indien: aufstand der patels

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 Hintergrund: Indien Nr. 53 / September 2015 | 1 Der Aufstand der Patels  Zum neuen Streit um Kasten-Rechte in Indien Dr. Ronald Meinardus Hintergrund: Indien Nr. 53 / 10. September 2015 Zusammenfassung Indiens Innenpolitik ist ohne Hinweise auf das Kastensystem nicht verständlich. „Nirgendwo in der Welt ist die Ungleichheit von Geburt an und die moralische Gleichgültigkeit hierüber derart institutionalisiert wie in Indien“, lamentiert Jayaprakash Narayan, der Gründer der Foundation for Democratic Reforms. Da- bei verbietet die indische Verfassung von 1950 ausdrücklich jedwede Diskrimi- nierung auf der Basis von Religion, Rasse, Kaste, Geschlecht und Herkunft. Doch der gute Vorsatz des indischen Grundgesetzes und die Verfassungswirklichkeit liegen Lichtjahre auseinander. Immer wieder kommt es zu teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen um Kastenrechte und Privilegien. Dieses Mal rebellieren Menschen, die nicht gerade als benachteiligt gelten.

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Hintergrund: Indien Nr. 53 / September 2015 | 1 

Der Aufstand der Patels – 

Zum neuen Streit um Kasten-Rechte in Indien 

Dr. Ronald Meinardus

Hintergrund:Indien

Nr. 53 / 10. September 2015 

Zusammenfassung

Indiens Innenpolitik ist ohne Hinweise auf das Kastensystem nicht verständlich.„Nirgendwo in der Welt ist die Ungleichheit von Geburt an und die moralische

Gleichgültigkeit hierüber derart institutionalisiert wie in Indien“, lamentiert

Jayaprakash Narayan, der Gründer der Foundation for Democratic Reforms. Da-bei verbietet die indische Verfassung von 1950 ausdrücklich jedwede Diskrimi-nierung auf der Basis von Religion, Rasse, Kaste, Geschlecht und Herkunft. Dochder gute Vorsatz des indischen Grundgesetzes und die Verfassungswirklichkeitliegen Lichtjahre auseinander. Immer wieder kommt es zu teilweise gewaltsamenAuseinandersetzungen um Kastenrechte und Privilegien. Dieses Mal rebellieren

Menschen, die nicht gerade als benachteiligt gelten.

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Eine politische Karriere wie die des Hardik Patel ist vermutlich nur in Indien möglich. Seinen kometen-haften Aufstieg zum Liebling der Medien verdankt der 22-jährige Aktivist einer Kampagne, mit der erdie staatliche Förderung seiner Kaste der Patels verlangt.

Eigentlich nichts Ungewöhnliches könnte man meinen hier in Indien, wo Politik und Kasteninteressenseit Menschengedenken eng verwoben sind. Das Ungewöhnliche, ja geradezu Skandalöse an der Kam-pagne des Hardik Patel ist, dass die Kaste, für die er auf die Barikaden steigt, überhaupt nicht in dasBild der Benachteiligten passt. Ganz im Gegenteil: Die Patels gelten als wohlhabend und erfolgreich:„Sie sind wahrscheinlich die am besten situierten Geschäftsleute und Industriellen von allen Bauern-kasten Indiens“, urteilt der Südasien-Experte Christophe Jaffrelot.

Auf dem Höhepunkt der Massenproteste der Patel-Aktivisten im nordwestindischen Bundesstaat Guja-rat sind kürzlich zehn Menschen ums Leben gekommen. Mit großer Härte war die Polizei auf die De-monstranten losgegangen, was eine Welle der Solidarität ausgelöst hat. Von schweren taktischen Feh-lern der Polizei war alsbald die Rede. Derart aufgebracht waren die Menschen, dass die Regierung diePolizei zurückzog und die Armee zeitweilig für Recht und Ordnung sorgte.

Die Patels sind wie gesagt keine armen Leute,so lautet das kastenspezifische Stereotyp. Har-dik Patel sieht das indes anders. Kein Tag ver-geht, ohne dass er in Reden und Interviews dieMarginalisierung und Verarmung der Patel-Gemeinde beklagt. Die Bauern seiner Kaste hät-ten nicht genug zu essen, Tausende hätten aus

 Verzweiflung Selbstmord begangen, sagt er.

Besonders schlecht stehe es um die jungen Pa-tels in den Städten, die weder Studienplätzenoch Jobs im Staatsdienst fänden. Für daswachsende Elend sei –  so die Klage – die Kas-tenpolitik, konkret: die staatliche Reservie-rungspolitik verantwortlich.

Politisch motivierte QuotenIndiens Innenpolitik, ja die Gesellschaft desRiesenlandes ist ohne Hinweise auf das Kasten-system nicht verständlich. „Nirgends in der Welt

ist die Ungleichheit von Geburt an und die mo-ralische Gleichgültigkeit hierüber derart institutionalisiert wie in Indien“, lamentiert Jayaprakash

Narayan, der Gründer der Foundation for Democratic Reforms. Dabei verbietet die indische Verfassungvon 1950 ausdrücklich jedwede Diskriminierung auf der Basis von Religion, Rasse, Kaste, Geschlechtund Herkunft. Doch der gute Vorsatz, der in Artikel 15, Absatz 2 des indischen Grundgesetzes festge-schrieben ist, und die Verfassungswirklichkeit liegen Lichtjahre auseinander.

Arm und sehr arm - Rikscha Fahrer in Neu Delhi 

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Um die schlimmsten Ungerechtigkeiten des Kastenwesens auszugleichen, erlaubt die indische Verfas-sung ein Verfahren, das auch als positive Diskriminierung bekannt ist. Im Kern handelt es sich um einepolitisch motivierte Quotenregelung, wie wir sie – in geringerem Umfang – auch aus den VereinigtenStaaten von Amerika oder Malaysia kennen. Über die Jahre hat der Staat eine Vielzahl von kastenspe-

zifischen Hilfsprogrammen aufgelegt. Für Angehörige bestimmter Kasten wurden Studienplätze undJobs im Staatsdienst reserviert. Die sozialpolitische Quotenregelung war – so die Absicht der Verfas-sungsväter – zunächst auf zehn Jahre befristet. Doch die Hoffnung, mit derlei Zugaben, „die brutalste,vulgärste, hierarchischste gesellschaftliche Ordnung der Welt“ – so beschreibt die indische Schriftstel-lerin Arundhati Roy in einem Interview das Kastenwesen –  nachhaltig zu reformieren, erfüllte sichnicht.

In Folge beschlossen Regierungen neue Quotenprogramme und verlängerten bestehende. Immer mehrKasten kamen so in den Genuss der staatlichen Förderung. Um diesem Vorgang zu begrenzen, ent-schied der Oberste Gerichtshof in Neu Delhi, dass maximal 50 % der Arbeits- und Studienplätze fürbestimmte Kasten reserviert werden dürften. Nicht alle Bundestaaten hielten sich an das Gebot: Imsüdindischen Tamil Nadu etwa liegt die Reservierungsquote bei über 70 Prozent.

Die Ausweitung der Quoten hatte in hohem Maße politische Beweggründe: Die kastenspezifischenReservierungen entpuppten sich als exzellentes Herrschafts- und Patronagesystem in den Händen derParteipolitiker. In Indien werben Parteistrategen weniger mit programmatischen Aussagen; wahlent-scheidend in der größten Demokratie der Welt sind – und bleiben – Zusagen an bestimmte Kasten unddas Schmieden von Kastenallianzen, die amStichtag die Stimmen liefern, und dafür nachdem Wahltag kollektiv honoriert werden wollen.

Auch wenn sich allemal im urbanen Indien dieschlimmsten Auswüchse des Kastenwesens ab-geschwächt haben, bleibt die Kastenzugehörig-keit ein beherrschendes Thema in der politi-schen Auseinandersetzung.

„Sahnige Oberschicht“

Zu den Paradoxen der Kastenpolitik zählt, dassdie Programme, die eingeführt wurden mit demZiel, die kastenbedingten Ungleichheiten zubekämpfen, im Ergebnis das Kastensystem sta-bilisiert, ja reproduziert haben. Die Sozialleis-tungen der Quoten-Programme werden nichtnach individueller wirtschaftlicher oder sozialerBedürftigkeit vergeben; entscheidend ist dieZugehörigkeit zu einer Kaste.

Längst nicht alle Angehörige einer Kaste sind Nutzniesser der Förderprogramme. Kritiker monieren, essei vor allem ein „creamy layer“, eine sahnige Oberschicht, die sich die Privilegien sichert.

Händler - Ein Patel Geschäft in Gujarat 

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Das führt zu dem Paradox, dass Mitglieder unterer und unterster Kasten über die Jahre in höchsteRegierungsämter aufgerückt sind und Teil des Establishments wurden, die Masse derweil am sozialenEnde darbt.

Kaum ein Thema erregt die indischen Gemüter so sehr wie das Kastenthema. Das erklärt das riesigeMedienecho auf die Agitation des Hardik Patel. Dieser verlangt keinesfalls die Abschaffung der Reser-vierungen der anderen. Patel verlangt, seine Kaste möge von Amts wegen hinabgestuft werden in dieKategorie der OBC, der „other backward classes“. Der kollektive soziale Abstieg seiner Kaste – so dasKalkül – sei verbunden mit staatlichen Beschäftigungs- und Bildungsgarantien.

Mit seiner Agitation beweist Patel einmal mehr, dass Indiens einzigartiges Kastensystem heute vorallem zu einem sozialpolitischen Verteilungsprogramm mutiert ist. Unüberhörbar sind die Stimmen,die die Abschaffung der Kastenpolitik und der Reservierungen verlangen:

„Indem eine Gruppe gegen die

andere ausgespielt wird, ent-steht ein Gefühl der Spaltung(der Gesellschaft) und diesführt ins Chaos, da jede Gruppe

 jetzt Forderungen stellt. DieReservierungen sind zur Anti-these von Entwicklung undGleichheit geworden“, sagt

Nisarg Nilesh Trivedi, der alsRechtsanwalt am Oberen Ge-

richt von Gujarat, dem Brenn-punkt des aktuellen Kasten-streites arbeitet.

Liberale Kommentatoren argu-mentieren, die Reservierungs-politik sei nicht kompatibel mitder modernen Marktwirtschaft,

mit der Ministerpräsident Narendra Modi sein Land nach vorne bringen will. Im Streit um die Patel-Privilegien hält sich Modi zurück. Das ist schon deshalb erstaunlich, da Modi selber aus Gujaratstammt und dort zwölf Jahre Regierungschef war, bevor er im vergangenen Frühjahr nach dem Wahl-sieg seiner BJP-Partei in das Ministerpräsidentenamt nach Neu Delhi wechselte. Für Modi ist der Pa-tel-Aufstand ein großes Ärgernis. Wenn die allgemein als wohlhabend geltenden Patel-Aktivisten nunüber Marginalisierung und Verelendung klagen, wirft das kein gutes Licht auf die wirtschaftliche Situ-ation in dem Bundesstaat Gujarat. Geschickt hatten Modi und seine Wahlkämpfer verstanden, Gujaratals Modell erfolgreicher Entwicklungspolitik zu präsentieren. Das Modell Gujarat hat in den letztenWochen nun einen deutlichen Kratzer abbekommen –  und schuld daran sind die kastenpolitischenProtestaktionen der Patels.

Den Zeitpunkt der Mobilisierung haben diese mit Bedacht gewählt: Es ist Wahlkampfzeit in Indien.Demnächst wird im Bundesstaat Bihar ein neues Regionalparlament gewählt.

Marginalisierte Bauern - Sie gehören keiner Kaste an 

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Die Wahlen in dem bevölkerungsreichen Teilstaat gelten als das wichtigste innenpolitsche Ereignis desJahres. Alle Blicke sind auf den Wahlkampf dort gerichtet. Modi und seine Strategen wollen unbedingtgewinnen. Die BJP ist dabei, Wahlallianzen mit hochkastigen Gruppen zu schmieden, berichten dieZeitungen. Das ist überhaupt nichts Ungewöhnliches. Auch die anderen Parteien versuchen, möglichst

viele Kasten und Unterkasten mit rosigen Wahlversprechen an sich zu binden.

„Die Kastenwirklichkeit ist der Motor, der das moderne Indien antreibt“, sagt Arundhati Roy. Es gibt

kein Anzeichen, dass die politische Klasse dieses ändern will. Schon gar nicht vor Wahlen. Und ir-gendwann und irgendwo sind immer Wahlen in Indien.

Dr. Ronald Meinardus ist der Leiter des Regionalbüros Südasien der Friedrich Naumann Stiftung fürdie Freiheit mit Sitz in Neu Delhi. (Twitter: @Meinardus)

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