatterecht. Schließlich wußte ich damals noch herzlichwenig, und auch jetzt weiß ich nicht viel mehr;doch bis auf den heutigen Tag hege ich einen Haßgegen Jermyn.

Wir benötigten eine Woche bis Yarmouth Roads,und dann gerieten wir in einen Sturm – den be-rüchtigten Oktobersturm vor zweiundzwanzigJahren. Alles kam zusammen: Wind, Blitz, Ha-gel, Schnee und eine fürchterliche See. Wir hattenzu wenig geladen, und ihr werdet eine Vorstel-lung davon bekommen, wie schlimm es war, wennich euch sage, daß das Schanzkleid zertrümmertund das Deck überflutet wurde. In der zweitenNacht ging der Ballast nach Lee über, und mitt-lerweile waren wir schon nach der Doggerbankverschlagen worden. Uns blieb nichts übrig, alsmit Schaufeln hinunterzusteigen und zu versuchen,das Schiff wieder aufzurichten, und da standenwir denn in dem riesigen Laderaum, der düsterwie eine Höhle war. Die Talgkerzen an denRaumbalken flackerten, der Sturm heulte überuns, das auf der Seite liegende Schiff wurde wietoll hin und her geschleudert; wir packten allemit an: Jermyn, der Kapitän, jeder beteiligte sichan dieser Totengräberarbeit – wiewohl wir unskaum auf den Beinen halten konnten – und ver-suchte, den nassen Sand schaufelweise nach Luvhinaufzuwerfen. Bei jedem Überholen des Schif-fes konnte man im trüben Kerzenlicht undeutlicheinige Männer unter wildem Gefuchtel der Schau-

fein hinstürzen sehen. Einer der Schiffsjungen(wir hatten zwei) war so beeindruckt von derGrausigkeit der Szene, daß er weinte, als wolleihm das Herz brechen. Wir hörten ihn irgendwoim Dunkeln schluchzen.Am dritten Tag flaute der Sturm ab, und bald dar-auf pickte uns ein Schlepper aus dem Norden auf.Alles in allem benötigten wir sechzehn Tage vonLondon bis nach dem Tyne! Als wir dann denHafen erreichten, hatten wir unseren Ladeterminverpaßt, und man verholte uns nach einem Lie-geplatz, wo wir einen Monat blieben. Mrs. Beard(der Kapitän hieß Beard) kam aus Colchester an-gereist, um bei ihrem Mann zu sein. Sie wohnteward, ein Mulatte, der auf den Namen Abrahaman Bord. Die Mannscha war abgemustert, undnur die Steuerleute, ein Schiffsjunge und der Ste-hörte, waren verblieben. Mrs. Beard war eine alteFrau mit einem Gesicht, verhutzelt und rot wieein Winterapfel, und der Figur eines jungen Mäd-chens. Einmal sah sie, wie ich mir einen Knopfannähte, und bestand darauf, daß ich ihr meineHemden zum Flicken gäbe. Das war ich von denKapitänsfrauen auf meinen Prachtklippern nichtgewohnt. Als ich ihr die Hemden brachte, sagtesie: Und die Socken? Die müssen doch sicher ge-

stop werden, und Johns – Kapitän Beards – Sa-chen sind jetzt alle ausgebessert. Ich bin froh,wenn ich etwas zu tun habe.‹ Gott segne diealte Frau. Sie setzte mir meine ganze Aus-rüstung instand, und währenddessen las ichzum erstenmal Sartor Resartus und BurnabysRitt nach Khiva. Von ersterem verstand ich da-mals nicht viel; doch ich erinnere mich noch, daßich den Soldaten dem Philosophen vorzog; eineVorliebe, in der mich das Leben nur bestärkt hat.Der eine war ein Mann, und der andere war ent-weder mehr – oder weniger. Nun, sie sind beidetot, und Mrs. Beard ist tot, und Jugend, Kra,Genie, Gedanken, Taten, einfältige Herzen – al-les stirbt … Macht nichts.Endlich wurde mit dem Laden begonnen. Wirheuerten eine Mannscha an. Acht Matrosen undzwei Schiffsjungen. Eines Abends verholten wiran die Bojen bei den Dockschleusen, klar zumAuslaufen und mit ziemlich sicherer Aussicht, amnächsten Tag die Reise antreten zu können. Mrs.Beard sollte mit einem Nachtzug nach Hause fah-ren. Als das Schiff festgemacht war, setzten wiruns zum Tee. Wir waren während der Mahlzeitalle ziemlich still – Mahon, das alte Ehepaar undich. Ich war als erster fertig und schlich mich hin-

aus, um zu rauchen. Meine Kammer lag in einemDeckshaus unmittelbar vor der Poop. Es warHochwasser; eine frische Brise wehte und es nie-selte. Beide Schleusentore standen offen, und dieKohlenpötte dampen in der Dunkelheit ein undaus, mit hellbrennenden Lampen, laut schlagen-den Schrauben, ratternden Winden und viel Ge-rufe von den Molenköpfen her. Ich beobachtetediese Prozession der Topplichter, die hoch oben,und der grünen Lichter, die tief unten in der Nachtdahinglitten, als plötzlich ein roter Schein vor miraulinkte, verschwand, wieder in Sicht kam undsichtbar blieb. Das Vorderteil eines Dampferstauchte dicht vor mir auf. Ich rief in die Kajütehinunter: ›Kommt herauf, schnell!‹ und hörtedann eine erstaunte Stimme, die in der Ferne sag-te: ›Lassen Sie stoppen!‹ Eine Glocke schrillte. Eineandere Stimme rief warnend: ›Wir laufen genauauf die Bark zu, Sir.‹ Die Antwort hierauf warein mürrisches: ›Schon gut‹, und unmittelbar da-nach kam es zu einem schweren Zusammenstoß,als uns der Dampfer mit seinem breiten Bug et-wa in Höhe der Fockwanten streie. Einen Au-genblick lang herrschte Verwirrung, Geschrei undGerenne. Dampf wurde brüllend abgelassen. Dannhörte man jemand sagen: ›Alles klar, Sir.‹ … ›Bei

Ihnen alles in Ordnung?‹ fragte die mürrischeStimme. Ich war nach vorn gesprungen, um denSchaden zu besehen und rief zurück: ›Ich denkeschon.‹ ›Langsam zurück‹, sagte die mürrischeStimme. Eine Glocke schrillte. ›Was für ein Damp-fer ist das?‹ schrie Mahon. Da war das Schiff aberbereits nur mehr ein unförmiger Schatten, der einwenig weiter von uns ab manövrierte. Sie riefenuns irgendeinen Namen zu – einen Frauennamen,Miranda oder Melissa – oder so ähnlich. ›Das be-deutet einen weiteren Monat in diesem verflixtenNest‹, sagte Mahon zu mir, als wir uns mit Lam-pen das zersplitterte Schanzkleid und die gebro-chenen Brassen besahen. ›Aber wo ist der Kapi-tän?‹Die ganze Zeit über hatten wir von ihm nichts ge-hört oder gesehen. Wir gingen nach achtern, umihn zu suchen. Irgendwo mitten im Hafenbeckenerhob sich jedoch eine klägliche Stimme und riefuns an: ›Judea ahoi!‹ … Wie, zum Teufel, war ernur dorthin geraten? … ›Hallo!‹ riefen wir. ›Ichtreibe in unserem Boot ohne Riemen‹, rief er zu-rück. Ein verspäteter Fährmann bot seine Dienstean, und Mahon handelte mit ihm aus, er solle un-seren Kapitän für eine halbe Krone längsseitsschleppen; doch es war Mrs. Beard, die als erste die

Leiter herauletterte. Sie waren fast eine Stun-de lang bei diesem kalten Sprühregen im Hafen-becken umhergetrieben. Nie in meinem Leben binich so verdutzt gewesen.Anscheinend hatte er, als er mich ›kommt herauf‹brüllen hörte, sogleich begriffen, was im Anzugwar, hatte seine Frau gepackt, war an Deck ge-rannt, quer hinüber und dann hinunter in unserBoot, das an der Jakobsleiter festgemacht war.Nicht schlecht für einen Sechziger, was? Stellteuch vor, der alte Knabe rettete in seinen Armenheldenha die alte Frau – die Frau seines Lebens.Er setzte sie auf eine Ducht im Boot und wolltewieder an Bord zurückklettern; doch da hatte sichirgendwie die Fangleine des Bootes gelöst, und abging’s mit ihnen beiden. Natürlich hörten wir indem Durcheinander seine Rufe nicht. Er blicktebeschämt drein. Sie sagte fröhlich: ›Ich nehme an,es macht jetzt ohnehin nichts, daß ich meinenZug versäumt habe?‹ ›Ja, Jenny – geh hinunterund wärm dich auf‹, brummte er. Dann sagte erzu uns: ›Ein Seemann soll sich eben nicht mit ei-ner Frau einlassen. Da war ich also vom Schifffort. Nun, diesmal ist kein Unheil geschehen.Lassen Sie uns den Schaden besehen, den dieserblöde Dampfer angerichtet hat.‹

Er war nicht groß, aber er hielt uns weitere dreiWochen auf. Nach Ablauf dieser Zeit brachte ich,da der Kapitän mit seinen Agenten beschäigtwar, Mrs. Beards Tasche an den Bahnhof undsetzte die Kapitänsfrau bequem in ein Dritter-Klasse-Abteil. Sie ließ das Fenster herunter undsagte: ›Sie sind ein guter junger Mann. Wenn SieJohn – Kapitän Beard – des Nachts ohne Schalsehen, dann erinnern Sie ihn in meinem Namendaran, daß er sich den Hals gut warm haltensolle.‹ ›Aber gewiß, Mrs. Beard‹, sagte ich, ›Siesind ein guter junger Mann; ich habe wohl beob-achtet, wie aufmerksam Sie gegen John – den Ka-pitän sind …‹ Der Zug fuhr plötzlich an; ich zogdie Mütze. Die alte Frau habe ich nie wiederge-sehen … Die Flasche, bitte.Am nächsten Tag gingen wir in See. Als wir dies-mal nach Bangkok aurachen, waren wir bereitsdrei Monate von London fort. Wir hatten mitungefähr vierzehn Tagen gerechnet – als Äußer-stes.Es war Januar, und das Wetter war schön – schö-nes sonniges Winterwetter, das mehr Reiz hat alsschönes Wetter zur Sommerszeit, weil es unerwar-tet kommt und die Lu dabei frisch ist, und weilman weiß, daß es nicht lange anhalten wird, nicht

lange anhalten kann. Es ist wie ein Glücksfall,wie ein Geschenk Gottes, wie eine unverhoeFügung.Es hielt die ganze Nordsee hinunter und durch denKanal an, bis wir etwa dreihundert Seemeilenwestlich Kap Lizard standen; dann sprang derWind auf Südwest um, und es begann kräig auf-zubrisen. Nach zwei Tagen hatten wir Sturm. DieJudea drehte bei und tanzte wie ein alter Ker-zenkasten auf dem Atlantik. Es stürmte Tag fürTag: es stürmte tückisch, ohne Unterlaß, unerbitt-lich, rastlos. Die Welt war nur noch eine einzigeUnermeßlichkeit großer, schäumender Wogen,die gegen uns anrollten, unter einem Himmel, derso tief hing, daß man ihn mit Händen hätte grei-fen können, und schmutzig wie eine verrauchteStubendecke war. In dem sturmdurchrasten Raumum uns her war so viel fliegender Gischt wie Lu.Tag für Tag und Nacht für Nacht herrschte umuns her nichts als das Heulen des Sturms, das To-ben des Meeres, das Krachen der Seen, die auf dasDeck niederstürzten. Es gab keine Ruhe, wederfür das Schiff noch für uns. Die Judea rollte,stampe, stellte sich auf den Kopf, setzte sich aufden Stert, sie schlingerte, sie ächzte, und wir muß-ten uns festhalten, solange wir an Deck, und uns

an unsere Kojen klammern, wenn wir unterDeck waren – in beständiger Seelenangst und An-spannung aller Körperkräe.Eines Nachts sprach Mahon durch das kleine Fen-ster an meiner Koje, auf der ich schlaflos lag, ge-stiefelt und mit dem Gefühl, schon jahrelang nichtmehr geschlafen zu haben, ja, gar nicht schlafenzu können, wie sehr ich mich auch anstrengte. Ersagte aufgeregt: ›Haben Sie den Peilstock hierdrinnen, Marlow? Ich kann die Pumpen nicht inGang bringen. Bei Gott! es ist kein Kinderspiel.‹Ich gab ihm den Peilstock, legte mich wieder hinund versuchte, an allerlei zu denken – doch ichdachte nur an die Pumpen. Als ich an Deck ging,waren sie noch immer dabei, und meine Wachelöste sie an den Pumpen ab. Im Licht der Lampe,die an Deck gebracht worden war, um den Peil-stock ablesen zu können, tat ich einen Blick in diemüden, ernsten Gesichter. Wir pumpten die ganz-zen vier Stunden hindurch. Wir pumpten die gan-ze Nacht, den ganzen Tag, die ganze Woche hin-durch – Wache für Wache. Die Bark arbeitete sichlose und leckte stark – nicht so stark, um uns aufder Stelle zu ertränken, doch stark genug, um unsmit der Pumparbeit umzubringen. Und währendwir pumpten, entglitt uns das Schiff stückweis:

das Schanzkleid ging über Bord, die Stützen wur-den herausgerissen, die Ventilatoren zerschlagen,die Kammertüren eingedruckt. Kein trockenesFleckchen war mehr auf dem Schiff. Stück fürStück wurde es ausgeweidet. Das Großboot ver-wandelte sich dort, wo es in seinen Bootsklam-pen stand, wie durch Zauberei in Kleinholz. Ichhatte es selbst festgezurrt und war stolz auf mei-ner Hände Arbeit gewesen, die dem Grimm derSee so lange standgehalten hatte. Und wir pump-ten. Und das Wetter änderte sich nicht. Das Meerwar weiß wie ein Laken aus Gischt, wie ein Kes-sel siedender Milch; die Wolken rissen nirgendsauf, nein – keine Handbreit – nicht für zehn Se-kunden. Für uns gab es weder Himmel noch Ster-ne, noch Sonne, noch ein Universum – nichts alszornige Wolken und eine wütende See. Wir pump-ten Wache für Wache, pumpten ums liebe Leben;und es schien Monate so weiterzugehen, Jahre, inalle Ewigkeit: als wären wir schon gestorben ge-wesen und in die Hölle der Seefahrer niedergefah-ren. Wir vergaßen den Wochentag, den Monat,vergaßen, was für ein Jahr es war und ob wir jean Land gewesen. Die Segel flogen davon, dasSchiff lag beigedreht nur mit einem Schauerkleidim Besanwant; der Ozean ergoß sich über die Bark,

und wir kümmerten uns nicht darum. Wir drehtendie Kurbeln und hatten Augen wie Schwachsin-nige. Sobald wir an Deck gekrochen waren, pfleg-te ich ein Tau um die Männer, die Pumpen undden Großmast zu legen, und wir drehten, pump-ten unablässig, während uns das Wasser bis zumGürtel, zum Hals reichte, über unseren Köpfen zu-sammenschlug. Es war uns alles gleich, wir hattenvergessen, wie es war, wenn man sich trockenfühlt.Und irgendwo in mir regte sich der Gedanke:Himmel! das ist doch ein rechtes Höllenabenteuer

– etwas, wie man es nur in Büchern liest; und esist meine erste Reise als Zweiter Offizier – undich bin erst zwanzig Jahre alt – und hier stehe ich,halte so gut durch wie jeder andere und habe mei-ne Leute in Form. Ich hatte meine Freude. DieseErfahrung hätte ich nicht um alles in der Weltdrangegeben. Ich erlebte Augenblicke der Begei-sterung. Jedesmal wenn das alte, abgetakelte Fahr-zeug mit dem Bug tief eintauchte, das Hinterteilhoch in der Lu, dann schien es mir, als schleu-dere es die auf sein Heck geschriebenen Worte wieeinen Anruf, wie eine Herausforderung, wie einenSchrei hinauf zu den erbarmungslosen Wolken:›Judea, London. Kämpfen oder untergehen.‹

O Jugend! Ihre Stärke, ihr Glaube, ihre Phanta-sie! Für mich war das Schiff nicht ein alter Kasten,der einen Haufen Kohle als Fracht mit sich umdie Welt schleppte – für mich war es das Trach-ten, die Probe, der Prüfstein des Lebens. Ich den-ke mit Freuden an das Schiff, mit Zärtlichkeit, mitKummer – wie man eines Toten gedenkt, den mangeliebt hat. Ich werde es nie vergessen … Bitte,die Flasche.Eines Nachts, als wir, an den Mast gebunden, wieich es geschildert habe, weiterpumpten, taub vomWind und ohne genügend Seelenkra in uns, umden Tod herbeizusehnen, brach eine schwere Seeauf Deck und fegte über uns hin. Sobald ich wie-der zu Atem kam, brüllte ich, ›Festhalten, Jungs!‹doch da spürte ich etwas Hartes, das an Deck triebund mir gegen die Wade schlug. Ich griff danach,verfehlte es aber. Es war so dunkel, daß auch aufFußbreite keiner des anderen Gesicht erkennenkonnte – ihr versteht!Nach dieser Erschütterung lag das Schiff eine Wei-le ruhig, und das Ding, was immer es sein mochte,schlug abermals gegen mein Bein. Diesmal bekamich es zu fassen – und was war es? Eine Pfanne.Stumpfsinnig vor Erschöpfung und an nichts an-deres als die Pumpen denkend, begriff ich anfangs

nicht, was ich da in der Hand hielt. Plötzlich däm-merte es mir, und ich brüllte: ›Leute, das Deckhausist fort. Laßt das Pumpen; wir müssen nach demKoch sehen.‹Vorne stand ein Deckhaus, das die Kombüse, dieKoje des Kochs und die Unterküne der Mann-scha enthielt. Da wir schon seit Tagen damit ge-rechnet hatten, daß es fortgespült würde, war dieMannscha angewiesen worden, achtern im Salonzu schlafen – dem einzigen sicheren Ort auf demSchiff. Der Steward Abraham jedoch hatte dar-auf bestanden, in seiner Koje zu bleiben, eigen-sinnig wie ein Maulesel – aus schierem Entsetzen,nehme ich an, einem Tier gleich, das bei einemErdbeben seinen zusammenstürzenden Stall nichtverlassen will. So machten wir uns auf, um nachihm zu suchen. Dabei mußten wir unser Leben aufsSpiel setzen, denn ohne gelascht zu sein waren wirso schutzlos wie auf einem Floß. Aber wir mach-ten uns dennoch auf. Das Haus war zertrümmert,als wäre eine Granate darin explodiert. Es warzum größten Teil über Bord gegangen – Herd,Mannschaslogis, samt den Habseligkeiten derLeute, alles war fort; doch wie durch ein Wunderwaren zwei Pfosten stehengeblieben, die einenTeil des Schotts hielten und an die Abrahams Ko-

je befestigt war. Wir tappten in den Trümmernumher und stießen auf die Pfosten, und da warer: saß auf seinem Bett, umgeben von Schaum undVerwüstung, und plapperte munter vor sich hin.Er war von Sinnen; vollkommen und für alle Zei-ten irre nach diesem Schock, den er noch hatte er-leiden müssen, als er mit seinen Kräen schon amEnde war. Wir packten ihn, schleppten ihn nachachtern und warfen ihn kopfüber durch den Ka-jütsniedergang hinunter. Ihr versteht, wir hattennicht die Zeit, ihn mit aller erdenklichen Behut-samkeit hinunterzutragen und abzuwarten, waser nun machen werde. Die da unten würden ihnschon am Fuß der Treppe auflesen. Wir hatten eseilig, zu den Pumpen zurückzukehren. Dieses Ge-schä duldete keinen Aufschub. So ein Leck ist einunmenschliches Ding.Man hätte denken können, diesem verflixtenSturm sei es nur darum zu tun gewesen, aus je-nem armen Teufel von einem Mulatten einenWahnsinnigen zu machen. Er flaute ab, noch eheder Morgen graute, und am nächsten Tag klarteder Himmel auf, und da sich die Wogen glätte-ten, kam das Leck über Wasser. Als man daran-ging, einen neuen Satz Segel anzuschlagen, ver-langte die Mannscha, daß umgekehrt werde –

und wirklich blieb uns nichts anderes übrig. DieBoote über Bord, die Decks reingefegt, die Kajüteausgeräumt, die Männer ohne ein Stück Zeug, au-ßer dem bißchen, was sie auf dem Leib trugen,der Proviant verdorben, das Schiff überanstrengt.Wir drehten um, und – ist es zu glauben? – derWind kam jetzt aus Ost, uns direkt ins Gesicht.Ein frischer stetiger Gegenwind. Wir mußtenjeden Zollbreit des Weges aureuzen, aber dasSchiff leckte nicht allzusehr, da das Wasser ver-hältnismäßig ruhig war. Von vier Stunden jeweilszwei pumpen zu müssen ist kein Spaß – doch eshielt das Schiff flott bis nach Falmouth.Die guten Leute dort leben von den Unfällen aufSee, und sie waren zweifellos froh, als sie uns sich-teten. Eine Schar hungriger Zimmerleute wetzteihre Meißel, als dieser Kadaver von einem Schiffin Sicht kam. Und wahrhaig! sie machten ganzhübsche Einnahmen an uns, ehe sie fertig waren.Ich vermute, der Eigner saß schon ziemlich fest inder Klemme. Es kam zu Verzögerungen. Dannwurde beschlossen, einen Teil der Ladung löschenund die obere Bordwand kalfatern zu lassen. Daswurde ausgeführt, die Reparaturen beendet, dieLadung wieder übergenommen; eine neue Mann-scha kam an Bord, und wir liefen aus – nach

Bangkok. Eine Woche später waren wir wiederzurück. Die Mannscha erklärte, sie ginge nichtmit nach Bangkok – eine Reise von hundertund-fünfzig Tagen – auf einem Kahn, auf dem manvon vierundzwanzig Stunden acht pumpen müsse;und die Schiffahrtszeitungen enthielten abermalsden Vermerk: ›Judea. Bark. Tyne nach Bangkok;Kohle; leck nach Falmouth zurück; Mannschaverweigert Dienst.‹Es gab weitere Verzögerungen – weitere Pfusch-arbeit. Der Eigner kam für einen Tag herunterund meinte, das Schiff sei tadellos im Schuß. Derarme alte Kapitän Beard sah wie der Geist einesKohlenschiffers aus – wegen all des Ärgers undder Demütigungen. Bedenkt, er war sechzig Jah-re alt, und dies war sein erstes Kommando. Ma-hon meinte, es sei eine faule Sache und werdenoch schlimm ausgehen. Ich liebte das Schiff mehrdenn je und wollte schrecklich gern nach Bang-kok. Nach Bangkok! Zaubername, segensvollerName. Mesopotamien war nichts dagegen. Ver-geßt nicht, ich war zwanzig, und dies war meineerste Stellung als Zweiter Offizier, und der Ostenerwartete mich.Wir verließen den Hafen und ankerten auf Au-ßenreede mit einer neuen Mannscha – der dritten.

Die Bark leckte ärger denn je. Es war, als hättendiese verflixten Zimmerleute sie tatsächlich ange-bohrt. Diesmal kamen wir gar nicht erst fort. DieMannscha weigerte sich einfach, das Ankerspillzu besetzen.Sie schleppten uns zurück zum Innenhafen, undwir wurden zu einem Inventarstück, einem Wahr-zeichen, einer Sehenswürdigkeit des Ortes. DieLeute wiesen Besucher auf uns hin als ›diese Barkda, geht nach Bangkok – seit sechs Monaten hier –dreimal umgekehrt‹. An Feiertagen wurden wirvon den kleinen Jungen, die in ihren Booten um-herruderten, angerufen: ›Judea ahoi!‹ Und wennsich ein Kopf über dem Schanzkleid zeigte, brüll-ten sie: ›Wohin geht die Reise? – nach Bangkok?‹und dann johlten sie. Wir waren nur noch zu drittan Bord. Der arme alte Kapitän döste in der Ka-jüte vor sich hin. Mahon nahm das Kochen aufsich und entwickelte die ganze Genialität einesFranzosen im Zubereiten leckerer kleiner Gerich-te. Ich kümmerte mich träge um die Takelage. Wirwurden Bürger von Falmouth. Jeder Ladenbesit-zer kannte uns. Beim Barbier oder Tabakshändlerfragte man uns vertraulich: ›Meinen Sie, daß Siewirklich je nach Bangkok kommen werden?‹ Un-terdessen zankten sich der Eigner, die Versiche-

rungsleute und die Befrachter miteinander in Lon-don, und unsere Heuer lief weiter … Bitte, dieFlasche.Es war greulich. Moralisch war es schlimmer alsums liebe Leben pumpen. Es sah so aus, als seienwir von der Welt vergessen worden, gehörten nie-mandem, würden nirgendwo landen; es sah aus,als seien wir dazu verdammt, für alle Zeiten injenem Innenhafen zu leben, zum Hohn und Ge-spött für ganze Generationen von Küstenbumm-lern und ehrlosen Bootsführern. Ich erhielt fürdrei Monate Heuer und fünf Tage Urlaub undmachte eine Blitztour nach London. Ich benötigteeinen Tag, um hinzukommen, und nahezu einenweiteren für die Rückreise – dennoch ging dieDreimonatsheuer dabei drauf. Ich weiß nicht,was ich damit anstellte. Ich ging ins Varieté, glau-be ich, speiste in einem hocheleganten Lokal in derRegent Street zu Mittag und zu Abend und warpünktlich zurück, ohne als Ergebnis meines drei-monatigen Dienstes mehr vorweisen zu könnenals eine vollständige Ausgabe der Werke Byronsund eine neue Reisedecke. Der Bootsführer, dermich zum Schiff übersetzte, sagte: ›Hallo! Ich dach-te schon, Sie hätten den alten Kasten verlassen.Der kommt bestimmt nicht mehr nach Bangkok.‹

›Damit sind Sie mit Ihrer Weisheit wohl am En-de‹, sagte ich verächtlich – doch die Prophezeiunggefiel mir nicht.Unversehens erschien ein Mann, irgend jemandesAgent, mit unbeschränkten Vollmachten. Sein Ge-sicht war mit Schnapsblüten übersät, er besaß eineunverwüstliche Energie und war eine lustige Haut.Wir erwachten wieder zu Leben. Eine Hulk kamlängsseits und nahm unsere Ladung über, unddann gingen wir ins Trockendock, um unserenKupferbelag abnehmen zu lassen. Kein Wunder,daß das Schiff leckte. Das arme Ding, das vondem Sturm so unerträglich überanstrengt wordenwar, hatte, wie aus Abscheu, alles Werg seiner un-teren Nähte ausgespien. Es wurde von neuem kal-fatert, neu mit Kupfer belegt und undurchlässigwie eine Flasche gemacht. Wir gingen zur Hulk zu-rück und nahmen unsere Ladung wieder über.Dann verließen in einer schönen Mondnacht alleRatten das Schiff.Sie hatten uns arg geplagt, hatten unsere Segelzernagt, mehr von den Vorräten vertilgt als dieMannscha, hatten traulich die Betten mit uns ge-teilt und die Gefahren, und jetzt, da das Schiffseetüchtig gemacht worden war, beschlossen sie,sich aus dem Staub zu machen. Ich rief Mahon

herbei, damit er sich das Schauspiel ansehe. Ratteum Ratte erschien auf unserem Schanzkleid, warfnoch einen Blick zurück und sprang dann mit ei-nem Plumps in die leere Hulk. Wir versuchten,sie zu zählen, kamen aber bald nicht mehr mit.Mahon sagte: ›Na, na! Reden Sie mir nicht vonder Klugheit der Ratten. Sie hätten uns schon frü-her verlassen sollen, als wir mit Ach und Krachdem Schiruch entgingen. Da haben Sie den Be-weis dafür, wie dumm dieser Rattenaberglaubeist. Sie ziehen von einem guten Schiff ab, um aufeine alte, verrottete Hulk überzuwechseln, wo esobendrein nichts zu nagen und zu beißen gibt,die Narren! … Ich glaube nicht, daß sie besserwissen als Sie oder ich, was sicher oder gut fürsie ist.‹Und nachdem wir die Unterhaltung noch etwaslänger fortgesponnen hatten, kamen wir zu demSchluß, daß die Weisheit der Ratten erheblichüberschätzt wurde, da es mit ihr tatsächlich nichtweiter her war als mit der der Menschen.Die Geschichte des Schiffes war inzwischen denganzen Kanal hinauf bekanntgeworden, vonLandsend bis zu den Foreland, und wir konntenan der Südküste keine Leute bekommen. Sie sand-ten uns eine komplette Mannscha von Liverpool

herüber, und wir gingen abermals in See – nachBangkok.Bis in die Tropen hatten wir günstigen Wind undglatte See, und die alte Judea zockelte im Son-nenschein dahin. Wenn die Bark acht Knotenmachte, knarrte im Takelwerk alles zusammen,und wir banden uns die Mützen fest; doch mei-stens schlich sie mit einer Geschwindigkeit vondrei Meilen in der Stunde dahin. Was konnte manmehr verlangen? Es war müde – das alte Schiff.Seine Jugend war dahin, wie auch die meine da-hin ist – wie es die eure ist – ihr, die ihr diesemGarn zuhört. Und welcher Freund würde euch mitder Nase auf eure Jahre und eure Müdigkeit sto-ßen? Wir murrten nicht über die Bark. Uns ach-tern zumindest kam es so vor, als wären wir be-reits auf ihr geboren, auf ihr erzogen worden, alshätten wir seit Menschengedenken auf ihr gelebt,hätten kein anderes Schiff gekannt. Ich hätte eben-sogut gegen die alte Dorirche daheim wetternkönnen, weil sie keine Kathedrale war.Und außerdem besaß ich noch meine Jugend, diemich geduldig machte. Der ganze Osten lag vormir und das ganze Leben, und da war auch derGedanke, daß ich an Bord dieses Schiffes auf dieProbe gestellt worden war und ziemlich gut abge-

schnitten hatte. Und ich gedachte früherer Men-schen, die vor Jahrhunderten in Schiffen, die nichtbesser waren als das unsere, dieselbe Route befah-ren hatten, nach dem Land der Palmen und Ge-würze und der gelben Strande und braunhäutigenVölker, die von Königen regiert wurden, welchegrausamer als Nero, der Römer, waren und wei-ser als Salomo, der Jude. Die alte Bark zockelteweiter, schwer vom Alter und der Bürde ihrerFracht, während ich das Leben der Jugend in Un-wissenheit und Hoffnung führte. Sie zockelte eineendlose Reihe von Tagen dahin; und die frischeVergoldung blitzte in den Strahlen der unterge-henden Sonne und schien über das dunkler wer-dende Meer die Worte hinauszuschreien, die aufihr Heck gemalt waren: ›Judea, London. Kämp-fen oder untergehen.‹Dann kamen wir in den Indischen Ozean und hiel-ten nach Norden auf Java Head zu. Der Windwar leicht. Die Wochen verstrichen. Die Barkkroch weiter, kämpfen oder untergehen, und dieLeute daheim begannen, uns als überfällig zumelden.Eines Samstagabends, als ich wachfrei war, batenmich die Männer um einen zusätzlichen EimerWasser oder auch mehr – damit sie ihre Sachen

waschen könnten. Da ich keine Lust hatte, zu sospäter Stunde noch die Trinkwasserpumpe anzu-schrauben, ging ich pfeifend, den Schlüssel in derHand, nach vorn, um die Vorpiekluke aufzu-schließen, in der Absicht, das Wasser aus einem Re-servetank auszuteilen, den wir dort aue-wahrten.Der Geruch dort unten war so unerwartet, wie erfürchterlich war. Man hätte denken können, indem Loch hätten seit Tagen Hunderte von Paraf-finlampen geflackert und geblakt. Ich war heil-froh, als ich wieder draußen war. Der Mann, dermich begleitete, hustete und sagte: ›Komischer Ge-ruch, Sir.‹ Ich antwortete nachlässig: ›Soll gut fürdie Gesundheit sein‹, und ging nach achtern.Als erstes streckte ich nun meinen Kopf in dieÖffnung des Mitschiffs Ventilators. Als ich denDeckel anhob, quoll ein sichtbarer Wrasen, etwaswie ein dünner Nebel, ein zarter Dunsthauch ausder Öffnung. Die aufsteigende Lu war heiß undhatte einen betäubenden, rußigen, öligen Geruch.Ich nahm eine Nase voll und schloß sacht denDeckel. Ich wollte nicht ersticken. Die Ladungbrannte.Am folgenden Tag begann das Schiff stetig zu rau-chen. Nun, was konnte man anderes erwarten;

denn war die Kohle als solche auch tadellos gewe-sen, so war sie doch so o umgeladen und dabeiso zerrieben worden, daß sie jetzt eher wie Schmie-dekohle als wie sonst etwas aussah. Außerdemwar sie feucht geworden – mehr als einmal. Esregnete die ganze Zeit über, da wir sie aus derHulk wieder übernahmen, und nun war sie aufder langen Überfahrt erhitzt worden, und so kames denn wieder einmal zu einem Fall von Selbst-entzündung.Der Kapitän rief uns in die Kajüte. Er hatte eineSeekarte vor sich auf dem Tisch ausgebreitet undblickte unglücklich drein. Er sagte: ›Die Küste vonWestaustralien ist nah, doch ich gedenke, weiter-hin auf unseren Bestimmungshafen zuzuhalten.Es ist obendrein der Orkanmonat; aber wir wol-len direkt Kurs auf Bangkok nehmen und dasFeuer bekämpfen. Keine weiteren Aufenthalte,und wenn wir auch alle geröstet werden sollten.Wir wollen zunächst einmal versuchen, diesen ver-flixten Brand durch Lumangel zum Ersticken zubringen.‹Wir versuchten es. Wir nagelten alles zu, und nochimmer rauchte die Bark. Der Rauch stieg auch wei-terhin durch unwahrnehmbare Ritzen; er drangdurch Schotten und Luken; er sickerte hier und

dort und überall in dünnen Fäden hervor, in ei-nem unsichtbaren Dunst – unfaßlich. Er suchtesich seinen Weg in die Kajüte, ins Logis; er verpe-stete die windgeschützten Winkel an Deck, mankonnte ihn bis zur Großrahe hinauf riechen. Undwenn der Rauch herauskonnte, dann konnte na-türlich auch Lu hinein. Es war entmutigend. Die-ser Brand ließ sich nicht ersticken.Wir beschlossen, es mit Wasser zu versuchen, undöffneten die Luken. Gewaltige Rauchmassen –weißlich-gelblich, dick, fettig, dunstig, zum Er-sticken – stiegen bis hinauf zu den Flaggenknöpfen.Alle Mann liefen nach achtern. Dann wurde diegiige Wolke fortgeweht, und wir machten uns ineinem Qualm an die Arbeit, der jetzt nicht dickerwar als der eines gewöhnlichen Fabrikschorn-steins.Wir nahmen die Druckpumpe in Betrieb, holtenden Schlauch längs Deck – und er platzte. Nun,er war so alt wie das Schiff – ein vorsintflutlicherSchlauch und nicht zu reparieren. Dann pumptenwir mit der schwachen vorderen Pumpe, schöpendas Wasser in Pützen herauf, und auf diese Weisegelang es uns, nach und nach viel vom IndischenOzean in die Großluke hinunterzuschütten. Derhelle Strahl blitzte in der Sonne auf, platschte in

einen weißen, kriechenden Rauchschwaden undverschwand auf der schwarzen Oberfläche derKohle. Dampf stieg auf und vermischte sich mitdem Rauch. Wir schütteten Salzwasser hinein, wiein ein Faß ohne Boden. Das Pumpen war unserSchicksal auf diesem Schiff: herauspumpen undhineinpumpen; und nachdem wir erst das Wasserdraußen gehalten hatten, um uns vor dem Ertrin-ken zu retten, gössen wir jetzt wie wild Wasserhinein, um nicht zu verbrennen.Und die Bark kroch in strahlendem Wetter dahin,kämpfen oder untergehen. Der Himmel war einWunder an Reinheit, ein Wunder an tiefer Bläue.Das Meer – spiegelblank, azurn, durchsichtig, glit-zernd wie ein kostbarer Stein – dehnte sich nachallen Seiten bis hin zum Horizont: gleichsam alssei die ganze Erdkugel ein einziges Juwel, ein ko-lossaler Saphir, ein Edelstein, geschliffen in Formeines Planeten. Und im Feuer des großen, ruhi-gen Meeres glitt die Judea verschwindend kleindahin, umgeben von schlappen, unreinen Dünsten,in einer trägen Wolke, die leewärts zog, hell undlangsam: eine Pestwolke, ein Fleck auf der Prachtdes Meeres und des Himmels.Die ganze Zeit über sahen wir natürlich keinFeuer. Die Kohle glomm irgendwo am Boden des

Laderaums. Einmal sagte Mahon, als wir Seite anSeite arbeiteten, mit einem sonderbaren Lächeln:›Wenn sie jetzt nur leckspränge – wie damals, alswir zum erstenmal den Kanal hinter uns hatten –,das würde dieses Feuer zum Erlöschen bringen.Nicht wahr?‹ Ich bemerkte beiläufig: ›ErinnernSie sich noch der Ratten?‹Wir bekämpen das Feuer und segelten so um-sichtig weiter, als wäre nichts vorgefallen. DerSteward kochte und versorgte uns. Von den übri-gen zwölf Mann arbeiteten jeweils acht, währendvier ruhten. Jeder kam an die Reihe, der Kapitäneingeschlossen. Es herrschte Gleichheit, und wennauch nicht gerade Brüderlichkeit, so doch weitge-hende Einträchtigkeit. Manchmal brüllte einMann, wenn er eine Pütze voll Wasser in die Lukegoß: ›Hurra für Bangkok!‹ und die übrigen lach-ten. Doch im allgemeinen waren wir schweigsamund ernst – und durstig. Oh! wie durstig! Undwir mußten sparsam mit dem Wasser umgehen.Knappe Rationen. Das Schiff rauchte, die Sonnesengte … Die Flasche, bitte.Wir versuchten alles. Wir machten sogar Anstren-gungen, uns zum Brandherd vorzugraben. Natür-lich ohne Erfolg. Niemand hielt es länger als eineMinute unten aus. Mahon, der als erster hinab-

stieg, wurde ohnmächtig, und dem Mann, der ihnherauolen wollte, erging es ebenso. Wir schlepp-ten sie an Deck hinauf. Dann sprang ich hinunter,um den andern zu zeigen, wie leicht das zu ma-chen sei. Sie waren inzwischen weise gewordenund beschränkten sich darauf, nach mir mit einemKettenhaken zu angeln, der, soviel ich mich er-innere, an einen Besenstiel festgebunden war. Icherbot mich nicht, noch einmal hinunterzusteigen,um meine Schaufel heraufzuholen, die unten lie-gengeblieben war.Es begann, übel auszusehen. Wir fierten das Groß-boot zu Wasser. Das zweite Boot wurde zum Aus-schwingen klargemacht. Wir hatten auch noch einanderes, ein vierzehn Fuß langes Dingi, auf Da-vits, achtern, wo es ziemlich sicher war.Dann, stellt euch vor, ließ der Rauch plötzlich nach.Wir verdoppelten unsere Anstrengungen, denUnterraum zu überfluten. In zwei Tagen war al-ler Rauch verschwunden. Jedermann trug ein brei-tes Lächeln zur Schau. Dies war an einem Freitag.Am Samstag wurde keine Arbeit getan, außer dernatürlich, die das Bedienen der Segel erforderte.Die Männer wuschen zum erstenmal seit vierzehnTagen ihre Sachen und ihre Gesichter und erhiel-ten ein besonders gutes Essen. Sie sprachen ver-

ächtlich von Selbstentzündung und gaben damitzu verstehen, sie müsse man rufen, wenn es gälte,solche Brände zu löschen. Irgendwie hatten wiralle das Gefühl, ein großes Vermögen geerbt zuhaben. Doch ein ekelhaer Brandgeruch haetedem Schiff an. Kapitän Beard hatte hohle Augenund eingesunkene Wangen. Ich hatte vorher nieso recht bemerkt, wie knorrig und gebeugt er war.Er und Mahon strichen behutsam um die Lukenund Ventilatoren und schnupperten. Ich mußteplötzlich denken, der arme Mahon sei doch einsehr, sehr alter Knabe. Was mich anlangte, so warich befriedigt und stolz, als hätte ich mein Teildazu beigetragen, eine große Seeschlacht zu gewin-nen. O Jugend!Die Nacht war schön. Am Morgen passierte unsein heimwärts laufendes Schiff, dessen Rumpfunter der Kimm blieb – das erste, das wir seit Mo-naten gesichtet hatten; doch wir näherten uns end-lich dem Land: Java Head war ungefähr hundert-neunzig Meilen entfernt und mußte bald im Nor-den auauchen.Am nächsten Tag hatte ich von acht bis zwölf UhrWache an Deck. Beim Frühstück bemerkte der Ka-pitän: ›Merkwürdig, wie dieser Geruch hier beider Kajüte hängenbleibt.‹ Gegen zehn stieg ich,

da der Erste Offizier gerade auf der Poop war,für einen Augenblick auf das Oberdeck hinunter.Die Hobelbank stand achtern dem Großmast: ichlehnte mich, meine Pfeife rauchend, dagegen, undder Schiffszimmermann, ein junger Bursche, tratherzu, um sich mit mir zu unterhalten. Er meinte:›Sieht so aus, als hätten wir ganze Arbeit gelei-stet, was?‹ und dann bemerkte ich zu meinem gro-ßen Verdruß, daß der Narr anscheinend versuch-te, die Bank umzukippen. Ich sagte schroff: ›Las-sen Sie das, Chips‹, und hatte unmittelbar daraufein merkwürdiges Gefühl, eine alberne Wahnvor-stellung – mir war nämlich, als schwebte ich durchdie Lu. Rings um mich her hörte ich so etwaswie den Aushauch eines aufgestauten Atems – soals hätten tausend Riesen gleichzeitig Puuh! ge-sagt – und dann spürte ich einen dumpfen Auf-prall, bei dem mir alle Rippen schmerzten. KeinZweifel – ich schwebte durch die Lu, und meinKörper beschrieb eine kurze Parabel. So kurz sieindessen war, blieb doch Zeit genug für allerleiGedanken, und zwar kamen sie mir – soviel ichmich entsinne – in dieser Reihenfolge: ›Das kannnicht der Schiffszimmermann sein – Was ist es al-so? – Eine Katastrophe – Vulkanausbruch unterWasser? – Kohlen, Gas! – Himmel! wir werden

in die Lu gesprengt – Alle sind tot – Ich falle indie Achterluke – Ich sehe Feuer darin.‹Der Kohlenstaub, der die Lu des Laderaums er-füllte, war im Augenblick der Explosion dunkel-rot aufgeglüht. Im Handumdrehen, den winzig-sten Bruchteil einer Sekunde nach der ersten Nei-gung der Hobelbank, lag ich längelang auf derLadung. Ich rae mich auf und kletterte hinaus.Das geschah so rasch, als wäre ich zurückgeschnellt.Das Deck war eine Wildnis zertrümmerter Bal-ken, die kreuz und quer übereinanderlagen, wienach einem Wirbelsturm die Baumstämme in ei-nem Wald; san bauschte sich vor mir ein gewal-tiger Vorhang aus grobem Tuch – es war das Groß-marssegel, das zerrissen war. Ich dachte, der Mastmüsse gleich kippen, und hastete, um nicht getrof-fen zu werden, auf allen vieren zur Pooptreppe.Der erste Mensch, dem ich begegnete, war Mahon.Er hatte Augen, groß wie Untertassen, sperrteden Mund weit auf, und das lange weiße Haarstand ihm rings um den Kopf zu Berge wie einHeiligenschein. Er war soeben im Begriff gewe-sen, hinunterzugehen, als ihn der Anblick desGroßdecks, das in Bewegung geriet, sich auf-bäumte und vor seinen Augen in Splitter verwan-delte, auf der obersten Stufe zu Stein erstarren

ließ. Ich blickte ihn ungläubig an, und er stiertemit sonderbar entsetzter Neugierde auf michherab. Ich wußte ja nicht, daß ich keine Haaremehr hatte, keine Augenbrauen, keine Wimpern,daß mein junger Schnurrbart fortgesengt, daßmein Gesicht schwarz war, die eine Wange aufge-schlitzt, meine Nase zerschrammt, und daß meinKinn blutete. Ich hatte meine Mütze verlorensamt einem meiner Pantoffel, und mein Hemdwar zerrissen. All das entging mir. Ich war ver-blü, das Schiff noch immer schwimmend zu se-hen, die Poop heil – und vor allem war ich ver-blü, noch jemand am Leben zu sehen. Auch derFriede des Himmels und die strahlende Heiter-keit des Meeres waren ausgesprochen überra-schend. Vermutlich hatte ich erwartet, sie in ei-nem Schreckensaufruhr zu sehen … Bitte, dieFlasche.Von irgendwo rief eine Stimme das Schiff an –aus der Lu, aus dem Himmel –, ich konnte esnicht sagen. Plötzlich sah ich den Kapitän – undder war von Sinnen. Er fragte mich eifrig: ›Woist nur der Kajütstisch?‹ und bei dieser Fragepackte mich das helle Entsetzen. Soeben war ichdurch die Lu geschleudert worden, versteht ihr,und dieses Erlebnis bebte noch in mir nach – ich

war mir nicht einmal ganz sicher, ob ich noch amLeben war. Mahon begann, mit beiden Füßen auf-zustampfen und schrie seinen Kapitän an: ›Güti-ger Gott! Sehen Sie denn nicht, daß das Deck indie Lu geflogen ist?‹ Ich fand die Sprache wie-der und stotterte, als sei ich mir einer großenPflichtvergessenheit bewußt geworden: ›Ich weißnicht, wo der Kajütstisch geblieben ist.‹ Es warwie ein aberwitziger Traum.Wißt ihr, was er als nächstes im Sinn hatte? Nun,er wollte die Rahen getrimmt haben. Sehr sanund wie in Gedanken verloren, bestand er darauf,daß die Fockrahe vierkant geholt werde. ›Ich weißnicht, ob noch jemand am Leben ist‹, sagte Ma-hon, den Tränen nahe. ›Gewiß‹, sagte er ruhig,›werden noch genug übrig sein, um die Fockrahevierkant zu brassen.‹Der alte Knabe war anscheinend in seiner eigenenKammer gewesen und hatte die Chronometer auf-gezogen, als die Explosion ihn um seine eigeneAchse wirbeln ließ. Sogleich sei ihm der Gedankegekommen – sagte er später –, das Schiff müsseetwas gerammt haben, und da sei er in die Ka-jüte hinausgestürmt. Hier sah er nun, daß der Ka-jütstisch verschwunden war. Als das Deck in dieLu flog, war der Tisch natürlich ins Lazarett hin-

abgefallen. Dort, wo wir am Morgen unser Früh-stück eingenommen hatten, sah er jetzt nur nochein gähnendes Loch im Boden. Dies erschien ihmso fürchterlich rätselha und beeindruckte ihn sotief, daß ihm alles, was er hernach sah und horte,als er an Deck kam, im Vergleich hierzu wie bloßeSpielerei vorkam. Und, wohlgemerkt, er stelltesogleich fest, daß das Ruder verlassen und seineBark vom Kurs abgekommen war – und sein ein-ziges Anliegen war es, dieses erbärmliche, abgeta-kelte, abgedeckte, qualmende Gerippe von einemSchiff wieder mit dem Kopf in Richtung auf denBestimmungshafen zu bringen. Bangkok! Daraufkam es ihm an. Ich sage auch, dieser ruhige, ge-beugte, krummbeinige, fast krüppelhae kleineMann war gewaltig in seiner Entschlossenheit undin seiner gelassenen Mißachtung unserer Aufre-gung. Er schickte uns mit einer gebieterischenHandbewegung nach vorn und übernahm selbstdas Ruder.Ja, das war das erste, was wir taten – wir trimm-ten die Rahen dieses Wracks! Niemand war ge-tötet oder auch nur dienstunfähig gemacht wor-den, doch jeder war mehr oder weniger verletzt.Ihr hättet sie sehen sollen! Manche waren zer-lumpt, mit schwarzen Gesichtern, wie Kohlen-

träger, wie Schornsteinfeger, und manche hattenKugelköpfe, die anscheinend glattrasiert, doch inWirklichkeit bis zur Haut abgesengt waren. An-dere von der Freiwache, die dadurch geweckt wor-den waren, daß sie aus ihren zusammenbrechen-den Kojen geschleudert wurden, zitterten undstöhnten noch, als wir uns schon wieder an dieArbeit gemacht hatten. Doch alle arbeiteten. Die-se Mannscha aus hartgesottenen LiverpoolerSeeleuten war schon vom rechten Schlag. MeinerErfahrung nach ist das immer so. Es ist die See,die ihnen das schenkt – die Weite, die Einsam-keit, die ihre dunklen, stumpfen Seelen umgibt.Ah! Nun! Wir stolperten, wir krochen, wir fielenhin, wir schüren uns die Schienbeine an denTrümmern auf – wir holten die Brassen an. DieMasten standen noch, aber wir wußten nicht, wieweit sie unten verkohlt waren. Es war fast wind-still, doch eine lange Dünung kam aus West undließ das Schiff rollen. Sie konnten jeden Augen-blick umstürzen. Wir sahen sie furchtsam an. Mankonnte nicht vorhersagen, in welcher Richtung siefallen würden.Dann zogen wir uns auf das Achterschiff zurückund sahen uns um. Das Deck war ein Gewirr vongekanteten und hochgeworfenen Bohlen, von

Splittern, von zertrümmertem Holzwerk. DieMasten erhoben sich aus diesem Chaos wie großeBäume aus verfilzten Unterholz. Die Zwischen-räume dieser Trümmermasse waren angefüllt mitetwas Weißlichem, träge Fließendem, Quirlen-dem – etwas, das wie ein fettiger Nebel aussah.Der Rauch des unsichtbaren Feuers drang wiederherauf, kroch dahin wie ein giiger, dichter Wra-sen in einem mit morschem Holz vollgestopenTal. Schon ringelten sich träge Rauchwölkchenaus der Masse zersplitterten Holzes. Hier und dortragten Balken senkrecht wie Pfosten auf. DieHäle der Nagelbank am Großmast war durchdie Fock gesaust, und der Himmel bildete einenFlecken glorreichen Blaus in der schmählich besu-delten Leinwand. Einige noch zusammenhaltendePlanken waren auf das Schanzkleid gefallen, undihr eines Ende hing über Bord hinaus wie eineLaufplanke, die ins Nichts führt, über das tiefeMeer hin, in den Tod – als wollte sie uns einla-den, sogleich über sie zu treten und mit unseremlächerlichen Ungemach abzuschließen. Und den-noch rief die Lu, der Himmel – ein Geist, etwasUnsichtbares das Schiff an.Jemand besaß die Geistesgegenwart, über dasSchanzkleid zu blicken, und da war der Ruder-

mann, der impulsiv über Bord gesprungen warund der jetzt zurückkommen wollte. Er brüllteund schwamm munter wie ein Meermann undhielt Schritt mit dem Schiff. Wir warfen ihm einTau zu, und alsbald stand er trief naß und sehrkleinmütig unter uns. Der Kapitän hatte das Ru-der abgegeben, stand abseits und starrte, die El-lenbogen auf die Reling gestützt und das Kinn inder Hand, wehmütig auf das Meer. Wir fragtenuns: Was nun? Ich dachte: Das ist wirklich ein-mal was Rechtes. Das ist groß. Was jetzt wohlgeschehen mag? O Jugend!Plötzlich sichtete Mahon weit achtern einenDampfer. Kapitän Beard sagte: ›Wir können’smit der Bark vielleicht doch noch schaffen.‹ Wirheißten zwei Flaggen, was in der internationalenSprache der Seefahrt besagt: ›Feuer im Schiff. Er-bitten sofortige Hilfe.‹ Der Dampfer wurde raschgrößer und zeigte bald zwei Flaggen im Vortopp.Sie hatten die Bedeutung: ›Ich komme Ihnen zuHilfe.‹Eine halbe Stunde später war er heran, luvwärts,in Rufweite, und rollte leicht mit gestoppter Ma-schine. Wir verloren die Fassung und schrien alleauf einmal: ›Wir sind in die Lu geflogen.‹ EinMann in weißem Tropenhelm auf der Brücke rief:

›Ja! Schon gut! Schon gut!‹ nickte mit dem Kopf,lächelte und machte beruhigende Handbewegun-gen wie vor einer erschreckten Kinderschar. Einesder Boote ging zu Wasser und kam mit langenSchlägen über das Meer zu uns herüber. Vier Ka-laschen pullten kräig an den Riemen. Dies wardas erste Mal, daß ich malaiische Seeleute zu Ge-sicht bekam. Ich habe sie seither zur Genüge ken-nengelernt, doch was mich damals beeindruckte,das war ihre Gleichmütigkeit: sie kamen längs-seits, und nicht einmal der Bugmann, der aufge-standen war und sich mit dem Bootshaken an denGroßrüsten festhielt, geruhte, seinen Kopf zu he-ben und einen Blick hinauf zuwerfen. Ich dachte,Leute, deren Schiff in die Lu geflogen ist, hättenmehr Beachtung verdient.Ein kleiner Mann, spindeldürr und beweglich wieein Affe, kletterte herauf. Es war der Erste Offi-zier des Dampfers. Er warf einen Blick auf dasDeck und rief: ›O Leute – ihr verlaßt besserdas Schiff.‹Wir schwiegen. Er unterhielt sich eine Weile ab-seits mit dem Kapitän – schien ihn überreden zuwollen. Dann fuhren sie gemeinsam zum Damp-fer hinüber.Als unser Kapitän zurückkehrte, hörten wir, daß

der Dampfer die Somerville sei, Kapitän Nash,von Westaustralien nach Singapore, via Batavia,mit Post, und daß man übereingekommen sei, unsins Schlepptau zu nehmen und nach Anjer oder,wenn möglich, nach Batavia zu bringen, wo wirdas Feuer durch Fluten des Laderaums löschenund danach unsere Reise fortsetzen könnten –nach Bangkok! Der alte Herr schien ganz aufge-regt. ›Wir werden es doch noch schaffen‹, sagte ermit Ungestüm zu Mahon. Er hob trotzig dieFaust zum Himmel. Niemand sonst sagte einWort.Um die Mittagszeit begann der Dampfer zuschleppen. Schlank und hoch lief er vor uns her,und was von der Judea übrig war, folgte am Endeeiner siebzig Faden langen Schlepptrosse – folgteihm eilig wie eine Rauchwolke, aus der obenMastspitzen herausragten. Wir gingen in die Top-pen, um die Segel festzumachen. Wir husteten,waren aber gewissenha bemüht, die Segel glattauf die Rahen zu holen. Könnt ihr euch vorstel-len, wie unsere Schar sauber die Segel diesesSchiffes festmachte, das dazu verurteilt war, nir-gends hinzugelangen? Unter uns war keiner, dernicht damit rechnete, daß jeden Augenblick dieMasten kippen könnten. Von dort oben konnten

wir vor Rauch das Schiff nicht sehen, und dieMänner arbeiteten doch mit Sorgfalt, holten dieSeisinge in gleichmäßigen Törns herum. ›Hafen-mäßig festmachen – ihr da oben!‹ rief Mahonvon Deck.Versteht ihr? Ich glaube, daß keiner der Burschendamit rechnete, auf normale Weise wieder hinun-terzugelangen. Als es dann doch geschah, hörteich sie untereinander sagen: ›Nun, ich dachteschon, wir kämen über Bord herunter, in Bauschund Bogen – samt Masten und allem –, verdammmich, wenn ich das nicht dachte.‹ ›Das dachte ichim stillen auch‹, antwortete dann müde eine an-dere zerschrammte und verbundene Vogelscheu-che. Und wohlgemerkt: dies hier waren Männer,denen die eingedrillte Gewohnheit des Gehorsamsfehlte. Einem Zuschauer wären sie als übles Lum-penpack erschienen, ohne jeden versöhnlichenZug. Was veranlaßte sie, dies zu vollbringen – wasveranlaßte sie, mir zu gehorchen, als ich, völlig imklaren darüber, wie gut das sei, sie zweimal dieMitte des Fock wieder losmachen ließ, damit siedas Segel noch besser festmachten? Was? Sie hat-ten keine Berufsehre – hatten keine Vorbilder, er-warteten kein Lob. Es war nicht Pflichtgefühl;sie wußten alle sehr wohl, wie man sich drückt,

wie man faulenzt und einer Sache ausweicht –wenn sie es darauf anlegten –, und das hatten siemeistens getan. Waren es die zweieinhalb Pfundpro Monat, die sie hier heraufschickten? Sie hiel-ten ihre Heuer nicht halbwegs für angemessen.Nein, es war etwas in ihnen, etwas Eingeborenesund Verborgenes und Dauerhaes. Ich möchtenicht gerade behaupten, daß die Besatzung einesfranzösischen oder deutschen Handelsschiffes nichtebensolches vollbracht hätte, aber ich bezweifle,daß sie es in derselben Weise vollbracht hätte. EineVollkommenheit lag darinnen, etwas, das gedie-gen war wie ein Prinzip und unfehlbar wie einInstinkt – eine Offenbarung von etwas Gehei-mem – von jenem verborgenen Etwas, jener Be-gabung zum Guten oder Bösen, die Rassenunter-schiede ausmacht, die das Geschick einer Nationformt.In dieser Nacht um zehn Uhr war es, daß wir zumerstenmal, seitdem wir es bekämpen, des Feuersansichtig wurden. Von der Fahrt in Schlepp warder schwelende Brand angefacht worden. Einblauer Glanz tauchte vorne auf und leuchtete un-ter den Trümmern des Decks hervor. Er verschobsich, schien sich zu regen und weiterzukriechen,wie das Licht eines Glühwürmchens. Ich sah ihn

als erster und meldete es Mahon. ›Dann ist es ausmit dem Spiel‹, sagte er. ›Wir sollten das Schlep-pen lieber abstoppen, sonst schlagen die Flammenplötzlich vorn und achtern hoch, ehe wir von Bordkommen.‹ Wir begannen zu brüllen, läuteten dieSchiffsglocke, um die Aufmerksamkeit der ande-ren auf uns zu lenken; sie schleppten weiter.Schließlich mußten Mahon und ich nach vorn krie-chen und die Trosse mit einer Axt kappen. Es bliebkeine Zeit, sie loszuwerfen. Man konnte die ro-ten Flammenzungen sehen, die um das Splitter-werk unter unseren Füßen leckten, als wir uns ei-nen Weg zur Poop bahnten.Natürlich bemerkten sie auf dem Dampfer sehrbald, daß die Trosse los war. Sie gaben einen lan-gen Warnton mit der Dampfpfeife, man sah, wiedie Seitenlichter einen weiten Kreis beschrieben;dann kam der Dampfer dicht längsseits und stopp-te. Wir standen alle eng zusammengedrängt aufder Poop und schauten hinüber. Jeder hatte einkleines Bündel oder einen Seesack gerettet. Plötz-lich schoß auf dem Vorschiff eine kegelförmigeFlamme mit spiralig gewundener Spitze hoch undwarf einen Lichtkreis auf das schwarze Meer, indessen Mittelpunkt die beiden Schiffe Seite an Sei-te lagen und san auf und nieder stampen. Seit

Stunden hatte Kapitän Beard reglos und stummauf der Gräting gesessen, doch jetzt erhob er sichlangsam und trat vor uns an die Besanwanten.Kapitän Nash rief: ›Kommen Sie! Beeilen Siesich. Ich habe Post an Bord. Ich nehme Sie und IhreBoote nach Singapore mit.‹›Vielen Dank! Nein!‹ sagte unser Kapitän. ›Wirmüssen das Ende des Schiffes abwarten.‹›Ich kann mich nicht länger aualten‹, rief derandere. ›Post – Sie wissen.‹›Ja! Ja! Wir kommen schon durch.‹›Also gut! Ich werde Sie in Singapore melden …Auf Wiedersehen!‹Er winkte mit der Hand. Unsere Männer ließenstill ihre Bündel sinken. Der Dampfer nahm Fahrtauf und entschwand, als er den Lichtkreis verlas-sen, sogleich unseren Blicken, die von den wütendauflodernden Flammen geblendet wurden. Undda wußte ich, daß ich den Osten zum erstenmalals Kommandant eines kleinen Bootes sehen wür-de. Ich fand das schön; und auch die Treue gegendas alte Schiff war schön. Wir sollten sein Endeabwarten. Oh, der zauberische Glanz der Jugend!Oh, das Feuer in ihr, blendender als die Flammeneines brennenden Schiffes, das Feuer, das sein ma-gisches Licht über die weite Erde wir und kühn

zum Himmel aufspringt, und das alsbald von derZeit erdrückt wird, die grausamer, erbarmungslo-ser, bitterer ist als das Meer – und gleich den Flam-men des lodernden Schiffes war es, das Feuer derJugend, von undurchdringlicher Nacht umgeben.

Der alte Mann wies uns in seiner sanen und un-beugsamen Art darauf hin, daß es ein Teil unsererPflicht sei, so viel von der Ausrüstung des Schiffes,wie wir nur könnten, für die Versicherungsgesell-scha zu retten. Demgemäß machten wir uns ach-tern an die Arbeit, während vorne das Schiff inFlammen stand und uns reichlich Licht spendete.Wir zerrten eine Menge unnützes Zeug an Deck.Was retteten wir nicht alles? Ein altes Barometer,das mit einer Unmenge Schrauben befestigt war,kostete mich fast mein Leben: ich geriet plötzlichin eine Raucheruption und entkam nur mit knap-per Not. Es waren einige Vorräte vorhanden, Se-geltuchballen, Taurollen; die Poop glich einemAusrüstungslager, und die Boote wurden bis zumDollbord vollgestop. Man hätte meinen können,der alte Mann wolle so viel von seinem erstenKommando mitnehmen, wie nur irgend möglich. Erwar sehr, sehr ruhig, doch offensichtlich nicht mehrganz bei Verstand. Ist es zu fassen? Er wollte eine

Kettenlänge eines alten Stromankers und einenWarpanker in das Großboot mitnehmen. Wir sag-ten ehrerbietig: ›Ja, ja, Sir‹, und beförderten dieseDinge insgeheim über Bord. Auch die schwere Arz-neikiste ging diesen Weg, zwei Sack grüneKaffeebohnen, Farbdosen – stellt euch vor, Far-be! – ein ganzer Haufen solchen Plunders. Dannwurde ich mit zwei Matrosen in die Boote ge-schickt, um alles zu verstauen und dafür zu sor-gen, daß sie klar waren, wenn es Zeit wurde, dasSchiff zu verlassen.Wir brachten alles in Ordnung, setzten den Mastdes Großbootes ein, das der Kapitän führen woll-te, und ich bedauerte nicht, mich für einen Augen-blick setzen zu können. Mein Gesicht fühlte sichwund an, die Glieder schmerzten, als wären sieallesamt gebrochen, ich spürte meine Rippen undhätte geschworen, eine Rückgratzerrung davonge-tragen zu haben. Die Boote hinter dem Heck la-gen in tiefem Schatten, und ringsum konnte ichden Kreis des Meeres sehen, der von der Feuers-brunst beleuchtet wurde. Vorne loderte senkrechtund klar eine mächtige Flamme. Sie flackerte wü-tend, begleitet bald von Donnergrollen, bald voneinem Geräusch wie Flügelschwirren. Man hörteGeknatter und Geknall, und von dem Flammen-

kegel stoben hoch die Funken auf, da der Menschnun einmal zur Mühsal geboren ist, zu leckenSchiffen und zu Schiffen, die in Flammen stehen.Was mich ärgerte, war, daß die Boote, da dasSchiff quer zur Dünung und dem bißchen Brise,das wir hatten, lag – einem bloßen Lüchen –,nicht achtern bleiben wollten, wo sie sicher gewe-sen waren, sondern in der dickfelligen Art, dieBooten eigen ist, beharrlich versuchten, unter dasHeck und dann längsseits zu treiben. Sie stießen ge-fährlich gegeneinander und gerieten in die Näheder Flammen, während das Schiff gegen sie rollte.Und natürlich war ständig zu befürchten, daß dieMasten über Bord gingen. Ich und meine beidenLeute hielten die Boote, so gut wir es mit Riemenund Bootshaken vermochten, vom Schiff ab; abersich unentwegt mit den Booten abplagen zu müs-sen wurde auf die Dauer sehr lästig; zumal nichteinzusehen war, weshalb wir das Schiff nicht un-verzüglich verlassen sollten. Die an Bord warennicht zu sehen, und wir konnten uns gar nicht vor-stellen, was diese Verzögerung bewirkt habenmochte. Die Leute fluchten leise, und ich hattenicht nur meinen Teil der Arbeit zu leisten, son-dern mußte auch noch zwei Männer bei der Stan-ge halten, die eine beständige Neigung zeigten,

sich niederzulegen und den Dingen ihren Lauf zulassen.Schließlich rief ich hinauf: ›Heh, an Deck‹, und je-mand blickte über die Reling. ›Wir sind hier klar‹,sagte ich. Der Kopf verschwand und tauchte gleichwieder auf. ›Der Kapitän sagt, es sei gut, und daßdie Boote ja klar vom Schiff gehalten würden.‹Eine halbe Stunde verstrich. Plötzlich entstand einfürchterliches Getöse, Rattern, Kettengeklirr, Ge-zisch, und dann stoben Millionen Funken in derbebenden Rauchsäule auf, die in leichter Schrägeüber dem Schiff stand. Die Kranbalken waren ver-brannt, und die beiden rotglühenden Anker warenins Meer gefallen, wobei sie zweihundert Fadenglühendheißer Ketten mit sich rissen. Das Schifferzitterte, die Flammenmasse schwankte, als seisie bereit, in sich zusammenzusinken, und dieBramstenge kam von oben. Sie sauste wie einFeuerpfeil nieder, schoß ins Wasser und tauchtesogleich wieder in Riemenlänge von den Bootenauf; dann trieb sie ruhig und sehr schwarz überdas beleuchtete Meer. Ich rief abermals das Deckan. Nach einer Weile erschien ein Mann und unter-richtete mich unerwartet munter und in gedämpf-tem Ton, so als versuche er, mit vollem Mund zusprechen: ›Kommen sogleich, Sir.‹ Dann ver-

schwand er wieder. Eine Weile hörte ich nichts alsdas Schwirren und Brüllen des Feuers. Auch pfei-fende Geräusche waren darunter. Die Boote tanz-ten, zerrten an den Bootsleinen, rannten spiele-risch ineinander, schlugen mit den Dollen gegen-einander, oder – wir mochten uns anstellen, wiewir wollten – schwangen alle auf einmal gegen dieBordwand. Ich hielt es nicht länger aus, kletterteein Tauende hoch und sprang über das Heck anBord.Oben war es taghell. Die Feuerwand, auf die ichstieß, als ich herauam, war ein erschreckenderAnblick und die Hitze anfangs kaum zu ertragen.Auf einem Sofapolster, das aus der Kajüte gezerrtworden war, schlief Kapitän Beard, die Beinehochgezogen und den einen Arm unter dem Kopf,während der Feuerschein über ihn hinzuckte.Wißt ihr, womit das übrige Schiffsvolk beschäf-tigt war? Es saß auf dem Achterdeck um eine of-fene Kiste, aß Brot und Käse und trank dazuBier aus Flaschen.Vor diesem Hintergrund wütend über ihren Köp-fen aufzüngelnder Flammen schienen sich dieMänner zu Hause zu fühlen wie Salamanderund sahen dabei aus wie eine Rotte verwegenerPiraten. Das Feuer funkelte im Weiß ihrer Aug-

äpfel, glänzte auf der hellen Haut, die durch zer-fetzte Hemden schimmerte. Jeder trug Spuren ansich wie von einer Schlacht – hier ein verbundenerKopf, dort ein Arm in der Schlinge, schmutzigeLappen um ein Knie – und jeder hatte eine Flaschevor sich stehen, ein Stück Käse in der Hand. Mahonstand auf. Mit seinem prächtigen, abenteuerlichenKopf, seinem hakennasigen Profil, seinem langenweißen Bart und mit der entkorkten Flasche in derHand ähnelte er einem jener tollkühnen Seeräuberfrüherer Zeiten, die es sich wohl sein ließen inmittenvon Unheil und Zerstörung, ›Die letzte Mahlzeitan Bord‹, erklärte er feierlich. ›Wir hatten denganzen Tag noch nichts gegessen, und es hat kei-nen Sinn, dies alles umkommen zu lassen.‹ Erschwenkte die Flasche und deutete auf den schla-fenden Kapitän. ›Er sagte, er bringe doch nichtshinunter, so überredete ich ihn, sich hinzulegen‹,fuhr Mahon fort; und ich starrte ihn an. ›Ichweiß nicht, ob Sie sich bewußt sind, junger Mann,daß die Leute schon seit Tagen nicht mehr richtiggeschlafen haben – und in diesen Booten wird esebenfalls verdammt wenig Schlaf geben.‹ ›Es wirdbald keine Boote mehr geben, wenn Sie sich nochlange hier oben herumdrücken‹, sagte ich ärger-lich. Ich schritt zum Kapitän und rüttelte ihn an

der Schulter. Schließlich öffnete er die Augen,rührte sich aber nicht. ›Zeit, von Bord zu gehen,Sir‹, sagte ich leise.Er stand mühsam auf, warf einen Blick auf dieFlammen, auf das Meer – glitzernd rings um dasSchiff, und weiter draußen schwarz, schwarz wieTinte. Er blickte zu den Sternen auf, die schwachdurch einen dünnen Rauchschleier schimmerten –in einem Himmel, der schwarz war, schwarz wieErebos.›Die Jüngsten voran‹, sagte er.Und der Leichtmatrose wischte sich den Mund mitdem Handrücken ab, stand auf, kletterte über dieHeckreling und verschwand. Andere folgten. Schonim Begriff überzusteigen, hielt einer von ihneninne, um seine Flasche zu leeren und sie dann mitkräigem Schwung ins Feuer zu werfen. ›Da hastdu was‹, rief er.Untröstlich, zauderte der Kapitän noch immer,und wir ließen ihn oben zurück, damit er eineWeile allein Zwiesprache mit seinem ersten Kom-mando halten könne. Dann kletterte ich abermalshinauf und brachte ihn schließlich vom Schiff her-unter. Es war auch höchste Zeit. Die eisernen Stüt-zen auf der Poop fühlten sich schon heiß an.Dann wurde die Fangleine gekappt, und die drei

miteinander verbundenen Boote trieben vom Schiffab. Es war genau sechzehn Stunden nach der Ex-plosion, als wir das Schiff verließen. Mahon über-nahm den Befehl im zweiten Boot, und ich bekamdas kleinste – das Vierzehn-Fuß-Dingi. Das Groß-boot hätte uns mit Leichtigkeit alle aufnehmenkönnen; doch der Kapitän hatte ja darauf bestan-den, soviel wie möglich von der Schiffsausrüstungzu retten (für die Versicherungsgesellscha) – undso erhielt ich mein erstes Kommando. Ich hattezwei Männer unter mir, einen Sack Bisquits, einpaar Büchsen Fleisch und ein Bootsfaß mit Was-ser. Ich hatte Order, mich dicht beim Großbootzu halten, damit wir im Fall eines Unwettersübergenommen werden könnten.Und wißt ihr, was ich im Sinn hatte? Ich beab-sichtigte, mich so bald als möglich von den andernzu trennen. Ich wollte mein erstes Kommandoganz für mich allein haben. Ich dachte nicht dar-an, im Geschwader zu segeln, wenn sich die Gele-genheit zu einer unabhängigen Kreuzfahrt bot.Ich wollte selbständig an Land kommen. Ich woll-te die anderen Boote schlagen. Jugend! Allesnur Jugend! Die dumme, zauberhae, herrlicheJugend.Doch wir setzten uns nicht sogleich in Bewegung.

Wir mußten ja erst das Ende des Schiffes abwar-ten. Und so trieben in jener Nacht die Boote um-her, hoben und senkten sich in der Dünung. DieMänner dämmerten vor sich hin, wachten auf,seufzten, stöhnten. Ich sah das brennende Schiffan.Zwischen der Dunkelheit der Erde und des Him-mels brannte es lichterloh auf einer Scheibe pur-purnen Wassers, das durchwirkt war vom blutro-ten Funkenspiel: auf einer zugleich glitzerndenund finsteren Wasserscheibe. Eine hohe, klareFlamme, eine gewaltige und einsame Flamme,wuchs aus dem Ozean, und von ihrer Spitze quollder schwarze Rauch unablässig in den Himmel.Das Schiff brannte wütend, trauervoll und impo-sant wie ein Scheiterhaufen, der des Nachts ent-facht wird, umgeben vom Meer, bewacht von denSternen. Ein strahlender Tod ward dem altenSchiff wie eine Gnade, wie ein Geschenk, wie eineBelohnung am Ende seiner mühseligen Tage be-schieden. Die Hingabe seines müden Geistes in dieObhut der Sterne und des Meeres war ergreifendwie der Anblick eines glorreichen Sieges. Kurz vorMorgengrauen fielen die Masten, und für einenAugenblick kam es zu einem Schwall und Gestö-ber von Funken, der die geduldige und wachsame

Nacht, die riesige Nacht, die schweigend über demMeer lag, mit flirrendem Feuer erfüllte. Bei Tages-anbruch war die Bark nur noch ein verkohltesGerippe, das gemächlich unter einer Rauchwolkedahintrieb und in sich eine glühende Kohlenmas-se barg.Dann nahmen wir die Riemen bei, die Boote for-mierten sich in Linie und fuhren wie in einer Pro-zession um das Schiff herum – das Großboot ander Spitze. Als wir um das Heck pullten, schoßvon dort ein schlanker Feuerstrahl bösartig nachuns heraus, und unversehens versank das Schiffunter gewaltigem Gezisch kopfüber in den Fluten.Das noch nicht aufgezehrte Heck verschwand alsletztes; doch die Farbe war fort, war geborsten,war abgeblättert, und keine Lettern standen mehrdort, kein Wort, keine trotzige Devise, die wiedes Schiffes Seele gewesen – nichts, womit es deraufgehenden Sonne sein Glaubensbekenntnis, sei-nen Namen hätte entgegenfunkeln können.Wir machten uns auf den Weg nach Norden. EineBrise kam auf, und gegen Mittag fanden sich alleBoote zum letztenmal zusammen. Ich hatte indem meinen weder Mast noch Segel; doch ich fer-tigte aus einem überzähligen Riemen einen Mastan und zog eine Bootsplane als Segel auf, mit

einem Bootshaken als Rahe. Das Boot war frei-lich übertakelt; doch ich hatte die Genugtuung zuwissen, daß ich mit dem achterlichen Wind diebeiden anderen Boote schlagen würde. Ich mußteauf sie warten. Dann taten wir alle einen Blickauf die Seekarte des Kapitäns und erhielten nacheinem geselligen Mahl, bestehend aus Hartbrotund Wasser, unsere letzten Instruktionen. Sie wa-ren recht einfach: nach Norden halten und sodicht wie möglich zusammenbleiben. ›Seien Sievorsichtig mit dieser Nottakelung, Marlow‹, sag-te der Kapitän; und Mahon rümpe, als ich stolzan seinem Boot vorbeisegelte, die gebogene Naseund rief: ›Sie segeln Ihr Schiff noch unter Wasser,wenn Sie sich nicht vorsehen, junger Mann.‹ Erwar ein boshaer alter Geselle – und möge ihn dieSee, in der er jetzt ruht, sacht wiegen, liebevoll,bis ans Ende der Zeit!Vor Sonnenuntergang ging ein schwerer Regen-schauer über die beiden Boote hinweg, die weitachteraus fuhren, und das war das letzte, was ichfür eine Weile von ihnen sah. Am nächsten Tagsaß ich am Ruder meiner Nußschale – mein erstesKommando –, mit nichts als Wasser und Himmelum mich her. Am Nachmittag sichtete ich die oberenSegel eines Schiffes in weiter Ferne, sagte aber nichts,

und meine Leute bemerkten sie nicht. Wißt ihr, ichfürchtete, das Schiff könnte auf der Heimfahrtsein, und ich hatte nicht die Absicht, vor denPortalen des Ostens umzukehren. Ich hielt meinBoot auf Java zu – auch so ein gesegneter Name –gleich Bangkok, wißt ihr. Ich steuerte viele Tage.Ich muß euch nicht erst sagen, was es bedeutete,sich in einem offenen Boot durchzuschlagen. Icherinnere mich an nächte- und tagelange Wind-stille, in der wir pullen mußten – pullen, währenddas Boot stillzustehen schien – wie verhext imZirkel des Horizonts. Ich erinnere mich an dieHitze, die Sintflut der Regenschauer, die uns umsliebe Leben Wasser schöpfen ließen (aber auch un-ser Bootsfaß füllten), und ich erinnere mich ansechzehn Stunden ohne Unterbrechung, mit einemMund trocken wie Schlacke, den Steuerriemen überdas Heck ausgelegt, um den Kopf des Bootes ge-gen die stürmische See zu halten. Bis dahin hatteich nicht gewußt, was ich für ein Kerl war. Icherinnere mich an die langen Gesichter, die entmu-tigten Figuren meiner beiden Leute, und ich er-innere mich an meine Jugend und das Gefühl,das nie wiederkehren wird – das Gefühl, ichkonnte in alle Ewigkeit aushalten, könnte dasMeer, die Erde und alle Menschen überdauern;

das trügerische Gefühl, das uns in Freuden, inGefahren, in die Liebe lockt, in eitle Unter-nehmungen – in den Tod; das glorreiche Bewußt-sein der Stärke; die Hitze des Lebens in dieserHandvoll Staub; die Glut des Herzens, die mitjedem Jahr trüber wird, kälter, kleiner, und er-lischt – und erlischt, zu bald, allzu bald – noch vordem Leben selbst.Und so nun sehe ich den Osten. Ich habe seine ge-heimen Plätze geschaut und in seine innerste Seelegeblickt; aber nun sehe ich ihn immer von einemkleinen Boot aus: einen hohen Gebirgszug, blauund in weiter Ferne – am Morgen; ein leichterDunst – am Mittag; eine gezackte Purpurwand –bei Sonnenuntergang. Ich habe noch das Gefühldes Steuerriemens in der Hand, das Bild der sen-genden blauen See vor Augen. Und ich sehe eineBucht, eine breite Bucht, glatt wie Glas und blankwie Eis, schimmernd in der Dunkelheit. In derFerne brennt ein rotes Licht über der Düsternis desLandes, und die Nacht ist weich und warm. Mitschmerzenden Armen ziehen wir an den Riemen,und plötzlich dringt ein Windstoß, ein saner undlauer Windstoß, beladen mit sonderbaren Düenvon Blüten, von aromatischen Hölzern, aus derstillen Nacht – der erste Hauch des Ostens, der

über mein Gesicht streicht. Das werde ich nie ver-gessen. Es war unfaßbar und betörend wie ein Zau-ber, wie eine geflüsterte Verheißung geheimnis-voller Freuden.Wir hatten auf dieser letzten Wegstrecke elfStunden lang gepullt. Zwei Mann pullten, undderjenige, der gerade an der Reihe war auszuruhen,saß am Steuerriemen. Wir hatten das rote Licht injener Bucht ausgemacht und hielten darauf zu,in der Annahme, daß es einen kleinen Küstenha-fen bezeichne. Wir kamen an zwei Booten vor-über, fremdländischen Fahrzeugen mit hohemHeck, die vor Anker liegend schliefen, und als wiruns dem Licht näherten, das jetzt sehr schwachleuchtete, stießen wir mit dem Steven des Bootesgegen den Molenkopf. Wir waren blind vor Er-schöpfung. Meine Leute ließen die Riemen sinkenund fielen wie tot von den Duchten herunter. Ichmachte an einem Pfahl fest. Eine sane Strömungkräuselte das Wasser. Das duende Dunkel derKüste gliederte sich in riesige Massen, die dichtenSchatten gewaltig wuchernder Vegetation – stum-me, phantastische Gebilde. Und darunter schim-merte schwach der Halbkreis des Strandes, wieeine Spukerscheinung. Nirgends ein Licht, eineBewegung, ein Laut. Der rätselhae Osten sah

mich an, duend wie eine Blume, schweigend wieder Tod, dunkel wie das Grab.Und da saß ich, unsäglich müde, frohlockend wieein Eroberer, schlaflos und bezaubert, als stündeich vor einem abgründigen, einem schicksalvollenRätsel.Das Klatschen von Riemen, deren gleichmäßigerSchlag auf der Wasserfläche widerhallte und ge-gen die Stille des Gestades wie lautes Getöse wirk-te, ließ mich auffahren. Ein Boot, ein europäischesBoot, kam herein. Ich beschwor den Namen derToten; ich rief: Judea ahoi! Ein schwacher Rufantwortete mir.Es war der Kapitän. Ich hatte das Flaggschiff umdrei Stunden geschlagen, und ich freute mich, desalten Mannes Stimme wieder zu hören, zittrig underschöp. ›Sind Sie es, Marlow?‹ ›Geben Sie achtauf den Molenkopf, Kapitän‹, rief ich.Er kam behutsam näher und machte mit der Tief-see-Lotleine fest, die wir gerettet hatten – fürdie Versicherungsgesellscha. Ich fierte meineFangleine etwas auf und kam längsseits. Da saßer, eine in sich zusammengesunkene Gestalt, imHeck, naß vom Tau, die Hände im Schoß gefal-tet. Seine Leute schliefen schon. ›Es war fürchter-lich für mich‹, murmelte er. ›Mahon ist hinter uns

– nicht sehr weit.‹ Wir unterhielten uns flüsternd,sehr leise flüsternd, als fürchteten wir, das Landzu wecken. Kanonen, Donner, Erdbeben hättendie Mannscha damals nicht aufwecken können.Als ich mich einmal, während wir uns unterhiel-ten, umsah, erblickte ich weit draußen auf See einhelles Licht, das durch die Nacht glitt. ›Da fährtein Dampfer an der Bucht vorüber‹, sagte ich. Erfuhr nicht vorüber, er fuhr herein und kam sogardicht heran und ging vor Anker. ›Könnten Siewohl feststellen‹, sagte der alte Mann, ›ob es einenglisches Schiff ist. Vielleicht nehmen die uns ir-gendwohin mit.‹ Er schien furchtbar besorgt. Alsobrachte ich durch Rütteln und Fußtritte einenmeiner Leute in schlafwandlerische Bewegung,gab ihm einen Riemen in die Hand, nahm selberden anderen und pullte auf die Lichter desDampfers zu.Gemurmel war zu hören auf dem Schiff; metallischdumpfes Klirren im Maschinenraum, Schritte anDeck. Die Bullaugen leuchteten wie weit aufge-rissene Augen. Gestalten bewegten sich dahinter,und hoch oben auf der Brücke stand ein schatten-haer Mann. Er bemerkte den Schlag meinerRiemen.Und dann, noch ehe ich meinen Mund auun

konnte, sprach der Osten zu mir, doch mit einerwestlichen Stimme. Ein Wortschwall ging in derrätselhaen, der schicksalsvollen Stille über michhernieder; fremdländische, zornige Worte, ver-mischt mit Worten, ja ganzen Sätzen in gutemEnglisch, die weniger fremd, aber um so überra-schender wirkten. Die Stimme fluchte und stießwüste Verwünschungen aus; sie zerriß den feier-lichen Frieden der Bucht mit ihren Schmähsal-ven. Sie begann, mich Schwein zu nennen undsteigerte sich zu unaussprechlichen Adjektiven

– und zwar in Englisch. Der Mann dort obentobte in zwei Sprachen, und noch dazu mit einersolchen Offenherzigkeit, daß ich beinahe zu derÜberzeugung gelangte, ich hätte mich irgendwiegegen die Harmonie des Universums vergangen.Ich konnte ihn kaum sehen, doch ich begann zufürchten, er steigere sich noch in einen Tobsuchts-anfall.Plötzlich verstummte er, und ich hörte ihn wieeinen Tümmler schnaufen und prusten. Ich sagte:›Was für ein Dampfer ist das, bitte?‹›Wie? Was ist das? Und wer sind Sie?‹›Schirüchige einer englischen Bark, die auf Seeverbrannte. Wir kamen heute nacht hierher. Ichbin der Zweite Steuermann. Der Kapitän ist im

Großboot und läßt Sie fragen, ob Sie uns mitneh-men könnten.‹›Ach, du meine Güte! Aber … Dies ist die Cele-stial aus Singapore auf der Rückreise. Ich werdedie Sache morgen früh mit Ihrem Kapitän abma-chen, … und, … was ich sagen wollte … habenSie mich gerade eben gehört?‹›Man sollte meinen, die ganze Bucht habe Sie ge-hört.‹›Ich dachte, Sie wären ein Küstenboot. Sehen Sie

– dieser höllische faule Lump von einem Wärterhat wieder einmal geschlafen – zum Henker mitihm. Das Feuer ist aus, und beinahe wäre ich ge-gen den verdammten Molenkopf gerannt. Es istdas dritte Mal, daß er mir den Streich spielt. Jetztfrage ich Sie, ist das denn zum Aushalten? Es istzum Aus-der-Haut-Fahren. Ich werde ihn mel-den … Ich werde den Vizestatthalter veranlas-sen, ihn an die Lu zu setzen, beim …! SehenSie – es ist kein Feuer da. Es ist aus, oder irre ichmich? Sie sind mein Zeuge, daß das Feuer nichtbrennt. Es sollte ein Leuchtfeuer brennen, müssenSie wissen, ein rotes Leuchtfeuer auf dem …‹›Da war auch ein Feuer‹, sagte ich san.›Aber es ist aus, Mann! Was nutzt es, darüber vielzu reden? Sie sehen selbst, es ist aus – oder nicht?

Wenn Sie einen wertvollen Dampfer an diesergottverlassenen Küste entlangführen müßten,dann wollten auch Sie ein Leuchtfeuer. Ich werdeihn von einem Ende dieses erbärmlichen Kaiszum andern prügeln. Sollen mal sehen. Ich wer-de …‹›Dann kann ich also meinem Kapitän ausrichten,daß Sie uns mitnehmen?‹ unterbrach ich ihn.›Ja, ich nehme Sie mit. Gute Nacht‹, sagte erschroff.Ich pullte zurück, machte am Kai fest und legtemich endlich schlafen. Ich hatte das Schweigen desOstens erfahren. Ich hatte manches von seinerSprache vernommen. Doch als ich die Augen wie-der aufschlug, war das Schweigen so vollkommen,als wäre es nie unterbrochen worden. Ich lag ineiner Flut von Licht, und der Himmel hatte nochnie zuvor so fern, so hoch ausgesehen. Ich öffnetedie Augen und lag reglos da.Und dann sah ich die Menschen des Ostens – siestarrten mich an. Die ganze Länge des Kais warvoller Menschen. Ich sah braune, bronzefarbene,gelbe Gesichter, sah die schwarzen Augen, dasFunkeln, die Farbe einer östlichen Volksmasse.Und all diese Wesen blickten starr herab, ohne ei-nen Laut, ohne einen Seufzer, ohne eine Bewe-

gung. Sie starrten auf die Boote, auf die schlafen-den Männer, die während der Nacht vom Meerhereingekommen waren. Nichts regte sich. DiePalmwedel standen still vor dem Himmel. KeinZweig rührte sich, das ganze Gestade entlang, unddie braunen Dächer verborgener Häuser lugtendurch das grüne Laub, durch große Blätter, dieschimmernd und still herabhingen wie aus schwe-rem Metall getrieben. Dies war der Osten der See-fahrer früherer Zeiten, so alt, so rätselha, strah-lend und düster, lebendig und wandellos, vollerGefahren und Verheißungen. Und dies waren dieMenschen. Ich setzte mich plötzlich auf. EineWelle der Bewegung lief durch die Menge, von ei-nem Ende zum andern, streie die Köpfe, wiegtedie Leiber, lief den Kai entlang wie ein Kräuselnüber das Wasser, wie ein Windhauch über das Feld

– und alles war wieder still. Ich sehe das noch vormir – den weiten Bogen der Bucht, den glitzern-den Strand, das strotzende Grün, unendlich undvielfältig, das Meer, blau wie das Meer der Träu-me, die Schar aufmerksamer Gesichter, den Glanzder grellen Farben – das Wasser, das alles wider-spiegelte: die Kurve des Ufers, den Kai, die fremd-ländischen Schiffe mit den hohen Hecks, die stillim Wasser lagen, und die drei Boote mit den mü-

den Männern des Westens, die da schliefen, ohneetwas zu ahnen von dem Land, den Leuten, dergrellen Sonne. Sie schliefen, quer über den Duch-ten liegend oder zusammengekauert auf dem Bo-den, unbekümmert wie Tote. Der Kopf des altenKapitäns, der sich im Heck des Großbootes zu-rückgelehnt hatte, war ihm auf die Brust gesun-ken, und er sah aus, als würde er nie wieder er-wachen. Weiter draußen war des alten MahonGesicht zum Himmel aufgekehrt, und sein lan-ger weißer Bart lag ausgebreitet über seinerBrust, als wäre er dort an seiner Ruderpinneerschossen worden; und ein anderer, der im Bugdes Bootes zu einem Häufchen zusammenge-sunken war, umklammerte im Schlaf mit bei-den Armen den Stevenkopf und lag mit seinerWange auf dem Dollbord. Der Osten betrach-tete sie lautlos.Seither habe ich seine Faszination kennengelernt;ich habe die geheimnisvollen Gestade gesehen, dasstille Wasser, die Länder der braunen Völker, woeine tückische Nemesis so vielen der Eroberer-mächte, die stolz auf ihren Verstand, ihre Kennt-nisse, ihre Kra sind, auflauert, sie verfolgt, sieüberwältigt. Doch für mich ist der ganze Osten injener Vision meiner Jugend enthalten. Er liegt

ganz und gar in dem Moment, da ich die Augenaufschlug und ihn ansah. Nach einem harten Ring-kampf mit dem Meer trat ich ihm entgegen – undich war jung –, und ich sah, wie er mich anblickte.Und dies ist alles, was davon übrig ist! Nur einAugenblick; ein Augenblick der Kra, der Schwär-merei, des Zaubers – der Jugend! … ein huschen-der Sonnenstrahl über einer fremden Küste, Zeitgenug, um sich zu erinnern, Zeit für einen Seuf-zer, und – leb wohl! – Nacht! – Leb wohl …!«Er nahm einen Schluck.»Ah! Die guten alten Zeiten – die guten alten Zei-ten, Jugend und das Meer. Zauber und das Meer!Das gute, starke Meer, das salzige, bittere Meer,das dir zuflüstert und dich anbrüllt und dir denAtem benimmt.«Er tat abermals einen Schluck.»Bei allem, was da wundervoll ist, es ist das Meer,glaube ich, das Meer als solches – oder ist es dieJugend allein? Wer kann das sagen? Doch ihr hier

– euch allen gab das Leben etwas: Geld, Liebe –was immer man an Land erlangen kann – und,sagt, war das nicht die beste Zeit, damals, als wirjung auf See waren; jung waren und nichts besa-ßen, auf der See, die nichts gibt, außer harten Püf-fen – und manchmal einer Gelegenheit, die eigene

Kra zu fühlen – ist es nicht das allein, dem ihrnachtrauert?«Und wir nickten alle: der Mann der Finanzen, derMann der Rechnungsbücher, der Mann des Geset-zes, wir alle nickten über dem polierten Tisch, derwie eine ruhige Fläche braunen Wassers unsere ge-furchten, gerunzelten Gesichter widerspiegelte;unsere Gesichter, die von Mühe, Trug, von Erfolg,von Liebe gezeichnet waren; unsere müden Augen,die noch immer, unentwegt, begierig nach etwas imLeben Ausschau hielten, das, noch während es er-ho wird, schon dahin ist – unbemerkt zerron-nen, in einem Seufzer, in einem Nu – zusammenmit der Jugend, mit der Kra, mit Illusion undSchwärmerei.

Über Joseph Conrad

Als der polnische Knabe Joseph Conrad Korze-niowski, dessen Vater in der sibirischen Verban-nung gestorben war, mit fünfzehn Jahren denWunsch äußerte, zur See zu gehen, nannte manihn einen hoffnungslosen Don Quichotte. Er ver-stand nicht recht, was man damit meinte. Hätteer fortfahren sollen, von utopischen Möglichkei-ten einer Befreiung Polens zu träumen? Schiennicht jeder Aufstand gegen das mächtige Zaren-reich zwecklos und das Opfer des Lebens vergeb-lich? Anstatt abenteuerlichen Illusionen nachzu-hängen, wollte er den wirklichen Kampf mit derelementaren Gewalt des Meeres suchen. Das wareine Aufgabe, die ihm als echte Mannesprobe er-schien. Man konnte auch aus Liebe zu PolenSeemann werden und sich als Charakter be-währen.In den »Lebenserinnerungen« verteidigt Conraddiesen Entschluß gegen allzu billige Vorwürfe underklärt ihn aus den »Widersprüchen, die zuweilender Liebe selbst das Aussehen des Verrats geben«.In der Tat, um Conrad zu verstehen, muß man vorallem diese Paradoxie seines Innern verstehen.

Er hat nie aufgehört, sich als Patriot zu fühlen.Während des Krieges sandte er Tausende vonPfunden nach Polen. Als man ihn einst im Laufeeiner Unterhaltung, in der er nach seiner Gewohn-heit heig gegen radikale Methoden zu Felde zog,vorsichtig daran erinnerte, daß in seinem eigenenLand o genug rebelliert worden sei, erwiderteer in großer Erregung: »Das waren patriotischeAufstände – wenn sie auch aussichtslos waren wieein Kampf gegen die Mächte der Finsternis.« Einanderes Mal wählte er für eine Widmung aus demRoman »Mit den Augen des Westens«, der dieserussische Finsternis am schärfsten darstellt, denAusspruch: »Die Welt ruht auf wenigen Ideen …sie ruht vor allem auf der Idee der Treue.«Mit seinem Patriotismus aber verband Conradeine offene Abneigung gegen jede gestaltloseSchwärmerei. Es wäre absurd zu glauben, er habeum irgendwelcher literarischen Ziele willen – »umfür Menschenforschung, Formung und Wahrheitzu kämpfen«, wie Josef Roth einmal behauptethat – eine ungebundene Form der Existenz ge-sucht. Solche weltbeglückenden Abstraktionenlagen ihm zeit seines Lebens ebenso fern wie derHang zum Spekulativen, der sie hervorbringt.Seine Natur drängte nach tätiger Bewährung.

Polen zu befreien, schien unmöglich. Nur einDon Quichotte konnte davon träumen. Conradwollte zeigen, daß es noch eine andere Wirklich-keit gab als die der Windmühlen. Die überlegene,fühllose Gewalt des Meeres erschien ihm wie einSymbol für die barbarische Herrscha jener Na-tion, deren uferloser Mystizismus, mit den Augendes Westens betrachtet, nur ihre kalte Grausam-keit verbarg. Es galt zu beweisen, daß die Ele-mente bezwungen werden konnten. Ob sie Ruß-land hießen oder Großer Ozean – darauf kam esnicht an. Es kam auf den Menschen an, der sichihnen auszusetzen wagte. Nie hätte sich ein ge-wöhnlicher Abenteurer so tief mit einem wesens-fremden Element eingelassen wie dieser polnischeAristokrat.Auch in Conrads Büchern kommt es auf die Men-schen an, nicht auf die Romantik der weiten Ho-rizonte. Wenn man seine Gestalten betrachtet, sobemerkt man bald, daß selbst die Seeleute unterihnen sehr selten gleichmütig oder abgestumpsind wie echte Engländer, sondern empfindsamund problematisch, von Zweifeln geplagt und imGrunde heimatlos. Gerade diese schwankendeCharakteranlage der unbarmherzigen Naturge-walt gegenüberzustellen, interessierte Conrad.

Hier hatte sich die Substanz eines Mannes zu er-weisen – oder die weiche Stelle in seinem Wesenwurde aufgerissen und zog Wasser wie ein Leck.Die Bewährung der Innerlichkeit selbst enthülltsich als das schwierigste aller Abenteuer. Wie imSturm an ein elendes Boot, klammern sich dieMenschen an die Chimären ihrer Seele; wenn dasBoot versagt, versagt die ganze Welt – es gibtkeine Gnade.Conrad hat nichts mehr gehaßt als jene russischeIdee der Erlösung durch Mitleid, wie Dostojewskiund Tolstoi sie vertreten. »Diese beiden verleug-nen alles, wofür ich kämpfe«, war seine Redens-art. Er nannte Dostojewski »eine grimassierendeSpukgestalt, die unter einem Fluch steht«, und be-hauptete, daß in den Werken des Russen »dasChaos siege« – das gleiche Chaos, dem die Gestal-ten seiner eigenen Bücher täglich und stündlichmit der vollen Kra ihres Daseins Trotz boten.Einmal hat Conrad Galsworthy gegenüber einenAusspruch getan, der den ganzen Gegensatz deut-lich hervortreten läßt. Er sagte: »DostojewskisBücher sind tief wie das Meer.« Der BinnenländerConrad liebte die Tiefe des Meeres nicht, der ersich zwanzig Jahre lang ausgesetzt hatte; er liebtedie menschliche Vernun. Conrad hätte ebensogut

sagen können: »Der russische Geist ist tief wie dasMeer«, und jeder, der seinen Kampf gegen das un-berechenbare Element kannte, hätte ihn ver-standen.Es gibt kaum ein interessanteres Gegenstück zuden Romanen Dostojewskis als Conrads »Mit denAugen des Westens«. Obgleich man vermutendarf, daß Conrad den Russen noch nicht gelesenhatte, als er »Mit den Augen des Westens« schrieb(er sprach kein Wort russisch und lernte die eng-lische Übersetzung der »Karamasows« erst späterkennen), wirkte sein Roman wie eine bewußteAuseinandersetzung mit dem epischen WeltbildDostojewskis. Alle irrationalen Spannungen, indenen die russische Seele existiert, werden von Con-rad entzaubert, und nun schrumpfen so überlebens-große Figuren wie Raskolnikow und Dmitri Ka-ramasow zu kleinen, eitlen Verschwörern zusam-men, die an nichts glauben als an ihren eigenenZynismus. Es mangelt ihnen nicht an schönen Ge-fühlen, und selbst wenn sie einander bespitzelnund verraten, geschieht es im Namen erhabenerGedanken. Ihr Gesetz ist das einer absolutenFormlosigkeit, die sich hinter einer undurchsichti-gen Mystik versteckt. Wenn ein »charaktervollerRevolutionär« halb aus Furcht, halb aus Bequem-

lichkeit einen »Gesinnungsgenossen« der Polizeiausliefert, dann sich in die Schwester des Hinge-richteten verliebt und gleichzeitig ihre Kreise be-spitzelt, wenn schließlich ein »wirklicher Terro-rist« den Verratenen rächt, aber bald darauf sel-ber als Spitzel entlarvt wird – so spiegelt sich,nach Conrads Absicht, in diesem trüben Bildschrankenloser Willkür und gewalttätiger Launennicht nur das wahre Wesen der russischen Seele,sondern das Chaos der unbeherrschten, vom Men-schen nicht geformten Natur überhaupt. Der rus-sische Nihilismus ist ebenso wüst, gesetzlos undunmenschlich wie die rohen Elementargewalten.Derart fügt sich »Mit den Augen des Westens« inden Kreis der anderen Werke Conrads ein, ob-gleich es nicht von Meeren und Stürmen handelt.Die entscheidenden Sätze dieses Romans: »DasLeben ist eine Frage der Form. Es hat seine pla-stische Gestalt und seine scharf umrissenen Gren-zen. Die idealsten Begriffe von Liebe und Verzei-hung müssen erst Fleisch und Blut gewinnen,bevor sie verständlich werden«, könnten als Mot-to über dem ganzen Lebens werk Conrads stehen.Sie werden zwar nur von einem kleinen englischenSprachlehrer geäußert, dessen nüchterne Figur ei-nen ironischen Kontrast zu den abenteuerlichen

Gestalten aus dem Osten bildet, aber sie enthal-ten die vornehmste Bedingung eines »Pakts mitdem Schicksal«, den die westlichen Kulturländergeschlossen haben und an den auch Conrad sichhielt. Es ist der gleiche »Pakt«, den Dostojewskiverhöhnte, als er über den gepflegten, unproble-matischen Romanen der George Sand das mysti-sche Labyrinth seiner Riesenwerke aufführte.

Nach diesem »Kampf gegen die Mächte der Fin-sternis« hat Conrad sich wieder der See zuge-wandt, die »wenigstens harte Schläge gab undmanchmal eine Chance, seine Kra zu zeigen«.Er mochte wohl fühlen, daß man mit dem »Chaosder Natur« nie fertig wird. Die fortwährendeNotwendigkeit dieses Kampfes machte ihn soempfindlich gegen das Wort »Seedichter« – doch sieallein regte seine Einbildungskra an. Es scheint,daß seine Phantasie immer aufs neue den zwan-zigjährigen Kampf gegen die elementaren Natur-gewalten wiederholte, den er geführt hatte. Erlebte noch einmal, während er schrieb. Seine Noti-zen beachtete er kaum. Über die erste Reise nachdem Kongo hatte er zum Beispiel ein genaues Ta-gebuch geführt, aber als er diesen Stoff zu derprachtvollen Novelle »Das Herz der Finsternis«

verarbeitete, rührte er seine Aufzeichnungen nichtan. Die Intensität des Nacherlebens schien ihmwichtiger zu sein als das Ausruhen auf Dokumen-ten. Ja, obschon er alle Meere der Welt bereist hat,läßt sich nicht einmal sagen, daß seine Landschas-schilderungen, die von der ganzen Glut des Südenserfüllt sind, immer auf wirklichen Erlebnissenberuhen. So ist er dem Schauplatz seines vielbe-wunderten südamerikanischen Romans »Nostro-mo« niemals nahegekommen. Drei ganze Tage inVenezuela und eine phänomenale Kenntnis dersüdamerikanischen Geschichte – das genügte ihmfür eine Erzählung, die in Südamerika als höchstcharakteristisch für das Land angesehen wird. Dieganze Atmosphäre ist erfunden.Noch merkwürdiger mag erscheinen, daß Conradseine Studien zum »Nigger vom Narcissus« beidem großen Realisten des französischen Spießbür-germilieus, bei Gustav Flaubert, machte. Conradliebte Flaubert und Anatole France sehr, aber na-türlich läßt sich der Gegensatz, der zwischen derberühmten Sturmschilderung aus dem »Niggervom Narcissus« und dem gemächlichen Lebens-tempo der französischen Provinz herrscht, nichtübersehen. Doch Conrad betrachtete das Meer undden Sturm nicht als die Hauptsache, sondern die

Menschen – in diesem Fall also den schwindsüch-tigen Neger, der krank in der Koje liegt und dieIllusion der Gesundheit festzuhalten sucht, wäh-rend die Elemente der Vernichtung um ihn rasen.Sein verzweifeltes Ringen mit dem Tod ergreidas ganze Schiff, seine Atemzüge sind der Sturm,sein Selbstbetrug bringt die Mannscha in Auf-ruhr, und erst sein Tod verwandelt den Orkan ineine frische Brise: das Grauen der Zerstörung istvollendet, die Chimären haben eine Zeitlang gu-tes Wetter … Die Figur dieses Niggers hat Con-rad nach den Negertypen aus Flauberts histori-schem Roman »Salammbô« erdacht und gearbeitet.Deutlicher läßt sich wohl nicht zeigen, wie wenigman in der Literatur aus der bloßen Wahl desStoffes schließen darf – wieviel aber aus der da-hinterstehenden Idee. Im »Nigger vom Narcissus«ist die Idee, das Versagen vernunloser, barba-risch-naiver Vorstellungen gegenüber den Ele-mentargewalten zu zeigen. Man wird zugeben,daß eine solche Apotheose der Vernun eher fran-zösisch als etwa russisch genannt werden kann, undman wird verstehen, worin sich Conrad von ge-wöhnlichen Reise- und Abenteuerautoren unter-scheidet: eben darin nämlich, daß er Ideen hat.Deshalb ist auch das wirkliche Abenteuerland sei-

ner Figuren stets ihre – manchmal krankhae –Ideenwelt, die sie um den Preis ihres Daseins ver-teidigen und deren Zusammenbruch sie nicht über-leben. Es sind wahre Werther des Abenteuers.Mit krastrotzenden Berichterstattern über ihr ei-genes Heldenleben wollte Conrad nie etwas zu tunhaben. Er lehnte es scharf ab, »für eine Art JackLondon zu gelten«. Dagegen amüsierte ihn derungenierte Bärenauinder und TalmiabenteurerEdgar Wallace sehr, und er führte häufig Zitateaus den erfundenen afrikanischen Geschichten die-ses Phantasten im Munde. Vielleicht hielt er ihnfür einen echten Don Quichotte – und der standihm näher als ein Held oder als ein bloßer Stilist.»Stilist« zu sein galt diesem subtilen, empfindli-chen Sprachkünstler als niedrigster Maßstab, dener zu vergeben hatte und den er zum Beispiel dembekannten Abenteuererzähler Stevenson zuerteil-te. Einem Stilisten fiel alles leicht, weil er nichtsernst nahm. Conrad jedoch kosteten seine Bü-cher o Jahre. Er verbesserte unausgesetzt. Drei-ßig ganze Zeilen im Tag war ein guter Durch-schnitt für ihn. Viele hielten ihn deshalb für faul

– was er seelenruhig hinnahm, mit der durchausnicht puritanischen Erklärung: »Ich liebe die Ar-beit nicht. Kein Mann tut das. Aber ich liebe, was

in der Arbeit steckt: sich selbst zu finden.« In die-sem Wunsch, sich selbst zu finden, liegt die innereVerbindung zwischen seinem Seemannsleben undseiner Dichtung. Auch das Schreiben galt ihm als»Mannesprobe«, deren einziger Lohn in der voll-kommenen Liebe zum Werk lag. War das Werkgetan, so interessierte es ihn nicht sonderlich mehr.Er konnte Dinge, die er geschrieben hatte, so sehrvergessen, daß er sogar seine Autorscha ableug-nete.Conrad besaß ein außerordentlich tiefes Gefühlfür die Vergeblichkeit jeder menschlichen Anstren-gung. Sich selbst nannte er einmal »eine Art voninspiriertem Humbug«. Der Schatten, der aufseine Jugend gefallen war, verließ ihn nicht. Erist nie so weit Engländer geworden, um an dieWirkung einer dünkelhaen Moral zu glauben,und belustigte sich zeitlebens an diesem typischenglischen Spleen. Die Welt verbessern zu wollen

– das war ihm schon als Knaben donquichottischerschienen. Was er von solchen eingebildeten Mög-lichkeiten hielt, zeigt folgender Ausspruch: »DieMenschheit im allgemeinen ist weder schuldignoch unschuldig. Sie existiert einfach, das ist Un-glück genug. Menschen sterben und leiden für ihreÜberzeugungen, und wie sie zu diesen Überzeu-

gungen gekommen sind, macht nicht das geringsteaus … Die Intelligenz selbst ist ein Ding, das vonkeinem besonderen Vorteil ist – außer für unsselbst, um uns mit ihr zu quälen. Denn sobald mansie gebraucht, tauchen die Fragen nach Recht oderUnrecht auf, und das sind Lugespinste, die nichtdie geringste Beziehung zu den entscheidendenRealitäten des Lebens haben … Es gibt allerdingsauch Gefühle, und indem wir uns ihnen überlas-sen, entgehen wir zwar weder dem Tod noch demLeiden, die unser allgemeines Los sind, aber wirwerden fähig, sie in Frieden zu ertragen.«Conrad erblickte seine Aufgabe in der getreuenSchilderung dieses Schauspiels, »das man mit An-betung oder Haß, wenn man will, aber nie mitVerzweiflung betrachten sollte«. Bekenntnisseliebte er nicht. Rousseau tat er als »naiven Mo-ralisten« ab, der keine Ahnung von der Kunst desErzählens gehabt habe. »Die Eingebung«, meinteer, »kommt von der Erde, nicht von dem kalten,unerschütterlichen Himmel. Nur durch seine Wer-ke zeigt ein Romanschristeller sich selbst. Aberjeder, der seine Gedanken zu Papier bringt, kanneinfach von nichts anderem reden, wofern er nichtein Moralist ist, der im allgemeinen kein Gewis-sen hat – dasjenige ausgenommen, das er mit so

unendlicher Mühe zum Nutzen der anderen her-vorkehrt.«Hier hat man den ganzen Conrad mit seinem Ab-scheu vor Verschwommenheiten, die sich moralischmaskieren. Für ihn gab es nur ein einziges ema,über das zu reden sich lohnte. Es kehrt in all sei-nen Büchern wieder, weil es zugleich die Aufgabebezeichnet, für die er sein Leben eingesetzt hatte.Wenn man will, kann man es den Kampf dermenschlichen Natur gegen die Gewißheit der Ver-nichtung nennen. Dieses ema schien ihm der Be-sinnung wert – nicht, als ob er wie ein echter An-gelsachse geho hätte, durch die Tat etwas ändernzu können, denn daran glaubte er so wenig wiean die Möglichkeit, Polen zu befreien. »Sie ver-gessen«, schrieb er einmal an einen Freund, »daßwir Polen gewohnt sind, ohne Illusionen in denKampf zu gehen. Es ist ganz englisch, sich nur ineinen Kampf einzulassen, um ihn zu gewinnen.Wir dagegen sind in diesen letzten hundert Jah-ren wiederholt in die Schlacht gezogen mit der ein-zigen Chance, aufs Haupt geschlagen zu werden.Aber Sie haben wohl Ihre ganze Geschichte vonden Russen gelernt …« Am deutlichsten hat er dasGesetz, das die Form seines Lebens bestimmte, mitden Worten des Romans »Mit den Augen des We-

stens« ausgedrückt: »Man muß eins von beiden:brennen oder faulen. Wer möchte nicht lieber bren-nen?« In Polen wäre Conrad verfault. Was er unter»Brennen« verstand und auf den langen Fahrten inder britischen Marine zu verwirklichen wünschte,war jenes im Grunde vergebliche Trotzdem, das erbei Dostojewski so vermißte und das ihn selbst ei-nem Don Quichotte so ähnlich machte. Doch darfman nicht vergessen, daß der Ritter von La Manchadie Vergeblichkeit seiner Anstrengungen nicht sah,weil er irrsinnig darüber geworden war. Conraddagegen hielt das Leben aus wie einer, der mitvollem Bewußtsein dem sicheren Tod Trotz bie-tet. Von diesem Abenteuer des »Brennens« erzäh-len seine Bücher und von keinem anderen.

Erich Franzen ()

… und ich erinnere mich an meine Jugend und das Ge-fühl, das nie wiederkehren wird – das Gefühl ich könntein alle Ewigkeit aushalten, könnte das Meer, die Erde undalle Menschen überdauern; das glorreiche Bewußtsein der Stärke; die Hitze des Lebens in dieser Handvoll Staub.