innen, aussen, zwischen. - martinaltmeyer.de 1 vortrag beim winnicott-symposion in hannover am...
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Vortrag beim Winnicott-Symposion in Hannover am 25.6.01
Martin Altmeyer
Innen, Aussen, Zwischen.
Paradoxien des Selbst bei Donald Winnicott1
1. Einleitung: Das Ende des Dualismus
„There is no such thing as a baby!“ In dieser ebenso notorisch gewordenen wie immer noch
rätselhaften Bemerkung liegt bereits die ganze Wahrheit, die Donald Winnicott der
Psychoanalyse hinterlassen hat. Den Säugling gibt es nicht – ohne eine Mutter, die ihn hält
oder einen Kinderwagen, in dem er liegt. Der Mensch wird nicht als Monade geboren,
sondern von Anfang seines Lebens an von einer Umwelt gehalten. Welche Identität wir im
Verlauf der Ontogenese einmal ausbilden, hängt entscheidend von Anderen ab, die uns
versorgen, in denen wir uns spiegeln, mit denen wir uns identifizieren und von denen wir uns
abgrenzen. Bis in den Kern unseres Selbst hinein sind wir deshalb von Objekten affiziert. Das
Ich bilde sich aus dem „Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen“ und enthalte die
„Geschichte dieser Objektwahlen“, hatte Freud (1923) erkannt. Heute sagen wir nichts
anderes, wenn wir von der intersubjektiven Genese des Subjekts sprechen, deren
psychoanalytische Aufklärung mit dem Namen Winnicott verbunden ist. Ihm verdanken wir
tiefe Einsichten über dieses „inter“ – das „zwischen“ bedeutet -, über diesen immer noch
geheimnisvollen Zwischenraum also, den „potential space“, aus dem etwas entstehen und in
dem etwas passieren soll.
Winnicotts Leistung, von Hegel in der Dialektik von Selbst und Anderem bereits vorgedacht,
besteht darin, auf dieses Zwischen aufmerksam zu machen. Es ist jener binären Welt aus
Innen und Aussen, welche die cartesianische Erkenntnistheorie konstruiert hatte, als
Vermittelndes hinzuzufügen, als Medium zwischen der materiellen Realität einer res extensa
und der psychischen Realität einer res cogitans. Das Zwischen als etwas „Drittes“ ist geeignet,
den klassischen Dualismus aufzusprengen, und zwar nicht bloß den von Leib und Seele,
sondern den von Selbst (oder Subjekt) und Objekt. Die scheinbar harmlose Zugabe eines 1 Für die Publikation überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten beim Winnicott-Symposion, Hannover, am 23. Juni 2001
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Raums zwischen Innen- und Aussenwelt hat eine solche Sprengkraft, dass nicht nur die
vertrauten Alltagsvorstellungen von der Seele „da drinnen“ und der Welt „dort draussen“,
sondern auch unsere psychoanalytischen Intuitionen durcheinandergeraten.
Was durch Winnicott insbesondere irritiert wird, ist die Gewissheit eines abgegrenzten Selbst,
die substantielle Vorstellung vom Individuum als einer Art Festkörper, dem eine Seele
innewohnt. Diese Vorstellung ist nicht zuletzt Erbe einer dingontologischen Denktradition,
einer Metaphysik des stofflichen Selbst, welche die Subjektphilosophie beherrscht hat – und
offenbar immer noch ihre Anhänger hat. Winnicott ersetzt sie durch die Anthropologie eines
ursprünglichen Raumes, der Subjekt und Objekt verbindet, ihrer Trennung vorausgeht, im
Unbewussten eines intermediären Zwischenraumes aber erhalten bleibt. Er bietet
gewissermassen eine ökologische Auffassung an, bei der das Selbst sich als ein Pol aus einem
ursprünglich dyadischen bipolaren Raum differenziert.
Mithilfe dieser Vorstellung eines geteilten bipolaren Raums lassen sich die Paradoxien des
Selbst besser verstehen, mit denen uns Winnicott verwirrt und von denen er meinte, man solle
sie anerkennen und nicht aufzulösen versuchen. Zur Einstimmung habe ich einige dieser
paradoxen Formulierungen zusammengetragen, die in seinen Arbeiten weit verstreut sind. Mit
der bekanntesten, dass es den Säugling nämlich gar nicht gibt, habe ich eingeleitet. Weitere
sind: „Der Säugling erlebt nur, wenn er fallen gelassen, er erlebt nicht, wenn er gehalten
wird!“ „Er erfindet das Objekt, das er zugleich vorfindet.“ „Das Objekt wird dadurch
geschaffen, dass es zerstört wird und die Aggression überlebt.“ „Die optimale Anpassung der
Mutter wird irgendwann zum Entwicklungshindernis für das Kind!“ „Die Fähigkeit zum
Alleinsein beruht auf der Erfahrung der Gegenwart eines anderen Menschen!“
Lassen wir den leichten Schwindel etwas andauern, in den uns Winnicotts Paradoxien
versetzen - dann tauchen in der Verstörung unserer gewohnten dualistischen Denkmuster von
Innen und Aussen auch jene verdunkelten Wirkungen des Zwischen auf, von denen ich einige
aufhellen möchte. Ich werde dabei keine systematische Exegese betreiben, sondern eher
episodisch in den Gegenwartsdiskurs der Psychoanalyse und ihrer Nachbardisziplinen aus-
und abschweifen, um Winnicotts Nachwirkungen aufzuspüren. Das ist die Art von
wissenschaftlicher Huldigung, mit der man diesem Pionier der psychoanalytischen Theorie
und interdisziplinären Grenzgänger vielleicht am besten gerecht werden kann. Ich habe dazu
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eine bestimmte Schrittfolge gewählt (insgesamt sind es sechs Schritte); man könnte es auch
eine Blickfolge nennen.
2. Sechs Blicke auf Winnicott und mit Winnicott
I. Spotlight auf das mediale Zwischen
Beginnen wir mit einer Gegenwartsszene und betrachten uns zum Einstieg eine Karrikatur,
die im ‚New Yorker‘ zu finden war. Man kann daran den speziellen Blick auf den
intermediären Raum zwischen den Subjekten veranschaulichen, einen Blick auf das
Intersubjektive, den ich aus meiner Beschäftigung mit narzisstischen Zeitphänomenen
gewonnen habe2.
Schaubild 1: Interaktion und Vereinzelung
(Karrikatur aus dem ‘New Yorker’, s. Anlage)
Sie sehen einen Zeitgenossen, wie wir ihn alltäglich im öffentlichen Personenverkehr erleben
können. Und die Bildfolge zeigt auf ironische Weise eine Besonderheit der medialisierten
Welt, wie nämlich in der Postmoderne Interaktion mit ihrem scheinbaren Gegensatz, dem
Narzissmus, wunderbar einhergeht: Wir sind über das Medium – in diesem Fall über das
mobile Telephon - ständig in Kontakt miteinander und füllen den Raum zwischen uns und den
anderen laufend mit Botschaften. Interaktion ist zwar ein Schlüsselbegriff der Epoche, wie
wir am Siegeszug der neuen sog. „interaktiven“ Medien sehen, aber sie geht offensichtlich
einher mit einer Form der Vereinzelung, die wir eine Generation früher mit Christopher Lasch
(1975) noch einem „Zeitalter des Narzissmus“ zugeordnet hätten.
Warum haben wir nämlich bei dieser Bildbetrachtung das Gefühl, dass der öffentlich
demonstrierten Verbindung über das mobile Telephon auch etwas Narzisstisches anhaftet?
Oder (um auf ein anderes Medium zu gehen): Woher kommt das heimliche Vergnügen, den
eigenen Namen in die Suchmaschinen des internet zu geben oder die Besucherzahl auf der
home-page zu registrieren? Die Vorführung intimster Details des Privaten in den interaktiven
Formaten des entfesselten Fernsehens, hat sie nicht eine narzisstische Funktion? Das
Aufspüren elektronischer Belege für die eigene Existenz, die selbstgefällige Präsentation vor
dem Auge der Kamera, das sehnliche Warten auf den klingenden Anruf in der überfüllten S-
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Bahn – all diese lebensweltlichen Kapriolen des zeitgenössischen Alltags weisen darauf hin,
dass der Andere dem Narzissmus keineswegs egal ist. Im Gegenteil: Die öffentliche
Spiegelung bringt die szenische Struktur des Narzissmus erst zum Vorschein - die
intersubjektive Kehrseite der Selbstbezogenheit lässt uns etwas ahnen vom Muster der
Identitätsbildung in einer wahrhaft „reflexiv“ gewordenen Moderne3.
Auch wenn die Telekommunikation in dieser Karrikatur offenbar trivial ist und der Inhalt der
Botschaften leer sein mag, scheint sie doch einer Art reflexiver Selbstvergewisserung zu
dienen, von der wir sagen können, sie habe etwas mit dem Zwischen zu tun, um das es mir
hier vor allem geht. Das Zwischen ist etwas Vermittelndes, etwas Mediales, etwas, das
Subjekt und Objekt miteinander verbindet – wie imaginär oder virtuell auch immer.
II. Zweiter Schritt, zweiter Blick: Die psychoanalytische Leerstelle zwischen Innen und
Aussen Richten wir nach diesem Blitzlicht auf den medialen Narzissmus einer entfesselten
Postmoderne den Fokus auf die traditionelle psychoanalytische Theorie, die das Zwischen
nicht zu kennen schien. Das Innen galt als eigentliche Domäne der Psychoanalyse, die das
Aussen zwar anerkannte, aber gerne anderen Disziplinen überliess. Vor allem in ihrem zähen
Abwehrkampf gegen die anstössigen Befunde der Säuglingsforschung wurde das Feld des
Intrapsychischen mitsamt dem „inneren Objekt“ sowie den Methoden der Introspektion und
Empathie für die eigene Zunft reklamiert, während jenseits dieser Grenze das Außenfeld der
Realität angesiedelt war und ausgegrenzt blieb.
Kohut (1971) hatte die strenge Unterscheidung von Innen und Aussen schon lange vor der
Formulierung seiner Narzissmustheorie vorgenommen und z.B. Beobachtungsmethoden als
„bloss sozialpsychologisch“ und „unpsychoanalytisch“ denunziert. In seiner späteren
Abgrenzung des Narzissmus vom Sektor der Objektbeziehungen taucht diese Dichotomie
wieder auf, und in der Selbstpsychologie drohen Selbst und Selbst-Objekt völlig im Innen zu
verschwinden. In einigen Varianten der postkleinianischen Objektbeziehungstheorie bleibt die
Aussenwelt weitgehend „abgeschattet“ - wie Reimut Reiche (1999) es ausgedrückt hat -
während in der alten Ichpsychologie die „durchschnittlich zu erwartende Umwelt“ immerhin
2 Die These von der intersubjektiven Konstitution des Narzißmus habe ich an anderer Stelle entwickelt (Altmeyer 2000a; 2000b) 3 Vgl. Altmeyer 2001; an den grassierenden Formen medialer Selbstdarstellung habe ich hier die Plausibilität und Anwendbarkeit einer intersubjektiven Konzeption des Narzissmus demonstriert.
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noch den einen gewichtigen Status hatte, wenn sie auch als äusserer Faktor dem Innen nicht
viel anhaben konnte.
Vom Innen führte kein Weg ins Aussen und vom Aussen keiner ins Innen. Noch in einer
kürzlichen Veröffentlichung von Dahl (2001) finden wir den erneuten Versuch, die
Ursprungstheorie des primären Narzissmus gegen ihre empirische Widerlegung durch die
Säuglingsforschung abzudichten und sie mit dem Konzept einer friedlichen Koexistenz zu
retten: Hier die Ebene des Verhaltens, der Objektbeziehung, der „behavioristischen“
Beobachtung – dort die Sphäre des Erlebens, der Objektbesetzung, der Metapsychologie; weil
es sich um getrennte Gegenstandsbereiche handele, könne die Beobachtung der Mutter-Kind-
Interaktion die Idee einer primärnarzisstischen Welt des Säuglings nicht widerlegen.
Gehen wir noch einen Schritt weiter in der Eigenanamnese der Zunft und dringen ein Stück
tiefer in die psychoanalytische Anthropologie. Die fundamentale Gegenüberstellung von Ich
und (feindlicher) Realität, ebenso wie die von Trieb und (unterdrückender) Kultur, welche
nicht nur die gesellschaftstheoretischen Ausflüge Freuds kennzeichnet, sie ist, aus der
Erbmasse von Descartes stammend, dualistisch konstruiert. Mit der Annahme eines von der
Aussenwelt abgeschlossenen primärnarzisstischen Urzustands wird eine (onto)genetische
Begründungslegende geliefert, die ideologiegeschichtlich eng mit jenen Robinsonaden der
klassischen bürgerliche Nationalökonomie verwandt ist, welche das einsame Subjekt zum
Anfang der Geschichte erklärt, das sich in einer bedrohlichen Welt zu behaupten versucht.4
Diese Ursprungstheorie hatte Michael Balint bereits 1937 als „Amöbensage“ klassifiziert und
durch eine Theorie der primären Objektbeziehung zu ersetzen versucht – angesichts der
ausbleibenden Resonanz freilich mit wenig Erfolg.
Die aus der Triebtheorie stammende Konzeption einer im Grunde unheilvollen Außenwelt,
der sich das Individuum nur unter dem Druck von Bedürfnisspannungen - aus der Not heraus
4 Auch der Versuch einer Rehabilitation dieser Robinsonade - Kaspar Hauser wäre eigentlich der passendere literarische Prototyp - unter der Fahne der kleinianischen Triebtheorie, den Joel Whitebook (2001) kürzlich an dieser Stelle unternommen hat, setzt jene Tradition einer ontologischen Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft fort, die sich ein zur Distanzierung und Kritik fähiges Subjekt bloß ausserhalb der soziokulturellen Strukturen vorstellen kann. Passend dazu wird der Intersubjektivismus als konformistische Anpassungstheorie denunziert, die dieses triebhaft-rebellische, freiheitsliebende und die soziale Welt transzendierende Individuum metapsychologisch einzufangen versucht. Ich kann an dieser Stelle nicht weiter auf diese wortreiche Neuauflage einer „kritischen Theorie des Subjekts“ eingehen, die den psychoanalytischen Diskurs in Deutschland lange mit fatalen Folgen beherrscht hat (vgl. Reiche 1999); die heroische Phantasie, einen „Griff zu lockern, in dem das intersubjektivistische Paradigma unsere theoretische Vorstellungskraft gefangen hält“ (Whitebook, a.a.O., S. 755), “, entspringt - jedenfalls hierzulande - einer Verkehrung der wirklichen Verhältnisse. Axel Honneth (2001) hat in seiner Erwiderung auf Whitebook das Nötigste gesagt.
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also - zuwendet, hat das psychoanalytische Denken lange beherrscht: Welterfahrung wird
bereits als per se traumatisierend verstanden (vgl. Frommer und Tress 1998). Reimut Reiche
(1999) hat darauf aufmerksam gemacht, dass als Konsequenz dieser generell traumatischen
Konnotation von äußerer Realität eine wirkliche Traumatisierung nur noch als komparative
Steigerung oder Superlativ dargestellt werden kann. Winnicott vertritt gegenüber dem
klassischen Modell der „feindlichen“ eher das einer “freundlichen” Realität und gegenüber
dem Schein der abgegrenzten biologischen Existenz eine Anthropologie der primären
Umweltverbindung. Er befindet sich damit nicht nur in der guten Gesellschaft von Michael
Balint oder Hans Loewald (1986), sondern auch in Übereinstimmung mit der aktuellen
Säuglingsforschung und Bindungstheorie. Und er war der frühe Bote einer höchst modernen
Tendenz (auf die ich am Ende zurückkomme), nämlich eines „intersubjective turn“ in den
Humanwissenschaften, der freilich auch bei Freud schon angelegt war.
III. Der potentielle Raum als Ort des „Dritten“
Der Dualismus von Innen und Aussen, so könnte man vorläufig zusammenfassen, war ein
stiller Begleiter durch die Theoriegeschichte der Psychoanalyse. Sie wusste es aber
gleichzeitig besser. In den frühen Introjekten und Identifikationen des Selbst hat sie mit dem
„Schatten des Objekts“ die Sedimente des Anderen und damit im Innen zugleich das Aussen
entdeckt. In ihrer Objektbeziehungstheorie hat die Psychoanalyse das Zwischen immer schon
zu einer Kategorie gemacht, welche die zweiwertige Logik von entweder Innen oder Aussen
überschreitet und den scheinbaren Antagonisten Subjekt und Objekt etwas Drittes, etwas
Vermittelndes hinzufügt. Mit den Strömungen des Postkleinianismus und des amerikanischen
Intersubjektivismus ist dieses Zwischen nun in die Selbstreflexion der Psychoanalyse
zurückgekehrt, aus der es unter der Vorherrschaft von Triebtheorie und Ich-Psychologie lange
Zeit ausgeblendet war.
In den klassischen Dichotomien von Ich und Realität, von Trieb und Kultur oder auch von
Selbst und Objekt lässt sich das trianguläre Verhältnis von Innen, Aussen und Zwischen nicht
mehr darstellen, mit dem es die zeitgenössische Psychoanalyse theoretisch zu tun hat. Das
„Dritte“, von dem überall geraunt wird, lässt sich nicht länger im familialen Dreieeck
einfangen, als zur Dyade hinzukommender Vater, der sich dem inzestuösen Sog
entgegenstellt. Es ist nicht bloß pure Realität, welche in Form des Gesetzes Unterwerfung
verlangt oder in Form der Stundenbegrenzung einen paradiesischen Zustand der
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Verschmolzenheit unterbricht. Es lässt sich auch nicht - im Rahmen einer One-person-
psychology - über sonstige „Umschriften“ des ödipalen Fortschritts entschlüsseln, der
individuierende Distanz schafft und vermittels einer Trias von Begehren, Versagen und
Schuld zur Entstehung von Autonomie führt5. Das Dritte kann ohne eine zweite Person nicht
verstanden werden und ist in einem intersubjektiven Zwischenraum angesiedelt, der jene
zweite mit der ersten Person verbindet. Wir können die Psychoanalyse im Sinne einer
„zweiten Moderne“ (Ulrich Beck) selbst als „reflexive“ Wissenschaft verstehen, deren
Gegenstand, das Subjekt, erst dadurch entsteht, dass es sich die Welt über internalisierte
Objektbeziehungen aneignet. Das Selbst erscheint nicht länger eine abgegrenzte
Zentraleinheit “isolated from the social matrix from which it emerges” (Dunn 1995, S. 723).
Intersubjektivität wird zum Leitbegriff einer „relationalen Psychoanalyse“, um Stephen
Mitchells Sammelbegriff zu übernehmen (vgl. Mitchell/Aron 1999). Im Zuge dieses
Paradigmenwechsel ist auch ein Metaphernaustausch erkennbar. Die monadologischen
Sprachbilder verblassen, mit denen die Psychoanalyse ihren Gegenstand abzubilden versucht
hat - die neue Leitmetapher, so behaupte ich, ist eine Metapher des Zwischenraumes: der
„potential space“. Dieser von Winnicott stammende Begriff, der im psychoanalytischen
Gegenwartsdiskurs eine ebenso prominente Rolle spielt wie der Begriff des „Dritten“, mit
dem er eng verknüpft ist, verweist auf eine neue Topographie jenseits der binären
Unterscheidung von Innen und Aussen. Er eröffnet jenen „intermediären Raum“ der
Erfahrung zwischen Subjekt und Objekt, in dem beide erst entstehen.
5 Hier widerspreche ich Reiche (2000), der in dieser Trias die Konstitutionsbedingung von Individuierung erkennen und das ödipale Modell triebtheoretisch retten möchte.
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Schaubild 2: Winnicotts „potential space“ - der Raum zwischen Selbst und Objekt6
Dyade (symbiotisch)
Säugling Mutter
Dyade (in der Auflösung)
Subjekt Objekt
Wir können nun anhand dieses Bildes etwas von den Paradoxien verstehen, mit denen
Winnicott uns konfrontiert: Der „potential space“ ist eine Art sozialer Geburtsraum für
Identität. Der Säugling erlebt deshalb nicht, dass er gehalten wird, weil das Gehalten-werden
die selbstverständliche Bedingung seiner Existenz darstellt. Seine neonatale Hilflosigkeit wird
durch die versorgende Mutter im optimalen Fall vollkommen ausgeglichen - es gibt ihn
tatsächlich nicht ohne die haltende Umwelt. Genau aus diesem Grund würde er aber das
Fallengelassen-werden erleben, und zwar als Vernichtung (ebenso wie wir die umgebende
und von uns eingeatmete Luft erst spüren, wenn sie uns fehlt: was wir dann empfinden, ist
Todesangst). Vielleicht können wir so etwas vom bedrohlichen Grundgefühl bei der akuten 6 Auch den Narzissmus habe ich in jenem Zwischenbereich des „potential space“ untergebracht, der das Innen mit dem Aussen verbindet. Ich schlage vor (Altmeyer 2000), den primären Narzissmus in der frühen Periode, wo das Objekt noch nicht „gedacht“ werden kann (das „ungedachte Bekannte“ bei Christopher Bollas, 1997) als Korrespondenz zur absoluten Abhängigkeit des Säuglings zu verstehen: Er ist ohne die ausgleichende Mutterpflege gar nicht zu denken, wie bekanntlich schon Freud zugestanden hat („Wenn man nur die Mutterpflege dazu nimmt ...“). Gerade im Zustand der Hilflosigkeit des Säuglings stellt seine Allmachtsphantasie eine Verbindung zur Welt her, die durch eine „devoted“ oder „good enough mother“ zunächst bestätigt wird.
„potential space“
Übergangs-objekt, Spiel, Tagtraum, ............... ............... Narzissmus
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Psychose verstehen, von dem wir annehmen, dass es mit der Angst vor der Fragmentierung
des Selbst zusammenhängt. Die psychotische Angst wäre das affektive Korrelat der
Selbstvernichtung, so etwas wie ein totaler Affekt: ein archaisches Erbe des ins Leere
fallenden Säuglings.
Der Raum zwischen Ich und Nicht-Ich, Subjekt und Objekt, zwischen Phantasie und Realität,
zwischen Meditation und Handeln ist ein Übergangsraum, der weder zur inneren, noch zur
äusseren Welt gehört, aber beide zusammenbringt. Er ist der Ort des Spiels, der kreativen
Tätigkeit, der Kultur, wo die Übergänge von innen nach aussen fliessend sind. Winnicott hat
ihn einmal als eine Sphäre bezeichnet, „in der das Individuum ausruhen darf von der
lebenslänglichen menschlichen Aufgabe, innere und äussere Realität voneinander getrennt
und doch in wechselseitiger Verbindung zu halten (1995, S. 11, Vom Spiel zur Kreativität).
Im Begriff des Übergangsobjekts hat Winnicott auf die Herkunft dieses Raums verwiesen: das
Feld zwischen dem Säugling und der Mutter in der Phase der Auflösung ihrer symbiotischen
Einheit und der beginnenden Symbolbildung. Hier beginnt nun - in einem doppelten
Erzeugungsakt und gleichzeitig – die Erzeugung von Selbst und Welt oder das, was Winnicott
die „Erschaffung“ von Subjektivität und Objektivität nennt. In den nächsten Schritten werde
ich nacheinander beides betrachten.
IV. Die Erschaffung von Realität
In der Verschmelzung erfährt der Säugling die Befriedigung seiner Bedürfnisse durch die
einfühlsame Mutter als eigene Macht. Er hat die „reale“ Illusion von magischer Kontrolle und
Omnipotenz. Eine Mutter die durch eine zu gute Einfühlung diese Illusion auch dann noch
aufrechterhält, wenn der Säugling bereits in der Lage ist, die Mutter emotional von sich zu
unterscheiden und ein Bedürfnis zu signalisieren, hält diese Illusion aufrecht. Wenn sich der
Säugling aus der Verschmelzung mit der Mutter löst - eigentlich: die Mutter als Nicht-Ich aus
seinem Selbst auszusondern beginnt - wird die absolute Einfühlung zum
Entwicklungshindernis. Weshalb? Weil sie damit den Prozess der Desillusionierung hemmt.
Dieser Prozess ist aber für die Entwicklung der Realitätswahrnehmung und der
Objektbeziehungen notwendig. Erst wenn die Mutter die kompensatorische Versorgung nicht
mehr in perfekter Weise leistet und wenn sie diesen Mangel zulässt, entsteht ein Raum für
Eigenes. Von einem Verhalten der optimalen Anpassung an die Bedürfnisse des Säuglings
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wechselt sie im günstigen Fall über zu einem Verhalten der „optimalen Versagung“. Sie
wartet dann auf die Signale des Kindes. Die Frustration, die sich aus dieser Wartezeit ergibt,
fördert die Unterscheidung von „Ich“ und „Nicht-Ich“; durch diese Trennung wird der Aufbau
einer Aussenwelt stimuliert.
Für Winnicott ist es in dieser Phase die Aggression des Säuglings, welche „... das Äussere in
seinem Wesen erst erschafft“ (1995, S.109). Erst wenn das Objekt diese Destruktion überlebt,
d. h. standhält und nicht zerstört wird (das würde nämlich die Allmachtsphantasie bestätigen:
Zerstört werden hieße, sich als Teil einer widerständigen Welt auflösen), erst dann wird es
zum Teil der Realität und kann „verwendet“ werden. Dabei wechselt der Säugling zwischen
inneren Zuständen, in denen er in der Verschmelzung lebt und unbedingte Anpassung
braucht, und solchen, in denen er sich schon getrennt erlebt und Signale geben kann.
Dementsprechend variiert auch die „gute“ Mutter ihr Verhalten zwischen optimaler
Einfühlung und optimaler Versagung.
Die Säuglingsforschung hat dieses Modell in ihrer Unterscheidung von „Self-with-other“ und
„Self-vs.-other“ (Stern 1992) aufgenommen und das Wechseln zwischen den verschiedenen
Modi der Selbstempfindung empirisch bestätigt. Allerdings hat sie in ihrer Kritik am
primärnarzisstisch verschmolzenen „subjektiven Objekt“ von Winnicott die Frage, ob der
Säugling die Mutter als aussen erkennen kann, mit der ganz anderen Frage konfundiert, ob er
sie auch als unabhängig anerkennen kann (vgl. Dornes 1997). Diese Konfusion beruht auf der
erkenntnistheoretischen naiven Annahme, das Subjekt komme als Subjekt auf die Welt
kommt und habe es mit präformierten Objekten zu tun. Beides, Subjekt und Objekt, muss aber
im Verlauf der frühkindlichen Entwicklung erst hergestellt werden. Winnicott betrachtet diese
Herstellung als einen dialektischen Prozess der Anerkennung von Abhängigkeit und
Unabhängigkeit.. Der Säugling kann die Unabhängigkeit der Mutter erst anerkennen, wenn er
selbst als eigene Person anerkannt worden ist; und er kann erst unabhängig werden, d. h. sich
individuieren, wenn er seine eigene Abhängigkeit anerkennen kann.
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Schaubild 3: Abhängigkeit und Unabhängigkeit im Modell reziproker Anerkennung
Mütterliche Funktion (Objekt)
Entwicklungsstufe
Kindliches Erleben (Subjekt)
Halten
“absolute Abhängigkeit“
Primärnarzisstische Illusion
Spiegelung, Optimale Versagung, Überleben der Aggression
“relative Abhängigkeit”
Emergenz des Selbst, Erschaffung des Objekts, Anerkennung der eigenen Abhängigkeit
Anerkennung des Säuglings als etwas Eigenes
“relative Unabhängigkeit”
Anerkennung der Unabhängigkeit des Objekts, Objekt-verwendung, Unab-hängigkeit des Selbst
Die merkwürdige Idee, dass der Säugling die Welt subjektiv erschaffen muss, die doch
objektiv schon da ist, wird übrigens von der neueren Sprachphilosophie geteilt (z. B.
Davidson 1993). Auch Begriffe werden im Verlauf des individuellen Spracherwerbs nicht
einfach entdeckt, sondern im Dialog geformt - genauso wie das Objekt vom Säugling nicht
bloss vorgefunden, sondern zugleich erfunden wird. In einer faszinierenden
sprachphilosophischen Untersuchung überträgt Marcia Cavell (Cavell 1997) diesen
Winnicottschen Gedanken auf den psychoanalytischen Dialog:
„Der Analytiker ist daran interessiert, seinen Patienten von alten und starren Ideen zu befreien, die ihn daran hindern, gefühlvoll und mit allen verfügbaren Mitteln auf das aktuelle Geschehen zu reagieren. Das ist oft, aber nicht immer davon abhängig, dass die buchstäbliche Wahrheit ausgesprochen oder etwas bereits Vorhandenes aufgedeckt wird. Es gibt eine Art von Geschichte zwischen dem Wahren und dem Erfundenen; eine Erleuchtung, an der die Erfindung ebenso beteiligt ist wie die Entdeckung. (S. 131) Sie beantwortet damit die umstrittene Frage, ob der therapeutische Prozess einer
Rekonstruktion oder eher einer Konstruktion der Lebensgeschichte dient, aus der Position
eines ‘schwachen’ Konstruktivismus, der das Kreative an diesem Prozess hervorhebt. Beide
am dialogischen Prozess Beteiligten, so Cavell, müssen sich aber auf etwas Drittes beziehen,
nämlich auf die äussere Realität. Die Gesprächskur ist, wie das Erlernen der Sprache selbst,
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zugleich die Einübung in eine Lebensform. Sprache im Sinne von ‘langue’, auch wenn sie
von jedem Einzelnen erworben werden muss, geht dem Sprechen im Sinne von ‘parole’
voraus, sie ist „kein dem Denken übergeworfener Schleier“, wie Wittgenstein in seiner Kritik
an monologischen Bewußtseinstheorien bildhaft formuliert hat. Dieser konstitutive Vorrang
der Objektivität von Welt und der Intersubjektivität von Sprache bedeutet aber nicht etwa eine
Entwertung von Subjektivität, sondern die Anerkennung ihrer Konstitutionsbedingungen. In
der jeweils besonderen Aneignung der Welt entsteht Subjektivität. Aber sie entsteht auf dem
Weg vom Aussen zum Innen über ein Zwischen. Das verbindet die moderne
Sprachphilosophie mit den intersubjektivistischen Spielarten der Psychoanalyse - soweit
letztere nicht der Gefahr erliegen, im Subjektivismus der allgegenwärtigen projektiven
Identifizierung das Inter und damit die Aussenwelt aus dem Blick zu verlieren, oder
umgekehrt die Innenwelt auszublenden, indem das Subjekt zum bloßen Knotenpunkt eines
Netzes von Beziehungen erklärt wird7.
V. Emergenz oder die Genese von Subjektivität
Die konstitutive Rolle, welche die Psychoanalyse den Objekten bei der Entwicklung der
inneren Struktur des Selbst zuschreibt, entzieht eigentlich der gesamten Innen-Aussen-
Metaphorik den Boden. Dieser Boden war schon ins Schwanken geraten durch das
dezentrierende Unbewusste, das man als das Andere des Ich verstehen kann (vgl. Laplanche
1996). Mit der organismischen Lokalisierung des Unbewussten und der biologischen
Verankerung des Triebs im Es hatte Freud diesem Anderen freilich wieder einen Sitz im
Zentrum des Individuums zugewiesen und es damit eingemeindet. Die libidotheoretische
Begründung der Psychoanalyse bedeutete bereits eine Rezentrierung des Subjekts.8
Das psychoanalytisch dezentrierte Subjekt, als Pol eines bipolar gedachten Raums, kennt
eigentlich kein Zentrum, wenn man die Sache durchdenkt. Die Anerkennung des
Unbewussten als des Anderen verträgt sich nicht mit einem irgendwie substantialistisch
7 An dieser Stelle stimme ich der Kritik von Bohleber (1999) und Dornes (1999) an jenen Varianten des Intersubjektivismus zu, in denen das Subjekt nicht mehr vorkommt. Die Vorstellung eines vorsozialen, in seiner Triebnatur wurzelnden Subjekts, von der ausgehend sie ihre Abrechnung mit der intersubjektivistischen Postmoderne lancieren, teile ich freilich nicht. 8 Laplanche hat dagegen bekanntlich eine intersubjektive Reformulierung auch der Triebtheorie vorgeschlagen: Das Unbewusste sei nicht nur das Andere, sondern auch der Andere, der als Verführer jene unbegriffenen Botschaften verkörpere, die den Trieb erst enstehen lassen; Sexualität komme gewissermaßen von aussen, nicht aus dem Innen des Trieblebens.
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gedachten „festen Kern“. Winnicott verlegt deshalb den potentiellen Kern von Subjektivität in
die Dualunion. Er lokalisiert ihn im “Stillpaar”, in einem vorindividuellen “Gesamtgefüge”:
“Die Einheit ist nicht das Individuum, die Einheit ist ein Gefüge aus Umwelt und Individuum. Der Schwerpunkt des Seins geht nicht vom Individuum aus. Er liegt im Gesamtgefüge: Durch genügend gute Kinderpflege, Technik, genügend gutes Halten und genügend gute Versorgung wird die Schale allmählich übernommen, und der Kern (der für uns die ganze Zeit wie ein Baby ausgesehen hat) kann anfangen, ein Individuum zu sein.” (Winnicott 1976, S. 127, Von der Kinderheilkunde zur Psychoanalyse)
Das ist in einer wunderbaren dialektischen Volte formuliert - und dicht an Heideggers
philosophischem Begriff vom „Sein des Seienden“, aber ohne dessen Eigentlichkeitsjargon
zu übernehmen: Die Umweltversorgung bildet eine Schale, die den Kern umhüllt, der
zunächst die bloße biologische Existenz zu sein scheint. Dadurch, dass diese funktionelle
Ökologie allmählich nach innen übernommen wird, kann ein individueller Kern entstehen und
Subjektivität sich ausbilden. Das erst ist der eigentliche Geburtsakt des Individuums.
Christopher Bollas (1997) hat diesen Verwandlungsvorgang die Übernahme des Systems der
mütterlichen Fürsorge in eine „Fürsorge für sich selbst“ genannt. Bei Bollas gewinnt das
Selbst durch diese Metamorphose erst ein Verhältnis zu sich als Objekt nach dem Vorbild der
liebenden Mutter. Ich will das an seinem Konzept des „ungedachten Bekannten“
veranschaulichen, das nichts anderes meint als den in der unbewussten sensomotorischen
Erfahrung abgelegten „Schatten“ des frühen Objekts: Ein Zwischen wird zu einem Innen.
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Schaubild 4: Das „ungedachte Bekannte“ bei Bollas (1987) als Selbst-in-Beziehung-zu-sich-als-Objekt
Säugling Mutter
System mütterlicher Fürsorge
Selbst Objekt
Systemübernahme durch Selbstfürsorge
Bereits der Anfang ist abgeleitet. Das Selbst entsteht intersubjektiv, als Drittes in einem
Zwischenraum, den Thomas Ogden (1985) in Anlehnung an Winnicotts Raumbegriff den
„space between“ nennt. Emergenz ist reflexiv vermittelt. Ogden, der erkenntnistheoretisch die
wohl fortgeschrittenste Position der zeitgenössischen Psychoanalyse vertritt, entdeckt im
analytischen Prozess selbst das Emergente. Patient und Therapeut gestalten eine Beziehung,
aus der etwas Neues entstehen soll, das vorher noch nicht da war: das „Subjekt der Analyse“.
Es ist eine fruchtbare Interaktion, ein gemeinsamer kreativer Akt, der aus einer
Zweierbeziehung etwas Drittes auftauchen lässt. Ogden hat für dieses Dritte im
therapeutischen Raum den umraunten Begriff des „analytic third“ eingeführt.
„Der intersubjektive analytische Dritte wird als drittes Subjekt aufgefasst, das durch das unbewusste Zusammenspiel von Analytiker und Analysand geschaffen wird; zugleich werden Analytiker und Analysand im Akt der Erschaffung des analytischen Dritten erzeugt. (Es gibt keinen Analytiker, keinen Analysanden, keine Analyse ausserhalb des Prozesses, durch den der analytische Dritte geschaffen wird.)“ (Ogden 1998, S. 1071)
Unbewusst wird also von den beiden Prozessbeteiligten nicht nur etwas Drittes, das „analytic
third“, kooperativ hergestellt, sondern sie schaffen sich gegenseitig. Dieser etwas kryptisch
anmutenden Definitionsversuch des „analytischen Dritten“ ist, bis in die Syntax hinein, die
Übertragung von Winnicotts Modell der Mutter, die es ohne den Säugling, und des Säuglings,
Selbst-als-Objekt „Schatten des Objekts“
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den es ohne die Mutter nicht gibt. Dieser entwickelt sich zu etwas Eigenem erst im
Austauschprozess zwischen beiden. Im Bereich zwischen zwei beseelten und intim
aufeinander bezogenen Körpern, so könnte man verallgemeinernd sagen, wird aus dem
hilflosen Säugling (in der Interaktion mit der Mutter) allmählich ein Subjekt, so wie aus dem
hilfesuchenden Analysanden (in der Interaktion mit dem Analytiker) der „homo
postanalyticus“ wird (vgl. Reiche 1999). Ogdens aus der analytischen Dyade neugeborenes
„subject of analysis“ ist eine Konstruktion, welche dem kreativen Muster der Mutter-Kind-
Dyade strukturanalog nachgebildet ist und eine intime Nähe zu Winnicotts Paradox aufweist.
Subjektivität taucht im Verlauf der Ontogenese und im psychoanlytischen Prozess aus dem
gleichen dualen Intimraum auf.
Von der zeitgenössischen Psychoanalyse - ob wir sie nun modern oder postmodern nennen
wollen - ist dieses doppelte Rätsel vom „Werden des Subjekts“ nur auf dem Wege einer
intersubjektiven Reformulierung nicht nur der Entwicklungspsychologie, sondern auch der
Theorie des therapeutischen Prozesses zu lösen. Ich will das an der Verwendung der
Spiegelmetapher darstellen, die zur Veranschaulichung von beidem verwendet wird und bei
Winnicott - ganz entgegen ihrer gängigen Zuordnung zur Ein-Personen-Psychologie - eine
intersubjektive Bedeutung hat, also der Zwei-Personen-Psychologie angehört.
VI. Die Intersubjektivität der Spiegelerfahrung
In seinem Aufsatz über ‚Die Spiegelfunktion von Mutter und Familie in der kindlichen
Entwicklung‘ schreibt Winnicott:
“In der individuellen emotionalen Entwicklung des Kindes ist das Gesicht der Mutter der Vorläufer des Spiegels (...) Was erblickt das Kind, das der Mutter ins Gesicht schaut? Ich vermute, im allgemeinen das, was es in sich selbst erblickt. Mit anderen Worten: Die Mutter schaut das Kind an, und wie sie schaut, hängt davon ab, was sie selbst erblickt.” (Winnicott 1995, S.128 f., Vom Spiel zur Kreativität)
Was bedeutet diese Beschreibung eines interfazialen Austauschs? Im Gesicht der Mutter
erblickt der Säugling das, was die Mutter ihrerseits sieht, und er erhält eine erste Ahnung von
sich selbst, von dem, was er ist. Man könnte auch sagen: In der Rückmeldung der Mutter
werden die ersten Umrisse von Identität skizziert. Nicht zufällig formuliert Winnicott diese in
einen visuellen Kontakt eingebundene Spiegelfunktion in Anspielung auf Descartes: “Wenn
ich sehe und gesehen werde, so bin ich.” (ebd., S. 131) Aber es handelt sich gerade nicht um
das bewusstseinsphilosophische Credo des “Cogito, ergo sum”, sondern um den reflexiv
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vermittelten Kern einer Selbstvergewisserung: “Ich bekomme (wie ein im Spiegel gesehenes
Gesicht)”, heisst es an einer anderen Stelle, “den Beweis zurück, den ich brauche, dass ich als
Wesen erkannt worden bin.” (Winnicott 1974, S.79).
Schaubild 5: Spiegelerfahrung als intersubjektiver Vorgang bei Winnicott (1967):
Spiegelung in der durch Anerkennung „gebrochene“ Symbiose (anerkanntes) Selbst (anerkennendes) Objekt
Hier wird auf eine Erfahrung des Erkannt-werdens (und später des Anerkannt-werdens) bei
der Ich-Bildung rekurriert: videor ergo sum!9 Diese intersubjektiv hergestellte Spiegelung
unterscheidet sich von der solipsistischen Selbstbegegnung des Ich, wie sie etwa Lacan (1973)
in seiner Narzissmustheorie als Spiegelstadium konzipiert. Ich will das in einer
Gegenüberstellung verdeutlichen.
9 So lassen sich auch die medialen Inszenierungen von Identität im Zeitalter der Postmoderne verstehen, die sich – wie die reality-soaps oder talk-shows - der Kamera als Spiegel bedienen (vgl. Altmeyer 2001)
Individuation
Mutter-Kind-Interaktion
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Schaubild 6: Spiegelung als Selbstbegegnung bei Lacan (1936)
je Spiegel moi (Ideal-Ich) Je/moi (Ich und Ideal-Ich)
Der scheinbar objektlose Narzissmus, dessen ich-bildende Funktion Lacan aus dem
Spiegelstadium als monadologisches Selbstverhältnis von „je“ und „moi“ ableitet, wird von
Winnicott der Zwei-Personen-Psychologie zugeordnet. Das folgende Zitat ist schon deshalb
eine ausgesprochene Trouvaille, weil Winnicott den Narzissmusbegriff wegen seiner
monadologischen Konnotation weitgehend vermeidet10:
„Wenn man in Dreier- und Zweierbeziehungen denkt, wie natürlich, dass man noch einen Schritt weiter zurückgeht, und von einer Einerbeziehung spricht! Zunächst scheint es, als sei der Narzissmus die Einerbeziehung, entweder eine Frühform des sekundären Narzissmus oder der primäre Narzissmus selbst. Ich meine, dass dieser Sprung von der Zweier- zur Einerbeziehung in Wirklichkeit nicht möglich ist, ohne sehr viel von dem zu verletzen, was wir durch unsere analytische Arbeit und durch direkte Beobachtung von Müttern und Säuglingen wissen.“ (Winnicott, 1974, S.37, Reifungsprozesse und fördernde Umwelt)
Die Dualunion steht am Anfang, nicht die Monade; auch der primäre Narzissmus gehört einer
Welt ursprünglicher Bezogenheit an. Die identitätsstiftende Funktion der frühen Spiegelung,
die Winnicott am Blick der einfühlsamen Mutter demonstriert, gilt allerdings auch für den
10 er kommt zum Beispiel im schönen Wörter-Buch von Jan Abram (1996) über Winnicotts Sprache als Stichwort überhaupt nicht vor
“jubilatorische“ Entdeckung des Spiegelbilds
Verwandlung durch Aufnahme d. Bildes (narzisstische Identifikation)
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Fall einer unempathischen Mutter. Caroline Neubaur (1987) beschreibt in ihrer literarisch-
ästhetisch-philosophischen Hommage an Winnicott die Wirkung eines negativen feed-backs:
“Wenn die mich spiegelnde Mutter mich nicht spiegelt, sondern starr oder abweisend aussieht, kann ich dem natürlichen Gefälle meiner Entäusserung, meiner physischen Bewegung nicht folgen, bin ich auf der Hut, denn im Angesicht einer drohenden, starr oder abgewandt blickenden Mutter mich zu präsentieren, würde Vernichtung bedeuten.“ ( ebd., S. 60 f.)
Dass die “mich spiegelnde Mutter mich nicht spiegelt” - diese Formulierung verweist auf die
Ambivalenz des Problems und die Schwierigkeit seiner sprachlichen Darstellung: Auch der
starre, abweisende oder abgewandte Blick der Mutter ist ein Spiegel, der ein Bild zurückwirft;
es ist nur anders, als wenn es einem lebendigen, zugewandten und liebenden Blick
entstammte. Das Kind kann diesem Spiegelbild nicht entgehen, indem es etwa “am Spiegel
vorbeisieht”; es erwirbt ein sehr verschiedenes Bild von sich, je nachdem, wie die Mutter
schaut. Das Kind verfügt nicht bereits über eine Identität, die es bestätigt haben möchte; es
erwirbt diese Identität erst in der Resonanzbeziehung zur Mutter. Es will (passiv) gesehen
werden - und wie es gesehen wird, entscheidet darüber, welches Selbst es ausbildet11.
Die Spiegelmetapher erhält bei Winnicott, indem er ihre Urform aus dem spiegelnden Blick
der Mutter entwickelt, eine intersubjektive Wendung. Diese Metapher ist jedoch bekanntlich
nicht nur im Narzissmus-Diskurs der Psychoanalyse monadologisch konnotiert. sondern auch
in ihrer Übertragung auf den psychoanalytischen Prozess. Deshalb wird sie inzwischen
einhellig verworfen, wo sie einmal die Rollenbeschreibung des Psychoanalytikers als “glatter
Spiegel”, als “weisse Leinwand”, als “neutraler Bildschirm” u.s.w. beherrscht hat. Mit diesen
Umschreibungen wird eine klassische Grundhaltung des Therapeuten assoziiert, der sich dem
Patienten als Spiegel anbietet. Und alle sind sich schon lange einig, quer durch die Fronten
des psychoanalytischen Pluralismus, dass diese Rollenbeschreibung des Psychoanalytikers
nicht mehr gilt, wenn sie je gegolten hat: sie werde der Bedeutung der Gegenübertragung
nicht gerecht. Ich teile diese Ablehnung nicht und möchte noch einmal auf Winnicott
verweisen: Psychotherapie habe „im weitesten Sinne die Funktion des Gesichts, das
widerspiegelt, was sichtbar ist“; die therapeutische Funktion des Spiegelns sei aber „nicht
einfach, sondern vielmehr psychisch belastend“ (Winnicott 1995, S.135). 11 So mancher wird einwenden, dass diese Winnicott-Interpretation seiner bekannten Unterscheidung vom „wahren“ und „falschen“ Selbst nicht gerecht wird. Ich kann diesen Einwand nicht wirklich entkräften, denn in der Tat enthält die Vorstellung eines „wahren Selbst“ die Idee eines vorgängigen individuellen Kerns, der durch das „falsche Selbst“ im Sinne einer bereits sozialisierten Selbstschicht vor den Zumutungen der Welt geschützt wird. Was aber wäre der Inhalt dieses Kerns, wenn er nicht bereits selbst intersubjektiv kontaminiert ist? Das
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Damit es kein Missverständnis gibt: ich stimme der Auffassung zu, dass der Analytiker kein
anonymer, passiver, objektiver Teil der therapeutischen Interaktion ist; ich bin nur nicht der
Ansicht, dass die Spiegelmetapher das zum Ausdruck bringt. In einem leeren Bildschirm, auf
einer weissen Leinwand, in einem undurchsichtigen Therapeuten kann sich kein Patient
erblicken. Der spiegelnde Analytiker ist ein höchst lebendiger, aktiver und subjektiver
Teilnehmer an einem Prozess, in dem der Analysand in seinen Übertragungen alte Bilder von
sich und seiner Beziehung zur Umwelt entwirft, die in der therapeutischen Reflexion neu
betrachtet und verändert werden können. In seiner Spiegelfunktion wirft der Analytiker aber
nicht ein projiziertes Selbstbild zurück, sondern er fungiert als der Andere, aus dessen
Perspektive sich der Analysand betrachtet sieht.
Es geht also nicht um eine schlichte Widerspiegelung des Selbst in der reflektierenden
Deutung. Eine Deutung des Therapeuten heißt gerade nicht: Übereinstimmung mit dem
Selbstbild des Patienten - das wäre wirklich der „glatte Spiegel“ der therapeutischen
Indifferenz -, sondern zunächst eher Missachtung, nämlich des Wunsches nach
Übereinstimmung, Bestätigung, Befriedigung (vgl. Reiche 1999, S. 583). Eine Deutung
anzunehmen heisst für den Patienten zunächst, eine narzisstische Kränkung zuzulassen. Das
kann er nur, wenn er sich anerkannt fühlt. Er lernt sich dann aus einer anderen Perspektive als
der gewohnten sehen, wenn er anerkennen kann, dass es auch Differenz gibt. Mit Hilfe der
Spiegelmetapher könnte man es so ausdrücken: Das in der spiegelnden Deutung reflektierte
Selbstbild wird keinen völlig Fremden zeigen; wenn aber nur ein identisches Bild
zurückgeworfen wird, gibt es keine Differenzierung und keinen Fortschritt. Erst in den
Spiegelungen des Analytikers im Sinne eines durch Anerkennung „gebrochenen“ Spiegels12
kann sich der Analysand samt seiner abgewehrten Selbstanteile als ein Anderer erkennen und
selbst anerkennen. Diese Brechung bedeutet, weil sie auf einer Anerkennungsbeziehung
beruht, keine Fragmentierung.
Die Erfahrungen der Missachtung, die wir als Patienten in der Analyse durch kränkende
Deutungen machen, sind deshalb den „optimalen“ Versagungen vergleichbar, die der
„private self“ (gegenüber dem „public self“) bei Modell (1996); der Trieb bei Freud; das Nicht-Identische bei Adorno; Heideggers „Sein des Seienden“? 12 Ich verwende das Bild eines durch Anerkennung „gebrochenen“ Spiegels in der gleichen Weise, wie es Axel Honneth verwandt hat, wenn er von der Liebe als einer „durch Anerkennung gebrochenen Symbiose“ (1994, S. 172) spricht: es entspricht – wie Reimut Reiche (1999) es formuliert hat - einem „Interaktionsideal“, das Individuierung erlaubt.
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Säugling durch seine Mutter erleben muss, wenn er sich entwickeln will. Wieder liegt die
Parallele zu Winnicott nahe: Auch wenn die Mutter über die Zeit und „zu gut“ weiß, was das
Kind braucht, nimmt sie ihm den Raum für Eigenes und hält ihn in der Abhängigkeit. wendet
Damit im therapeutischen Prozess etwas Neues (Ogdens intersubjektives Drittes, das „subject
of analysis“) entstehen kann, braucht es gewissermassen Erfahrungen einer „optimalen“
Missachtung. Das wäre die intersubjektive Funktion des Spiegels, in dem auch ein „gesunder“
Narzissmus entsteht: als Selbstverhältnis, das auf die Anerkennung des Anderen angewiesen
ist und sie zur inneren Ausstattung der eigenen Identität benutzt. Im gleichen Sinne wendet
auch André Green Winnicotts Autonomieideal des Alleine-sein-Könnens in Anwesenheit des
Anderen auf den therapeutischen Prozess an, wenn er als Ziel der Psychoanalyse angibt: „die
Fähigkeit des Patienten, in Anwesenheit des Analytikers alleine sein zu können“ (Green 1975,
S. 533). Der psychoanalytische Raum – so Green in Anspielung auf die theoretische Figur des
„potential space“ - müsse allerdings für eine solche Entwicklung offen bleiben, anstatt ihn mit
verbalisierenden Deutungen „vollzustopfen“13. Die Parallele von der Selbstwerdung des
Säuglings und der des Patienten könnte sein: Sie müssen sich beide nicht mehr im Spiegel des
Gegenüber betrachten und können sich unabhängig machen (vgl. Reiche 1988).
3. Schluss: Winnicott und der „intersubjective turn“ der Psychoanalyse
Der Gegenwartsdiskurs der Psychoanalyse ist von einer aktuellen Aufmerksamkeit für
Winnicott begleitet, der mit seinen verstreuten und wenig systematischen Arbeiten lange Zeit
eher als kreativer, aber ein wenig „verrückter“ Begriffslieferant betrachtet worden ist14. Erst
die intersubjektivistischen Strömungen - Jessica Benjamin, Robert Stolorow oder Arnold
Modell sind amerikanische Beispiele dafür - haben ihn wiederentdeckt.. Die postkleinianische
Objektbeziehungstheorie ist in ihren erkenntnistheoretisch fortgeschrittenen Varianten eher
eine Post-Winnicott-Schule, wie sich an den Arbeiten von Bollas und Ogden und ihrer
kreativen Fortführung etwa des Winnicottschen Raumkonzepts zeigen lässt. Im Begriffspaar
von „I-ness“ und „me-ness“ bei Ogden - das auf die Unterscheidung von „I“ und „me“ bei
Mead zurückgeht - ist die exzentrische Perspektive des Anderen ebenso präsent wie in der
Repräsentanz eines „Selbst-in-Beziehung-zu-sich-als-Objekt“, wie sie bei Bollas aus der
13 eine fatale und Abhängigkeit herstellende Neigung, welche Green den Kleinianern vorhält. 14 Den Hinweis, dass Winnicot im Umkreis des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts in den siebziger Jahren als „verrückt“ galt, verdanke ich einer persönlichen Bemerkung von Lore Schacht, die von ihrer Londoner Begegnung mit Winnicott 1972 einen schönen Beitrag zur Objektverwendung mit- und in der PSYCHE untergebracht hat: „Subjekt gebraucht Subjekt“ (Schacht 1973 )
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Internalisierung der mütterlichen Fürsorge entsteht. Meads Modell der
Perspektivenübernahme hat durch Winnicott und seine späten „Schüler“ gewissermassen eine
psychoanalytische Korrespondenz und empirische Tiefe bekommen. Auch die
Entwicklungstheorie der Säuglingsforschung (Stern 1992) wandelt mit dem Konzept eines
„das Selbst regulierenden Anderen“ auf Meads und Winnicotts Spuren, ebenso übrigens wie
der Hirnforscher Wolf Singer (1998) mit seiner Hypothese, dass die neuronale Repräsentation
des Selbst aus dem Du von frühen Interaktionspartnern entsteht, das in ein Ich umgewandelt
wird.
In den gesamten Humanwissenschaften zeichnet sich eine Konvergenz bei der
Konzeptualisierung des Selbst ab, weg von der Monadentheorie in Richtung auf
Intersubjektivität - mit einem entsprechenden Austausch der Leitmetaphern. Man kann die
Auswirkungen dieses Paradigmenwechsels im Sinne eines „intersubjective turn“ modellhaft
in folgenden Sätzen beschreiben. Das Subjekt konstituiert sich durch das Objekt, das Ego
braucht das Alter Ego. Das Selbst bildet sich in der Vermittlung durch den Anderen, das
Eigene ensteht über das Fremde. Individuierung geschieht durch Sozialisation. Das
Selbstverhältnis entsteht nicht introspektiv, es bezieht sich reflexiv auf die Welt da draußen.
Der Säugling kommt mit vorgebildeten Fähigkeiten auf die Welt, ist aber hilflos und auf die
Umwelt existentiell angewiesen - seine Kernidentität gewinnt er aus einer tragenden
Beziehung und dem Reichtum an Rückmeldung, Echo und Spiegelung. Sogar der Narzissmus,
dieser scheinbare Hort der solipsistischen Einsamkeit, gehört einer Zwei-Personen-
Psychologie an: Ich betrachte dabei den Anderen, wie er mich betrachtet, und verwende und
behandele ihn - unbewusst - als Spiegel des eigenen Selbst. Die Psychoanalyse ist dabei, sich
im Zuge dieses „intersubjective turn“ und im wieder aufgenommenen Dialog mit den
Nachbarwissenschaften von einer monadenhaften Vorstellung des Selbst zu lösen15. Indem sie
das Libidoparadigma einer gründlichen Revision unterzieht, beginnt sie auch am Organismus-
Modell der Seele zu rütteln.
Der Paradigmenwechsel lässt nun ausgerechnet jene Disziplinen unberührt, die sich gerne
Lebenswissenschaften nennen. Allein die computerisierte Humangenetik und die mit ihr
symbiotisch verschmolzene Biotechnologie halten an der Monadentheorie fest - mit ihren
15 Ich bin der Auffassung, dass man die gesamte Metapsychologie unter einer intersubjektiven Perspektive reformulieren sollte, um den verlorengegangenen Anschluss an den interdisziplinären Diskurs wiederzugewinnen und die wissenschaftlichen Ressourcen der Psychoanalyse, die in der Entdeckung des Unbewussten als des Anderen liegen, zur Geltung zu bringen .
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schlichten Modellen der linearen Kausalität, des genetischen Determinismus und des
biochemischen Reduktionismus aus der Mottenkiste des wissenschaftstheoretischen
Diskurses: Der Mensch wird erst zum Resultat eines genetischen Programms, dann zum
Produkt einer manipulierenden Ingenieurskunst erklärt, wobei sich die
Veränderungshoffnungen an der manipulativen Verfügung über das bisher unverfügbare
organische Substrat festmachen. Dem Rätsel der Ermergenz des Psychischen, wenn wir es
überhaupt jemals lösen können, werden wir weder in der Natur der Triebbedürfnisse auf die
Spur kommen, noch in der Molekularstruktur des Zellkerns, die wir inzwischen entziffern,
oder in den neuronalen Prozessen des Gehirns, die wir nun abbilden können. Die notorische
Kluft zwischen der Perspektive der dritten Person, die uns das objektive Außen eröffnet, und
der Perspektive der ersten Person, die uns das subjektive Innen erschließt, ist auf diese Weise
nicht zu überbrücken.
Das Zwischen bildet diese Brücke, die durch die Paradoxien des Selbst hindurchscheint und
in einem Raum liegt, auf den Winnicott uns aufmerksam gemacht hat. Gerade in einer
krisenhaften Periode der Psychoanalyse brauchen wir seine Einsichten dringend für ein
anspruchsvolles Gespräch über eine Theorie des Selbst, das wir auf der Höhe der Zeit führen
müssen. Sie wären kostbare Pfunde, aber sie stammen aus einem Schatz, den wir selbst erst
heben müssen. Winnicott, der wie kein anderer Psychoanalytiker in den Sozialwissenschaften
rezipiert worden ist, war seiner Zeit weit voraus, und wir haben Mühe, ihn einzuholen. Innen-
Außen-Zwischen, Paradoxien des Selbst, potentieller Raum, intersubjektive Genese des
Subjekts – Donald Winnicott hat die Psychoanalyse in eine Art Schwindel versetzt, der ihr am
Anfang zuviel war und in den sie jetzt doch hineingeraten ist. Der Zustand des Schwindels
aber, hatte Sokrates einmal behauptet, stehe am Beginn der Weisheit.
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Literatur:
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Filename: HannoverWinnicott(Vorträge,PZ).doc Directory: P:\Vertrieb\Kunden\Altmeyer Martin\THEMEN\Psychoanalyse -
Zeitdiagnose Template: C:\Documents and Settings\aneroslavski\Application
Data\Microsoft\Templates\Normal.dot Title: Martin Altmeyer
Februar 2001 Subject: Author: Altmeyer Keywords: Comments: Creation Date: 5/6/2003 11:03 AM Change Number: 2 Last Saved On: 5/6/2003 11:03 AM Last Saved By: Dr. Martin Altmeyer Total Editing Time: 6 Minutes Last Printed On: 5/8/2003 3:16 PM As of Last Complete Printing Number of Pages: 24 Number of Words: 7.366 (approx.) Number of Characters: 41.991 (approx.)