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Nr. 79 I Mai 2015 ISSN 1430-0427 Bindungsorientierte Frühförderung PraenaTest & Co Eine ernüchternde Bilanz Biografiearbeit Klumpfuß- deformität Inklusives Lernen an der Universität Hobbys und Freizeit

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Nr. 79 I Mai 2015 ISSN 1430-0427

Bindungsorientierte Frühförderung

PraenaTest & Co Eine ernüchternde Bilanz

Biografiearbeit

Klumpfuß-deformität

Inklusives Lernen an der Universität

Hobbys und Freizeit

L e b e n m i t D o w n - S y n d r o m N r . 7 9 I M a i 2 0 1 5 3

g E D I T O R I A L

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

„Wir müssen die höchstmögliche Kultur, die beste physische, sittliche und intellektuelle Ausbildung anbieten, um jenen, die den größten Anspruch auf unsere Sympathie haben, neue Bereiche des Glücks zu eröffnen“ so Dr. John Langdon Down in einer seiner Vorlesungen. Gemeint waren seine Schütz­linge, Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen, viele darunter würde man heute als Kinder mit Down­Syndrom beschreiben.

Mehr Lebensglück durch eine allumfassende Bildung – genau das war auch die Botschaft unserer Fachtagung anlässlich des Welt­DS­Tages 2015. Dazu gehört auch der tertiäre Bildungsbereich – in Deutschland Menschen mit Trisomie 21 noch fest verschlossen. Nicht so in Irland, dort gibt es an ver­schiedenen Hochschulen Studierende mit Down­Syndrom. Drei Referentin­nen stellten das ILI­Projekt vor – Menschen mit einer Intelligenzminderung an der Irischen Nationalen Universität Maynooth.

Bildung ist wichtig, aber zum Ausgleich braucht es anregende Freizeitaktivi­täten: Klettern oder Cheerleading, Stricken oder Singen, Fotografieren oder Judo. Die Geschichten zeigen, wie bereichernd ein Hobby sein und zum Le­bensglück beitragen kann. Lesen Sie über junge Menschen und ihre Hobbys.

Im Fokus dieser Ausgabe steht unter anderem die Beziehungsarbeit mit klei­nen Kindern, denen es an einer sicheren Bindung fehlt. Wie wichtig diese Bindung ist, wird in dem Aufsatz „Bernd entdeckt die Welt“ deutlich. Da geht es nicht um ein vermeintlich selbstgenügsames, pflegeleichtes Kind mit der zusätzlichen Diagnose einer Autismus­Spektrum­Störung, wir haben es viel­mehr mit einem bindungs­ und beziehungsarmen Kind zu tun. Intensive Beziehungsarbeit ist notwendig, damit Bernd Vertrauen zu sich und der Welt aufbauen und seine Entwicklung einen günstigen Verlauf nehmen kann.

Biografiearbeit mit kognitiv beeinträchtigten Menschen ist heute ein wich­tiger Bestandteil der pädagogischen Arbeit und Ausdruck dafür, diese Men­schen nicht mehr als Fälle von geistiger Behinderung, sondern als Personen in ihrer Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit wahrzunehmen. Gedanken zu Lebensgeschichten und zur Biografiearbeit werden ergänzt durch die Vor­stellung einiger wichtiger Materialien.

An zwei viel diskutierten Themen kommt Leben mit Down-Syndrom nicht vor­bei: die immer perfekter werdende pränatale Diagnostik und die Inklusion.

Und dann gibt es noch Geschichten – über einen amerikanischen Forscher, eine deutsche Prinzessin, über Kunst und Knochen, über eine tapfere Schwei­zerin in Norwegen sowie über Gisela, die sich für immer verabschiedet hat.

Leben mit Down-Syndrom – Einfach mehr drin! Und bestimmt für alle Lese­rinnen und Leser etwas dabei.

Herzlich Ihre

Neues aus dem DS-InfoCenter 6 Einfach 600 Poster! 7 Dankeszeichen für das DS­InfoCenter 7 Fachtagung Bildung 9 Ein Jahr Down­Syndrom­Ambulanz in Lauf10 Erstinfo­Mappe und Auszeichnung anlässlich des WDST 2015

Pränatale Diagnostik12 PraenaTest & Co – Eine ernüchternde Bilanz 13 Genanalysen in der Schwangerenvorsorge: Keine Zeit zum Nachdenken

14 Ein Mensch ist keine Strapaze, niemals! Geschichte16 Alexandrine Prinzessin von Preußen 17 Seit wann gibt es das Down­Syndrom?

Wissenschaft19 Craig Garner in Berlin Medizin22 Klumpfußdeformität bei Kindern mit Down­Syndrom

Psychologie24 Bernd entdeckt die Welt – Bindungsorientierte Frühförderung 30 Responsive Teaching 32 Motivation als Lernmotor 33 Autismus beim Down­Syndrom ist kein typischer Autismus

Inklusion 35 Lola in der inklusiven Waldorfschule38 Der US­amerikanische Weg der Inklusion40 Inklusion – nicht zu Ende gedacht. Leser­Reaktionen 45 Inklusives Lernen an der Universität – der integrative Ansatz

TITeLBILD: Jana MeiseFoto: Michael Pallgen

Ohrenkuss-Workshop bei der Fachtagung Bildung

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M

O R I T Z

EINFACH

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Xdown-syndrom i n f o c e n t e r

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21.3. – Weltweit ein Tag für Menschen mit Down-Syndrom

Verena Weinert: Begeistert von Inklusion in den USA

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Biografiearbeit50 Lebensgeschichten – Ein schwieriges wie auch spannendes Terrain zugleich

53 Was ist Biografiearbeit? Impulse für die Arbeit mit kognitiv beeinträchtigten Menschen

56 Auf Besuch bei P. – Sammelst du denn keine Briefmarken mehr? 57 Material zum Thema

Arbeit58 40 Jahre Werkstattgesetzgebung

Freizeit62 David, der Fotograf – Bilder sagen mehr als Worte 64 Vivi spielt Keyboard und singt im Chor 65 Einfach Konrad. Vielfach aktiv und interessiert 67 Stricken ist gemütlich 67 Selbstdisziplin durch Judo 68 Mein Hobby ist Cheerleading 69 Klettern – hoch hinauf

erfahrungsbericht70 Ein Jahr an der Peder Morset Folkehogskole in Norwegen 71 Aus meinem Reisetagebuch 14. – 21. Juni 2014 72 Yves’ Weg in die WG 74 Gisela 20. Februar 1942 – 11. Dezember 2014

Publikationen76 Vorstellung neuer Bücher, Broschüren etc.

78 Leserpost

80 Veranstaltungen

81 Vorschau/Impressum

Simon strickt gern, denn „Stricken ist gemütlich“

„Fotografieren macht einfach Spaß!“

g I N H A L T

600 Poster wurden in diesem Jahr zum WDST gestaltet! eine kleine Auswahl in dieser Leben mit Down-Syndrom.

T I B O R

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GESCH WISTER

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Xdown-syndrom i n f o c e n t e r

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21.3. – Weltweit ein Tag

für Menschen mit Down-Syndrom

Einfach 600 Poster!Die Poster-Aktion anlässlich des Welt- Down-Syndrom-Tages 2015 war wieder ein großer Erfolg. Einige Beispiele und Reaktionen dazu finden Sie auf dieser Seite, weitere Poster „verstreut“ in diesem Heft.

H A N A

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d e u t s c h e s21.3. – Weltweit ein Tag

für Menschen mit Down-Syndrom

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L I S A

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Xdown-syndrom i n f o c e n t e r

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21.3. – Weltweit ein Tag für Menschen mit Down-Syndrom

H allo und vielen DANK für das schö­ne Poster, das Se von meinem Sohn

David erstellt haben. Durch die Posterak­tion habe ich mir Gedanken gemacht, wie ich die Gesellschaft noch besser erreichen kann. Ich habe mich dann an unsere Tages­zeitung gewandt und gefragt, ob sie einen Artikel zum Welt­DS­Tag schreiben. Die­se waren sehr froh, dass ich mich gemeldet hatte und machten dann einen tollen Be­richt für die heutige Ausgabe. 

Nochmals ein großes Dankeschön an alle im DS­InfoCenter, dass Sie mich durch die Posteraktion dazu gebracht haben. Ich finde, es ist ein guter Beitrag für uns alle.

Liebe sonnige GrüßeFam. Kohrmann

V ielen Dank für die schönen Poster. „Einfach Geschwister“ – sehr schön! 

Das trifft es sehr passend, vor allem weil bei uns gerade eine große Vorfreude auf eine kleine Schwester herrscht. ;­) Die kommt dann nächstes Jahr mit auf das Bild!

Unser Poster wird die nächsten Wochen die Rückscheibe vom Auto, das Wartezim­mer des Kinderarztes, den Kindergarten, die Infotafel der Katholischen Familienbil­dungsstätte und noch ganz viele E­Mails schmücken.

Wir bedanken uns noch einmal recht herzlich für Ihre Mühe.

Liebe GrüßeStephanie Janke

EINFACH MAXIMILIAN

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21.3. – Weltweit ein Tag für Menschen mit Down-Syndrom

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21.3. – Weltweit ein Tag für Menschen mit Down-Syndrom

H E L E N

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Neues aus dem DS-InfoCenter ...X d e u t s c h e sdown-syndrom i n f o c e n t e r

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DAV ID

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21.3. – Weltweit ein Tag für Menschen mit Down-Syndrom

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Dankeszeichen für das DS-InfoCenter

Nürnberg, 21. März 2015Am Welt­Down­Syndrom­Tag wurde das InfoCenter mit dem Dankeszeichen der Akademie Caritas Pirckheimer Haus aus­gezeichnet:

„Die Akademie CPH verleiht für außer­gewöhnliche Impulse für die Gesellschaft und eine beispielhafte Vorbildrolle im Be­reich Aufklärungs­ und Öffentlichkeits­arbeit zum Thema Down­Syndrom das Dankeszeichen an das Deutsche Down­Syndrom InfoCenter.

Durch Beratung, Information und Pub­likationen leistet das InfoCenter einen we­sentlichen Beitrag zu mehr Lebensqualität für Menschen mit Down­Syndrom. Dieses

wichtige Engagement wirkt sich natürlich auch gesamtgesellschaftlich aus und bringt uns der Inklusion ein beachtliches Stück näher. Die Akademie CPH fühlt sich dem InfoCenter für das besondere soziale Enga­gement ausdrücklich verpflichtet.

Das Dankeszeichen, im Jahr 2008 ge­staltet durch den Bildhauer Ulli Winkler, symbolisiert mit dem Beginn des zentra­len Leitsatzes der Namenspatronin Caritas Pirckheimer den Auftrag der Akademie: das pesönliche Gewissen zu stärken, um sich den Fragen der Zeit im offenen Dia­log zu stellen und die Antworten zur Ge­staltung von Kirche und Gesellschaft ein­zubringen. Dr. Siegfried Grillmeyer, Direktor der

Akademie CPH, mit Cora Halder

Z irka 150 Teilnehmer/­innen aus ganz Deutschland waren nach Nürnberg ge­

reist, um bei der vom Deutschen Down­Syndrom InfoCenter organisierten Fach­tagung zum Thema BILDUNG dabei zu sein. Während verschiedene hochkaräti­ge Referenten/­innen das interessierte Pu­blikum über die Bedeutung der Bildung und die Herausforderungen des Lernens von Menschen mit Trisomie 21 informier­ten, traf sich eine Gruppe junger Menschen (alle mit 47 Chromosomen ausgestattet) ge­meinsam in einer Schreib­Werkstatt, um sich etwas „ein­zu­bilden“.

Cora Halder eröffnete die Tagung mit einem Zitat von Dr. Langdon Down, der schon 1866 über die ihm anvertrauten Pa­tienten, Kinder mit unterschiedlichen Be­

hinderungen, sagte: „Wir müssen die höchstmögliche Kultur, die beste physi­sche, sittliche und intellektuelle Ausbildung anbieten, um jenen, die den größten An­spruch auf unsere Sympathie haben, neue Bereiche des Glücks zu eröffnen.“

Und darum ging es in dieser Tagung, um eine vielfältige, individuelle Bildung von Anfang an, mit einem Open End. Denn nur so erreichen Menschen mit Trisomie 21 echte Lebensqualität, werden ihnen neue Bereiche des Glücks erschlossen.

Dr. Katja de Braganca stellte als erste Re­ferentin das Ohrenkuss­Projekt vor, das seit 1998 regelmäßig ein Magazin publiziert, ge­schrieben von Menschen mit 47 Chromo­somen. Ist die Arbeit im Ohrenkuss­Projekt für die Autoren/­innen Bildung?, lautete

die Frage. Und ob, da werden wichtige Le­bensthemen recherchiert und diskutiert, es wird darüber geschrieben und gefilmt. Un­wesentliches fliegt raus, aber das Wichtigs­te bleibt hängen – und das ist eine ganze Menge, lauter Ohrenküsse eben. Anschlie­ßend versammelten sich zehn neugierige und hoch motivierte junge Menschen zu­sammen mit Katja de Bragança und Dr. Ge­org Wieghaus, um sich gemeinsam in einer Schreib­Werkstatt zum Motto „Bild dir was ein!“ etwas einfallen zu lassen. Am Ende der Tagung wurden die Ergebnisse präsen­tiert.

Prof. Dr. Etta Wilken machte klar, dass lernen nicht einfach so nach dem Prinzip des Nürnberger Trichters funktioniert. Ler­nen bedeutet Anstrengung und zum Ler­

Im Rahmen des Welt-Down-Syndrom- Tages 2015 fand am 28. März in Nürnberg die Fachtagung „Bildung – Wer weiter lernt, der rostet nicht!“ statt. T E x T: CO r A H A L D e r

Fachtagung

Bildung

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Neues aus dem DS-InfoCenter ...

nen braucht es Motivation und Training. Vor allem soll Lernen Spaß machen und das wiederum gelingt am besten, wenn zwi­schen Lehrenden und Lernenden eine gute Beziehung besteht. Das Meiste lernen Kin­der in ihren Familien, von ihren Eltern und Geschwistern. Eltern sollen dabei aufpas­sen, sich nicht zu „Helikopter­Eltern“ zu entwickeln. In jeder Lernsituation, zu Hau­se wie in der Schule, soll Leistungsdruck vermieden und fehlerfreies Lernen unter­stützt werden.

Frau Wilken ging ein auf die syndrom­spezifischen Lernaspekte im Kleinkind alter,

bei Schulkindern sowie bei Jugend lichen und Erwachsenen und zeigte auf, was in den verschiedenen Altersstufen wichtige Lernziele sind.

Von der Universität Hamburg waren Prof. Dr. André Zimpel und Alfred Röhm gekommen, die aus der großen Studie Tri­somie 21, die von 2012 bis 2014 durchge­führt wurde, berichteten. Alfred Röhm zeigte in seinem Vortrag „Bewegungsler­nen unter neuropsychologischen Bedin­gungen am Beispiel von Trisomie 21“ eini­ge Studienergebnisse, unter anderem, dass Menschen mit Trisomie einen wesentlich geringeren Imitationsumfang haben als an­dere, und die allgemeine Annahme, dass diese Kinder durch Imitation alles schnell lernen können, nur abzuschauen brauchen, so nicht stimmt. Auch beim Bewegungs­lernen sind Motivation und Training ganz wichtige Elemente. Alfred Röhm zeigte be­eindruckende motorische Leistungen von Kindern, die in seinem Zirkusprojekt mit­

arbeiten, beispielsweise im Jonglieren oder Kunstradfahren.

Prof. André Zimpel überraschte mit neuen Erkenntnissen aus der Gehirnfor­schung und aus der eigenen groß ange­legten Studie mit über 1200 Teilnehmern. Neuropsychologische Besonderheiten, wie die Abstraktionsfähigkeit oder das Auf­merksamkeitsfenster, die durch diese Stu­die belegt wurden, werden bei den Lehr­ und Lernmethoden, die in Förderschulen benutzt werden, nicht berücksichtigt. Sie müssen dringend neu überdacht werden. Auf das noch in diesem Jahr erscheinen­

de Buch „Trisomie 21 aus neuropsycholo­gischer Sicht. Was wir von Menschen mit Down­Syndrom lernen können“ sind wir gespannt.

Nach der Mittagspause stellten Laura Burke, Saranne Magennis und Josephine Finn von der Maynooth University, Irland das Projekt „Menschen mit intellektuel­len Einschränkungen studieren an der Uni“

vor. Ein Bereich, der Menschen mit Triso­mie 21 in Deutschland noch absolut ver­schlossen ist. Jedoch geht der Trend – vor allem in englischsprachigen Ländern – ein­deutig in diese Richtung, wobei die UN­Be­hindertenrechtskonvention, Artikel 24 (Bil­dung) als Richtschnur dient. Eines Tages werden auch wir in Deutschland die ersten Studenten mit Down­Syndrom an Unis be­grüßen können.

Patricia Martinez übersetzte den eng­lischsprachigen Vortrag sowie einen aus­führlichen Artikel, den Sie auf Seite 45 in dieser Ausgabe von Leben mit Down-Syn-drom finden.

Stefan Städler­Ley als Herausgeber des Buches „Herausforderung Lernen“ von Pa­blo Pineda und Dr. Monika Mazegger, die das Buch übersetzt hat, stellten die interes­santen Gedanken des bekannten Spaniers zum Thema Lernen vor. Frau Mazegger zi­tierte unter anderem verschiedene Passagen aus dem Buch.

Als Leckerbissen ganz am Schluss über­raschten die Teilnehmer/­innen der Schreib­werkstatt mit ihren „eingebildeten“ erfri­schenden Gedanken und Texten. Katja de Bragança und Georg Wiegand moderierten die Präsentation. Großer Applaus.

Bei einem kleinen Imbiss, bei persönli­chen Gesprächen und Erfahrungsaustausch ging die gelungene Tagung zu Ende. Eltern und Fachleute kehrten heim mit vielen neu­en Ideen im Gepäck, und der Überzeugung, dass Bildung für ihre Kinder wichtig ist. Die Fachtagung motivierte alle in hohem Maße, sich dafür einzusetzen.

Neues aus dem DS-InfoCenter ...X d e u t s c h e sdown-syndrom i n f o c e n t e r

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Ein Jahr Down-Syndrom-Ambulanz in LaufT E x T: M I C H A e L A H I LG N e r

Es lag uns schon seit langer Zeit auf dem Herzen: eine Ausweitung der DS-Sprechstunde. Für unsere Babysprechstunde in der Cnopf’schen Kinderklinik in Nürnberg gibt es eine lange Warteliste. Eltern fragen zudem immer wieder auch nach einem Angebot für Kinder ab vier Jahren. Wir sind sehr froh darüber, dass wir seit März 2014 eine Down-Syndrom-Ambulanz für Kinder von vier bis acht Jahren in Lauf anbieten können. Das Team besteht aus einer Logopädin, einer Physiotherapeutin, einer Ergo- und Verhaltenstherapeutin und einer Mitarbeiterin des DS-InfoCenters.

I n der Down­Syndrom­Ambulanz be­steht die Möglichkeit, in angenehmer

und wertfreier Atmosphäre gemeinsam mit den Eltern in ein Gespräch über deren Wünsche, Sorgen oder Erwartungen im Bezug auf die Entwicklung des Kindes zu kommen. Das Kind kann sich ohne Druck im freien Spiel oder bei speziellen Ange­boten zeigen, mit den Eltern findet ein ge­meinsamer Dialog hinsichtlich der wei­teren Entwicklungsschritte statt. Durch das in der Praxis sehr erfahrene multimo­dale Team können die Fragen der Eltern aus verschiedenen Perspektiven unabhän­gig beleuchtet werden. Konkrete Hilfestel­lungen werden gezeigt und mit dem Kind ausprobiert. Die Familien erhalten unmit­telbar Anleitung und Hilfestellungen, die im Anschluss nochmals schriftlich zusam­mengefasst werden.

Bei der Logopädin Frau Homer­Schmidt wird spielerisch überprüft, ob die Artiku­lation korrekt ist, wie der Satzbau und die Grammatik entwickelt sind (ob das Kind schon Haupt­ und Nebensätze spricht, ob es verschiedene Zeitformen ausdrücken kann) und wie weit Deklination und Konjugation erworben sind. Schulkinder können zeigen, wie viele Laute sie bereits den entsprechen­den Buchstaben zuordnen können und wie weit der Leseerwerb fortgeschritten ist.

Frau Karte beobachtet als Physiothe­rapeutin den motorischen Entwicklungs­stand des Kindes und bespricht Bewe­gungsauffälligkeiten mit den Eltern. Bei Fehlstellungen zum Beispiel der Füße zeigt

sie Behandlungsmöglichkei­ten auf. Gerne geht sie auf Fragen der Eltern ein, wel­che Therapie (Bobath, Voj­ta, Pörnbacher usw.) für das Kind aus ihrer Sicht geeig­net ist.

Die ergotherapeutische Sicht auf das Kind bezieht sich in der Ambulanz ne­ben der (fein­)motorischen Entwicklung auch auf dessen Selbstständigkeit und Teil­habe bei Alltagshandlungen. Frau Nussbächer beobach­tet Verhalten im Allgemei­nen und Sozialverhalten im Speziellen. Konkrete Ansätze und Hinweise helfen den El­tern, ihr Kind in der Selbst­ständigkeit zu unterstützen und auf schwierige Verhal­tensweisen adäquat zu re­agieren.

Einmal monatlich haben jeweils vier Fa­milien die Möglichkeit, die Ambulanz zu besuchen. Wenn Sie mit Ihrem Kind die Ambulanz besuchen möchten, rufen Sie bitte im DS­InfoCenter an. Frau Ludwig nimmt gern Ihre Anmeldung entgegen und vereinbart einen passenden Termin.

Die DS­Ambulanz wird durch das DS­ InfoCenter organisiert und finanziert. Die Familien beteiligen sich mit einem Eigen­beitrag. <

Und das schreibt uns eine Mutter:

„Ich kann den Besuch der Ambulanz nur weiterempfehlen, selbst wir, die wir schon recht gut betreut und informiert sind, konnten sehr viel mitnehmen und keines der Gespräche war überflüssig. Der Kosten-beitrag hat sich mehr als gelohnt und ich bedanke mich für die Spendengelder, die dieses Angebot erst möglich machen.“

Martina Seyler-Steil

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... eine der ersten Anfragen über Facebook – von Mias Mama Ich würde gerne eine Erstinfo­Mappe an das Klinikum Bayreuth/Geburtsstation aus­händigen. Und als ich das mit der Urkun­de gelesen habe, fiel mir spontan Oberarzt Dr. Winfried Rauch ein. Als ich Mia vor sechs Jahren nach zwei Tagen von Kulm­bach nach Bayreuth verlegen ließ, war er es, der sich damals meine ganze Verzweiflung geduldig anhörte und immer ein gutes und dennoch ehrliches Wort fand. Er hatte Mia von Anfang an wie ein normales Kind be­handelt, und das ist nicht selbstverständlich in deutschen Geburtskliniken. 

Eigentlich gebührt der gesamten Station diese Auszeichnung, alle waren super, aber diesem Menschen ganz besonders: Er ist ein wunderbarer Mensch.

Wir sehen uns ein bis zwei Mal jährlich, wenn Mia wieder mal mit Lungenentzün­dung in der Kinderklinik liegt. So auch letz­

tes Jahr, als es ihr so schlecht ging, dass sie auf die Intensivstation verlegt werden musste. Dr. Rauch war es mal wieder, der das Schlim­me zwar ehrlich und doch so ein­fühlsam „mit roter Schleife ver­packte“.

… nach dem Besuch in der Klinik Dr. Rauch wusste bereits von sei­ner Sekretärin, dass ich ihm et­was überreichen werde, aber nicht was. Und so waren die Überra­schung und die Freude über die Auszeichnung des DS­InfoCen­ters sehr groß. Dr. Rauch fühlte sich sehr geehrt, er bedankte sich vielmals für die Auszeichnung, die

er einrahmen werde, für die umfangreiche Erstinfo­Mappe und das schöne Poster von Mia, das eine Schwester gleich im Eingangs­bereich des Klinikums aufhängte. Im Ge­spräch mit Dr. Rauch beklagte er eine sehr niedrige Geburtenrate an seinem Klini­kum von nur ein, zwei Kindern mit Down­Syndrom im Jahr und begründete die we­nigen Kinder mit einer Vermutung, die in Richtung immer weiter voranschreitender pränataler Diagnostik zielt. Weiter erklärte er mir gegenüber, dass Eltern dieser weni­gen Kinder von deren Besonderheit in der Schwangerschaft nichts wussten und somit überrascht wurden. Er kenne kaum eine Fa­milie, die sich bewusst für ihr Kind mit DS entscheide. „Die Leute wollen alle perfekte Kinder haben“, so Dr. Rauch.

Ich sah meine Mia an und merkte für den Moment, wie traurig mich das machte. Wir hinterfragten gemeinsam, WAS ist perfekt, was ist normal? Mein Kind ist für mich per­

fekt und normal. Ein Leben ohne Mia, für mich unvorstellbar. Dr. Rauch wollte von mir wissen, ob ich es heute genauso sehe, wie er mir damals ans Herz legte, dass Kin­der wie Mia „Sonnenscheinkinder“ sind. Ich musste lachen, „Nein, das sind sie nicht immer. Mia ist ein äußerst liebevolles und süßes Mädchen, aber genauso können auch gewaltige Gewitterwolken aufziehen, wenn es nicht nach ihrem Kopf geht. Also eigent­lich ganz normal.“ Dr. Rauch wollte wissen, wie er sich noch besser gegenüber Eltern ei­nes Kindes mit Down­Syndrom verhalten kann. Ich erklärte ihm, dass es mir damals unter anderem sehr geholfen hat zu hören, dass das Leben auch mit einem besonderen Kind ganz normal verläuft, auch wenn es an einigen Stellen anders ist. Und dazu gehö­ren eben auch mal Gewitterwolken.

Ach es war so nett, sein überraschtes Ge­sicht zu sehen. Dr. Rauch sicherte mir zu, seine Beratung künftig noch besser zu ge­stalten und diesen Aspekt mit einzubrin­gen. Ein sehr interessierter, engagierter, äußerst menschlicher und netter Arzt, der diese Auszeichnung mehr als verdient hat.

Kerstin Ellner

... bei einer solchen Aktion läuft natürlich auch vieles per e-Mail oder am Telefon Vielen Dank für Ihre E­Mail und diese tolle Möglichkeit! Wir hatten wirklich sehr viel Glück mit all den Menschen um uns herum und es ist sehr schön, sich auf diesem Wege bedanken zu können.

Die Auszeichnungen würde ich gerne an folgende Personen vergeben: Dr. med. Jo­achim Kern (Leitender Oberarzt) und Dr. med. Christoph Elsen (Funktionsoberarzt) in der Gynäkologie/Geburtshilfe am St.­Jo­

Erstinfo-Mappe und Auszeichnung anlässlich des WDST 2015 „Ich finde es übrigens eine ganz tolle Aktion!“Mit der diesjährigen Aktion „Erstinfo-Mappe – Für eine bessere Beratung nach der Geburt!“ haben wir eine weitere Idee verbunden: eine Auszeichnung für Ärztinnen und Ärzte, Hebammen oder Teams an den Geburtskliniken und Humangenetischen Praxen. Unser Aufruf, gute Beratungs-Erfahrung zu würdi-gen, fand ein tolles Echo. Alle 50 Mappen wurden wieder deutschlandweit verschenkt und 40 Urkunden verteilt. Es gibt sie also – die hervorragenden, engagierten, tollen Menschen, die bereits während der Schwangerschaft, in den ersten Stunden nach der Geburt und auch später unterstützen, trösten, fach-kundig beraten und Mut machen!

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Freude bei den Ärzten am Klinikum Bamberg: Prof. Burkhard Schauf, Prof. Karl-Heinz Deeg und Oberarzt Dr. Meinhard Schatz. Sie wurden mit den Urkunden für ihr „besonderes Engagement für Kinder mit Down-Syndrom“ ausge-zeichnet. Damit haben die Mediziner nicht gerechnet. Die Überraschung ist Familie Nürnberger mit den Zwil-lingen Leo und Fiona super gelungen.

sefs­Hospital, Wiesbaden – Fruchtwasser­untersuchung, Diagnose, Ultraschall: zwei fantastische, sehr einfühlsame Ärzte, die vor allem den Menschen sehen und das Le­ben achten; Dr. rer. nat. Dr. med. Andreas Klee, Leitender Oberarzt in der Geburtshil­fe und Pränatalmedizin an den Dr.­Horst­Schmidt­Kliniken, Wiesbaden: Er hat mich durch die Fehlbildungsultraschalls bis zur Geburt begleitet; Frau Sabine Strunge, Dip­lom­Sozialpädagogin, als Beraterin bei do-num vitae in Wiesbaden: Sie war an unse­rer Seite nach der Diagnose und hat uns frei von jeder Beeinflussung den Weg zur Ent­scheidungsfindung bereitet.

Es gab tatsächlich noch etliche mehr – doch nach allem, was ich von anderen El­tern erfahren habe, müssen wir gerade mit den Ärzten und der Beratung wirklich Glück gehabt haben, da diese Art Umgang wohl leider nicht die Regel ist.

Die Mappe mit der Erst­Info ist für Dr. Kern und Dr. Elsen/St.­Josefs­Hospital ge­dacht. Ich denke, dort kann sie am besten zum Einsatz kommen, ist in den richtigen Händen und kann vielleicht weiteren ange­henden Eltern helfen, zumindest eine be­wusste und informierte Entscheidung zu treffen. Ich danke Ihnen, herzliche Grüße!

Heike Härtel

Ich habe am 24.12.2014 unsere Tochter Emely geboren, sie hat das Down­Syndrom.Nun hätte ich für unseren Pränatal­Diag­nostiker auch gern diese Info­Mappe mit Urkunde für den Arzt. Er hat sie wirklich verdient, da er uns immer wieder Mut ge­macht hat. Ebenso hätte ich auch gern ein Poster mit dem Bild unserer Tochter für sei­ne Praxis. Ich finde, es ist eine tolle Sache,

wenn dieses Poster bei ihm im Wartezim­mer hängt und andere Eltern davon über­zeugt, dass das Down­Syndrom kein Grund ist, sich gegen das Kind zu entscheiden.

Liebe Grüße Familie Wujak und die kleine Emely

Liebes DS­InfoCenter­Team,ganz herzlich möchten wir uns nicht nur bei Ihnen für die Kampagne „50+ Erstinfo­ Mappen für besonderes Engagement für Kinder mit Down­Syndrom“, sondern auch beim Sponsor bedanken.

Wir haben uns sehr über diese Mög­lichkeit gefreut, Herrn Dr. med. Christoph Kirchgäßner zu danken, der uns kurz vor der Entbindung und nach der Diagnose Down­Syndrom noch ein paar Informati­onen zum Thema Down­Syndrom besorgt hatte. Eigentlich sollte er uns nur über den geplanten Kaiserschnitt aufklären, hatte aber schnell gemerkt, dass unsere Bedürf­

nislage in eine ganz andere Richtung ging. Anstatt einfach nur eine Kopie des Medi­zinbuches zu machen, hatte er auch aus dem Internet vom DS­InfoCenter eine Sei­te für Eltern ausgedruckt, die nicht nur in­formativ war, sondern auch emotional den richtigen Ton fand. Das hat uns damals sehr weitergeholfen. Er war dann auch der Arzt, der Robin nach der Geburt versorgt hat.

Dr. Kirchgäßner hat sich riesig über die Urkunde und die Erstinfomappe gefreut. Er war sehr überrascht, dass wir uns für „die Kleinigkeit“, die er geleistet hatte, ex­ tra bei ihm bedanken wollten und nur dafür nach Köln gekommen waren. Uns scheint, wir haben genau dem richtigen Arzt dieses Dankeschön zukommen lassen. Robin war die ganze Zeit am Gucken. Fremde Umge­bung, fremde Person, wie immer alles auf­regend!

Nochmals vielen Dank und herzliche Grüße aus Bochum

Familie Löffelholz

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g P R Ä N A T A L E D I A G N O S T I K

Die Kraft des FaktischenIm August 2012 feierte die Konstanzer Fir­ma LifeCodexx die Markteinführung des PraenaTests in Deutschland, Österreich, Lichtenstein und in der Schweiz. Sie war zu diesem Zeitpunkt hierzulande ohne Kon­kurrenz, was diese nicht­invasive moleku­largenetische Methode der Chromosomen­analyse betrifft.

Der Einführung dieses Bluttests ging eine Überprüfungsphase voraus, die dann kontinuierlich von Erfolgsmeldungen des Test­Vertreibers begleitet wurde, begin­nend mit: Juli 2012 „PraenaTest® erfüllt alle gesetzlichen Vorgaben und ist verfassungs­konform“, über: Dezember 2012 „Praena­Test® jetzt in über 30 Ländern in Europa, Asien und im Nahen Osten verfügbar“, Fe­bruar 2013 „PraenaTest® jetzt zur Bestim­mung der fetalen Trisomien 21, 18 und 13“ und April 2013 „Rechtmäßigkeit des Pra­enaTest® durch neues Gutachten bestätigt“, bis hin zu: März 2014 „Neue Studie belegt

klinischen Nutzen – PraenaTest® reduziert die Zahl der invasiven pränataldiagnosti­schen Eingriffe um fast 70%“ – Ein enorm hohes Tempo bei der konsequenten Um­setzung der Unternehmens­Strategie. Das nicht mehr ferne Endziel des Herstellers ist, den PraenaTest im Leistungskatalog der ge­setzlichen Krankenkassen aufgenommen zu sehen.

Ein weiterer Schritt dafür wurde im April 2014 getan: Der Gemeinsame Bun­desausschuss (G­BA), das oberste Be­schlussgremium der gemeinsamen Selbst­verwaltung der Ärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen (KK) in Deutschland, das festlegt, welche Leis­tungen der medizinischen Versorgung von gesetzlichen KK übernommen werden, hat das Erprobungsverfahren für „Nichtinvasi­ve Pränataldiagnostik zur Bestimmung des Risikos von fetaler Trisomie 21 mittels mo­lekulargenetischen Tests“ eingeleitet. Im Juli 2014 hieß es in der Bekanntmachung

des G­BA, „dass der Nutzen der Methode bislang nicht hinreichend belegt ist, jedoch hinreichendes Potenzial für eine Erpro­bung gemäß § 137e SGB V bietet“. Sollte das Prüfverfahren ergeben, dass der PraenaTest die invasive Fruchtwasseruntersuchung er­setzen kann, steht der Aufnahme in den Leistungskathalog der KK nichts mehr im Wege und somit der flächendeckenden An­wendung.

Während die Prüfung durch G­BA der­zeit im Gange ist, sind Down­Syndrom­Or­ganisationen und ihre Verbündeten natür­lich aktiv – durch Stellungnahmen, Präsenz in der Presse und Aktionen. Bislang einma­lig ist vor allem die parlamentarische An­frage vom 20. März 2015, die von Abge­ordneten aller Fraktionen im Bundestag getragen wird. Mehr als 150 Politikerinnen und Politiker fordern darin die Bundesre­gierung auf, zu pränatalen molekulargene­tischen Tests Stellung zu nehmen.

unzumutbar?

21.3. Welt-Down-Syndrom-Tag

Ein nicht-invasiver Bluttest zur Bestimmung von Trisomie 21

setzt mein Leben aufs Spiel. Bin ich unzumutbar?

PraenaTest & Co Eine ernüchternde Bilanz T E x T: e L Z B I e TA S ZC Z e B A K

„Das Bild des Down-Syndroms als diejenige Form von Behinderung, mit der ein Kind keines-falls geboren werden dürfte, ist medizinisch wie ethisch durch nichts begründbar.“

Prof. Dr. med. Wolfram Henn, Dr. med. Dagmar Schmitz

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g P R Ä N A T A L E D I A G N O S T I K

Die Kraft des ethischen Sehr bald, als das Vorhaben der Konstanzer Firma durch die Medien bekannt gemacht wurde, setzten einzelne Eltern, Elterninitia­tiven und Down­Syndrom­Organisationen eine Debatte in Gang. Unter Beteiligun­gung von ihnen und dem Bundesverband Lebenshilfe entstand zum WDST 2012 eine „Gemeinsame Erklärung“, die sich an die Bundestagsabgeordneten gerichtet hat. Es war eine klare Positionierung. Die darin enthaltenen Bedenken bewahren bedauer­licherweise weiterhin ihre Gültigkeit. Hier nur drei der Aspekte zur Erinnerung:

• Viele Eltern müssen sich nach der Ge­burt ihres Kindes mit Down­Syndrom vorwurfsvolle Bemerkungen gefallen lassen, denn „das hätte man nicht so weit kommen lassen müssen“. Es ent­steht immer mehr Druck auf werden­de Eltern.

• Der vorgeburtliche Bluttest hat kein therapeutisches Ziel, denn es gibt kei­ne Therapie­Methoden zur Milderung von Folgen des Down­Syndroms. Steht das nicht im Widerspruch zum Gendia­gnostikgesetz?

• Die flächendeckende Anwendung des PraenaTests öffnet Tür und Tor für die Diskriminierung von Menschen, die mit Trisomie 21 leben.

Was in den Folgemonaten zu beobachten war, ist eine stärkere und stetig wachsen­de Präsenz von Menschen mit Down­Syn­drom in der Öffentlichkeit. Sollten wir des­halb froh sein? Ja und nein. Würden wir uns nicht lieber wünschen, die „Nachfra­ge“ wäre durch ein echtes Interesse an Men­schen ausgelöst und nicht durch einen vor­geburtlichen Bluttest, dessen Anwendung ihr Leben in Folge zur Disposition stellt?

Ethische Fragen sind unbequem. Des­halb sollten die vielen Kommentare in den Online­Zeitungen nicht wundern, die An­gehörigen und Freunden eine „fanatische Haltung“ vorwerfen und deren Verfasser nicht bereit sind, ihre Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung zu reflektieren, sondern die Entscheidungsfreiheit der El­tern als absolut und unantastbar hinstellen. Unantastbar ist aber und bleibt die Würde des Menschen – jedes Menschen, unabhän­gig von seiner genetischen Ausstattung!

Wir können trotz alledem froh sein, dass diese öffentliche Debatte anhält. Den Blut­test als Kassenleistung werden wir nicht ver­hindern können. Wir können aber weiter­hin auf das Umdenken in unserem nächsten Umfeld und in der Gesellschaft einwirken.

G ynäkologische Praxen erleben der­zeit eine starke Bewerbung eines neuen molekulargenetischen Prä­

nataldiagnostik­Tests aus mütterlichem Blut (PraenaTest® express). Das Ergebnis soll nach Aussagen der Herstellerfirma Lifecodexx bereits nach einer Woche vor­liegen und mit hoher Sicherheit (circa 98 Prozent) „die fetalen Trisomien 13, 18 und 21 aus dem mütterlichen Blut von Frauen mit Risikoschwangerschaften ab der SSW 9+0 erkennen lassen“. Die versprochenen Vorteile: „Belastende Wartezeiten“ wer­den von vormals zwei Wochen „auf ein Minimum reduziert“, die Ergebnisse lie­gen früher vor und seien wesentlich si­cherer als beim Ersttrimester­Screening. Nach wie vor soll ein positives Ergebnis durch eine invasive Untersuchung, meist Amniozentese, abgeklärt werden.

Potenzial zum ScreeningAls die erste Generation des nicht­inva­siven Bluttests für Debatten sorgte, war der zeitliche Rahmen noch deutlich wei­ter gesteckt: Zwei Wochen nach der Blut­entnahme und möglichst erst nach der 12. SSW sollten die Testergebnisse zu Triso­mien und fetalem Geschlecht mit gesetz­lich vorgeschriebener, humangenetischer Beratung vorliegen und mitgeteilt wer­den. So bestand ursprünglich nicht die Gefahr, dass ein Entschluss zum Schwan­gerschaftsabbruch innerhalb der Frist von zwölf Wochen (in der die Beratungsrege­lung gilt) ohne Abwarten einer Abklärung gefällt werden konnte. Der neue, schnel­lere Test hat technologisch das Potenzial, ein Screening zu werden – ohne Umwe­ge über das Ersttrimester­Screening oder eine Amniozentese.

Mittlerweile bieten Konkurrenz­Un­ternehmen wie Amedes/Natera (Pano­rama­Test) und Ariosa (Harmony­Test)

ähnliche Analysen – durchgeführt in den USA – billiger und ab der 9. beziehungs­weise 10. SSW an. Das chinesische Bejing Genomic Institute drängt mit noch preis­günstigeren Angeboten auf den europä­ischen Markt. Die Ausweitung auf weite­re genetisch erkennbare, numerische und subchromosomale Abweichungen ist be­reits erfolgt oder wird in naher Zukunft erwartet. Die Ausweitung auf Frauen, die keinem „Hochrisiko­Kollektiv“ angehö­ren, ist international im Gange.

Die Entwicklung ist atemberaubend und bereitet Sorgen. Denn im Raum steht die Frage, ob sich die hohen Erkennungs­raten in großen und firmenunabhängigen Studien bestätigen werden. Sachverstän­dige beim Deutschen Ethikrat schätz­ten, dass sich zwei Drittel der positiven Testergebnisse als falschpositiv erweisen könnten, wenn die Verfahren bei Frau­en ohne hohe Risiken angewandt werden. Die Aussicht auf weniger Spätabbrüche, für Frauen schonendere Diagnoseverfah­ren und sinkende Amniozentese­Raten klingt begrüßenswert. Doch sowohl die medizinisch­fachliche wie auch die ethi­sche Bewertung nichtinvasiver Gentests hinken jener Marktdynamik hinterher, die im Wesentlichen von den Herstellern und großen Laborunternehmen bestimmt wird. So fehlen derzeit:

• valide Zahlen über die Inanspruch­nahmen der Bluttests ohne auffälliges Ersttrimester­Screening, über deshalb sinkende Raten an Amniozentesen und Spätabbrüchen

• eine Klärung, ob und inwieweit Gynäkolog(inn)en aktiv über die Test­verfahren aufklären müssen und wie sie das im Praxisalltag bewältigen können

Genanalysen in der Schwangerenvorsorge: Keine Zeit zum NachdenkenT E x T: e r I K A F e y e r A B e N D, A N TJ e H U S T e r - S I N e M I L L I O G LU

Molekulargenetische Pränataldiagnostik-Tests boomen. Doch so-wohl die medizinisch-fachliche wie auch die ethische Bewertung nichtinvasiver Gentests hinken der Marktdynamik hinterher. Ein Diskussionsbeitrag aus medizinischer Sicht.

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genetisch erkennbaren Auffälligkeiten oder mit dem unerwünschten Geschlecht?

Unkontrollierter AbsatzmarktWann droht die ärztliche Begleitung der Schwangeren von Risikoermittlungen und technologisch erzeugter, individueller Ver­unsicherung dominiert zu werden? Wie ist die gesellschaftlich begrüßte Inklusion von Menschen mit Behinderungen angesichts der – auch pränataldiagnostisch bedingten – Leistungsansprüche an Kinder zu wahren und zu fördern?

Einfache Antworten gibt es hier nicht, weder innerhalb noch außerhalb der Arzt­praxen. Eines aber ist sicher: Es kann und darf nicht sein, dass Privatunternehmen die Schwangerenvorsorge in einen Absatz­

markt verwandeln, der politisch und be­rufsrechtlich weitgehend unkontrolliert und so beschleunigt ist, dass keine Zeit zum Nachdenken bleibt.

Erika Feyerabend Dr. med. Antje Huster-Sinemillioglu

Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e.V.

Deutsches Ärzteblatt 2014, Heft 42, 17.10.2014

Wir danken den Autorinnen und dem Deutschen Ärzteblatt für die freundliche Abdruckerlaubnis.

„Nimm’s nicht so ernst!“, „Wie willst du klarkommen, wenn du dir jede blöde Äu­ßerung zu Herzen nimmst?“, „Du wirst dein ganzes Leben mit solchen Aussagen zu tun haben, du musst dir ein dickes Fell zu­legen“ … Diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich überlege, ob ich etwas zu diesem Kommentar schreiben möchte. Ich habe mich dann entschieden, dazu einen Text zu schreiben. Ganz einfach: Weil ich lebe, liebe, denke. Also berühren Worte, mal mehr, mal weniger.

Wenn sie groß ist, werden die Blicke nicht mehr so freundlich seinMeinen letzten Beitrag hatte ich zu mei­nen Gedanken über „Blicke“ geschrieben. Ein Kommentar hat mich nachdenklich ge­macht: „Die Blicke werden nicht mehr so freundlich, wenn Sie mit einer 20­Jährigen durch Geschäfte ziehen. Downs Kinder, die älter sind, werden meistens zu einer Strapa­ze für die ganze Familie und auch die Um­welt.“ [sic]

Es geht nicht um diesen einen Kommen­tar. Ich möchte gar nicht versuchen, ihn näher zu deuten. Ich denke nach über das Bild, das hier über Behinderung gezeichnet wird. Ich fürchte, es ist weiter verbreitet, als ich mir das wünsche. Dieses Bild zeigt Be­hinderung als Belastung. Ein Mensch, der auf Unterstützung durch andere angewie­sen ist, wird als eine Last betrachtet oder – wie in diesem Kommentar – eine Strapaze genannt.

Ihr Leben aber war ein großer GlücksfallIch musste in den letzten Wochen immer mal wieder an Gisela Großer denken. Im De­zember habe ich einen Artikel auf der Seite schwäbische.de mit der Überschrift „Ihr Le­ben war ein großer Glücksfall“ gelesen. Es geht darin um Gisela Großer, die nach kur­zer und schwerer Krankheit am 11. Dezem­ber 2014 gestorben ist. Sie kam 1942 mit dem Down­Syndrom zur Welt, diesen Februar wäre sie 73 Jahre alt geworden. Gisela Gro­ßer entkam der NS­Euthanasie und über­

lebte die Nazi­Zeit. Dass sie das Down­Syn­drom hat, wurde weder von den Ärzten noch von den Schwestern an die Nazis gemeldet. Ihre Mutter musste in den ersten Jahren ganz besonders aufpassen, die Behinderung ihrer Tochter durfte auf keinen Fall entdeckt wer­den. Jeder Hinweis an die Nationalsozialis­ten – sei es von Nachbarn oder von Ärzten – hätte das Ende ihres Lebens bedeutet.

Als ich dann neulich mit der Kleinen in der Bücherei war, nahm ich mir Bücher zum Thema Euthanasie mit. Mein Großvater hat als Kommunist das Konzentrationsla­ger Sachsenhausen überlebt, vielleicht habe ich daher dieses Interesse und diese Sensi­bilität, wenn es um das Thema geht. Doch dann lag der Stapel mit Büchern zu Kinder­ernährung, Sprachentwicklung bei Kindern mit Down­Syndrom und zur Euthanasie ta­gelang völlig unangetastet zu Hause im Re­gal. Dieser Moment, an dem ich mich mal ganz in Ruhe hinsetze und lese, der kam ir­gendwie nicht, immer gab es andere Dinge, die wichtiger waren.

ein Mensch ist keine Strapaze, niemals!Die Autorin schreibt als „Die Mama“ für stern.de den Blog „Alles andere als down“. Der nachfolgende Text ist am 25. Januar 2015 online erschienen.

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• Zulassungsregeln für solche Medizin­produkte, an die viel strengere Qualitäts­anforderungen gestellt werden müssten

• verlässliche Informationen über die Be­ratungspraxis und ­qualität.

Das ganze Dilemma von IGeL­Leistungen, wunscherfüllender Medizin, Werbung und Kaufanreizen im Internet sowie Privatisie­rungstendenzen im öffentlich finanzierten Gesundheitswesen tritt hier offen zutage. In der pränatalen Diagnostik steht viel auf dem Spiel. Wo liegt die Grenze zwischen dem Anspruch auf einen individuell erträg­licheren Schwangerschaftsabbruch und der Praxis einer flächendeckenden Selektion von Ungeborenen mit Trisomien, anderen

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euthanasie: Nur ein gesunder Mensch genießt uneingeschränktes LebensrechtIch blättere dann doch an einem Abend durch die Bücher zur Euthanasie, lese in „Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst“, erschienen im Wall­stein­Verlag. Schätzungsweise 300.000 Psy­chiatriepatienten starben durch die Nati­onalsozialisten. Der Wert des Menschen wurde während der Nazizeit im Sinne einer gesellschaftlichen Nützlichkeit bewertet. Nur der arbeitsfähige und gesunde Mensch genoss danach uneingeschränktes Lebens­recht. Schwäche, Krankheit, Verlust der Ar­beitskraft und Abhängigkeit von der Zu­wendung anderer galten als Faktoren, die den Wert eines menschlichen Lebens ne­gativ belastet haben. Der Mensch wurde als Kostenfaktor betrachtet.

Natürlich rührt mich die Geschichte von Gisela Großer. Es ist die Geschichte einer Frau, die Glück hatte, in einer Familie auf­zuwachsen und zu leben, die ihr Schutz und Geborgenheit gab. Gleichzeitig ist es auch eine Zeit­Geschichte, die an die Menschen erinnert, die den Nationalsozialisten nicht entkommen konnten.

Wer darf heute leben?Mir gehen Gedanken über die heutige Test­kultur durch den Kopf. Die Massenmorde der Nationalsozialisten waren ideologisch begründet und planmäßig durchgeführt und sind nicht mit der heutigen Selektion durch pränatale Diagnostik zu vergleichen. Doch ist die Euthanasie immer wieder ein Thema in Diskussionen um pränatale Di­agnostik. Der Vergleich zwischen der Eu­thanasie des Dritten Reichs und der Prä­nataldiagnostik ist extrem vorsichtig zu betrachten. Aus Respekt vor den Opfern und deren Nachfahren ist in diesem Zu­sammenhang eine differenzierte und ange­messene Diskussion geboten. Dass jedoch aktuelle, ethisch geprägte Diskussionen um pränatale Diagnostik, die der Frage nachge­hen, welches Leben als lebenswert erachtet wird, mit der Sicht der Nationalsozialisten auf Menschen mit Behinderung assoziiert werden, ist naheliegend – und ein kritischer Blick vor dem Hintergrund der Geschichte nicht vermeidbar.

Der Test wird eine Kassenleistung werdenIm Januar wurde in der ZEIT ein sehr aus­führlicher und umfangreicher Artikel mit der Überschrift „Der Test“ von Ulrich Bahnsen zum Thema Pränatale Diagnos­tik und Down­Syndrom veröffentlicht. Bei „Zeit Online“ gab es auch ein umfassendes Multimedia­Dossier zu dem Thema (sogar in Leichter Sprache!).

Es wird schnell deutlich, dass Menschen mit Down­Syndrom gegenwärtig als Pro­jektionsfläche herhalten müssen. Verbergen sich nicht vor allem gesellschaftliche Defi­zite hinter dieser Projektion? Faktisch kön­nen ja die wenigsten Behinderungen durch pränatale Diagnostik verhindert werden. Die meisten werden durch diesen Bluttest gar nicht erkannt. Und Fakt ist, dass wir immer mit Behinderungen leben werden müssen. Die vermeintliche Mehrarbeit oder Strapaze, die man mit einem Kind mit einer Behinderung haben soll, wird als Argument für die Selektion durch pränatale Diagnos­tik gerne herangezogen.

Die Möglichkeit, zukünftig völlig selbst­verständlich im Rahmen der regulären Schwangerschaftsvorsorge wählen zu kön­nen, ob man ein Kind mit Down­Syndrom möchte oder nicht, schürt Ängste. Es ist eine Möglichkeit, die Druck ausübt auf die werdenden Eltern und betont: Ihr als Eltern habt jetzt die Aufgabe und Verantwortung darüber zu entscheiden, ob euer Kind leben darf oder nicht. Wollt ihr euch das Leben „unnötig schwer“ machen? Wollt ihr euren anderen Kindern diese „Last“ wirklich auf­bürden?! Wenn ihr euch für das Kind ent­scheidet, dann bedeutet das vielleicht mehr Belastung. Und wenn die Ehe dann kri­selt … ja dann seid ihr selbst schuld. Wenn euer Kind vielleicht einen Herzfehler hat, ja dann seid ihr schuld. Ihr hättet es ja ver­hindern können! Wenn ihr dann mal müde seid, erschöpft, weil es manchmal mehr Kraft kostet, so viel mehr Liebe und Ener­gie in das Leben mit eurem Kind zu inves­tieren, als ihr aufbringen könnt, dann be­schwert euch nicht! Ihr habt es so gewollt! Ihr hättet diese „Strapazen“ verhindern können! Wenn ihr eure berufliche Karriere unterbrechen müsst, dann denkt dran, ihr habt es ja damals nicht anders gewollt! Der Arzt hatte es euch ja angeboten! Es wäre nur ein Piks gewesen, dann nur ein kleiner Eingriff und alles wäre „gut“ gewesen, aber ihr wolltet es ja so.

Dich müsste es eigentlich nicht geben!Natürlich steckt in dieser Testkultur auch eine Aussage, die sich direkt an Menschen mit Down­Syndrom richtet. Sie signalisiert: „Weil du anders bist als die meisten Men­schen, müsste es dich eigentlich heute nicht mehr geben!“ Ein bisschen Zeit habe ich ja noch, um mir zu überlegen, wie ich das ei­nes Tages der Kleinen am besten erkläre …Es ist sehr mutig, dass Lisa und Richard Erdiger in der ZEIT unter der Überschrift „Wir haben unseren Sohn getötet“ ihre Er­fahrungen mit einer Spätabtreibung veröf­fentlicht haben. Es wird deutlich, dass die

Entscheidung für eine Beendigung einer Schwangerschaft für die Familie eine ex­treme Belastung darstellen kann. Es ist un­ter bestimmten Voraussetzungen möglich, zu jedem Zeitpunkt bis zur Geburt eine Schwangerschaft zu beenden. Aber unge­schehen kann man sie nicht machen, sie ist und bleibt Teil der Biografie der Beteiligten.

Das Bild von Behinderung ist entscheidendDoch ist es nicht diese Einstellung, die nach wie vor vorhandene Exklusion aus der Ge­sellschaft – in Kindergärten, Schulen und der Arbeitswelt, in nahezu allen gesell­schaftlichen Bereichen – die dazu führt, dass Behinderung häufig pauschal als Belas­tung, als Strapaze für alle empfunden wird? Die fehlende Vertrautheit im Zusammenle­ben mit Menschen mit einer Behinderung führt dazu, dass sie als die „Anderen“ ge­sehen werden. Dem Kind mit Down­Syn­drom wird bei der Diskussion um pränata­le Diagnostik das Stigma der Anstrengung, des nicht erfüllten Lebensglücks angeheftet. Die Eltern werden zu denjenigen, die sich entweder liebevoll und aufopfernd ihrem Schicksal hingeben wollen oder ihre eigent­lichen Lebensziele ungestört weiter verfol­gen.

Den Kern dieser großen Themen (die ich hier nur völlig unzureichend streife) sehe ich in dem Bild, in der Vorstellung, die von Behinderung in unseren Köpfen stattfin­det. Am Beispiel des Down­Syndroms tritt es deutlich zutage. Und daher ist der Bezug zur Inklusion so enorm bedeutend. Denn nur durch das selbstverständliche Zusam­menleben aller Menschen lässt sich dieses Verständnis auflösen.

Übrigens: Mein Kind kann Astronaut werden!Einmal habe ich eine Mutter getroffen, die auch ein Kind mit Down­Syndrom hat. Sie sagte einen Satz, den ich nicht vergessen werde und für den ich ihr sehr dankbar bin. Wir sprachen über die Entwicklungsmög­lichkeiten der Kinder und sie sagte: „Ich möchte daran glauben können, dass mein Kind Astronaut werden kann.“ Für mich sagt dieser Satz ganz viel aus. Weil wirklich niemand auf dieser Welt vorhersagen kann, was ein Kind (mit Down­Syndrom) lernen kann, alles ist offen. <

g P R Ä N A T A L E D I A G N O S T I K

g G E S C H I C H T E

Durch Zufall landete ich vor kurzem auf ei­ner Seite im Internet, die vom Haus Hohen­zollern geführt wird und die Geschichte der Familie dokumentiert, von Kurfürst Fried­rich Wilhelm (1640) über die verschiede­nen Könige von Preußen bis zum kulturel­len und sozialen Engagement der heutigen Mitglieder des Hauses Hohenzollern.

Jedem einzelnen Familienmitglied, je­dem Prinzen und jeder Prinzessin ist eine Seite mit Informationen gewidmet, auch Alexandrine Prinzessin von Preußen, die 1915 im Kronprinzenpalast als fünftes Kind von Kronprinz Wilhelm von Preußen und Cecilie, Herzogin zu Mecklenburg, geboren wurde. Und als ob es das Selbstverständ­lichste der Welt ist, wird dort erwähnt, dass Alexandrine Down­Syndrom hat. Das hat mich überrascht, aber auch irgendwie er­freut.

Damals war es Brauch, Mitglieder des Königshauses auf Ansichtskarten abzubil­den, und so kann man heute noch antiqua­risch nicht nur Karten von Alexandrines El­tern und ihren fünf Geschwistern, sondern auch von Alexandrine finden. Eben auch ganz selbstverständlich.

Auf der Webseite Preussen.de findet sich folgender Text über Prinzessin Alexandrine:Alexandrine wurde nach vier Söhnen als ers-te Tochter des Kronprinzen Wilhelm und sei-ner Gemahlin Cecilie geboren. Mit ihrer Be-hinderung, dem Down-Syndrom, ging die kronprinzliche Familie mit größter Selbstver-ständlichkeit um, und sie wuchs gemeinsam mit ihren Geschwistern in Potsdam und Oels auf. In den Jahren 1932 bis 1934 besuchte „Adini“, so ihr Rufname innerhalb der Fami-lie, die Trüper’sche Sonderschule in Jena, die erste pädagogische Einrichtung in Europa, die eine schulische und künstlerische Ausbil-dung von geistig und körperlich benachteilig-ten Kindern förderte. Im Sommer 1934 kehr-te Alexandrine zu ihren Eltern nach Potsdam zurück. Gemeinsam mit ihrer Schwester Ce-cilie wurde sie im Oktober 1934 im Schloss Cecilienhof von Oberhofprediger Doehring konfirmiert. Nach dem Tode ihrer langjähri-gen Kinderfrau Selma Boese verließ „Adini“ 1936 ihr Elternhaus. Sie fand im bayerischen Niederpöcking ein zweites Zuhause. Zurück-gezogen lebte sie hier während des Zweiten

Weltkrieges. Ende 1945 bezog Alexandrine ein kleines Haus am Starnberger See, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahre 1980 regelmäßig die Besuche ihres Bruders Prinz Louis Ferdi-nand empfing.

Mit freundlicher Genehmingung www.preussen.de

Obwohl die Lebenserwartung eines Kindes mit Down­Syndrom zu jener Zeit mit neun Jahren angegeben wird, gibt es also durch­aus Ausnahmen. Prinzessin Alexandrine wurde 65 Jahre alt und überlebte gar vier ihrer Geschwister. Es ist anzunehmen, dass sie keinen Herzfehler oder andere ernsthafte gesundheitliche Probleme hatte. Das adlige Umfeld, in dem sie aufwuchs, die gute Erzie­hung und Pflege, das liebevolle Aufgenom­mensein in der Großfamilie haben dazu bei­getragen, dass sie ein gutes Leben führen konnte. Sie wurde zeitlebens umsorgt und geschützt. Auch die Nazizeit überlebte sie unbehelligt. Ansichtskarten aus den dreißi­ger Jahren zeigen die Prinzessin als eine jun­ge, attraktive Frau.

Prinzessin Alexandrine starb 1980 in Starnberg und wurde in der St.­Michaels­ Bastei in der Burg Hohenzollern beigesetzt.

Alexandrine Prinzessin von PreußenT E x T: CO r A H A L D e r

Sophienhöhe, Sonderschule in Jena

Interessant ist es in diesem Zusammen-hang zu erfahren, dass es damals schon eine Schule gab, in der geistig und see-lisch entwicklungsgestörte Kinder, die in den üblichen Schulen nicht geför-dert werden konnten, unterrichtet wur-den. Diese Heimschule, die Sophien-höhe, wurde 1890 von Johannes Trüper gegründet.

Wichtig war ihm unter anderem das Prinzip der Koedukation, zu der Zeit noch längst keine Selbstverständlichkeit. Den Kindern wurden auf der „Sophien höhe“ eine besondere medizinische Fürsorge und schulische Betreuung zuteil. Die in-terdisziplinäre Arbeit im Team, beste-hend aus Pädagogen, Ärzten, Kranken-schwestern, Kindergärtnerinnen und medizinischen Fachkräften, bedeutete damals eine neue Form der Zusammen-arbeit. Mit Trüpers therapeutischem Kon-zept, in dem er Verbindungspunkte von Medizin und Pädagogik schafft, ist der Ursprung einer modernen Heilpädagogik verbunden. In diesem Kontext und mit der veränderten Sichtweise auf das Kind differenzierten sich Sonderdisziplinen ei-ner auf Kinder eingestellten Forschung und Therapie aus: die Kinderpsychologie, die Kinderheilkunde und später die Kin-der- und Jugendpsychiatrie.

In 30-jähriger Arbeit gelang der Aus-bau der Heilerziehungsanstalt „Sophien-höhe“ zum führenden deutschen Heil-erziehungsheim mit internationaler Anerkennung.

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D er Mensch hat von jeher das Be­dürfnis, die umgebende Wirklich­keit nicht nur in Worten, sondern

auch in Bildern darzustellen. Deshalb kön­nen Darstellungen aus der Kunst sehr auf­schlussreich sein und in diesem Fall viel­leicht Hinweise auf Down­Syndrom liefern.

So werden wiederholt historische Ge­mälde aus dem 15., 16. und 17. Jahrhundert erwähnt, auf denen man meint, Darstellun­gen eines Menschen mit Down­Syndrom zu entdecken. Am bekanntesten und als das sicherste „Beweisstück“ gilt die Darstellung eines etwa zehnjährigen Kindes auf dem Aachener Passionsaltar (Münsterschatz), der 1505 entstanden ist. (Leben mit Down-Syndrom 24, Jan. 1997)

Madonnenbilder, 15. Jh.Zwei Madonnenbilder, die man dem italieni­schen Maler Andrea Mantegna (1431–1506) zuschreibt, zeigen jeweils ein Jesuskind mit

den typischen Merkmalen eines Kindes mit Down­Syndrom, wie ein leicht offener Mund, schräg gestellte Augen, ein Epikan­thus und eine kleine Nase. Und nicht nur die Gesichtszüge fallen auf, sondern man kann auch den leicht gekrümmten kleinen Fin­ger und die breite Lücke zwischen erstem und zweitem Zeh erkennen. Interessant ist außerdem, dass ein Jesuskind ein Korallen­armband trägt, wie es damals in ländlichen Gegenden Italiens üblich war und das zur Abwehr des bösen Blickes diente.

In der kunstgeschichtlichen Literatur über Mantegna jedoch findet sich kein An­haltspunkt, aus dem man schließen könn­te, dass Mantegna Kinder mit Behinderung malte. Das Museum Fine Arts in Boston, das im Besitz eines der Bilder ist, weist da­rauf hin, dass Ähnlichkeiten zwischen der Figur auf dem Gemälde und einem Kind mit Trisomie 21 eher zufällig und nicht be­absichtigt seien. Außerdem gehen die Kura­toren des Museums davon aus, dass das Ge­mälde womöglich nicht mal von Mantegna selbst stammt, sondern von einem Maler, der versuchte, seinen Malstil zu kopieren.

Malkunst, 16.–18. Jh.Zu den frühesten europäischen Darstel­lungen von Down­Syndrom gehört auch ein Gemälde mit dem Titel „Die Anbetung des Jesuskindes“, das im Metropolitan Mu­seum of Fine Arts in New York City hängt, ein Werk, das um 1515 entstanden ist. Min­destens einer der Engel und einer der weltli­chen Anbeter haben Gesichtszügen, die de­nen eines Menschen mit Trisomie 21 sehr ähnlich sind. (Leben mit Down-Syndrom 51, Jan. 2006)

1573 malte Pieter Porbus, ein flämi­scher Maler der Renaissance, die Familie

de Boodt auf den Seitenflügeln eines Trip­tychons, das heute noch in der Liebfrauen­kirche in Brügge (Belgien) bewundert wer­den kann. Das Triptychon wurde von der Familie gestiftet und zeigt auf der Mittel­tafel die Transfiguration von Christus, ge­malt von Gerard David. Auf dem linken Flügel sieht man Anselmus de Boodt mit den sieben Söhnen, auf dem rechten die Mutter, Johanna Voet, mit den drei Töch­tern der Familie. Eine der drei Töchter zeigt Merkmale, die auf eine Trisomie 21 hindeuten können.

Auch auf Gemälden von Jacob Jordans 1618 und 1635 kann man jeweils ein Kind mit Down­Syndrom entdecken, meinen Sachverständige. Es wurde sogar angenom­men, dass Jordans selbst ein Kind mit Down­Syndrom hatte. Gesichert ist das allerdings nicht.

Ein anderer Künstler, Joshua Reynolds, schuf 1773 ein Gemälde mit dem Titel „Lady Cockburn und ihre drei ältesten Söh­ne“. Eines der abgebildeten Kinder, Geor­ge, hat Ähnlichkeiten mit einem Kind mit Down­Syndrom – aus ihm wurde später ein berühmter Admiral der britischen Flotte! k

Seit wann gibt es das Down-Syndrom?Hat es immer schon Menschen mit Down-Syndrom gegeben? Eine Frage, die häufig gestellt wird. Allgemein wird angenommen, dass die Chromosomenveränderung, wie sie bei Trisomie 21 vorliegt, so alt wie die Menschheitsgeschichte sein muss. Nur beweisen kann man das nicht. Zeugnisse aus der Kunst und Skelettfunde geben uns nur Hinweise. Inzwischen reichen diese 18000 Jahre zurück.In früheren Ausgaben von Leben mit Down-Syndrom haben wir ge-legentlich Kunstwerke vorgestellt, die nach Meinung von Experten einen Menschen mit Down-Syndrom zeigten. In diesem Artikel fas-sen wir sie noch einmal zusammen, ergänzt durch weitere Darstel-lungen aus der Kunst und durch aktuelle Skelettfunde.

Die Anbetung des Jesuskindes

Aachener Passionsaltar

Johanna Voet mit ihren Töchtern

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g G E S C H I C H T E

Figurinen aus Griechenland, Terracotta-Figuren aus Mexiko

Ältere Hinweise auf Down­Syndrom als die Gemälde sind Figurinen aus Griechenland, Ägypten oder den südamerikanischen Kul­turen. Die älteste Figur, die in diesem Zu­sammenhang erwähnt wird, ist ein neolithi­sches Idol, gefunden in Griechenland und datiert auf ca. 5000 v. Chr. In Leben mit Down-Syndrom Nr. 25, Mai 1997 stellten wir einen Kopf, ägyptischen Ursprungs aus 100 n. Chr. vor, den man heute im Benaki Museum in Athen bewundern kann.

Mit dem Figurengefäß „Die Göttin mit dem Perlenturban“, das, wie man lange an­nahm aus der Monte­Alban­Kultur, Mexi­ko ca. 400–800 n. Chr. stammte, befassten wir uns in Leben mit Down-Syndrom Nr. 26, September 1997. Heute kann man die­se schöne Figur im Ethnologischen Muse­um, Berlin sehen – wobei es sich Ende der achtziger Jahre bei Untersuchungen in ei­nem Forschungslabor herausstellte, dass es sich um eine Fälschung handelt.

Die Meinungen, ob diese beiden letzt­genannten Figuren tatsächlich einen Men­schen mit Down­Syndrom darstellen, ge­hen stark auseinander.

Bei einigen Terracotta­Figuren aus Me­xiko, Peru oder Kolumbien wird die „Di­agnose“ Down­Syndrom von vielen an­erkannt. So ist die Ähnlichkeit mit den charakteristischen Zügen eines Menschen mit Down­Syndrom gut erkennbar in ei­ner Figur aus der Tolteca­Kultur, die auf 500 n. Chr. datiert wird. Eine ältere Figurine wurde im Grenzland von Ecuador und Ko­lumbien gefunden, sie wird der Tumaco­La­Lolita­Kultur zugeordnet und könnte aus ca. 500 v. Chr. stammen.

es bleiben rätsel Siegfried Pueschel hat sich in einem aus­führlichen Bericht mit den mexikanischen Olmec­Figuren (speziell mit den soge­nannten „Babygesichtern“) auseinanderge­setzt und Ähnlichkeiten mit Kindern mit Down­Syndrom untersucht. Er kommt zu dem Schluss, dass die Olmec­Künstler kei­ne Menschen mit Down­Syndrom darge­stellt haben. Seinen Artikel veröffentlichten wir in Leben mit Down-Syndrom Nr. 38, Sep-tember 2001.

So bleiben viele Rätsel bestehen und mit Sicherheit kann niemand beweisen, wer da­mals Modell gestanden ist und weshalb man Menschen mit Down­Syndrom abgebil­det hat. Auch geben uns Kunstwerke keinen Hinweis darauf, wie lange es diese Menschen schon gibt.

Skelettfunde

Hilfreicher und aussagekräftiger sind viel­leicht Skelettfunde, von denen immer wie­der mal berichtet wird.

550 v. Chr.In Leben mit Down-Syndrom Nr. 45, Jan. 2004 berichteten wir über einen Fund aus der Gegend des heutigen Tauberbischofs­heim. Bei den etwa 2550 Jahre alten Kno­chen einer 18­ bis 20­jährigen Frau fielen typische Veränderungen auf, die auf Triso­mie 21 hinwiesen, unter anderem ein fla­cher Gesichtsschädel und eine Steilstellung des Beckens. Dies wurde damals als welt­weit ältester Nachweis von Down­Syndrom beschrieben.

Gleich zweimal im vergangenen Jahr (2014) tauchte das Thema wieder in der Presse auf. Einmal wurde berichtet, dass ein gerade analysiertes Skelett der bisher älteste Nachweis eines Kindes mit Down­Syndrom sein könnte. Gefunden wurde das Skelett des Kindes auf einer Nekropole nahe dem Kloster Saint Jean­des­Vignes in Chalon­sur­Saône im Osten Frankreichs. Bei Aus­grabungen hat man die Überreste von 94 Menschen ans Tageslicht gebracht, die aus dem 5. oder 6. Jahrhundert stammen und somit ca. 1500 Jahre alt sind. Anthropolo­gen an der Universität Bordeaux untersuch­ten den Fund und stellten bei einem Skelett einige Auffälligkeiten am Schädel fest. Die Merkmale könnten auf ein Kind mit Triso­mie 21 hinweisen.

Das Kind war, wie damals üblich, auf dem Rücken liegend und mit dem Kopf nach Westen beigesetzt. Daraus leiten die Wissen­schaftler ab, dass das Kind in der mittelalter­lichen französischen Gesellschaft akzeptiert war.

Bis dahin galt als ältester bekannter Fund eines Kindes mit Down­Syndrom ein Schä­del, der in Brothwell, UK gefunden wurde. Dieses Kind muss zwischen 700 und 900 gelebt haben.

Aber es geht noch älter … Vor etwa 18000 Jahren gestorben!Eine andere Nachricht betraf den soge­nannten Homo floresiensis. 2004 wurden auf der indonesischen Insel Flores klei­ne Skelettteile entdeckt, die damals als der wichtigste Fund zur Evolution seit 100 Jah­ren überhaupt beschrieben wurden. Ar­chäologen waren der Meinung, mit diesem Skelett, das die Bezeichnung LB1 bekam, eine bis dahin unbekannte Menschenart ge­funden zu haben. Homo floresiensis wurde sie genannt, ein kleinwüchsiger Urmensch,

Terracotta-Figur, Tolteca-Kultur ca. 500 n. Chr. (Martinez-Frias, 2005)

Olmec-Figur, sogenannte Babygesichter, 1000–500 v. Chr. (Pueschel)

Figurengefäß „Göttin mit Perlenturban“

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der auch unter dem Namen „Hobbit“ bekannt wurde.

Mittlerweile gibt es an dieser The­orie massive Zweifel. Wissenschaft­lern an der Penn State University zu­folge wies das Skelett LB1 typische Anzeichen des Down­Syndroms auf. Gestützt wird diese Behauptung auf zwei auffällige Skelettteile, den Schä­del und die Oberschenkelknochen. Von allen in dieser Umgebung gefun­denen Skelettfragmenten ist LB1 je­doch das einzige mit diesen Auffäl­ligkeiten. Um eine neue Menschenart handle es sich dabei nicht.

Literatur:

Kunze Reiner Jürgen und Nippert Irmgard: Genetik und Kunst,

Grosse Verlag Berlin,1986

Martinez-Frias, M.L.: The real earliest historical evidence of Down syndrome. American Journal of

Medical Genetics 132A(2):231

John M. Starbuck: Moving towards a quantitative Diagnosis of Down Syndrome in historic material culture,

Journal of contemporary Anthropology 2011

Craig Garner in BerlinWissenschaftler aus den USA forscht im Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Berlin

Wir freuen uns sehr, dass Sie als bekann-ter Forscher im Bereich Neurowissenschaf-ten mit speziellem Interesse am Down-Syndrom nun ein neues Forschungslabor am DZNE in Berlin aufbauen. Auf welche Schwerpunkte werden sich Ihre Forschun-gen im Wesentlichen konzentrieren?

Craig Garner: Der Schwerpunkt meiner Forschungsarbeit in Berlin wird darin lie­gen, die zugrunde liegenden Ursachen von neurodegenerativen Veränderungen, die mit der Alzheimer­Krankheit einher­gehen, besser zu verstehen. Dies ist in ho­hem Maße für das Down­Syndrom rele­vant, da die mit Alzheimer einhergehende Symptomatik bei Erwachsenen mit Down­Syndrom im dritten und vierten Lebens­jahrzehnt auftritt und ihre bereits beste­hende kognitive Beeinträchtigung noch weiter verstärkt. Wir werden auch weiter­hin die frühesten Stadien der Entwicklung des Gehirns von Menschen mit Down­Syn­drom erforschen. Wir haben kürzlich her­ausgefunden, dass das Absterben der neu­ralen Stammzellen beim Down­Syndrom beschleunigt stattfindet, sodass im Gehirn eines jungen Erwachsenen nur noch weni­ge dieser Zellen vorhanden sind. Diese Zel­len sind jedoch entscheidend für die kogni­tive Funktion und die Heilung des Gehirns nach einer Verletzung. Wir vermuten, dass dies zu dem schnelleren Alterungspro­zess und dem Auftreten von Alzheimer bei Menschen mit Down­Syndrom führt. Wir entwickeln zurzeit neue Therapien, um die Gesundheit der Stammzellen beim Down­Syndrom wieder herzustellen.

Seit vielen Jahren sind Sie Co-Direktor des Down Syndrome Center der Stanford Uni-versity in Kalifornien. Welche Ziele ver-folgt dieses Zentrum?

C. Garner: Das wichtigste Ziel des Stan­ford Down Syndrome Center besteht darin, zu untersuchen und zu verstehen, warum Menschen mit Down­Syndrom kognitive Beeinträchtigungen haben. Ein großer Teil der Forschungsaktivitäten in unserem Zen­trum dreht sich um die Wirkung von Schlaf

auf Hirnfunktionen, einem System, das für normale Lernprozesse und das Gedächtnis von äußerster Wichtigkeit ist und das beim Down­Syndrom gestört ist. Ein Schwer­punkt dieser Gruppe ist auch die Entwick­lung von neuen Medikamenten­basierten Therapien zur Verbesserung der kognitiven Funktionen bei Menschen mit Down­Syn­drom. Mehrere dieser Therapien haben vor kurzem die klinische Erprobungsphase er­reicht.

Können Sie in zwei bis drei :-) Sätzen er-läutern, welche Hirnfunktionen bei Men-schen mit Down-Syndrom sich von denen anderer Menschen unterscheiden und wa-rum dies der Fall ist?

C. Garner: Die Anatomie des Gehirns von Menschen mit Down­Syndrom ist der von Menschen ohne Down­Syndrom insgesamt sehr ähnlich, wenn auch das Gehirn im All­gemeinen etwas kleiner und die Gesamt­zahl der Nervenzellen etwas geringer ist. Es bestehen auch Unterschiede bei den Antei­len der primären Sinneszellen, die das Ge­hirn insgesamt, aber auch die Lern­ und Gedächtnisfunktionen kontrollieren. Diese Unterschiede führen zu einer verlangsamten Informationsverarbeitung. Hiervon sind vor allem Gehirn­Schaltkreise betroffen, die die Kodierung im Langzeitgedächtnis vorneh­men, in dem Informationen während des Schlafs konsolidiert werden, was wiederum für die Sprachentwicklung und komplexe Denkprozesse von äußerster Wichtigkeit ist.

Welche Entwicklungen erwarten Sie für Menschen mit Down-Syndrom in der Zu-kunft? Wird vielleicht ein hilfreiches Medi-kament entwickelt, das die kognitive Funk-tion verbessern kann?

C. Garner: Unser zunehmendes Verständ­nis dessen, welche Gehirn­Schaltkreise und Neurotransmittersysteme bei Menschen mit Down­Syndrom geschwächt sind, er­möglicht es sowohl Grundlagen­ als auch klinischen Forschern, rationale Therapie­ansätze für die Wiederherstellung dieser Systeme und die Normalisierung der Ko­

Skelettfund in Frankreich, (Quelle: Ausgegraben, Spiegel online, 18.08.2014, IJPP)

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gnition zu entwickeln. Die Ersten dieser Therapien haben nun die klinische Erpro­bungsphase erreicht. Es ist zwar schwer zu sagen, wie wirkungsvoll diese Therapien tatsächlich sein werden, aber es besteht ein wachsender Optimismus in der neurowis­senschaftlichen und medizinischen Fach­welt, dass diese ersten Schritte letztlich dazu führen werden, dass medikamentöse Thera­pien entwickelt werden können, die die ko­gnitive Funktion von Menschen mit Down­Syndrom verbessern.

Eltern von Kindern mit Down-Syndrom in Deutschland sind häufig sehr skeptisch, was Hirnforschung anbelangt, und sind meistens nicht bereit, ihre Kinder an klini-schen Studien teilnehmen zu lassen. Viele scheinen an dieser Art der Forschung auch nicht wirklich interessiert zu sein, wobei sie jedoch häufig gern an anderen Studien mit eher pädagogischen, entwicklungsori-entierten und medizinischen Themen teil-nehmen!Welche Gründe mag es für diese Haltung geben? Wir haben den Eindruck gewon-nen, dass Eltern in den USA und anderen Ländern in Bezug auf neurowissenschaftli-che Forschung viel offener sind.

C. Garner: Ich glaube, es ist normal, dass wir skeptisch gegenüber Dingen eingestellt sind, die wir nicht verstehen. Die meisten Eltern und viele Ärzte sind der Auffassung, dass Veränderungen im Gehirn eines Men­schen mit einer Verdreifachung von über 300 Genen, die auf dem 21. Chromosom liegen, einfach zu komplex sind, um sie zu verstehen, geschweige denn zu behan­deln. Das führt dazu, dass viele Menschen glauben, dass solche Studien keinen Sinn ergeben und sie auch den Neurowissen­schaftlern und Ärzten nicht zutrauen, aus­sagekräftige Antworten zu liefern oder The­rapien zu entwickeln.

Ein Grund dafür, dass Eltern in den USA andere Ansichten hierzu haben, könnte sein, dass dort in den vergangenen 20 Jahren viel darüber publiziert wurde, weil einfach mehr Down­Syndrom­For­schung betrieben wird. Es hat sich gezeigt, dass die durch die Trisomie verursachten zerebralen Schäden nicht so komplex sind wie ursprünglich angenommen und dass die Defizite bei der Kognition eher auf­grund von geringeren Veränderungen in den Gehirn­Schaltkreisen entstanden sind. Von wesentlicher Bedeutung ist auch, dass immer mehr Studien ergeben, dass relativ einfache medikamentöse Therapien diese Schaltkreise dahin gehend verändern kön­

nen, dass sie normaler funktionieren. Dies ist ein riesiger konzeptioneller Schritt nach vorne, der dazu führt, dass rationale me­dikamentöse Therapien im Rahmen von Grundlagenforschung und klinischen Stu­dien evaluiert werden. Ganz klar wird im nächsten Schritt eine Partnerschaft zwi­schen Neurowissenschaftlern und Fami­lien mit Kindern mit Down­Syndrom er­forderlich, bei dem natürlich Erwartungen, Herausforderungen, Ängste, Sorgen und Vorteile für beide Gruppen besprochen werden müssen.

Zurzeit werden in Australien im Rahmen einer klinischen Studie, der Compose-Stu-die, die Sicherheit und die Wirksamkeit des Wirkstoffs BTD-001 an 90 Erwachse-nen mit Down-Syndrom untersucht. Die Studie basiert auf Ihren Forschungsergeb-nissen. Aus was genau besteht dieser Wirk-stoff und gibt es bereits erste Ergebnisse?

C. Garner: Die Compose­Studie wird von einem kleinen Biotechnologieunternehmen in Kalifornien durchgeführt, das ich mit­begründet habe. Sie basiert tatsächlich auf unseren Studien an der Stanford Universi­ty. Die Zusammensetzung des untersuch­ten Wirkstoffes wird von dem Unterneh­men zurzeit nicht veröffentlicht. Die Studie ist fast abgeschlossen, und wir hoffen, dass wir die Daten im Verlauf dieses Jahres pub­lizieren können. Wie Sie vielleicht wissen, gibt es eine zweite klinische Studie, die von Roche gesponsert wird und in der eben­falls die kognitive Funktion beim Down­Syndrom untersucht wird. In dieser Studie wird ein anderer Wirkstoff eingesetzt, aber sie basiert ebenfalls auf unseren Ergebnis­sen aus Stanford. Die Phase­II­Studie hier­zu wurde gerade gestartet.

Falls tatsächlich ein wirkungsvolles Medi-kament entwickelt werden sollte, wird es dann für Menschen mit Down-Syndrom je-

den Alters eingesetzt werden können oder umfasst die Zielgruppe nur kleine Kinder?

C. Garner: Das ist eine ausgezeichnete Fra­ge. Wir können uns einzig an Tierstudien orientieren, die ergeben haben, dass die Be­handlung nicht vom Alter abhängt und die kognitive Funktion in allen Altersgruppen wirkungsvoll verbessert, das heißt, sowohl bei jungen als auch bei sehr alten Men­schen. Die klinischen Studien werden zur­zeit an Personen im Alter von zehn bis 35 Jahren durchgeführt. Dies ist die sichers­te Population, mit der man arbeiten kann. Irgendwann werden die Studien auch so konzipiert, dass sie die Sicherheit und die Wirksamkeit bei Kindern und viel älteren Erwachsenen untersuchen.

Wir können davon ausgehen, dass die größten Vorteile erzielt werden, wenn die Behandlung früh im Leben eingeleitet wird, sodass der Erwerb von Informatio­nen und die Sprachentwicklung in den üb­lichen Zeitfenstern erfolgen. Grundsätzlich kann man die Herausforderung für unse­re Gehirne mit einer Bibliothek mit vielen, vielen Büchern vergleichen. Beim Down­Syndrom ist die Tür zu dieser Bibliothek meistens verschlossen und es stehen nur wenige Bücher darin. Pharmakotherapi­en, die Hirnfunktionen verbessern, kön­nen hoffentlich die Tür dieser Bibliothek öffnen, sie können jedoch keine Bücher lie­fern. Dies muss quasi durch die stetige Auf­nahme von neuen Informationen durch ein anregendes Umfeld und altersgerechte so­wie an das Entwicklungsstadium angepass­te Bildungsprogramme geschehen. Wenn wir also von neuen Therapien für Kinder und Erwachsene mit Down­Syndrom träu­men, müssen wir erkennen, dass jeder von uns eine Rolle im großen Ganzen spielt, in dem neue Arzneimittel nur einen sehr klei­nen Teil übernehmen.

Das Interview führte Cora Halder, Übersetzung Patricia Martinez

Prof. Dr. Craig Garner, internationaler Spitzen-wissenschaftler aus den USA, forscht seit Oktober

2014 am Deutschen Zentrum für Neurodege-nerative Erkrankungen (DZNE) an der Charité-

Universitätsmedizin Berlin. Sein Ziel ist es, Thera-pien zu entwickeln, die eine gestörte Kommuni-kation zwischen Gehirnzellen wiederherstellen.

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Bündnis zum

Welt-Down-Syndrom-Tag 2014

I Arbeitskreis Down-Syndrom e.V. Bundesweite Beratung und Information

Gadderbaumer Straße 28 33602 Bielefeld Telefon: 0521 44 29 98 Telefax: 05 21 94 29 04 [email protected]

I Down-Syndrom Netzwerk Deutschland e.V.

Speyerer Str. 20 50739 Köln Telefon 0221 168319 88 Telefax 0221 9 1715 98 [email protected]

I Deutsches Down-Syndrom InfoCenter

Hammerhöhe 3 91207 Lauf Telefon 0 91 23 98 21 21 Telefax 0 91 23 982122 [email protected]

I KIDS Hamburg e.V. Kontakt- und Informationszentrum

Down-Syndrom

Louise-Schroeder-Strasse 31 22767 Hamburg Telefon 040 38616780 Telefax 040 38616781 [email protected]

I Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V.

Leipziger Platz 15 10117 Berlin Telefon 030 206411-0 Telefax 030 206411-204 [email protected]

Pressemitteilung

Mehr Menschen mit Down-Syndrom auf den ersten Arbeitsmarkt!

Lebenshilfe und Fachverbände fordern anlässlich des Welt-Down-Syndrom-Tages am 21. März mehr Alternativen zur Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM)

Nur verschwindend wenig Menschen mit Down-Syndrom haben eine Tätigkeit auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt. Trotz Ausgleichsabgabe und Beschäftigungsquote, die bisher offensichtlich nicht die vom Ge-setzgeber beabsichtigte Wirkung zeigen. „Das ist fünf Jahre nach Ra-tifi zierung der UN-Behindertenrechtskonvention kein Ruhmesblatt“, so Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Bundestags-vizepräsidentin.

Damit das anders wird, fordert die Lebenshilfe gemeinsam mit ande-ren Verbänden, die Menschen mit Down-Syndrom vertreten, bundes-weit fl exible Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben., z.B. in Form von Lohnkostenzuschüssen und einer dauerhaften Begleitung/Unter-stützung am Arbeitsplatz. Solche Leistungen sollten allen Menschen mit geistiger Behinderung zur Verfügung stehen. Das würde auch einen Bewusstseinswandel in der Gesellschaft und in Unternehmen bewirken. „Bisher sind Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben kaum sichtbar“, so Ulla Schmidt.

Bislang gibt es für Menschen mit geistiger Behinderung nur in ein-zelnen Bundesländern die Möglichkeit, auch außerhalb der Werkstatt Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu erhalten; z.B. Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Hamburg. Andere Möglichkeiten werden bereits erfolgreich genutzt. So gibt es sogenannte Integrationsfi rmen, die sowohl Menschen mit und ohne Behinderung auf dem Allgemei-nen Arbeitsmarkt beschäftigen. Darüber hinaus sind vielerorts Werk-statt-Beschäftigte auf so genannten ausgelagerten Arbeitsplätzen tä-tig, wie etwa in der Seniorenhilfe, in Kindergärten, in Cafés oder in Supermärkten.

PressemitteilungGegen Diskriminierung von Menschen mit Trisomie 21Lebenshilfe und Down-Syndrom-Verbände wenden sich gegen Reihenuntersuchung mit Praena-Test

Die Lebenshilfe und die Down-Syndrom-Fachverbände wenden sich entschieden gegen den Einsatz des sogenannten Praena-Tests als Reihenuntersuchung. Bei die-ser Vorsorge-Untersuchung lässt sich durch eine Blutentnahme bei der werdenden Mutter bereits in der frühen Schwangerschaft das Vorliegen einer Trisomie 21 (Down-Syndrom) feststellen. Der Praena-Test wurde in Deutschland im Sommer 2012 zu-gelassen. Derzeit übernehmen etwa 20 Krankenkassen die Kosten auf Antrag.

Gegenwärtig berät der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Kranken-kassen (GBA) über die Erprobung des Praena-Tests. Der GBA entscheidet darüber, welche Untersuchungen in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenver-sicherung aufgenommen werden. Die Firma LifeCodexx, die den Praena-Test anbietet, hat diese Erprobung beantragt, um letztlich seinen Einsatz als reguläre Schwangerenvorsorge zu erreichen. Eine solche Untersuchung wirft aber syste-matisch die Frage nach einem Abbruch der Schwangerschaft auf – und stellt das Lebensrecht von Menschen mit Trisomie 21 in Frage.

Lebenshilfe-Bundesvorsitzende Ulla Schmidt: „Wir wenden uns nicht generell ge-gen den Praena-Test. Sein Einsatz als Reihenuntersuchung ist ethisch jedoch hoch problematisch und sogar gefährlich. Er vermittelt den Eindruck, es sei ein per-fektes Kind möglich. Damit gefährdet er die Akzeptanz von Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit. Dazu kommt die nicht unerhebliche Zahl der falsch-positiven Testergebnisse – das heißt, der Test zeigt eine Behinderung an, obwohl das Kind nicht behindert ist. Eine von der gesetzlichen Krankenversicherung finanzierte Reihenuntersuchung, die gezielt nach Kindern mit Down-Syndrom sucht und ihr Leben zur Disposition stellt, steht außerdem im Widerspruch zur Behinderten-rechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK).“

Die UN-BRK betont den wertvollen Beitrag von Menschen mit Behinderung zum allgemeinen Wohl und zur Vielfalt der Gesellschaft. Inklusion bedeutet, Menschen in ihrer Vielfalt wertzuschätzen. Ulla Schmidt: „Wir haben uns mit Unterzeich-nung der UN-BRK für eine inklusive Gesellschaft und für eine Willkommenskultur entschieden. Wichtig ist, dass wir gewährleisten, dass auch Menschen mit Be-hinderung an der Gesellschaft teilhaben können. Sie und ihre Familien müssen Beratung, Informationen und Unterstützung bekommen, so wie sie es benötigen. Dafür stehen die Lebenshilfe und ihre Partner.“

Pressekontakte:

Dr. Elzbieta SzczebakDeutsches Down-Syndrom InfoCenterTelefon: 09123 982121www.ds-infocenter.de

Dr. Bettina LeonhardBundesvereinigung LebenshilfeTelefon: 030 20 64 11 136www.lebenshilfe.de

Bündnis zumWelt-Down-Syndrom-Tag 2015

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B eim Down­Syndrom kommen Fuß­deformitäten häufig vor (1). Der Klumpfuß stellt dabei eher eine Rari­

tät dar. Auch in unserer Ambulanz mit jähr­lich über 100 Kindern und Jugendlichen mit Down­Syndrom betreuen wir nur fünf Kin­der mit Klumpfüßen. Zum Vergleich: Bei Kindern mit „Normalsyndrom“ kommt der Klumpfuß mit einer Häufigkeit von 1 bis 2 pro 1000 Lebendgeburten vor.

Warum sich eine Klumpfußdeformität ausbildet, ist heute noch nicht eindeutig ge­klärt. Mögliche Gründe sind eine fehlerhaf­te Bindegewebsbildung (Kollagensynthese), eine Fehlanlage der knorpelig vorgeform­ten Knochen, accessorische (überzählige) Muskeln, Enge/Fehllage im Mutterleib, Stö­rungen in der Nerven­Muskel­Steuerung sowie Umweltfaktoren (10). Heute ist eine Ultraschalldiagnose bereits in der elften bis 18. Schwangerschaftswoche möglich (3).

Der Klumpfuß, lat. Pes equinovarus, be­steht aus mehreren Komponenten: Hohlfuß (cavus) Sichelfuß (adductus) Fersenvarus Spitzenfuß (equinus)

Abzugrenzen von einem „echten“ Klumpfuß ist die Klumpfußhaltung. Diese ist vollständig aktiv und passiv korrigierbar (10). Sie wird meist konservativ, das heißt ohne Operation, behandelt. Bei Down­Syn­drom kann die Klumpfußhaltung sehr ri­gide sein, sodass eine Operation doch not­wendig wird (4).

Die Behandlung der Klumpfußdefor­mität unterscheidet sich kaum von der Be­handlung von Kindern ohne Down­Syn­

g M E D I Z I N

drom (4, 6). Früher wurden die Klumpfüße in einer recht umfassenden Operation re­konstruiert. Heute gilt die Behandlungsme­thode nach Ponseti als Goldstandard, auch für Klumpfüße in Verbindung mit Syndro­men (6).

Ponseti-Methode:Die Klumpfußbehandlung nach Ponseti ist eine Kombination aus einer speziellen Gipstechnik und einer minimalinvasiven Operation. Bereits kurz nach der Geburt wird der erste Therapiegips angelegt.

In wöchentlicher, standardisierter Ab­folge werden die Gipse gewechselt und der

Fuß kontinuierlich um das Sprungbein (Talus) herum aus der Klump­fußstellung geführt. Zu­letzt steht der Fuß au­ßenrotiert. Verbleibt ein Spitzfuß, wird perkutan, das heißt durch die Haut hindurch, eine Durch­trennung der Achillesseh­ne durchgeführt (7, 8).Bei Kindern ohne Down­Syndrom wird nun eine

spezielle Schiene angelegt, die die Füße in Außenrotation hält (Dennis­Browne­Splint). Zunächst muss sie 23 Stunden am Tag getragen werden, im Kindergartenalter noch nachts.

Spätestens wenn die Gipstherapie von der Schienenversorgung abgelöst wird, be­ginnen wir begleitend mit Physiotherapie. Bei Kindern mit Down­Syndrom kann der Beginn schon früher sein, z.B. aufgrund ei­ner muskulären Hypotonie.

Liegt kein Klumpfuß, sondern eine Klumpfußhaltung vor, wenden wir früh­zeitig die dreidimensionale manuelle Fuß­therapie nach Frau Zukunft­Huber an. In mehreren Behandlungsphasen werden die muskulären Verkürzungen behandelt und durch eine funktionelle Binde gehalten (11). Dies führt langfristig zu einer physio­logischen Fußstellung über Dehnung der Fußlänge (11). Die Eltern werden zur Wi­ckelung der Füße angeleitet.

Auch nach erfolgter Operation werden die Kinder nach dem Konzept von Frau Zu­kunft­Huber behandelt. Liegen noch wei­tere Probleme vor, setzt sich idealerweise die physiotherapeutische Behandlung aus mehreren Komponenten (z.B. nach Vojta) zusammen, ganz nach den Bedürfnissen des Kindes. Die „Froschhaltung“ der Beine (siehe Foto) kann eine solche Besonderheit sein. Diese Haltung entsteht durch die mus­kuläre Hypotonie und Bänderschwäche.

In dieser Position sind die Kinder in ih­rer Eigenmobilität eingeschränkt. Allein die

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gerade Ausrichtung der Beine kostet viel Kraft und Koordination. Das Kind benötigt Unterstützung.

Die im Ponseti­Konzept verwandte Den­nis­Browne­Schiene begünstigt diese Bein­chen­Haltung, da beide Füße (und Beine) in Außenrotation gehalten werden. Trägt man der Tendenz, eine Instabilität der Knieschei­ben zu entwickeln (10–20 %, (1)), Rechnung, ist diese Schienenbehandlung für Kinder mit Down­Syndrom und ihren Eigenheiten kri­tisch zu sehen. Auch die waagerecht stehen­den, tiefen Hüftpfannen (9) sollten in die Überlegung mit einbezogen werden.

Daher tendiere ich speziell bei Down­ Syndrom zu einer Oberschenkel­Schiene in Beugung, mit Außenrotation im oberen Sprunggelenk (siehe Fotos). Das Bein wird gerade ausgerichtet und um ein Abkippen in die Froschhaltung zu verhindern, wird ein Stabilisierungsdreieck an der Sohle an­gebracht. Auch diese Schiene wird zunächst Tag und Nacht getragen, im weiteren Ver­lauf noch zur Nacht. Häufig kombinieren wir die Versorgung je nach Befund mit ei­ner dynamischen Lauforthese oder senso­motorischen Einlagen.

Moroney et al. haben vier Patienten rein nach dem Ponseti­Konzept behandelt und gute Fußergebnisse erzielt (6). Über Auswir­kungen an Hüften und Knien werden keine Angaben gemacht. Studien mit aussagekräf­tigen Patientenzahlen fehlen.

Sicher ist nur: Der Krankheitsverlauf kann sehr individuell sein, daher muss auch die Therapie immer wieder individuell hin­terfragt werden. Wichtig ist eine vertrau­ensvolle Zusammenarbeit zwischen Arzt, Eltern und Physiotherapeutin, mit Schu­lung und umfassender Information der El­tern. Dies erhöht deutlich den Erfolg der Behandlung (5). <

Literatur:

1. Caird MS, Wills BP, Dormans JP: Down syndrome in children: the role of the or-

thopaedic surgeon. J Am Acad orthop Surg, 2006 Oct; 14(11):610-9

2. Concolino D, Pasquzzi A, Capalho G, Sinopoli S, Strisciuglio P: Early detection of podiatric anoma-

lies in children with Down syndrome. Acta Paediatr 2006 Jan; 95(1): 17-20

3. Lichtinger TK, Mldenov K, Schulze Pellengahr C v, Engelhardt LV v, Teske W: Der kindliche idio-pathische Klumpfuß. Deutscher Ärzteverlag OUP

2012;1 (3):115-120

4. Miller PR, Kuo KN, Lubicky JP: Clubfoot defor-mity in Down´s syndrome. Orthopedics

1995 May; 18(5): 449-52

5. Morin ML, Hoopes DM, Szalay EA: Positive communication paradigm decreases early

recurrence in clubfoot treatment. J Pediatr Orthop, 2014 Mar; 34(2): 219-22

6. Moroney PJ, Noel J, Fogarty EE, Kelly PM: A single-center prospective evaluation of the Pon-seti-Method in nonidiopathic congenital

talipes equinovarus. J Pediatr Orthop, 2012 Sep; 32 (6): 663-40

7. Ponseti IV, Smoley EN: Congenital club foot: the results of treatment

J Bone Joint surg Am. 1963; 45-A:261-344

8. Ponseti IV: Congenital Clubfoot. Fundamentals in Treatment.

Oxfort, NY: Oxfort University Press; 1996

9. Shaw ED, Beals RK: The hip joint in Down´s syndrome. A study of its structure and associated

disease. Clin Orthop Relat Res, 1992 May; (278):101-7

10. Westhoff B, Krauspe R: Ätiologie und Patho-genese. In: Krauspe R, Westhoff B, Wild A (Hrsg.)

Der Klumpfuß (2006) S. 3-6

11. Zukunft-Huber B: Der kleine Fuß ganz groß, Urban & Fischer Verlag, 1. Auflage 2005, S.104-152

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B ernd Müller ist ein kleiner, problem­loser, selbstgenügsamer Junge mit Down­Syndrom. Mit 2;3 Jahren kam

er in eine Kindertagesstätte. Um seine Inte­gration in die Gruppe zu unterstützen, be­treute ihn an fünf Vormittagen in der Woche eine angehende Heilpädagogin. Die fach­liche Beratung für diesen Prozess hatte ich übernommen. Wie sich Bernd im Laufe von neun Monaten entwickelt hat, sei im Folgen­den dargestellt. Dabei zitiere ich teilweise aus der Dokumentation der Heilpädagogin.

Bernd kam die ersten zwei Tage mit seinem Vater in die Kita. Er ließ sich ohne Protest überall absetzen, ohne Trennungsangst zu zeigen. Auch wenn sich sein Vater von ihm entfernte, reagierte er nicht darauf. Er zeigte sowohl an mir wie auch an seiner Umgebung wenig Interesse. Vor allem beschäftigte er sich mit seinem Körper, untersuchte seine Haare, gestikulierte mit den Händen, lautierte lan-ge Lallmonologe oder robbte im Kreis. Sein Vater beschrieb ihn als einfaches, zufriedenes Kind, das sich zu Hause auch längere Zeit al-lein beschäftigte.

Schon diese kurze Charakterisierung weist darauf hin, dass Bernd vermutlich unsicher vermeidend gebunden ist. Denn Kleinkin­der dieses Bindungstyps zeigen in der Re­gel kaum Trennungsangst und setzen ihre Aktivitäten nach dem Weggang einer Be­zugsperson unbeirrt fort, was sie als „pfle­geleicht“ erscheinen lässt.

Die sich anschließende Verhaltensbe­obachtung diente der Heilpädagogin dazu, Bernds Entwicklungsniveau differenziert zu erfassen. Dabei achtete sie gleicherma­ßen auf Bernds sozio­emotionales Verhal­ten und auf seine kognitiven Kompetenzen.

Sie stellte fest: Als ich ein ihm bekann-tes Lied anstimmte, wurde Bernd auf mich

aufmerksam, klatschte mit und strahlte mich an. Sodann rollte ich ihm einen Ball zu, und er rollte ihn wieder zurück, was ihn sichtlich erfreute. Beim Ballspiel wechselte sein Blick zwischen dem Ball und mir. Rollte der Ball an ihm vorbei, verfolgte er ihn mit den Au-gen und robbte zu ihm hin, um ihn sich wie-der zu holen. Wenn der Ball allerdings außer Reich- und Sichtweite verschwand, brach er das Spiel ab und suchte den Ball nicht.

Bernd neigte dazu, sich im Spiel lange ste-reotyp zu beschäftigen. Zum Beispiel konnte er die ganze Spielzeit über mit einem Löffel spielen (leckte an ihm, klopfte auf den Bo-den), solange man ihm nichts anderes anbot. Er erkundete überhaupt noch alle Gegenstän-de mit dem Mund: leckte und lutschte daran oder schüttelte sie. Auch ließ er die Spielsa-chen oft fallen und schaute ihnen nach. Er erfasste ansatzweise einfache Zusammen-hänge, wusste beispielsweise, dass der De-ckel auf seinen Becher gehört, und versuchte ihn auch zu schließen, was ihm aufgrund sei-ner schwach ausgeprägten feinmotorischen Fähigkeiten noch nicht gelang. Außerdem konnte er ein Spielzeug an einer Schnur zu sich heranziehen. Das waren seine Spitzen-kompetenzen, die er, wie sich im Laufe der Zeit herausstellte, nur in für ihn besonders guten Kontakt-Situationen zeigte.

In direktem Kontakt befasste sich Bernd mit meinem Körper. Er versuchte, seine Fin-ger in meinen Mund zu stecken, wuschelte und untersuchte meine Haare. Er interessier-te sich für meine Ohrringe und Knöpfe und probierte, mir die Brille abzunehmen. Auch über seinen Körper konnten wir Kontakt auf-nehmen. Er freute sich über körperbezogene Spiele wie Kniereiter oder Krabbelspiele.

Bernd sprach noch nicht, ahmte aber flei-ßig gehörte Laute lallend nach und übte die Satzmelodie. Wenn man Bernd im Dialog mimisch, gestisch und verbal spiegelte, ermu-

tigte ihn das sichtlich zum Weitermachen. In solchen Momenten erlebte man ihn ganz prä-sent. Allerdings setzte Bernd das Lallen und Gestikulieren auch in Situationen von emoti-onalem Unbehagen wie Überforderung oder Langeweile ein. Dann war er auch durch Spiegeln nicht gleich zu erreichen.

Bernd kroch vorwärts, indem er sich auf den Ellenbogen abstützte. Er konnte sich zur Seite rollen und auf einen Ellbogen abstüt-zen, um zu spielen. Außerdem schaffte er es, sich in die Sitzposition zu bringen und so im Kreis zu drehen. Er zog sich an niedrigen Ge-genständen hoch und konnte sich durch Fest-halten in die kniende Position bringen. Im Sitzen hatte er die volle Kontrolle über sei-nen Oberkörper.

Bernd interessierte sich kaum für seine Umwelt. Er schaute nicht in die Spielzeugkis-ten oder Regale und verließ auch nicht das Spielzimmer, um die übrigen Räume zu er-kunden. Er äußerte kein Bedürfnis, etwas selber machen zu wollen, sondern ließ sich füttern, anziehen und saubermachen, ohne zu protestieren. Er aß, was man ihm fütter-te, ohne den Blick auf den Teller bzw. das Gericht zu richten. Es schien nichts zu ge-ben, was er besonders bevorzugte oder nicht mochte. Er kaute sein Essen so gut wie nicht.

Die Essenssituation war die einzige, in der Bernd etwas forderte bzw. auf sich und sein Bedürfnis aufmerksam machte. Sobald das Essen auf dem Tisch stand, wurde er unruhig, fing an zu brummen und versuchte, Blickkon-takt zu mir aufzunehmen. Wenn es zu lange dauerte, jammerte er auch oder schrie.

Ansonsten war Bernd auch im Umgang mit den Erzieherinnen passiv. So schien es gleichgültig, an wen er morgens übergeben wurde. Er zeigte keine Trennungsangst, kein Fremdeln. Die ganze Eingewöhnungszeit über ließ er nicht erkennen, ob er nun gern in die Kita kam oder vielleicht doch lieber bei

Bernd entdeckt die Welt Bindungsorientierte Frühförderung T E x T: B A r B A r A S e N C K e L

Geschildert wird ein passgenaues Beziehungsangebot, das dem zweijährigen Bernd im Laufe von zehn Monaten ermöglicht, sein unsicher-vermeidendes Bindungsmuster abzulegen, und ihm zugleich zu einer deutlichen sozio-emotionalen und kognitiven Weiterentwicklung verhilft. Überprüft wird der Entwick-lungsfortschritt anhand des „Befindlichkeitsbezogenen Entwicklungsprofils für normal begabte Kinder und Menschen mit Intelligenzminderung“ (BEP-KI), einem neuen, von der Autorin mit entwickelten ent-wicklungsdiagnostischen Verfahren.

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seinen Eltern wäre. Er suchte in der Freispiel-zeit bei Unsicherheit keine Rückversicherung durch Blickkontakt, Affektabstimmung war nicht zu beobachten. So suchte er auch kei-nen Trost bei einer Erzieherin, wenn er sich wehtat oder müde wurde. Die anderen Kin-der beachtete er nicht. Wenn sie ihn anspra-chen oder berührten, ließ er es zu, ohne eine Regung zu zeigen.

Die Auswertung dieser Verhaltensbeschrei­bung lässt erkennen: ▶ Bernd ist zum Zeitpunkt der Beobach­

tung motorisch aufgrund seiner Hypo­tonie stark entwicklungsverzögert. So entsprechen seine grobmotorischen Ak­tionen (Kriechen, freies Sitzen, in die kniende Position Ziehen) denen eines acht Monate alten Säuglings.

▶ In kognitiver Hinsicht zeigt er im Durchschnitt ebenfalls die Kompeten­zen dieser Altersstufe, in guten Situatio­nen auch die eines acht bis zwölf Monate alten Kindes, wie zum Beispiel den tri­angulären Blickkontakt und das Erfassen einfacher Zusammenhänge. Die Objekt­permanenz scheint auch noch unsicher zu sein, weshalb es ihm nicht gelingt, vor seinen Augen verschwundene Gegen­stände zu suchen (z.B. den Ball).

▶ Sein Sprachverständnis und seine Sprachproduktion entsprechen seinen kognitiven Leistungen, das heißt, bei­de liegen bei knapp einem Jahr: Er ver­steht einige Wörter im Situationszusam­menhang und ist dabei, die Sprache als Kommunikationsmittel zu entdecken (selbstbezogene Lallmonologe, Brum­men als Unmutsbekundung).

▶ Betrachtet man Bernds Spielverhalten, wird deutlich, dass er sich mit den Din­gen seiner Umwelt noch immer vor­wiegend auf dem Niveau der sekundä­ren Kreisreaktionen auseinandersetzt. Sein Handeln ist zum Großteil noch ef­fektbezogen und verfolgt kaum ein le­benspraktisches Ziel. Das entspricht ei­nem kognitiven Entwicklungsniveau von sechs bis neun Monaten. Bernd hat zwar ansatzweise die Mittel­Zweckdif­ferenzierung erworben, hat darin aber noch keine Sicherheit. So zieht er zum Beispiel ein Spielzeug an einer Schnur zu sich heran oder holt den Ball (wenn er in Sichtweite liegt), um sein Lieb­lingsspiel „Ball hin und her rollen“ zu spielen. Doch es findet kein aktives Ex­perimentieren mit den Objekten, keine Variation statt, sondern lediglich eine stereotype Durchführung des Spiels.

▶ Im Hinblick auf Bernds sozio­emotiona­le Entwicklung ist Folgendes festzustel­

len: Bernd äußert keine Bedürfnisse, er wartet, bis er versorgt wird. Er sucht von sich aus keine Beziehung und reagiert auf flüchtige Kontaktangebote nur selten. Wenn er sich selbst überlassen bleibt, be­schäftigt er sich stereotyp, wogegen er in direkter Interaktion mit einer Person, die geduldig um ihn wirbt sowie auf sei­ne Vorlieben und Fähigkeiten passge­nau eingeht, deutlich seine Kompetenzen zeigt. Dann sind sogar ansatzweise sozi­ale Spiele (den Ball hin und her rollen) möglich. Das ist eine sozio­emotiona­le Entwicklungsspitze, die dem Alter von acht bis zwölf Monaten entspricht.

▶ Das ebenfalls in diesem Alter einset­zende Autonomiestreben ist noch nicht zu beobachten. Deshalb will Bernd bei­spielsweise den Löffel nicht selbst hal­ten, zeigt also noch keinerlei eigenstän­dige lebenspraktische Leistungen, und interessiert sich noch nicht dafür, seine Umwelt zu entdecken.

▶ Genauso wenig ist irgendeine Art von Bindungsverhalten zu beobachten: Er sucht keinen Trost, versichert sich nicht der Übereinstimmung mit seiner Be­zugsperson durch Blickkontakt und Af­fektabstimmung, besitzt kein Lieblings­spielzeug (Übergangsobjekt), mit dem er sich selbst trösten oder beruhigen würde. Noch auffälliger ist, dass er emo­tional gleichmütig auf Trennungen von seiner Bezugsperson reagiert.

So wirkt Bernd zwar selbstgenügsam, je­doch ist diese Selbstgenügsamkeit kein Zei­chen erreichter Autonomie, sondern von Bindungsarmut und Beziehungsarmut. Er ist auf keinen Fall sicher an seine Bezugs­person gebunden. Dieser Mangel ist nicht auf seine kognitiven Schwächen zurückzu­führen, sondern muss in der erlebten Bezie­hungsqualität gründen. Die fehlende (oder unsicher vermeidende?) Bindung an die Bezugsperson erklärt auch das Fehlen eines Übergangsobjektes, das durch die Übertra­gung positiver Beziehungserfahrungen mit der Bezugsperson auf einen an der gemein­samen Interaktion beteiligten Gegenstand entsteht.

Beziehungsarmut und keine Autismus-Spektrum-StörungMan fragt sich nach dem Grund von Bernds Beziehungsarmut. Sie deutet wohl nicht auf eine autistische Problematik, wie sie sei­ne Diagnose „Autismus­Spektrum­Stö­rung“ vorschlägt. Denn Bernd scheint Be­ziehungsangebote nicht – zumindest nicht grundsätzlich – zu verweigern. Für die­se Annahme sprechen die Interaktionen,

wenn man sich ausreichend um ihn be­müht. Doch ist zu vermuten, dass er nicht die für ihn geeignete Art der Aufmerk­samkeit erhält, die ein stabiles emotionales Band entstehen lässt. Wahrscheinlich wur­den seine symbiotischen Bedürfnisse im ersten halben Lebensjahr nicht hinreichend erkannt und befriedigt. Der Grund dafür liegt vielleicht gerade in seiner vermeintli­chen Selbstzufriedenheit und Bedürfnislo­sigkeit. Dadurch ist er „pflegeleicht“. Er for­dert Beziehung nicht ein. Vermutlich hat er noch gar nicht erkannt, dass Zuwendung „sich lohnen kann“, oder er hat bereits still resigniert und begnügt sich nun mit sich selbst. Als Folge verzichtet er auf Autono­miebestrebungen. Damit stagniert auch seine kognitive Entwicklung, was zugleich eine Stagnation der Spielentwicklung und des Explorationsverhaltens mit sich bringt.

Ein Blick in Bernds Lebensgeschichte lässt diese Deutung als zutreffend erschei­nen. Bernd ist das jüngste von drei Kin­dern; seine Eltern, beide Lehrer, sind bei­de vielfältig interessiert und beschäftigt. Sie akzeptieren Bernd als Down­Syndrom­Kind, sind aber froh, dass er so pflegeleicht ist und sie wenig in Anspruch nimmt. Auf­grund von Bernds Verhalten glauben sie, dass sie ihm nicht sonderlich viel bedeuten, und halten das für eine Folge der Behinde­rung. So überlassen sie ihn viel sich selbst, nutzen die Anregungen der Frühförderung kaum, haben keine gemeinsamen Interak­tionsrituale entwickelt et cetera. Bernd hat also nicht das geduldig werbende und lo­ckende, einfühlsam auch auf kleinste Re­gungen eingehende Beziehungsangebot bekommen, das er aufgrund seiner Behin­derung dringend gebraucht hätte. So konn­te er sich auch nicht sicher an seine Mutter und seinen Vater binden.

Als pädagogische Schlussfolgerung aus der Analyse des Entwicklungsstandes lässt sich ableiten: Es ist wichtig, Bernd zu ei­ner sicheren Bindung zu verhelfen. Damit er die erwirbt, benötigt er die emotionale Präsenz und Verfügbarkeit einer verlässlich zugewandten Bezugsperson, die ihn be­harrlich in gemeinsame Interaktionen lockt und seine vermeintliche Bedürfnislosigkeit und Zufriedenheit nicht als willkommene Unabhängigkeit und „Einfachheit“ deutet. Er braucht intensive Beziehungsangebote, die er jedoch selbst nicht einfordern kann. Über die Beziehung wird er sich der Welt öffnen und auch kognitiv weiterentwickeln.

Was ist eine sichere Bindung?„Sichere Bindung“ – was beinhaltet die­ses von John Bowlby in die psychologi­

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sche Forschung eingeführte Konstrukt? Ein sicher gebundenes Kind weiß aus tie­fer Erfahrung, dass es in jedweder Notsitu­ation – immer wenn es sich bedroht fühlt, Angst hat oder einen Mangel empfindet – Schutz, Verständnis und Hilfe bei seiner Bezugsperson findet. Deshalb sucht es in solchen Situationen ihre trost­ und hilfrei­che Nähe auf, wogegen es sich sonst aktiv und autonom der Welt zuwendet. Im Re­gelfall ist diese Bezugsperson zunächst die Mutter, der aber bald andere bedeutsame Interaktionspartner – etwa der Vater, die Großeltern, die Erzieherin im Kindergar­ten – zur Seite treten. Die Bindung an die Bezugsperson(en) bildet sich im ersten Le­bensjahr, stabilisiert und differenziert sich jedoch während der gesamten Kindheit.

Welche Qualität die Bindung gewinnt, hängt von den frühen Beziehungserfahrun­gen des Säuglings ab. Wünschenswert ist, dass diese ihm ermöglichen, sich „sicher“ zu binden.

Welche Beziehungserfahrungen ver­helfen nun einem Kind zu einer sichere­ren Bindung? Der wichtigste Gradmes­ser für die Qualität dieser Erfahrungen besteht in dem Interaktionsverhalten der primären Bezugsperson. Wenn es ihr ge­lingt, sich auf den Säugling so feinfühlig einzustimmen, dass sie seine unterschied­lichen Ausdrucksweisen aufmerksam wahrnimmt, zutreffend deutet sowie sehr schnell und angemessen beantwortet, so fühlt er sich wahrgenommen und verstan­den. Sie „unterhält“ sich also mit ihm, lässt ihn nicht unbeachtet schreien, hat nicht die Sorge, ihn mit ihrer Zuwendung zu verwöhnen, beantwortet nicht alle Signa­le der Unlust auf dieselbe Weise, etwa in­dem sie ihm einen Schnuller oder etwas zu trinken gibt, sondern beobachtet ex­akt, horcht genau hin, interpretiert klei­ne Unterschiede in den Lautäußerungen oder der Mimik adäquat und bietet ihm entsprechend differenzierte Lösungen für seine Anliegen. Diese verlässliche und all­mählich vorhersehbar wiederkehrende positive Erfahrung vermittelt dem Säug­ling das Vertrauen, dass er in dieser Welt sicher geborgen ist und Hilfe bei Unbeha­gen erhält. Er erkennt, dass ihm diese Hil­fe von einem bestimmten Menschen, eben der Bezugsperson, zuteil wird, und bindet sich vertrauensvoll an sie. Er spürt, dass er selbst die Fähigkeit besitzt, Kontakte zu gestalten und sich mitzuteilen. So wächst auch das grundlegende Vertrauen in Ei­geninitiative und Kommunikation.

Zusammenfassend lässt sich die hier­durch erworbene Grundhaltung als „Ur­vertrauen“ bezeichnen, das als Grund­

stimmung die Haltung gegenüber dem künftigen Leben maßgeblich beeinflusst. Sicher gebundene Kinder besitzen folglich ein gutes Urvertrauen, das ihnen erlaubt, sich der Welt zu öffnen, sich „auf die eige­nen Füße zu stellen“ – kurz, ihre Fähigkei­ten auszubilden und sich zur rechten Zeit im angemessenen Maße von der Mutter zu lösen, in der Gewissheit, bei Bedarf jeder­zeit zu ihrer hilfreichen Nähe zurückkehren zu können.

Wie erwähnt, hängt die Qualität der kindlichen Bindung stark von der mütterli­chen Feinfühligkeit ab; diese wiederum re­sultiert aus der Wechselwirkung verschiede­ner Bedingungen, wie z.B. der emotionalen Befindlichkeit der Mutter, ihrer eigenen Bindungsgeschichte, ihrer Bereitschaft zur Mutterschaft und ihrer Erfahrung von ge­lingender Kommunikation. Nicht zuletzt trägt das Kind durch sein Wesen auch selbst dazu bei, wie sich der Dialog mit der Mut­ter gestaltet. Empfindet diese das angebore­ne Temperament des Säuglings und seine Reaktionstendenzen als angenehm, passen sie zu ihren Erwartungen, so wird sie sei­ne Äußerungen leichter verstehen und eher angemessen beantworten, als wenn ihr sein Wesen fremd und schwierig erscheint, was bei Kindern mit einer geistigen Behinde­rung häufig der Fall ist.

Die positiven Beziehungserfahrungen, die gleichsam den Teppich des Urvertrau­ens weben, verankern sich tief in der kindli­chen Persönlichkeit und beeinflussen in ho­hem Maße seine weitere Entwicklung. Als Grundmuster von Beziehung überhaupt formen sie nämlich als „inneres Arbeitsmo­dell“ die kindlichen Erwartungen an spätere Bezugspersonen sowie die Gefühle und den Stil, mit dem das Kind weitere Beziehungs­angebote beantwortet. Die sichere Bindung führt zu Verhaltensweisen, die von gutem Selbstvertrauen und hoher sozialer Kompe­tenz zeugen, wohingegen Kinder mit unsi­cherem oder desorganisiertem Bindungsstil häufig als emotional labil und im Sozialver­halten problematisch auffallen.

Die frühkindlich erworbenen Bindungs­muster können sich im Laufe der Kindheit bis zum Jugendalter durch einschneidende Veränderungen in den Beziehungserfah­rungen wandeln; allerdings behaupten sie sich zunehmend gegenüber äußeren Ein­flüssen, weil das innere Arbeitsmodell sich schrittweise als Persönlichkeitsbestandteil stabilisiert und das Bindungsverhalten so­wie die Emotionen, Kognitionen und Ver­haltensweisen in sozialen Situationen re­gelt. Folglich beeinflusst es die Art und Weise, wie enge emotionale Beziehungen im Lauf des Lebens gestaltet werden.

Vielfältige Forschungen belegen die langfristigen Effekte der verinnerlichten Bindungsmuster. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Sicher gebundene Kinder besitzen eine hohe emotionale Stabilität, die ihnen zugleich erlaubt, altersangemes­sene Formen der Autonomie und des Sozi­alverhaltens zu entwickeln, ihre kognitiven und kreativen Potenziale zu entfalten und ihre Kompetenzen optimal einzusetzen. Sie haben ein stabiles Selbstwertgefühl und ein angemessenes Selbstbild. Den unsicher und desorganisiert gebundenen Kindern man­gelt es mehr oder minder an diesem grund­legenden Vertrauen zu sich selbst und in soziale Beziehungen, weshalb ihre soziale Wahrnehmung getrübt scheint und ihnen konstruktive Bewältigungsmechanismen fehlen. Dadurch sind sie oftmals in ihrer Lernbereitschaft beeinträchtigt und insge­samt gefährdet, psychische Störungen zu entwickeln. Die sichere Bindung hingegen erweist sich als beste Grundlage für eine gesunde, harmonische Persönlichkeitsent­wicklung.

entwicklungsfreundliche Beziehung nach Dr. Senckel®Die junge Heilpädagogin hatte sich vor­genommen, Bernd zu einer sicheren Bin­dung zu verhelfen. Sie war bereit, ihm als primäre Bezugsperson zur Seite zu stehen und den nötigen emotionalen Rückhalt und Zuspruch so gewähren, um seine Ich­ und Beziehungsentwicklung voranzutrei­ben. Ihr Beziehungsangebot orientierte sich an Bernds emotionalem Entwicklungsstand und berücksichtigte zugleich sein kognitives Niveau. Das heißt, sie wollte Bernds symbi­otische Bedürfnisse (die dieser selbst nicht spürte und deshalb nicht ausdrückte, die aber zu seinem emotionalen Entwicklungs­niveau gehörten) durch emotionales Ein­heitserleben befriedigen und ihn sodann in die ersten Schritte der Loslösung begleiten. Außerdem wollte sie im Spiel seine kogniti­ven Funktionen anregen und unterstützen, da diese einen wesentlichen Teil des Ichs ausmachen. Eine dem Alter entsprechen­de, in den Alltag eingebundene Sprachför­derung gehörte auch zu ihrem Programm.

In der Art ihrer Durchführung folgte sie den Grundsätzen der „Entwicklungs­freundlichen Beziehung nach Dr. Senckel®“. Diese orientiert sich stets an dem differen­zierteren Entwicklungsniveau und befrie­digt die phasenspezifischen Entwicklungs­bedürfnisse. Ihre zentrale Methode ist das wohlwollende gestische, mimische und ver­bale Spiegeln, das die Kommunikation be­lebt, Bestätigung verleiht, die Selbstwahr­nehmung unterstützt, zur Aktivität anregt,

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das Selbstwertgefühl fördert und die Be­ziehung intensiviert. Begleitend eingesetzt werden alle nützlichen heilpädagogischen Methoden.

Bei der konkreten Beziehungsgestaltung setzte die Heilpädagogin folgende Schwer­punkte:▶ Gemeinsame Beschäftigung mit Mate­

rialien, die Bernds kognitivem Niveau entsprechen; dabei war es ihr wichtig, leichte Variationen einzubauen.

▶ Sie stellte ihren eigenen Körper (z.B. Haare) als „Erkundungsobjekt“ zur Ver­fügung.

▶ Sie bot Spiele an, die das Erkennen ei­nes Zusammenhanges beinhalten (z.B. Gegenstände auf unterschiedliche Wei­se verschwinden und wieder auftauchen lassen).

▶ Sie spielte mit ihm „Körperspiele“, die seine Selbstwahrnehmung unterstütz­ten.

▶ Sie ermunterte ihn zu lebenspraktischen Aktivitäten (z.B. den Löffel benutzen) und zur Nachahmung.

▶ Als sich die Objektpermanenz hinrei­chend gebildet hatte und Bernd sicher zwei Aspekte einer Situation berück­sichtigen konnte, bezog sie zur Sprach­anbahnung eindeutige Gesten und Bil­der in die Kommunikation ein.

Wichtig war ihr, die Freude am gemeinsa­men Tun auszudrücken, weil sie die Freude an der Eigeninitiative stärkt.

Zitat aus ihrer Dokumentation:In den ersten Wochen führte ich im Umgang mit Bernd gleich bleibende Abläufe und Ri-tuale ein. So begann jeder unserer Kontak-te morgens mit dem geliebten Ballspiel. Wir sangen zum Händewaschen unser Hände-waschlied, spielten beim Wickeln immer das gleiche Krabbelspiel, und ich bemühte mich um häufige Wiederholungen.

Die Tatsache, dass Bernd in der ersten Woche nicht das Zimmer verließ, hatte inso-fern den Vorteil, dass wir in engem Kontakt standen und so die Möglichkeit hatten, uns gut kennenzulernen. Auch für mich war die-se Situation gut, um Bernd in seinen feinsten Regungen und Handlungen beobachten zu können und zugleich das Spiegeln zu üben, denn ich merkte schnell, dass das Spiegeln in der Gruppe und auch vor anderen Erziehe-rinnen erst mal eine gewisse Überwindung kostete.

Nach einer Woche hatte sich schon etwas verändert. Wenn ich morgens kam und ihn begrüßte, freute er sich und erzählte. Auch die ausgewählte Bezugserzieherin berichte-te, dass er sie morgens anlächelte, wenn er gebracht wurde, die anderen Erzieherinnen

aber nicht. Er konnte also schon sehr bald zwischen seinen Erzieherinnen und den an-deren unterscheiden.

In den nächsten Wochen baute ich in das Spiel mit dem Ball kleine Variationen ein. Ich ließ den Ball von einer Rampe hinunter-rollen, wir untersuchten zusammen, wo der Ball überall reinpasst, wir versteckten den Ball unter einem Tuch. Immer ermutigte ich Bernd mitzumachen, auch mal auszuprobie-ren, den Ball zu suchen. Diese Varianten be-schäftigten uns wochenlang. Bernd ließ sich nicht immer auf meine Vorschläge ein, er vermied oft neue Situationen und wollte zu seinem gewohnten Spiel zurück.

Je mehr sich unsere Bindung aber stabili-sierte, umso eher akzeptierte Bernd eine Ver-änderung. Eine wichtige Rolle spielte in den Spielsituationen immer das Spiegeln.

Nach sechs Wochen fand er den Ball, wenn er vor seinen Augen versteckt wurde, er legte den Ball nach Aufforderung in ein Körbchen oder gab ihn mir in die Hand. Bernd hol-te jetzt auch allein den Ball aus dem Körb-chen, wenn er mit mir spielen wollte. Auch fing er jetzt an, durch Lautieren oder indem er an mir zog, auf sich aufmerksam zu ma-chen. Zu dieser Zeit habe ich auch mit der Gebärdenunterstützten Kommunikation an-gefangen. Ich führte fünf Gebärden ein, die ich dann stets benutzte: „Essen, trinken, ja, nein und Ball.“

Nach zwei Monaten machte Bernd bei allen Ritualliedern die Gebärden mit und klatschte auch im Stuhlkreis bei den bekann-ten Liedern mit. Er reagierte jedoch stark zeitverzögert, sodass das Lied schon fast vor-bei war, wenn er einstieg. Wir einigten uns im Team, das Morgenlied ab sofort zwei Mal zu singen. Beim zweiten Mal gelang es ihm schon besser.

Die vielen Routinen und Wiederholungen im Tages- und Wochenverlauf halfen Bernd, Abläufe zu erkennen, er half jetzt auch beim Anziehen, streckte seine Arme nach oben.

Auch in seiner Sprachentwicklung waren Fortschritte zu beobachten. So konnte man jetzt deutliche Silbenverdoppelungen wahr-nehmen. Außerdem verwendete er die Geste für „Ball“ und „ja“.

Nach drei Monaten erkannte ich die ers-ten deutlichen Anzeichen, dass Bernd die Differenzierungsphase erreichte. Er verließ das Minizimmer und fing an, die anderen Räume zu erkunden. Dabei beschäftigte er sich intensiv mit den unterschiedlichen Bo-denbeschaffenheiten, also Fliesen, Holz, Tep-pich. Er untersuchte sie mit den Händen oder leckte daran. Jetzt begann er auch, sich durch Blickkontakt mit mir rückzuversichern, ob er noch weiter weg kann und ob alles in Ord-nung war. Zugleich wurde er empfänglich für

Guck-Guck-Spiele, folgte mir beim Versteck-spielen in ein anderes Zimmer und such-te mich. Ich passte mein Beziehungsangebot dem emotionalen Stand an und fungierte jetzt vor allem als „Heimatstützpunkt“. Ich ermunterte ihn dazu, sich die neuen Räume zu erobern, und blieb physisch sowie emotio-nal in Reichweite.

Nach vier Monaten fing Bernd an, auf allen vieren zu krabbeln, und entwickelte deutlich mehr Interesse an den Spielsachen, die im Regal stehen. Seine neuen grobmo-torischen Fähigkeiten ermöglichen es ihm jetzt auch, an die oberen Fächer der Regale zu kommen. Man konnte deutlich beobach-ten, dass Bernd sich auf dem Niveau der in-tentionalen Handlungsplanung beschäftig-te. Er fing an, Kisten auszuräumen, räumte die Spielsachen aus dem Regal und zog sich am Regal hoch, um auch die oberen Sachen zu erreichen. Er fing an, die räumlichen Ver-hältnisse mit dem eigenen Körper zu unter-suchen, krabbelte unter Tische, Stühle und auf Podeste. Auch zeigte er jetzt Handlungs-stolz, wenn er etwas geschafft hatte, strahlte und applaudierte sich selbst.

Bernd benutzte jetzt von sich aus die Ge-bärden „Ball, noch mal, essen und bravo“. Ich führte immer mal wieder eine neue Gebärde ein, die für ihn von Bedeutung sein konnte.

Bernd hatte jetzt das Puppenzimmer für sich entdeckt. Er war ansatzweise fähig zur aufgeschobenen Nachahmung, spielte telefo-nieren und tat so, als ob er sich kämmen wür-de. Ich spielte jetzt vermehrt Rollenspiele mit ihm im Puppenzimmer, immer die gleichen Szenen: Ich deckte den Tisch, kochte und kaufte ein. Dazu luden wir uns auch immer ein oder zwei Gleichaltrige ein, die mitspielen durften. Nach einer Woche begann er, mir zu helfen, indem er mir erst auf Bitten, später von alleine, die Teller reichte. Er beobachtete jetzt sehr genau die anderen Kinder im Rol-lenspiel und ahmte deren Spiel nach.

Bernds Beziehungsentwicklung war so weit entwickelt, dass er Besitzansprüche an mich stellte: Als sich ein anderes Mädchen auf meinen Schoß setzte, beschwerte er sich und zog sie herunter, um sich selbst anzukuscheln. Er suchte jetzt auch von sich aus körperliche Nähe, genoss es, auf dem Schoß oder auf dem Arm zu sein, und tankte emotional auf.

Bisher weigerte Bernd sich noch immer, alleine zu essen, obwohl er feinmotorisch sehr gut dazu in der Lage gewesen wäre. Er woll-te immer noch gefüttert werden. Allerdings auch nur noch von mir.

Fünf Monate später hörte ich von Bernd das erste gesprochene Wort. Er antwortete auf eine Frage von mir mit „ja“ und nickte dazu mit dem Kopf. Auffallend war dabei die lange Zeit, die zwischen der Frage und der

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Antwort lag. Ich wollte in Zukunft sein Ant-wortverhalten fördern und die längeren Re-aktionszeiten berücksichtigen.

Zu dieser Zeit war ich mir der vertrauens-vollen Beziehung zu Bernd so sicher, dass ich ihm maßvolle Frustrationen zumuten woll-te. Er war im Krabbeln mittlerweile so sicher und schnell geworden, dass er kleine Strecken alleine zurücklegen konnte. Wir sprachen im Team ab, dass Bernd nach dem Stuhlkreis al-leine in die Garderobe krabbeln sollte, wenn es zum Anziehen ging. Die ersten zwei Tage blieb er im Raum sitzen und wartete ab, ob er nicht doch noch geholt würde. Erst nach eini-gen Aufforderungen und Ermutigungen setz-te er sich in Bewegung. Schon nach ein paar Tagen klappte es sehr gut. Es gab auch immer ein paar ältere Kinder, die neben ihm krab-belten und ihn dadurch motivierten.

Nach sechs Monaten hörte ich nach Rück-sprache mit den Eltern auch auf, ihn zu füt-tern, weil ich erfahren hatte, dass er zu Hau-se jetzt alleine aß. Als ich dann von ihm verlangte, den Löffel selbst in die Hand zu nehmen, beschwerte er sich erst und wartete eine Weile, dann nahm er den Löffel auf und fing an zu essen. Von dem Tag an aß Bernd immer alleine, und es tat ihm sehr gut.

Nach etwa sieben Monaten hatte Bernd den Sprung in die Übungsphase geschafft. Er probierte sich ausdauernd in seinen neu er-worbenen Fähigkeiten und war sichtlich stolz darauf. Er zog sich an einem Podest in den Stand, dabei applaudierte er und strahlte. Seine Hauptbeschäftigung lag jetzt im Grob- und Feinmotorischen. Er krabbelte lange Zeit durch den langen Flur, konnte jetzt alleine die Treppen hochklettern und zog sich jetzt auch im Bettchen immer in den Stand. Ich mach-te ihm zusätzliche Bewegungsangebote mit Rampen, Podesten und einem Krabbeltunnel.

Bernd wurde jetzt von den anderen Kin-dern in der Gruppe immer öfter in Spiele mit einbezogen. Sie turnten gerne gemeinsam mit ihm auf den Podesten.

Nach etwa neun Monaten saß Bernd vor der Schaukel und machte durch Laute auf sich aufmerksam. Als ich ihm Beachtung schenkte, machte er die Gebärde für schau-keln. Auch in anderen Bereichen schaffte er es immer besser, seine Bedürfnisse zu erkennen und durch Gebärden, Mimik oder Gestik zu kommunizieren. So konnte er beim Essen die Gebärde für „noch mal“ oder er reichte mir seinen Teller von alleine, wenn er noch Hun-ger hatte. Genauso zeigte er mit der Gebärde „Schluss“ oder indem er den Kopf schüttelte, dass er satt war oder keine Lust mehr hat-te zu schaukeln. Während des Essens sagte er „essen“ und zwei Mal „heiß“.

Kurze Zeit später aß Bernd zum ersten Mal nicht alles, was auf dem Teller war, son-

dern wählte aus, nämlich den Joghurt ohne die Fruchtstückchen. Auch das Kauen gelang ihm immer besser und er verschluckte sich seltener.

Die Verhaltensänderungen zu Hause, von denen die Mutter nun berichtete, bestätigten Bernds Entwicklung: Er bekundete immer öf-ter seinen Willen, verfolgte seine Mutter und beobachtete sie bei ihren Beschäftigungen. Auch abends ließ er sich nicht mehr ohne weiteres ins Bett bringen, sondern protestier-te und wollte, dass sie bei ihm blieb.

Ein paar Wochen später zeigte Bernd bei der Übergabe morgens deutlich, dass er lieber bei seiner Mama bleiben möchte. Er drückte sich an sie und ließ sie nicht los.

Viele FortschritteBernd überträgt also seine neuen Bezie­hungserfahrungen mit der Heilpädagogin und seine dadurch erworbene Bindung nun auch auf seine Mutter.

Nach zehn Monaten – kurz vor Ende ih­rer Integrationstätigkeit – führte die Heil­pädagogin mit Bernd ein Testverfahren durch, um zu sehen, welche Fortschritte er gemacht hatte.

Dafür verwendete sie das „Befindlich­keitsbezogene Entwicklungsprofil für nor­mal begabte Kinder und Menschen mit Intelligenzminderung“, kurz BEP­KI. Die­ses Instrument erhebt durch Fragen an die Bezugsperson alle wesentlichen Entwick­lungsdimensionen, wobei die Sozio­Emo­tionalität im Zentrum steht, weil sie den stärksten Einfluss auf die Entwicklung al­ler Dimensionen ausübt. Zudem wird die Bedeutung der emotionalen Befindlichkeit für das Verhalten überprüft. Die Auswer­tung ergab, dass Bernd ein durchschnittli­ches Entwicklungsniveau von zwölf bis 18 Monaten erreicht hatte.

Im Hinblick auf die Sozio­Emotiona­lität zeigte sich, dass Bernd die Entwick­lungsaufgabe des ersten halben Lebens­jahrs inzwischen gemeistert hat und sich überwiegend mit den Aufgaben des zweiten Lebensjahres befasst. Die emotionale Be­deutung der Bezugsperson ist deutlich ge­stiegen. So benötigt er jetzt bei schlechter emotionaler Verfassung ihre Zuwendung und sucht aktiv ihre Nähe. Er achtet inzwi­schen auch normalerweise auf ihren emoti­onalen Ausdruck und reagiert passend. Zu­dem hat sich der trianguläre Blickkontakt gefestigt. Spiegeldialoge ereignen sich zwar weiterhin nur in guten Situationen, aber sie werden ergänzt durch einfachste Loslö­sungsspiele. Ein Übergangsobjekt besitzt er nach wie vor nicht.

Auf der Basis der stabilisierten Bezie­hung – die zwar noch nicht als wirklich „si­

cher“ einzuschätzen ist, aber doch deutlich in diese Richtung tendiert – konnte er auch die meisten der dem zweiten Lebensjahr zugeordneten sozio­emotionalen Verhal­tensweisen entwickeln und zeigt sie zumin­dest gelegentlich. Bei guter Verfassung, in guten Situationen probiert er jetzt furchtlos Neues aus und beschäftigt sich 15 bis 30 Mi­nuten aufmerksam, wenn die Bezugsperson schnell erreichbar ist. Zudem zeigt er nun normalerweise Handlungsstolz und freut sich an seinem Körper, ein Zeichen für die gewachsene Vitalität („Sexualität“). Neben der Bedeutung der Bezugsperson hat er, be­günstigt durch den „Übungsphasen­Erfolg“, auch den Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung entdeckt, was zum Auf­brechen des Symbiose­Autonomie­Konflik­tes geführt hat. So beansprucht er nun die Symbiose: Er reagiert eifersüchtig, versucht, die Trennung aktiv zu verhindern, und will, dass die Bezugsperson seine Absichten teilt. Mit diesem Verhalten bekundet er zugleich seinen Anspruch auf Autonomie. Bernd akzeptiert nicht mehr jede Grenzsetzung, sondern weigert sich wütend, oft auch mit einem „Nein um des Neins willen“. Er will jetzt selbst bestimmen, äußert auch gele­gentlich klare Geschmacksvorstellungen. Doch auch eine vertraute Ordnung ist ihm ebenfalls wichtig. So erwartet er wie jedes zweijährige Kind die Einhaltung von Ge­wohnheiten und Ritualen.

Die gewachsene Bindung, die zugleich sein Ich gestärkt hat, hat ihm auch die Aus­einandersetzung mit seiner Erfahrungswelt erleichtert und kognitive Fortschritte un­terstützt. So verfügt er jetzt stabil über die Kompetenzen des ersten Lebensjahres. Das heißt, er hat die Grundlagen der Objektper­manenz erworben, sucht sogar manchmal schon nach Dingen, deren Verschwinden er nicht beobachtete, und kann sicher elemen­tare gedankliche Verbindungen knüpfen. In guter emotionaler Verfassung experi­mentiert er aufmerksam und gebraucht im Blickfeld befindliche Werkzeuge. Er ahmt nun stabil zeitgleich einfache Tätigkeiten nach, in guten Momenten ist auch die auf­geschobene Nachahmung vorhanden. Der Umgang mit inneren Repräsentationen be­deutet eine beachtliche Horizonterweite­rung. Diese zeigt sich räumlich, indem er nun oft besuchte Örtlichkeiten wiederer­kennt, und symbolisch, indem er sicher Dinge auf Abbildungen erkennt.

Im Hinblick auf das Sprachverständnis hat Bernd die Kompetenzen des zweiten Le­bensjahres hinzugewonnen. Er besitzt ein sicheres situatives Sprachverständnis und befolgt in guten Situationen einen einfachen Auftrag.

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Seine eigenen Äußerungen – einzelne klare Gesten und Wörter – entsprechen dem Niveau der Ein­Wort­Sätze. Außerdem be­sitzt er nun die Möglichkeit, seine Absichten durch Handlungen (ziehen, zeigen) zu ver­deutlichen.

Auch in seinem Spiel­ und Freizeitver­halten hat Bernd deutlich aufgeholt. Die Fähigkeiten der ersten beiden Lebensjah­re sind (bis auf das Übergangsobjekt) zu­mindest in guter emotionaler Verfassung alle zu beobachten, hinzu kommen aus dem dritten Lebensjahr – aufgrund der Symbol­funktion möglich – das Betrachten einfa­cher Bilderbücher und der Gebrauch ein­facher Spielgeräte. Hervorzuheben ist, dass er jetzt unter günstigen Bedingungen Par­allelspiele spielt. Die wachsende Bezogen­heit drückt sich somit auch im Spielverhal­ten aus. Außerdem liebt er inzwischen das Destruktionsspiel, was auch als Zeichen ge­stärkter Vitalität zu bewerten ist.

In der Lebenspraxis führte die gewon­nene Autonomie und Aufgeschlossenheit gegenüber der Welt zu einer Stabilisierung der bisherigen Kompetenzen, die er nun si­cher zeigt. Neu ist, dass er – dem zweiten Lebensjahr entsprechend – jetzt normaler­weise mit dem Löffel isst und vertraute All­tagsgegenstände funktionsgerecht benutzt. Unter günstigen Bedingungen zieht er sich auch einfache Kleidungsstücke aus.

FazitBernd, ein geistig behindertes Kind, hat in einem Dreivierteljahr zirka ein Jahr seines Entwicklungsrückstandes aufgeholt. Er hat sich deutlich an seine Bezugsperson gebun­den – wenngleich die Bindungsqualität ver­mutlich noch nicht wirklich „sicher“ ist –, seine Vitalität ist erwacht, er hat an Auto­nomie gewonnen. Dieser Erfolg ist in ers­ter Linie der intensiven Beziehungsarbeit zuzuschreiben. Ohne ein Beziehungsange­bot, das die Merkmale für den Erwerb ei­ner sicheren Bindung verwirklichte, hätte Bernd kein Vertrauen zu sich und der Welt gewonnen. Er wäre „selbstgenügsam“ ge­blieben, hätte sich der Welt nicht geöffnet und seine Diagnose „Autismus­Spektrum­Störung“ hätte sich verfestigt. Doch durch die einfühlsame Beziehung ließ er sich lo­cken, meisterte die ersten phasenspezifi­schen Entwicklungsaufgaben und wandelte seine Selbstbezogenheit in eine „weltoffene Autonomie“. Damit stehen ihm nun die Vo­raussetzungen zur Verfügung, die auf eine günstige Weiterentwicklung hoffen lassen. Um diese zu unterstützen, benötigt Bernd eine Bezugsperson, die den Symbiose­Au­tonomie­Konflikt freundlich­souverän mit ihm durchsteht, damit er das Entwicklungs­ziel der „Autonomie in sozialer Gebunden­heit“ erreicht.

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung der Redaktion aus der

Zeitschrift „behinderte Menschen“, Nr. 6/2014 übernommen.

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Dr. B. Senckel

▶ Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie

▶ Psychotherapeutin – klienten -zentriert nach Rogers (GwG) und methodenübergreifend (BDP), Supervisorin (BDP)

▶ Freiberufliche Dozentin

▶ Begründerin der Entwicklungs-freundlichen Beziehung nach Dr. Senckel®

Autorin der Bücher:

▶ Mit geistig Behinderten leben und arbeiten

▶ Du bist ein weiter Baum. Entwicklungschancen für geistig behinderte Menschen durch Be-ziehung

▶ Wie Kinder sich die Welt er-schließen

▶ Diverse Artikel in Fachzeit-schriften zu unterschiedlichen Themen

Kontakt: [email protected]

Die informative Zeitschrift BEHINDERTE MENSCHEN erscheint mit sechs Aus-gaben jährlich. Sie gilt im deutschsprachigen Raum als eine der anerkanntesten Fachzeitschriften zum Thema Gemeinsames Leben, Lernen und Arbeiten.Alle zwei Monate gibt es eine Ausgabe mit einem bestimmten Schwerpunkt-thema, dazu kommen Reportagen, Kommentare, Buchbesprechungen und Ver-anstaltungstipps.

Interessante Themenhefte

Aus der Ausgabe Nr. 6/2014 Bindung und Vertrauen haben wir den Beitrag „Bernd entdeckt die Welt“ übernommen. Das aktuelle Heft Nr. 1/2015 hat als Schwerpunktthema Autismus neu denken. Heft 2/2014 erschien unter dem Titel Leben und lernen mit Trisomie 21.

Ein Jahresabo kostet 42 Euro (innerhalb Österreichs) und 50 Euro (außerhalb Österreichs). Bereits erschienene Hefte können nachbestellt werden.

Bestellungen: www.behindertemenschen.atTel. 0043 0 316/327936E-Mail [email protected]

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Down syndrome education (DownsEd) ist eine Organisation, die sich weltweit für die Förde-rung von Kindern und jungen Menschen mit Down-Syndrom engagiert. Ursprünglich basiert in Portsmouth, hat sie nun wei-tere Niederlassungen in Groß-britannien und in den USA.

DownsEd hat in den 21 Wochen vor dem Welt-Down- Syndrom-Tag 2015 wöchentlich ein pä-dagogisches Thema auf seiner Website veröffentlicht. In die-sen Beiträgen wurde kurz und knapp ein interessantes Thema mit Bezug auf Kinder mit Down- Syndrom vorgestellt. Die Themen Motivation, Respon-sive Teaching und Autismus haben wir herausgesucht und für diese Ausgabe von Leben mit Down-Syndrom übersetzt.Alle 21 Beiträge finden Sie auf: www.dsinternational.org/en-gb/education21.

Patricia Martinez übersetzte die Artikel zum Thema Motivation und Autismus. Der Beitrag Responsive Teaching wurde von Cora Halder übersetzt.

Frühförderkonzepte zeigen unterschiedliche Ergebnisse: responsive Teaching Frühe Förderangebote für Kinder mit Down-Syndrom, um ihre Entwicklung in den ersten kritischen Jahren zu unterstützen, werden seit den 1970er Jahren emp-fohlen. Dennoch gibt es nur wenige Studien über den Nutzen der unterschiedlichen Frühfördermethoden. Einige wenige Studien suggerieren, dass unterschied-liche Ansätze durchaus sehr verschiedene Ergebnisse aufweisen. Ein Hinweis darauf, dass weitere Untersu-chungen dringend notwendig sind.

erkenntnisse aus der pädagogischen Forschung

In den 1970er Jahren wurde mit der Früh­förderung von Kindern mit Down­Syn­drom begonnen mit als wichtigstem Ziel, die Entwicklung der Kinder anzuregen, zu unterstützen oder zu beschleunigen, aber es gibt bis heute nur wenige Daten über ihre Effektivität. Wohl berichten einige Stu­dien über Vorteile für die Kinder und ihre Familien, aber die meisten dieser Studi­en sind nicht sehr aussagekräftig, es fehl­ten Vergleichsgruppen, sie wurden mit nur wenigen Probanden durchgeführt oder un­tersuchten nur einen bestimmten Entwick­lungsaspekt.

Zwar wird grundsätzlich die Meinung vertreten, dass Frühförderung wichtig ist, aber Fachleute sind sich nicht einig, was ge­nau man Familien empfehlen soll. Dies ist für Eltern und Frühförderanbieter verwir­rend.

Eine Herangehensweise, die sich schein­bar vorteilhaft auswirkt, ist die sogenannte Responsive Intervention.[1] Studien bele­gen, dass Responsive Teaching sich bei Kin­dern mit Down­Syndrom oder mit anderen Lerneinschränkungen positiv auf die Ent­wicklung auswirken kann. [2­5]

Zwei wichtige Aspekte des Responsive Teaching­Modells sind hervorzuheben: Ei­nerseits liegt der Fokus auf den Eltern. Ih­

nen sollen responsive Strategien vermittelt werden, die sie im Spiel und beim Üben mit dem Kind anwenden können. Andererseits ist der Fokus auf die Unterstützung der Kin­der bei der Entwicklung sogenannter „pi­votal behaviours“ gerichtet, entscheidende Lernvoraussetzungen, die es ihnen ermög­lichen, erfolgreich und selbstständig zu ler­nen.Wichtige RT­Strategien für Eltern sind un­ter anderem• Kontingenz – auf die kleinsten Signale,

die vom Kind ausgehen, sofort eingehen• Reziprozität – wechselseitiges Handeln• Affekt – Interaktion soll Freude machen• Anpassung – Anforderungen müssen

Entwicklungsstand und Interessen des Kindes angepasst sein

• nicht direktiv sein – dem Kind folgen, das Kind führt

Wichtige Voraussetzungen für pivotal be­haviours, die die Entwicklung des Kindes positiv beeinflussen, sind unter anderem• Neugier• Erkundungsdrang• Fähigkeit zur gemeinsamen Aufmerk­

samkeit• Imitationsvermögen• Aufmerksamkeit• Ausdauer• Kooperationsbereitschaft

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Das RT­Konzept steht im Gegensatz zu Me­thoden, die das Erreichen bestimmter Zie­le im Fokus haben, wie z.B. das Bauen ei­nes Turms, das Sortieren von Formen, das Benennen von Farben oder das Legen eines Puzzle.

In einer kürzlich in der Türkei durch­geführten Studie wurden über eine Perio­de von sechs Monaten zwei Kindergruppen miteinander verglichen. [5] Die eine Grup­pe wurde mit der Responsive­Teaching­ Methode gefördert, die andere bekam das normale Frühförderangebot. Jeweils 15 Vorschulkinder mit Down­Syndrom zwi­schen zwei und sechs Jahren, willkürlich ausgewählt, nahmen daran mit ihren Müt­tern teil.

Die Kinder, die weiterhin das Standard­Förderangebot bekamen, besuchten das Frühförderzentrum an zwei Tagen pro Wo­che. Dort wurden sie einerseits in der Grup­pe gefördert und hatten jeweils zwei Stun­den Einzelförderung, wobei dann an den Zielen des individuellen Entwicklungsplans gearbeitet wurde. Die Eltern konnten als Beobachter dabei sein, sich jedoch nicht ak­tiv einbringen.

Die andere Gruppe bekam dieses An­gebot genauso, jedoch gab es für diese El­tern und Kinder zusätzlich während der sechs Monate wöchentlich eineinhalb bis zwei Stunden eine individuelle Responsive­ Teaching­Trainingseinheit.

Die Studie untersuchte die Entwicklungs­fortschritte der Kinder und eventuelle Ver­änderungen in ihrem interaktiven Handeln. Es bewertete außerdem, ob sich in der Inter­aktion zwischen Müttern und Kindern et­was verändert hatte. Die Mütter in der RT­Gruppe wurden sensibler, ihre Responsivität steigerte sich, während ihre Direktivität sich verringerte. Bei den Müttern in der Ver­gleichsgruppe gab es keine Veränderungen.

Die Kinder in der RT­Gruppe hatten deutlich mehr Fortschritte beim interakti­ven Handeln gemacht und nahmen aktiver teil als die Kinder in der Vergleichsgrup­pe. Dies stimmte mit der zunehmenden Re­sponsivität der Mütter überein. Sie machten auch bedeutend mehr Fortschritte in ih­rer Sprach­ und sozialen Entwicklung. Bei den Kindern in der RT­Gruppe verbesserte sich der Entwicklungsquotient mit durch­schnittlich 47 Prozent, verglichen mit sie­ben Prozent bei den Kindern in der Ver­gleichsgruppe.

Obwohl dies nur eine kleine Studie ist, weisen die Ergebnisse darauf hin, dass wenn Eltern nach dem Konzept des Re­ sponsive Teaching mit ihrem Kind agieren, dies einen positiven Einfluss auf die Ent­wicklung ihres Kindes haben kann.

Die Autoren deuten an, dass ihre Er­gebnisse die strukturierte und mehr direk­te Art, Kinder mit Down­Syndrom zu för­dern, in Frage stellt. Aber ihre Studie liefert für diese These nicht einen ausschlaggeben­den Beweis. Um die Frage beantworten zu können, braucht es eine Studie, die Respon­sive Teaching mit einer mehr direkten Art der Intervention vergleicht. Vielleicht sind beide Methoden von Vorteil, abhängig von den jeweils pädagogischen Zielen der För­derung. Vielleicht müssen Eltern sowohl responsiv wie direktiv sein, abhängig vom individuellen Förderbedarf ihres Kindes in verschiedenen Lernsituationen und zu un­terschiedlichen Perioden.

Wie können wir uns diese erkenntnisse zunutze machen?

Studien, die im Bereich der Frühförderung durchgeführt werden, sind hilfreich sowohl für Eltern als auch für Fachleute, denn aus den Ergebnissen lässt sich ableiten, wie man Kinder mit Down­Syndrom in ihrer frühen Entwicklung besser unterstützen kann.

Die Forschungsprojekte zu Responsive Teaching haben die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von „pitoval behaviours“ gelenkt – dass man also das Kind dabei unterstützt, wichtige Lernvoraussetzungen zu entwi­ckeln. Es hat deutlich gemacht, wie wich­tig es ist, mit den Eltern zu arbeiten, damit Frühförderung sich möglichst positiv aus­wirkt, und es wurde klar, welchen Einfluss das Verhalten der Eltern auf die Fortschritte des Kindes hat.

Offene Fragen

Weitere Untersuchungen sind notwendig, um:• zu beurteilen, ob die positiven Ergeb­

nisse aus den kleinen RT­Studien, die uns bisher vorliegen, sich in Untersu­chungen mit einer großen Anzahl Kin­der mit Down­Syndrom wiederholen

• zu ermitteln, ob Responsive Teaching ein besserer Ansatz ist als andere För­derkonzepte mit mehr strukturierten, direktiven Methoden oder Verhaltens­techniken.

• herauszufinden, wie individuelle Un­terschiede im Verhalten von Eltern und Kindern die Effektivität von Responsive Teaching beeinflussen

• festzustellen, ob sich RT­Elterntraining langfristig auf die schulischen Leistun­gen des Kindes und auf sein Verhalten auswirkt.

Literatur

1. Autism and Developmental Delays in Young Children: The Responsive Teaching

Curriculum for Parents and Professionals (Mahoney & MacDonald, 2007).

http://www.proedinc.com/customer/ productView.aspx?ID=4028

2. Mahoney G, Perales F, Wiggers B, Bob Herman B. Responsive Teaching:

Early intervention for children with Down syndrome and other disabilities. Down Syndrome

Research and Practice. 2006;11(1);18-28. http://www.down-syndrome.org/perspectives/311/

3. Mahoney, G. & Perales, F. (2008) How relationship focused intervention promotes

developmental learning. Down Syndrome Research and Practice. Advance online

http://www.down-syndrome.org/reviews/2067/

4. Mahoney, G. (2007) Cognitive rehabilitation. In Rondal, J. Therapies and Rehabilitation

in Down syndrome. Pp 90-106. John Wiley & Sons Ltd.

5. Karaaslan, O. & Mahoney, G. (2013) Effectiveness of responsive teaching with

children with Down syndrome. Intellectual and Developmental Disabilities, 51. 458-469.

Weitere Information:

In Leben mit Down-Syndrom Nr. 62, September 2009 brachten wir einen ausführlichen Artikel

zum Thema Responsive Teaching.

http://www.responsiveteaching.org/

responsivitätErziehungsstil; die Bereitschaft von Eltern, auf Interaktions- und Kom-munikationsversuche des Kindes einzugehen.

DirektivitätVerhalten von Lehrern und Eltern im Unterrichts- und Erziehungs-geschehen, das durch häufiges Be-fehlen, Anordnen, Kritisieren und Fragenstellen sowie Irreversibilität der Aussagen gekennzeichnet ist.

(Lexikon der Psychologie)

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Motivation als LernmotorKinder mit Down-Syndrom können genauso motiviert werden wie andere Kinder Motivation ist wichtig für das Lernen. Es wird häufig angenommen, dass Kinder mit Lernbeeinträchtigun-gen weniger motiviert sind als andere Kinder. Neueste Studien deuten darauf hin, dass dies nicht der Fall ist: Kinder mit Down-Syndrom können genauso motiviert sein und werden wie andere Kinder im selben kogni-tiven Entwicklungsstadium.

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erkenntnisse aus der pädagogischen Forschung

Zwar wird vielfach angenommen, dass Kin­der mit Down­Syndrom weniger motiviert und ausdauernd sind als regelentwickelte Kinder, einige Studien deuten jedoch dar­auf hin, dass dies nicht der Fall ist.[1,2]

Eine kürzlich durchgeführte Studie ver­glich 33 Kinder mit Down­Syndrom im Alter von zehn bis 15 Jahren mit 33 regel­entwickelten Kindern in ähnlichem Ent­wicklungsalter und einem ähnlichen Sprach­verständnis (Alter drei bis acht Jahre). Dabei wurde eine Reihe von Aufgaben eingesetzt, die verschiedene Aspekte der Motivati­on untersuchten – Neugier, die Einstellung zu Herausforderungen und Ausdauer bei schwierigen Aufgaben.[1] Die Ergebnisse dieser Studie zeigten bei diesen Aufgaben keine signifikanten Unterschiede zwischen beiden Gruppen – mit anderen Worten: Kinder mit Down­Syndrom waren genau­so motiviert wie regelentwickelte Kinder in einem ähnlichen geistigen Entwicklungssta­dium.

Interessanterweise nahmen an dieser Studie sowohl an Sonderschulen als auch an Regelschulen beschulte Kinder mit Down­Syndrom teil. Die Studie ergab kei­nen Unterschied zwischen beiden Gruppen in Bezug auf ihre Motivation, obwohl Kin­der mit Down­Syndrom in einem norma­len Umfeld größeren Herausforderungen

gegenüberstehen mögen, häufiger Misser­folge erfahren und sich den Unterschieden zwischen ihren Leistungen und Errungen­schaften und denen ihrer Regelmitschüler sicherlich bewusster sind.

Diese Studie zeigte auch, dass Kinder mit Down­Syndrom, die stärker an sozia­len Kontakten interessiert sind, beim The­ma Ausdauer weniger gut abgeschnitten ha­ben als andere Kinder mit Down­Syndrom. Dies liegt vermutlich daran, dass diese Kin­der sich schneller Hilfe von Erwachsenen holen und dadurch stärker von Erwachse­nen abhängig sind. Wenn kein Erwachsener für eine Hilfestellung verfügbar war, gaben sie schneller auf als die anderen Kinder.

Zu guter Letzt ergab die Studie auch, dass Eltern von Kindern mit Down­Syndrom dazu neigten, die Motivation ihrer Kinder als geringer einzustufen als Eltern von Re­gelkindern dies bei ihren Kindern machten. Eine mögliche Erklärung hierfür ist, dass die Eltern von Kindern mit Down­Syndrom die Motivation ihrer Kinder mit der Motivati­on von Kindern in ähnlichem chronologi­schem Alter verglichen (anstatt mit Kindern in einem ähnlichen Entwicklungsstadium).

Eine weitere Studie an jüngeren Kin­dern brachte ähnliche Ergebnisse zutage.[2] Bei dieser Studie wurde die Motivation von 45 Kleinkindern und Vorschülern mit Down­Syndrom mit der von Regelkindern im gleichen geistigen Entwicklungsstadium verglichen. Es konnten keine Unterschiede

zwischen beiden Gruppen festgestellt wer­den. Auch diese Studie deutet darauf hin, dass Eltern von Kindern mit Down­Syn­drom ihre Kinder als weniger motiviert be­werteten als gleichaltrige Regelkinder. Die Studie ergab zudem, dass Eltern dieser jun­gen Kinder mit Down­Syndrom deutlich mehr Anweisungen gaben als die Eltern der Vergleichskinder. Diese Unterstützung, dieses zu schnelle Einschreiten der Eltern, könnte möglicherweise die Eigenmotivati­on der Kinder reduzieren und die Abhän­gigkeit von Erwachsenen fördern.

Eine weitere Studie an vier und sechs Jahre alten Kindern mit Down­Syndrom deutet ebenfalls an, dass mütterliche Wei­sungen eine negative Auswirkung auf die Motivation der Kinder haben können, wäh­rend sich die Unterstützung der Eigenstän­digkeit positiv auswirkt.[3] Die Studie ergab jedoch, dass die Mütter von Kindern mit Down­Syndrom kein anderes Unterstüt­zungsverhalten zeigten oder eine andere Ansprache benutzten als Mütter von nicht­behinderten Kinder mit einem ähnlichen Entwicklungsstand. Hierdurch entsteht ein komplexes Bild: Das mütterliche Unterstüt­zungsverhalten hatte andere Auswirkungen auf die Kinder mit Down­Syndrom.

Eine Längsschnittstudie hat ergeben, dass eine beständige Motivation ein stabi­les Merkmal während der gesamten Kind­heit darstellt und auf die akademischen Leistungen im Leben schließen lässt.[4] In einer Studie mit 25 Kindern mit Down­Syndrom konnten anhand ihrer Ausdau­er mit vier bis sechs Jahren ihre akademi­schen Leistungen (Lesen, Mathe) mit elf bis 15 Jahren bestimmt werden, auch wenn die unterschiedlichen kognitiven Fähigkeiten berücksichtigt wurden.

Wie können wir uns diese erkenntnisse zunutze machen?

Die belegte Tatsache, dass motivationale Verhaltensweisen vom Kleinkind­ und Vor­schulalter bis in die spätere Kindheit stabil bleiben, hat eine erhebliche Bedeutung für Frühförderungsprogramme. Es ist wichtig, dass Eltern, Frühförderer und Lehrer ver­stehen, dass zu viele Weisungen und Unter­stützung durch Erwachsene tatsächlich die Motivation des Kindes schwächen können.

Es ist auch wichtig, dass Eltern und Leh­rern bewusst ist, dass Kinder mit Down­Syndrom im Schulalter in Lernsituationen oder bei der Lösung von Problemen nicht weniger motiviert oder weniger ausdau­ernd sind als andere Kinder auf dem glei­chen kognitiven Entwicklungsstand. Die

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Autismus beim Down-Syndrom ist kein typischer AutismusEine steigende Anzahl von Kindern mit Down-Syndrom wird mit Autismus oder Autismus-Spektrum-Störungen diagnostiziert. Derzeitige Studien untersuchen die Prävalenz und die Merkmale dieser Doppeldiagnosen. Es werden jedoch weitere Studien benötigt, um Autismus und Autismus-Spektrum-Störungen bei Kindern mit Down-Syndrom besser zu verstehen und um wirkungsvolle Wege zu ermitteln, die die Entwicklung und die Förderung dieser Kinder unterstützen.

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kognitive Entwicklung ist eine angemesse­ne Orientierungshilfe für ihre Leistungen, nicht das chronologische Alter.

Eltern und Lehrer müssen Kindern mit Down­Syndrom viel Zeit geben, um eine Aufgabe selbst auszuführen, bevor sie Hil­fe anbieten. Es ist wichtig, dass Kinder mit Down­Syndrom die Erfolge erleben, die sich einstellen, wenn sie etwas selbst gemeistert haben. Erwachsene können den Erfolg un­terstützen, indem sie Aufgaben in kleine, aber machbare Schritte aufteilen.

Offene Fragen

Weitere Untersuchungen sind notwendig, um:• zu verstehen, warum mütterliches

Unter stützungsverhalten unterschied­liche Auswirkungen auf junge Kinder mit Down­Syndrom und Regel kinder hat

• festzustellen, welche interaktionellen Spiel­ und Lehrstrategien für die Ent­wicklung von Motivation und Aus dauer bei Kleinkindern und Vorschülern mit Down­Syndrom am wirkungsvollsten sind

• Orientierungshilfen bzw. Hand­lungsempfehlungen für Eltern von Klein kindern und Vorschülern mit Down­Syndrom für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Strategien zu ent­wickeln

• festzulegen, welche Lehr­ und inter­aktionellen Strategien im Klassenzim­mer Verhaltensweisen zur unabhän gigen Aufgabenbewältigung wirkungsvoll un­terstützen und zu erfolgreichen Lern­ergebnissen führen.

Literatur

1. Gilmore, L & Cuskelly, M. (2011) Observational assessment and maternal reports of motivation in

children and adolescents with Down syndrome. American Journal on Intellectual and

Developmental Disabilities. http://eprints.qut.edu.au/41926/

2. Glenn S, Dayus B, Cunningham CC, Horgan M. Mastery motivation

in children with Down syndrome. Down Syndrome Research and Practice.

2001;7(2);52-59. http://www.down-syndrome.org/reports/114/

3. Gilmore, L., Cuskelly, M., Jobling, A., & Hayes, A. (2009) Maternal support for autonomy:

relationships with persistence for children with Down syndrome and typically developing chil-

dren. Research in Developmental Disabilities, 30, 1023-1033. http://eprints.qut.edu.au/27807/

4. Gilmore, L & Cuskelly, M. (2009) A longitudinal study of motivation and compe-

tence in children with Down syndrome: early childhood to early adolescence. Journal

of Intellectual Disability Research, 53, 484-492.http://eprints.qut.edu.au/27806/

erkenntnisse aus der pädagogischen Forschung

Immer häufiger werden Kinder mit Down­Syndrom zusätzlich mit Autismus oder Au­tismus­Spektrum­Störungen diagnostiziert. Autismus ist eine komplexe Entwicklungs­störung, und die Bandbreite der Symptome und Schwierigkeiten von Kindern mit die­ser Diagnose ist sehr groß. [1,2] Kinder, die das Vollbild des autistischen Syndroms zei­gen, sind im Allgemeinen bei den schwerer betroffenen Personen am Ende der Skala von Autismus­Spektrum­Störungen anzu­siedeln.

Einige kürzlich durchgeführte Studi­en ergaben unterschiedliche Zahlen zu von Autismus betroffenen Kindern mit Down­Syndrom, vermutlich aufgrund der unter­schiedlichen diagnostischen Verfahren und der unterschiedlichen Anzahl von Kindern mit Down­Syndrom in den Studien. Diese Studien haben ergeben, dass ungefähr 16 bis 19 Prozent aller Kinder mit Down­Syndrom eine Autismus­Spektrum­Störung und un­gefähr acht bis neun Prozent Autismus ha­ben, wobei einige Studien höhere Zahlen angeben.[3]

Die Diagnose einer Autismus­Spek­trum­Störung basiert auf Symptomen in drei Bereichen: Beeinträchtigungen beim

Sozialverhalten, sprachliche und kom­munikative Beeinträchtigungen sowie das Vorhandensein von repetitiven Verhal­tensweisen. Die diagnostischen Maßnah­men hierfür sollten nur von erfahrenen Ärzten angewendet werden, die standar­disierte Bewertungswerkzeuge einsetzen. Die Diagnose ist bei Kindern mit geistigen Beeinträchtigungen schwieriger zu stel­len, und es besteht ein deutliches Risiko an falsch positiven Diagnosen – mit anderen Worten: einer Autismus­Diagnose, die gar nicht zutrifft.[4,5]

Zwar besteht kein Zweifel daran, dass Kinder mit Down­Syndrom auch Autis­mus­Spektrum­Störungen haben können,

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es ist jedoch nicht klar, ob das Muster der Symptome, das sie zeigen, dasselbe ist wie bei anderen Kindern mit Autismus­Spek­trum­Störungen. Eine kürzlich in Großbri­tannien durchgeführte Studie mit der bisher größten Anzahl an Kindern mit Down­Syn­drom und Autismus­Spektrum­Störungen (183 Teilnehmer) verdeutlicht dies.[5]

Kinder mit Down­Syndrom und Autis­mus­Spektrum­Störungen zeigten im Be­reich Kommunikation geringere Beein­trächtigung bei Imitation, dem Einsatz von Gebärden und imitativer sozialer Interak­tion als Kinder mit Autismus­Spektrum­Störungen, aber ohne Down­Syndrom. Im Bereich soziale Interaktion zeigten Kinder mit Down­Syndrom und Autismus­Spek­trum­Störungen ebenfalls geringere Be­einträchtigungen in Bezug auf Augenkon­takt, soziales Lächeln, geteilte Freude, Trost bieten, soziale Annäherung sowie bei An­näherungen anderer Kinder. In Bezug auf eingeschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster jedoch gab es nur einen Unterschied. Die Kinder mit einer Doppel­diagnose tendierten eher zu Zwangshand­lungen oder Ritualen als die anderen Kin­der mit Autismus­Spektrum­Störungen. Ansonsten zeigten alle dieselben Verhal­tensweisen wie Kinder mit Autismus.

Einige Kinder mit Down­Syndrom zei­gen zudem Verhaltensweisen, die auf eine Autismus­Spektrum­Störung hindeuten, auch wenn sie gar keine Autismus­Spek­trum­Störung haben. Eine weitere Studie aus Großbritannien ergab zum Beispiel, dass zwanghaftes Verhalten, das Insistie­ren auf gleiche Abläufe und eine Vorlie­be für eine verringerte Anzahl Spiele und Tätigkeiten genauso häufig bei Kindern mit Down­Syndrom ohne Autismus­Spek­trum­Störungen auftraten wie auch bei Kindern mit Down­Syndrom und Autis­

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mus­Spektrum­Störungen.[6] Diese Ver­haltensmerkmale können bei einigen Kin­dern mit Down­Syndrom zu einer falschen Diagnose einer Autismus­Spektrum­Stö­rung führen.

Wenn Kinder mit Down­Syndrom und Autismus­Spektrum­Störung mit Kindern mit Down­Syndrom ohne Autismus­Spekt­rum­Störung verglichen werden, hat die ers­te Gruppe häufig eine stärkere und schwe­rere Entwicklungsverzögerung und zeigt stärkere Verhaltensauffälligkeiten.[3,4]

Wie können wir uns diese erkenntnisse zunutze machen?

Ein besseres Verständnis der Prävalenz und der Merkmale von Autismus­Spektrum­Störungen bei Kindern mit Down­Syndrom hilft Familien und Fachleuten, diese Ent­wicklungsstörung genauer zu diagnostizie­ren und die Unterschiede zwischen Autis­mus bei Kindern mit Down­Syndrom und Autismus bei Regelkindern besser nachzu­vollziehen.

Studien haben ergeben, dass repetitive Verhaltensweisen, das Bevorzugen von glei­chen Abläufen und eine verringerte Anzahl von Präferenzen häufige Verhaltensweisen bei allen Kindern mit Down­Syndrom sind – unabhängig davon, ob sie eine Autismus­Spektrum­Störung haben oder nicht. Des­halb stellen diese Merkmale kein Anzei­chen von Autismus dar.

Einige Studien weisen darauf hin, dass Eltern und Fachleute sich die sozialen Stär­ken der Kinder sowie ihre Stärken in Bezug auf Imitation und Gestik in vollem Umfang zunutze machen sollten, um bereits in frü­hen Jahren die Entwicklung ihrer sozialen Interaktions­ sowie ihrer Kommunikations­fähigkeiten zu unterstützen.

Offene Fragen

Weitere Untersuchungen sind notwendig, um:• die verlässlichsten Verfahren zur Diag­

nostizierung von Autismus bei Kindern mit Down­Syndrom zu ermitteln

• das atypische Symptomprofil bei Kin­dern mit Down­Syndrom und Autis­mus­Spektrum­Störungen weiter zu untersuchen, um bessere und wirkungs­vollere Interventionsmaßnahmen ent­wickeln zu können

• die fortlaufende Entwicklung von Kin­dern mit Down­Syndrom und Autismus besser zu verstehen.

Literatur

1. Hepburn, S. & Fidler, D. (2013) What autism looks like in a child with Down syndrome: the be-

havioural phenotype.  Chapter in M. Froehlke, M. & R. Zaoborek. When Down syndrome and au-tism intersect: a guide to DS-ASD for parents and

professionals. Woodbine House.

2. Buckley, S Autism and Down syndrome (2005) Down Syndrome News and Update 4 (4) 114-120.

http://www.down-syndrome.org/updates/341/updates-341.pdf

3. Warner, G., Moss, J., Smith, P. & Howlin, P. (2014) Autism characteristics and behavioural distur-

bances in ~500 children with Down's syndrome in England and Wales. Autism Research 7, 433-441.

4. DiGuiseppi, C, Hepburn, S, Davis, J, Fidler, D et al (2010) Screening for ASD in children with

Down syndrome: Population prevalence and screening test characteristics. Journal of Develop-

mental & Behavioral Pediatrics, 31(3)181-191

5. Hepburn, S., Philofsky, A., Fidler, D & Rogers, S (2007) Autism symptoms in toddlers with Down

syndrome: a descriptive study. Journal of Applied Research in Intellectual Disabilities, 21 (1) 48-57.

6. Moss, J., Richards, C., Nelson, L. & Oliver, C. (2013) Prevalence of autism spectrum disorder

symptomatology and related behavioural charac-teristics in individuals with Down syndrome.

Autism, 17, 390.

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E rste Monatsfeier in der Waldorfschule. Die Kinder singen, klatschen, tanzen,

ein Lied über die Jahreszeiten, die Monate und all das, was das Jahr bringt. Strahlend steht Lola in der Mitte der Kinder auf der Bühne, die Arme weit ausgebreitet, ihr grü­ner Umhang bläht sich. Sie lächelt sinnlich, ganz bei sich, scheint sich gleichzeitig ihrer Präsenz auf der Bühne aber ganz bewusst. Wie ein Gravitationszentrum. Ein Baum, in­mitten des Waldes ihrer Mitschüler.

Begeistert singt sie mit, kennt alle Tex­te, alle Gebärden, ist Teil dieser Klassenge­meinschaft, die vor uns das Jahr spielt und den Frühling besingt. Ich bin selber über­rascht, sie dort so selbstbewusst und in sich ruhend zu sehen. Vor fünf Minuten hatte ich noch Angst, ob sie überhaupt die Bühne betritt, sich nicht zusammenrollt und ver­weigert, wie so oft bei uns zu Hause. Nichts davon. Greta, meine ältere Tochter, flüstert mir leise zu: „Mama, Lola ist ja richtig gut …“ Die Bühne scheint ihr Element, vor den Augen aller, im Kreis der Kinder, hat sie richtig Spannung – „Bühnenspannung“.

Lange hatte ich mich gefragt, ob das die richtige Schule ist für Lola. Die Karl­Schubert­Schule in Leipzig. Eine kleine in­klusive Waldorfschule im Aufbau, gerade mal fünf Jahre alt. Fünf inklusive Kinder pro Klasse. Zwei Klassenlehrer. Zwei Schul­

assistenten. Beste personelle Vo­raussetzungen, aber keine klas­sischen Förderpädagogen, kein „Frühes Lesen“, kein Förderplan. Nichts von den Förderkonzep­ten, mit denen ich jahrelang mit Lola gearbeitet habe, um sie op­timal auf den Unterricht in einer integrativen Schule vorzubereiten. Dass sie gemeinsam mit anderen Kindern in eine integrative Schu­le gehen soll, das wusste ich schon lange. Aber ob es eine staatliche Schule werden sollte oder eine

freie, eine Waldorfschule, darin war ich mir bis zuletzt sehr unsicher.

Warum ich Lola in eine Waldorfschu-le geben möchte, fragte mich die Leh-rerin beim Aufnahmegespräch in der Schule vor einem guten Jahr. Ich stock­te, war mir selber gar nicht so sicher. Ein Gefühl eigentlich nur. Weil es Lola immer wieder zu Kindern hinzieht, die in die Wal­dorfschule gehen. Weil mir der ganzheitli­che Ansatz gefällt, ein Kind nicht nur in sei­nen kognitiven Fähigkeiten zu fördern und danach zu beurteilen, sondern als ganzen Menschen. Auch seine seelischen Aspekte zu sehen und im Gleichklang von Körper, Geist und Seele zu fördern. Weil in dieser Schule Lola ihre sinnliche Art, ihre Liebe zu Musik, Tanz, Schauspiel, zur Natur, zum Backen und Kochen ausleben kann. Weil hier Dinge, die sie liebt und gut kann, Teil des Unterrichtsalltages sind. Weil das Ler­nen hier am Konkreten beginnt und erst ganz langsam zum Abstrakten fortschreitet. Weil Lola hier zwölf Jahre lang Teil einer Klassengemeinschaft sein kann. Weil ich glaube, dass diese Schule der richtige Ort ist für Lola. Auch wenn ich gar kein überzeug­ter Waldorf­Anhänger bin …

Nach dem Gespräch ärgerte ich mich, dass ich das noch gesagt hatte. Bestimmt nehmen sie uns nicht. Sie wollen nur Eltern,

die voll hinter den Ideen von Rudolf Steiner stehen. Wieder war ich zu ehrlich.

Doch während ich das Aufnahmege­spräch führte, war Lola gemeinsam mit vier anderen Kindern in einem anderen Raum und hatte die Lehrer schon eingenommen von sich. „Lola hat den Märchen ganz ge­bannt zugehört, in sich versunken gemalt. Ein richtiger Zauber lag um sie“, erzählte mir eine Lehrerin ein paar Monate später.

Und Lola bekommt den Schulplatz. Den heiß begehrten!

Schon beim ersten Elterngespräch er­zählen mir die Lehrer, dass Lola als eine der Ersten voll in der Klassengemeinschaft an­gekommen ist. Dass sie schon einige stabile Freundschaften aufgebaut hat und mit gro­ßer Selbstverständlichkeit ihren Platz ge­funden hat. Was lange noch nicht allen Kin­dern so gut gelungen ist.

Auch am Unterricht nimmt sie intensiv teil. Voller Begeisterung und mit großer In­brunst singt sie bei den gemeinsamen Lie­dern mit, kennt fast alle schon auswendig, auch die Reime und Sprüche. Vor allem das gemeinsame rhythmische und melodische Sprechen scheint sie zu faszinieren, etwas, was ich zu Hause gar noch nicht beobach­ten konnte. Vielleicht ist es das gemeinsa­me „Schwingen“ mit der Energie der Klas­se? Etwas, das sie inspiriert und mitreißt. Da hat sie auf jeden Fall schon immer ganz besondere Antennen …

Auch den Märchen und Geschich­ten folgt sie aufmerksam. Lässt sich zwar manchmal ablenken von anderen Kindern, ist aber an den spannenden Stellen wieder ganz da. Was zeigt, dass sie die Stimmung immer wahrnimmt und mit einem Ohr im­mer zuhört. Und ich hatte mir solche Sor­gen gemacht, ob sie dem Unterricht sprach­lich folgen kann.

Sie malt und schreibt sehr lange und konzentriert. So lange, dass ihr die Leh­rer am Ende das Blatt wegnehmen müs­

Lola in der inklusiven Waldorfschule T E x T: A M e L I e M A H L S T e DT

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sen, sie würde von sich aus noch weiterar­beiten (und sehr oft Geschaffenes wieder zerstören) … Und in ihrer Ausdauer und Konzentration hat sie einigen Kindern der Klasse etwas voraus.

Staunend sehe ich in ihren Mal­ und Schreibblöcken ganz neue Fähigkeiten er­wachen. Komplexe Formen, symmetrische Anordnungen, Bilder von Burgen, Riesen und Wäldern und Seiten voller A’s und E’s und ganze Worte, die sie von der Tafel ab­schreibt oder sich selber ausdenkt.

Vor allem die vielen Aktivitäten drau­ßen, die Spaziergänge im Wald, das Tanzen, die Eurythmie und die wilden Sport­ und Leibesübungen haben Lolas Bewegungen viel flüssiger und geschmeidiger gemacht. Sie hüpft, dreht sich im Sprung, rennt wie ein Pferd, in einer ungeahnten Schnel­ligkeit. Wie sie den Gang entlang gerast kommt manchmal … so viel geschmeidiger als noch vor wenigen Monaten.

Auch ihre Sprache ist um so vieles flüssi­ger geworden, sie plappert wie ein Wasser­fall, hat ihren Wortschatz stark erweitert, erzählt mir von ihren Erlebnissen nach der Schule. Voller Begeisterung. Zwar immer noch im Telegrammstil, durch viele „dann“ verbunden, die Verben im Infinitiv ohne Zeitformen. Aber sie will sich mitteilen, er­zählen, und das ist neu.

„Lola spricht Lolisch“, erzählt ein Junge seiner Mutter zu Hause. „Das versteh ich noch nicht so gut“. Ich mag die Vorstellung, dass Lola ihre eigene Sprache haben darf, die die anderen lernen müssen.

Es ist schön zu sehen, wie viele Freunde Lola in der Klasse hat. Ihr bester Freund ist ein kleiner Junge, mit wuscheligem braunem Haar und dunklen tiefen Augen, der am An­fang immer mit seinem Hasen im Arm un­ter dem Tisch kauerte und wegrannte, wenn die Lehrer kamen. Ein Pflegekind mit star­ken Problemen im Bereich der sozio­emo­tionalen Entwicklung. So steht es in seinem Gutachten. Wenn Lola kommt, fliegt er so­fort in ihre Arme. Weil er bei ihr jemanden findet, wo er sich emotional angenommen fühlt? Lola liebt ihn innig und die beiden sind oft unzertrennlich. Leider auch manch­mal im Wegrennen vor den Lehrern … 

Aber auch unter den anderen Kin­dern hat sie mittlerweile viele Freunde und scheint sehr beliebt. Als ich sie neulich an der Schule abholte, standen mehrere Jungs ihrer Klasse noch am Tor und riefen ihr nach: „Tschüss Lola, bis morgen!“ Und sie rannte lachend zurück, schüttelte jedem die Hand und ließ sich tätscheln. Ganz viel Lie­be und Zuneigung waren da zu spüren zwi­schen den wilden Jungs mit dem Flausen im Kopf und Lola, die sie vielleicht auch deswe­

gen so mögen, weil man mit ihr gemeinsam so viel Unsinn machen kann und so wun­derbar vor den Lehrern übers halbe Schul­gelände davonrennen kann. Aber vielleicht auch, weil sie so ehrlich ist, so klar und deutlich ihre Zuneigung zeigt. Sie kennt da keinen Wankelmut. Einmal Freunde, im­mer Freunde.

Dabei war der Weg am Anfang gar nicht so einfach. Fünf inklusive Kinder gehen in Lolas Klasse, insgesamt 25 Kinder. Drei Kinder mit Lern­ bzw. geistiger Behinde­rung, zwei Kinder mit dem Förderschwer­punkt sozio­emotionale Entwicklung. Und am Schuljahresbeginn gab es neben den bei­den Lehrern nur eine einzige Schulassisten­tin. Das Chaos war programmiert.

„Manchmal sind die Jungs so laut, dass die behinderten Kinder gar nichts lernen können“, erzählte mir eine Mitschülerin von Lola morgens im Auto, als wir sie mit in die Schule nahmen.

Erstaunt fragte ich nach und erfuhr, dass die Inklusionskinder alle im hinte­ren Teil des Klassenraumes sitzen. Wo die Jungs manchmal auch Ritter spielen, wenn sie keine Lust mehr auf den Unterricht ha­ben. Und dass das alle Kinder stört, vor al­lem aber die „behinderten“, weil die im hin­teren Raum noch einmal extra etwas erklärt bekommen.

Ich war irritiert! Zum einen über den nicht funktionierenden Unterricht, obwohl ich immer den Eindruck vermittelt bekam, dass alles so gut laufen würde. Besonders aber darüber, wie sie über die „behinder­ten Kinder“ sprach. Als gehörten sie einer anderen Spezies an als der Rest der Klasse. Räumlich separiert, und auch sonst irgend­wie anders als die anderen.

Zwar verwendete ich selber oft den Aus­druck „behinderte Kinder“, „Inklusionskin­der“ oder „I­Kinder“. Und es ließ sich auch nicht wegdiskutieren, dass fünf Kinder der Klasse einen nachgewiesenen Förderbedarf haben. Jeder Erwachsene weiß das. Die Leh­rer. Die Eltern. Und die Kinder eben auch. Aber das so deutlich von einem Kind be­nannt zu wissen, irritierte mich doch.

„Was an Lola ist denn ‚behindert‘ für dich?“, fragte ich sie.

„Na alles. Sie ist eben behindert.“„Was genau denn? Woran merkst du, dass

sie behindert ist und die anderen nicht?“„Sie kann nicht so sprechen wie die ande­

ren. Sie ist einfach – anders. Behindert eben.“

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„Ja, aber jeder Mensch ist doch ein biss­chen anders als der andere. Jeder kann be­stimmte Sachen gut und andere Sachen nicht so gut. Jeder ist in bestimmten Sachen ein bisschen ‚behindert‘“, sagte ich.

Ich hatte das Gefühl, ihrem diffusen Be­griff von Behinderung etwas mehr Inhalt geben zu müssen.

„Ja, das stimmt“, sagt sie.„Lola hat nämlich Down­Syndrom. Und

das macht, dass sie große Probleme beim Sprechen hat. Auch wenn sie sehr gut ver­steht. Aber weißt du, Lola kann sehr gut fühlen, wie es anderen Menschen geht. Viel stärker als andere. Das kann sie besonders GUT.“

„Oh ja, das stimmt. Neulich in der Klas­se, da hat sich ein Mädchen wehgetan und geweint. Da hat Lola sie gestreichelt und ge­tröstet.“

„Genau. Und ich finde, wenn es bei euch in der Klasse Jungs gibt, die den Unterricht stören und als Ritter laut schreiend durch die Klasse rennen, dann finde ich das ‚be­hindert‘. Weil es die anderen stört. Obwohl das Jungs sind, die nennt keiner ‚behindert‘. Aber ihr Verhalten, das ist doof, weil es an­deren schadet. Das kann ich dann auch ‚be­hindert‘ nennen.“

„Oh ja. In der Klasse von meiner Schwes­ter, da ist auch ein Junge mit Down­Syn­drom. Den haben die Jungs am Anfang ganz viel geärgert und auch mal gehauen. Da hat er dann angefangen, auch zu schla­gen. Das hat er sich abgeguckt.“

„Das ist genauso behindert von den Jungs. Das schadet dem Jungen und tut ihm weh. Das ist sehr verletzend. Es ist wichtig, dass man anderen sagt, was einen stört. Je­der ist anders, und man muss nicht jeden mögen. Aber man darf ihn niemals schla­gen. Man sollte jeden so nehmen, wie er ist. Jeder ist besonders auf seine Art.“

„Ja, das finde ich auch total doof von den Jungs.“

An dem Punkt des Gespräches waren wir an der Schule angekommen. Es tat mir leid, mit Lola neben mir über solche The­men gesprochen zu haben. Aber ich spürte, dass das Gespräch wichtig gewesen war für das Mädchen.

Als ich Lola ein paar Tage später an der Schule abholte, war sie ins gemeinsame Spiel mit diesem Mädchen vertieft. Die bei­den wollen sich gar nicht trennen. Schließ­lich überredeten sie mich, dass sie nach der Schule noch mit zu uns nach Hause kom­men durfte.

„Stimmt’s, wir sind alle ein bisschen be­hindert?“, sagte sie im Auto. Ich nickte zu­stimmend. Seitdem hat sie den Begriff „be­hindert“ mir gegenüber nie wieder in den

Mund genommen. Und Lola und sie sind dickste Freunde geworden, sitzen in der Schule nebeneinander und treffen sich auch am Nachmittag. Lola hat sogar schon ein­mal bei ihr übernachtet. Lola sei das „be­liebteste behinderte Kind der ganzen Schu­le“, hat sie neulich ihrer Mutter erzählt.

Doch nicht nur Lola, sondern auch die anderen fünf „Inklusionskinder“ sind mitt­lerweile sehr gut in die Klasse integriert und haben viele Freunde gefunden. Was sicher auch den Pädagogen zu verdanken ist. Beim letzten Elternabend war mir schon aufgefal­len, dass die Lehrer keine Gruppenbezeich­nung mehr für die Inklusionskinder ver­wendeten, sie weder als I­Kinder noch als behinderte Kinder oder als Kinder mit För­derbedarf bezeichneten. Die Lehrerin er­zählte davon, dass sie während des Haupt­unterrichtes (es ist gerade Rechenepoche) jeden Tag mit einer kleinen Gruppe von Kindern in den Nachbarraum gehen, wo sie grundlegendes Mengenverständnis üben. Durch Hüpfen, Abzählen von Gegenstän­den oder inneres Erfassen der Anzahl von Kissen, die sie den Kindern auf den Körper legen. Aber es kommen immer auch ande­re Kinder mit, die eigentlich schon am ab­

strakten Zahlenbegriff arbeiten. Um auch ihnen Übung am Konkreten zu ermögli­chen. Mit keinem Wort aber erwähnte sie, dass es sich um die Gruppe der Inklusions­kinder handelte. Damit das Bild von den „behinderten“ Kindern aus den Köpfen ver­schwindet, weil sie weder sprachlich mehr als solche bezeichnet werden noch als ho­mogene Gruppe auftreten.

Wie machtvoll doch Sprache ist und welch diskriminierende Wirkung bestimm­te Begriffe haben können, ist mir da erst deutlich geworden. Dass, wenn man die Be­griffe weglässt oder anders definiert, in den Köpfen ganz neue Kategorien entstehen können. Wo alle Menschen eben ein biss­chen behindert sind, jeder auf seine Art.

Und der chaotische Unterricht? Seit die Klasse noch einen weiteren Schulassistenten und einen Bundesfreiwilligen bekommen hat (insgesamt also fünf Pädagogen), läuft der Unterricht ganz reibungslos. Und die Jungs spielen nur noch in den Pausen Ritter.

Heute weiß ich, dass diese Schule genau die richtige ist für Lola. Weil hier Inklusion wirklich möglich ist. Mit engagierten Päd­agogen, guten personellen Voraussetzungen und einem ganzheitlichen pädagogischen Konzept. Weil Lola hier die sein darf, die sie ist. Lolisch spricht. Und als Lebensbaum in­mitten ihrer Mitschüler strahlt und sie alle integriert. <

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Nun drehen wir den Globus ein biss­chen nach Westen und sehen uns die Situation in unserer neuen Hei­

mat, den Vereinigten Staaten von Amerika, an. Schon in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 steht, dass alle Menschen gleich sind, obwohl man natürlich vom Wortlaut, Zeitgeist und der damaligen Auslegung her trefflich darüber streiten kann, ob es tat­sächlich genauso gemeint war. Doch der Satz „We hold these truths to be self­evi­dent, that all men are created equal“ steht für mich wesentlich mehr für Gleichbe­rechtigung als Artikel 3 des Grundgeset­zes, da er sich in der Tatsache niederschlägt, dass heute jeder US­Bürger, auch diejeni­gen mit einer geistigen Behinderung, wäh­len oder den Führerschein machen darf.

Noch vor wenigen Monaten hätte ich mich nicht als US­Patriotin beschrieben.

Im Gegenteil! Eher Skeptikerin über ein Volk, dass die Welt retten will. Nachdem ich nun seit über acht Monaten mit mei­ner Familie in Raleigh, der Hauptstadt des US­Südstaates North Carolina, lebe, hat sich meine Sichtweise relativiert; mit einem Mal wird mir klar, worauf die Menschen hier so stolz sind: Hier ist die Wiege eines ganz neuen Selbstverständnisses der Menschheit – und die Voraussetzung, dass Inklusion ge­lebt wird, wo wir in Deutschland noch lange nicht wissen, wie das gehen soll. Hier spricht man auch nicht von Behinderten, sondern von Menschen mit besonderen Bedürfnis­sen. Und wie so oft fangen die großen Un­terschiede im Kleinen an, denn bekanntlich setzt ja der Name ein Zeichen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die USA in der Umsetzung der UN­Behindertenrechtskon­vention Deutschland weit voraus sind.

Schule lebt Inklusion. Jeder kann hier nach seinen Bedürfnissen beschult werden. In vielen Fällen integrativ, aber wenn es nö­tig ist, eben auch in einem besonderen Um­feld. Jeder kann hier einen Schulabschluss machen. Das mag für mich als Gewächs des elitären bayerischen Schulsystems erstmal katastrophal klingen, ist es aber nicht. Denn auch die hellsten Köpfe der USA haben nicht unbedingt eine private High School besuchen müssen, um später zu brillie­ren. Und wer dann seine Ausbildung abge­schlossen hat, bekommt auch auf dem ers­ten Arbeitsmarkt reale Chancen.

Doch so weit sind wir noch lange nicht. Unsere Tochter Thea, gerade fünf Jahre alt geworden, geht seit Anfang dieses Jahres zunächst einmal in die öffentliche Vorschu­le. Und von unserem Weg dorthin möchte ich berichten.

Das Schulsystem beginnt in den USA mit fünf Jahren. Ab diesem Zeitpunkt kön­nen Kinder kostenlos auf die öffentliche Schule gehen. Kinder mit besonderen Be­dürfnissen kommen allerdings schon mit drei Jahren in den Genuss der öffentli­chen Schulbildung. In einem sonderpä­dagogischen Umfeld dient diese Vorschule der Vorbereitung auf die eigentliche Schule ebenso wie der Beurteilung des individuel­len Förderbedarfs. Wenn das Alter zur Ein­schulung erreicht ist, kann einzeln festge­legt werden, ob das Kind im Regellehrplan (Common Core) unterrichtet werden kann oder ob ein abgeänderter Lehrplan nötig wird (Extended Common Core).

In Deutschland hatten wir den Gang durch die Behörden erprobt, als wir nach dem Wechsel von der Krippe in den Regel­kindergarten schnell gemerkt hatten, dass Thea maximal mitläuft, eher untergeht ohne qualifizierte Unterstützung. Also haben wir im Juli 2013, ein halbes Jahr nachdem sie in den Kindergarten gewechselt ist, eine Inte­

Der US-amerikanische Weg der InklusionT E x T: V e r e N A W e I N e r T

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht im Artikel 3: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Doch offensichtlich nimmt man es hier in Deutschland nicht ganz so genau. Oder weshalb dürfen meine Kinder, Tochter Thea und Sohn Johannes, beide mit dem Down-Syndrom geboren, mit 18 Jahren nicht zur Wahl gehen? Oder zumindest versuchen, den Führer-schein zu machen?

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grationskraft für sie beantragt. Wir haben nie eine Integrationskraft bekommen, denn der Prozess dauerte so lange, dass bei Errei­chen des ersten Meilensteins (Bewertung des individuellen Förderbedarfs) schon klar war, dass wir in die USA gehen würden. Das war im März 2014, fast ein Dreivierteljahr nachdem wir den Antrag gestellt hatten.

Nach unserer Ankunft in den USA dau­erte es eine Weile, bis ich verstanden hat­te, wie ich hier öffentliche Förderung bean­tragen kann. Nachdem ich den Prozess in Gang gesetzt hatte, war ich verblüfft, welche Ressourcen hier vorhanden sind und wie effizient und hochprofessionell unser Weg durch die Institutionen ablief. Kaum eine Woche nachdem ich den Antrag bei der Schulbehörde unseres Bezirks gestellt hatte, wurde mir eine „Case Managerin“ zugeteilt, die von Beginn bis zum Abschluss des Pro­zesses für uns verantwortlich war und mei­ne Ansprechpartnerin bei allen Fragen und Problemen. Innerhalb kürzester Zeit orga­nisierte sie unser erstes Treffen, bei dem sie mich über das weitere Vorgehen informier­te und eine Unmenge an Unterlagen ge­meinsam mit mir ausfüllte. Währenddes­sen nutzte die Sonderpädagogin des Teams die Gelegenheit, das eigentliche Beurtei­lungstreffen vorzubereiten, indem sie Thea im Spiel beobachtete und ihr erste Aufga­ben stellte.

Einen Monat später trafen wir dann das gesamte Team, um Theas individuellen För­derungsbedarf zu ermitteln. Eine Logo­pädin, eine Psychologin, eine Physio­ und eine Ergotherapeutin sowie ein Überset­zer waren mit von der Partie. Einen gan­zen Vormittag lang durfte Thea sich in ei­nem großen Spielzimmer austoben und mit den unterschiedlichen Fachleuten Aufga­ben lösen. Der Übersetzer war hinzugezo­gen worden, da das Team Theas intellek­tuelle Entwicklung ohne Sprachbarriere beurteilen wollte. Zusätzlich dazu kamen in den folgenden Wochen zwei der Teammit­glieder in Theas Kindergarten, um sie dort je einen halben Tag lang unbeeinflusst zu beobachten. Und nicht zuletzt wurde auch ich zweimal sehr ausführlich zum generel­len Verhalten und der Entwicklung unserer Tochter interviewt.

Diese ganzen Puzzleteile führte das Team innerhalb von zwei Wochen zusam­men und ganze zwei Monate nach An­tragstellung fand das letzte Treffen zur Bestimmung der endgültigen Leistungs­berechtigung statt. Alle am Bewertungs­verfahren Beteiligten waren zugegen und stellten mir ihre Auswertungen vor. Das Er­gebnis am Ende der Sitzung war, dass Thea trotz ihrer guten intellektuellen Entwick­

lung ein hohes sprachliches Defizit im Eng­lischen aufweist, das es ihr erschwert, mit ihrer neuen Umwelt zu kommunizieren und altersgerecht zu lernen. Die Empfeh­lung des Gremiums war deshab, Thea so­fort aus ihrer aktuellen Kindergartengrup­pe herauszunehmen und in die öffentliche Einrichtung zu geben, wo sie mit Sonderpä­dagogen intensiv an ihrer Eignung für den Kindergarten arbeiten könne.

Eigentlich hätte ich nun geschockt sein müssen. Mein Bestreben bei dem Antrag war gewesen, eine Unterstützung in Theas aktueller Klasse zu bekommen. Sei es ein­mal wöchentlich durch einen Therapeuten oder einige Stunden täglich durch eine In­tegrationskraft. Stattdessen bedeutete diese Entscheidung, dass Thea zunächst in eine reine Sondereinrichtung wechseln würde. Denn erst ab fünf Jahren gibt es auf der öf­fentlichen Schule auch Regelklassen, mit denen die Sonderklasse gemischt werden kann.

Uns war jedoch bewusst, dass wir durch den Umzug in ein Land mit einer fremden Sprache die Karten etwas anders gemischt hatten für unsere Tochter. Der Erwerb des Englischen muss daher das dringlichste Ziel sein, damit Thea im Sommer auf die Schule wechseln und in die Regelklasse integriert werden kann. Wir haben also die zeitweili­ge Sonderschulsituation akzeptiert, weil sie eine wesentlich intensivere sprachliche Be­treuung gewährleistet.

Seit Anfang dieses Jahres besucht Thea nun die Sondervorschulklasse der Durant Road Grundschule. Sie liebt ihre drei Leh­rerinnen, die allesamt einen sonderpäda­gogischen Hintergrund haben. Sie hat sich innerhalb kürzester Zeit in ihr neues Klas­senumfeld eingewöhnt und berichtet stolz, was sie täglich lernt. Schon nach den we­nigen Wochen in der neuen Klasse hat mir ihre Lehrerin versichert, dass Thea im nor­malen Lehrplan eingeschult werden kann.

So gespannt ich nun also diesem neu­en und vor allen Dingen mühelos integra­tiven Abschnitt in unserem amerikanischen Leben entgegensehe, umso größere Bauch­schmerzen habe ich, wie unsere Rückkehr nach Deutschland aussehen wird. In den USA ist alles ganz klar auf Inklusion und In­tegration ausgelegt. Die Institutionen sind vorhanden und müssen nur genutzt werden.

In Deutschland habe ich das Gefühl, dass wir noch nicht einmal in den Kinder­schuhen stecken, was Inklusion betrifft. Vielleicht ist es unser hochkompliziertes Schulsystem, das einer tatsächlichen Inklu­sion im Wege steht? Oder ist es nur unsere Einstellung?

Wenn ich einen Wunsch bei der UN­Fee für Behindertenrecht frei hätte, dann wäre es, dass ich nach unserer Rückkehr in vier Jahren meine beiden besonderen Kinder genauso erfolgreich in das Schulsystem in­tegriert sehen kann, wie ich es hier erlebe. Welcome to Utopia! <

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Thea schreibt in ihr Journal. Jeden Tag üben die Kinder neue oder alte Wörter.

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Sehr geehrter Herr Dr. Brüstle,gerne nehme ich die Anregung von Frau Cora Halder auf, Ihren Beitrag „In-klusion – nicht zu ende gedacht?“ zu kommentieren, der im Januar 2015 in Leben mit Down-Syndrom veröffentlicht wurde. Ich danke Ihnen, dass Sie als Vorstand einer Behinderten einrichtung und Vater eines erwachsenen Sohnes mit Trisomie 21 Ihre kritischen Gedan-ken und Sorgen über die Planung und Umsetzung von Inklu sionsmaßnahmen auf der Grundlage des Übereinkom-mens über die rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Na-tionen (UN-BrK) niedergeschrieben haben.

UN-BrKUm sicher zu sein, dass wir auf gleicher Ba­sis argumentieren, möchte ich drei wichtige Punkte der UN­BRK an den Anfang stellen: Präambel e: Die UN­BRK erkennt, dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Be­hinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträch­tigungen und einstellungs­ sowie um­weltbedingten Barrieren entsteht, die sie an der vollen, wirksamen und gleich­berechtigten gesellschaftlichen Teilha­be hindern. Art. 1: Zweck dieser Konvention ist es, den vollen und gleichberechtigten Ge­nuss aller Menschenrechte und Grund­freiheiten durch alle Menschen mit Be­hinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten sowie die Achtung ihrer immanenten Würde zu fördern. Art. 24, Abs. 1: Die Vertragsstaaten er­kennen das Recht auf Bildung von Men­schen mit Behinderungen an. Um die­ses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleich­heit zu verwirklichen, gewährleisten sie ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen mit dem Ziel, a) die Potenziale der Menschen sowie das Bewusstsein ihrer Würde und ihr

Selbstwertgefühl voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung der Men­schenrechte, der Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken; b) Menschen mit Behinderungen die volle Entfaltung ihrer Persönlichkeit, ih­rer Begabungen und ihrer Kreativität sowie ihrer geistigen und körperlichen Fähigkeiten zu ermöglichen; c) Menschen mit Behinderungen zur wirksamen Teilhabe an einer freien Ge­sellschaft zu befähigen. Art. 24, Abs. 2: Bei der Verwirklichung dieses Rechts sollen die Vertragsstaaten sicherstellen, dass a) Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allge­meinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinde­rungen nicht aufgrund von Behinde­rung vom unentgeltlichen und obligato­rischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausge­schlossen werden; b) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Ge­meinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grund­schulen und weiterführenden Schulen haben; c) angemessene Vorkehrungen für ihre individuellen Bedürfnisse getroffen wer­den; d) Menschen mit Behinderungen inner­halb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern; e) effektive, individuell angepasste Un­terstützungsmaßnahmen in Umgebun­gen zur Verfügung gestellt werden, die eine bestmögliche akademische und soziale Entwicklung erlauben und mit dem Ziel vollständiger Inklusion über­einstimmen.

Umsetzung der UN-BrKIn Deutschland ist diese Konvention seit März 2009 geltendes Recht und muss um­

gesetzt werden. Ich stimme Ihnen zu, dass sie ein in jedem Sinne positiver Meilenstein für die gleichberechtigte Teilhabe von Men­schen mit Behinderungen an allen Berei­chen des gesellschaftlichen Lebens ist, de­ren Umsetzung erhebliche Anstrengungen fordert. Dabei ist auf das Leitbild der Inklu­sion zu achten, das heißt auf die menschen­rechtlich begründete, vollumfängliche und uneingeschränkte Einbeziehung dieser Per­sonen in die Gesellschaft von Anfang an. Speziell verlangt die Inklusion im Sinne der UN­BRK eine barrierefreie Anpassung der Umwelt an die individuellen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderungen.

Die übereinkommens­ und gesetzeskon­forme Umsetzung dieses Inklusionsauftrags führt jedoch zu einem kritischen Punkt Ih­res Beitrags. Es geht um die Notwendigkeit, die traditionell Defekt­orientierten Sicht­weisen auf Behinderung zu verlassen. Die UN­BRK hat das soziale Modell der WHO übernommen und geht von Beeinträch­tigungen im Rahmen der menschlichen Vielfalt aus, die erst dann zur Behinderung werden, wenn Haltungs­ oder Umweltbar­rieren eine gleichberechtigte gesellschaftli­che Teilhabe verhindern. Sie hat die frühere Defekt­Orientierung überwunden und ver­steht Behinderung als eine gesellschaftliche Konstruktion.1

Dieser Paradigmenwechsel ist keines­wegs neu. Schon im Jahr 2000 hat Wolfgang Jantzen, Hochschullehrer für Behinderten­pädagogik an der Universität Bremen, Be­hinderung als gesellschaftliche Konstruk­tion bezeichnet.2 2008 lesen wir in seinem Vortrag „Zur politischen Philosophie der Behinderung“3: „Die UN­BRK setzt an der Überwindung des Defizitdenkens an, in­dem sie einerseits einen Diversity­Ansatz verwendet, der davon ausgeht, dass Beein­trächtigungen Varianten von Vielfalt in der Differenz sind. Andererseits stellt sie da­mit verbunden soziale Problemlagen in den Mittelpunkt, die defizitär sind. Der Begriff des Defizits wird also in die soziale Situa­tion verlagert, die Naturalisierung am In­dividuum als Defizit wird aufgebrochen.4 Dies bedeutet, dass Menschen mit Behin­

Inklusion – nicht zu ende gedacht?In Leben mit Down-Syndrom Nr. 78, Januar 2015 brachten wir einen Beitrag von Herrn Michael Brüstle zum Thema Inklusion. Wir bekamen darauf verschiedene Reaktionen, die wir hier gerne veröffentlichen. Frau Professor Stengel-Rutkowski, die von Herrn Brüstle in seinem Beitrag auch erwähnt wurde, schickte eine ausführliche Antwort.

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derungen nicht von Natur aus anders ge­artete Menschen sind, sondern dass sie so sind wie wir. Ihnen in Geschwisterlichkeit verbunden zu sein ist die Grundlage einer humanen Gesellschaft, die nicht nur Men­schenrechte postuliert, sondern sie auch zi­vilgesellschaftlich praktiziert. Dreimal in der Geschichte der Behindertenpädagogik ist herausgearbeitet worden, dass nicht der sogenannte Defekt der körperlichen Schä­digung die Behinderung hervorbringt, son­dern die dadurch hervorgebrachte sozia­le Isolation. Ich hatte das Glück, einer von den dreien zu sein. Die beiden anderen wa­ren Édouard Séguin (1812–1880) und Lev S. Vygotskij (1896–1934)“.

Wer die UN­BRK aufmerksam liest und ihre Wurzeln kennt, muss zustimmen, dass diese Konvention die Würde behinderter Menschen bedingungslos schützt. Die For­derung nach Inklusion ist klar begründet und zu Ende gedacht. Wo sind nun aber die Menschen, die etwas einführen oder umset­zen wollen, wovon man nur meint, es wäre Inklusion?

Studien über inklusive FördermaßnahmenSie erwähnen hierzu exemplarisch eine Stu­die der Bertelsmann Stiftung5 über inklu­sive Fördermaßnahmen, aus deren Ergeb­nissen Sie keine Handlungsempfehlungen ziehen wollen, weil die Autoren bei ihren Erkenntnissen „nie nach verschiedenen Be­hinderungsformen und deren Schweregra­den“ trennen. Auch diese Begründung hält am Defekt­orientierten Denken fest. Die UN­BRK fordert ja nicht mehr, dass Men­schen mit Beeinträchtigungen kategorisiert werden müssen und danach ihre angepass­te Förderdosis erhalten. Um den vollen und gleichberechtigten Genuss ihrer Menschen­rechte und Grundfreiheiten einschließ­lich der Achtung ihrer Würde zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten, verlangt sie nichts anderes als eine freie, offene Ge­sellschaft und Menschen, die angemessene Vorkehrungen treffen, wenn Unterstützung benötigt wird. Wie könnten Menschen mit Behinderungen sonst zu einer effektiven Teilhabe an der Gesellschaft befähigt wer­den?6

Spezifische Belange von Kindern mit Trisomie 21 Nun zu Ihrer Kritik meiner Einzelfallanaly­sen. Sie bezieht sich vor allem auf den Arti­kel „Kognitive Fähigkeiten und Erziehungs­bedürfnisse von Kindern mit Trisomie 21“, der im September 2014 in Leben mit Down-Syndrom erschienen ist7, und meinen, dass die untersuchten Fallzahlen viel zu ge­

ring sind, als dass hieraus allgemeingülti­ge Rückschlüsse gezogen werden könnten. Dazu ist zu sagen, dass meine Arbeit auf einer Grundgesamtheit von mehr als 1000 Videodokumentationen von Kindern mit genetischen Syndromen beruht8, deren In­teraktionen im Rahmen einer Montessori­therapie ich seit mehr als 25 Jahren beob­achte, um herauszufinden, was diese Kinder können und was sie brauchen.

Als Medizinerin und Humangenetikerin bin ich natürlich im quantitativen Denken geschult, das auf großen Fallzahlen und sta­tistischen Analysen beruht. Diese Metho­dik schien mir jedoch nicht geeignet, die genannten Forschungsfragen nach den Po­tenzialen meiner „Rätselkinder“ zu beant­worten, die mit anderen Voraussetzungen zur Welt kommen als sogenannte „norma­le Kinder“. Was nützen IQ­Studien, deren Normwerte sich auf Kollektive beziehen, zu denen Kinder mit Genveränderungen nicht gehören? Wem hilft die Diagnose „Geistige Behinderung“, die auf niedrigen Lernerwar­tungen beruht und normale Lernorte ver­schließt? Und was ist eine Forschung wert, die etablierte Methoden kritiklos über­nimmt, ohne Vorannahmen offenzulegen und Lernbiographien zu berücksichtigen? Ich verließ das quantitative Denken, wand­te mich dem qualitativen Denken9 zu und entwickelte ein hermeneutisch­interpretati­ves Verfahren zur Analyse von Einzelfallbe­obachtungen anhand von Videodokumen­tationen in Zeitlupe. Die Ergebnisse wiesen früh auf die Notwendigkeit eines Paradig­menwechsels hin10, der von der WHO und der UN­BRK erst einige Jahre später be­schrieben und eingefordert wurde.

Qualitative Forschung profitiert bereits an kleinen Kollektiven von Generalisierung hinsichtlich Regelhaftigkeit, Gemeinsam­keit und kontextspezifischen Aussagen. Sie überprüft generierte Thesen anhand neu­er Einzelfälle. Gegebenenfalls lassen sich Schlüsse ziehen, die der Forschung eine neue Richtung geben. So kann aus nach­prüfbaren kognitiven Leistungen verschie­dener Kinder mit Trisomie 21 auf erwor­bene neuronale Entwicklungsstrukturen geschlossen werden, die solche Leistungen ermöglichen und der Vorannahme einer angeborenen geistigen Behinderung wider­sprechen. Wenn es zutrifft, dass die post­natale Hirnentwicklung von Umwelter­fahrungen induziert wird11, das heißt die Denkfähigkeit der Kinder nicht durch Gene, sondern durch Umwelt determiniert wird, lohnt es sich, diese Umwelt unverzüg­lich in den Blick zu nehmen und eine se­kundäre geistige Behinderung zu verhin­dern.

Eltern und Fachleute entscheiden im Blick auf die Zukunft, welchen Weg sie für die Erziehung und Entwicklungsförderung der Kinder einschlagen wollen und ob sie es wagen, ihre Erwartungen an neuen, posi­tiven Entwicklungsverläufen zu orientieren. Wer unsere Ergebnisse für fragwürdig oder grob fahrlässig hält oder glaubt, dass sie für einen nennenswerten Anteil von Menschen mit Trisomie 21 nicht erreichbar sind, wird sie vermutlich ignorieren.

Neurowissenschaftliche Grundlagen und empfehlungen Es stimmt, dass [natur]wissenschaftliche Artikel über genetische Zusammenhänge von Trisomie 21 und Hirnentwicklung viele Regalmeter der Medizinliteratur füllen. Sie zitieren in Ihrem Beitrag eine aktuelle Ar­beit von HAYDAR und REEVES (2012), die „ein paar Beispiele dafür bringt, wie die Tri­somie 21 spezifischer Gene am Maus­Mo­dell die Entwicklung von Hirnrinde und Kleinhirn betrifft. Wahrscheinlich beein­flussen frühe Veränderungen der Hirnbil­dung die Zelldifferenzierung und Synap­senbildung. Um diese [Zell­]Phänotypen zu verbessern oder zu verhindern sind ver­mutlich frühe Interventionen erforderlich, die bei menschlichen Feten weder tech­nisch noch ethisch möglich sind“. So weit diese Autoren.12

Statt gentechnische Eingriffe in die früh­embryonale Hirnentwicklung zu erwä­gen, empfehlen wir, Kinder mit Trisomie 21 oder anderen Genveränderungen von Anfang an normal zu erziehen. Das funk­tioniert, weil sie Sprache verstehen und nonverbal kommunizieren können. Da sie sich früh Zusammenhänge merken kön­nen, wissen wir, dass ihre Synapsen funk­tionieren. Ein großer Schatz an frühkindli­chen Erfahrungen ist der beste Weg für eine differenzierte postnatale Hirnentwicklung. Gut erzogene Kinder mit Trisomie 21 kom­men heute mit anderen Voraussetzungen in Kindergarten und Schule als früh geförder­te, aber permissiv erzogene Kinder, die tun, was sie wollen, und nicht gelernt haben, ih­ren Bezugspersonen zu folgen.

Ihren klar empfundenen Widerspruch meiner Ergebnisse zum heutigen neuro­biologischen Denken kann ich akzeptieren. Dazu ist jedoch zu sagen, dass die Assozia­tion von geistiger Behinderung mit Triso­mie 21 noch keinen Kausalzusammenhang begründet. Ich bin etwas andere Wege ge­gangen. Nach einer gründlichen Ausein­andersetzung mit Mäusen und Zellphä­notypen fragte ich mich, wie Kinder aus neurobiologischer Sicht denken lernen. Da­bei zeigte sich, dass die biopsychosozialen

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Grundlagen für Lernen und Verstehen bei Kindern mit und ohne Genveränderungen nicht grundsätzlich verschieden sind.

Bedeutung des ParadigmenwechselsAuf neuen Wegen unerwartete Erkennt­nisse zu erhalten, ist wissenschaftstheore­tisch nicht verboten. Warum sollte man sich einem logisch nachvollziehbaren Pa­radigmenwechsel nicht öffnen? Er bringt Vorteile für früher exkludierte Kinder mit Trisomie 21, erleichtert ihre gesellschaft­liche Teilhabe und entspricht auch sonst den Prämissen der UN­BRK. Wieso fällt es manchen Menschen schwer, überholte Vor­annahmen zu revidieren und sich Neuem zu öffnen? Für mich ist es jedenfalls nicht „irrig“ anzunehmen, dass viele oder gar alle Kinder mit Trisomie 21 durch eine norma­le Erziehung und altersentsprechende Lern­erwartungen Lebensgeschichten haben können wie andere Kinder, einschließlich der in Leben mit Down-Syndrom beschrie­benen Vorschulkinder Annette, Karla und Hans, die bei meinen Interaktionsanalysen in Zeitlupe keine intellektuelle Beeinträch­tigung aufwiesen.

Pablo Pineda Ferrer „Für mich war Lernen seit meiner frühes­ten Kindheit nie ein Ziel, ein Zweck, dem ich mein Leben unterordnen musste, ganz im Gegenteil, es war eine Konstante, die mich immer begleitet hat und die mir hilft, zu leben.“ So beginnt der 41­jährige Spa­nier Pablo Pineda Ferrer das erste Kapi­tel seines 2013 erschienenen Buches „He­rausforderung Lernen – Ein Plädoyer für die Vielfalt“. Als erster Europäer mit Tri­somie 21 hat er ein Lehramt­Studium und ein Psychopädagogik­Studium abgeschlos­sen. Er geht damit anderen Menschen vo­raus und macht ihnen Mut. Lebenslanges Lernen bezeichnet er als eine gesamtgesell­schaftliche Herausforderung, bei der die Frage nach den „Defiziten“ des Einzelnen zurücktritt hinter die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels, durch den die Fähig­keiten und Möglichkeiten des Individuums zum Maßstab werden, und nicht mehr sei­ne vermeintlichen Mängel.

Schlussfolgerungen für ein inklusives SchulsystemSie schreiben hierzu: „Das Ziel aller Anstren­gungen muss es sein, dass Behinderte und Nicht­Behinderte ohne Schranken gemein­sam leben, lernen, wohnen und arbeiten können.“ Dem stimme ich zu und fahre fort: Dabei müssen angemessene Vorkehrungen für individuelle Bedürfnisse getroffen und notwendige Unterstützung innerhalb des all­

gemeinen Bildungs­ und Gesellschaftssys­tems gewährt werden, um das Recht auf In­klusion effizient zu verwirklichen.

„Ohne Schranken“ bedeutet aber nicht, dass dieses Recht – z.B. bei bestimmten geis­tigen Behinderungen, bei denen die Lern­fähigkeit unter einer bestimmten Schwel­le liegt, – sofort wieder eingeschränkt wird. Nach meiner Erfahrung gibt es kein geneti­sches Syndrom, bei dem das Recht auf Bil­dung a priori eingeschränkt werden müsste. Es gibt also keinen Grund, diese Kinder wie früher vom obligatorischen Grundschulun­terricht oder vom Besuch weiterführender Schulen auszuschließen.13

Offenbar ist die Fähigkeit, mit dem Kopf zu arbeiten, das heißt selbstständig denken, verstehen und lernen zu können, grundsätz­lich allen Menschen gegeben, die atmen, das heißt in ihrem Körper leben können. Das in­klusive Bildungssystem muss daher für alle Menschen und auf allen Ebenen offen blei­ben. Kinder mit und ohne Genveränderun­gen, die in den ersten Jahren unter gleichen Voraussetzungen lernen konnten, werden in der Schule meist lernzielgleich arbeiten. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, werden sie lernzieldifferent arbeiten. Lern­zieldifferenz ermöglicht auch schnell ler­nenden Kindern mit Hochbegabung, im in­klusiven Schulsystem entsprechend ihren Fähigkeiten zu lernen. So führt gemeinsa­mes Lernen grundsätzlich alle Kinder und Jugendliche in ein möglichst selbstständiges Erwachsenenleben.

Inklusion – nicht zu ende gedacht?Auf der Suche nach Menschen, die Inklu­sion nicht ganz zu Ende gedacht haben, die vielleicht etwas einführen oder umset­zen wollen, wovon sie meinen, es wäre In­klusion, womit sie aber in Wirklichkeit die Würde von Menschen mit Behinderungen beeinträchtigen, stoße ich in den Schluss­kapiteln Ihres Beitrags auf Gedanken, die möglicherweise davon ausgehen, dass nicht alle Kinder inklusiv unter­richtet werden können, weil ihre geis­tigen Fähigkeiten dies nicht immer zu­lassen. – Dazu kann man sagen, dass grundsätzlich jedes Kind in einer rück­sichtsvollen inklusiven Klassengemein­schaft lernen kann. dass nicht alle Kinder durch spezielle Förderung an die Regelschulbefähigung herangeführt werden können und damit nicht jede defizitäre Situation beseitigt werden kann. – Hier kann man sagen, dass grundsätzlich jedes Kind zur Teil­habe am inklusiven Unterricht befähigt werden kann, auch wenn es keine Re­gelschulbefähigung erreicht.

dass sich nicht alle Kinder dem Lern­niveau ihrer Klasse anpassen oder durch begleitende Unterstützung dafür fit ge­macht werden können. – Hier sei dar­auf hingewiesen, dass sich eine inklusive Klassengemeinschaft im gemeinsamen Unterricht unvoreingenommen und ohne Leistungsdruck dem Lernbedürf­nis einzelner Kinder widmen kann. dass einzelne Kinder das Lernniveau ihrer Klasse gefährden, wenn sie trotz begleitender Unterstützungsmaßnah­men nicht Schritt halten können. – Hier ist zu sagen, dass im inklusiven Unterricht grundsätzlich jedes Kind zum Lernniveau seiner Klasse beiträgt und dass gleichberechtigte Teilhabe auch ohne Schritt­halten­Können mög­lich ist. dass einzelne Kinder den Anschluss an den Wissenszuwachs ihrer Klasse verlie­ren. – Ich kann mir vorstellen, dass je­des Kind im inklusiven Unterricht vom Wissenszuwachs seiner Klasse profitiert und dazu beitragen kann. dass einzelne Kinder durch überzoge­ne, nicht angepasste Fördermaßnahmen dauerhaft und weit über ihre intellek­tuellen Fähigkeiten hinaus überfordert werden. – Erfahrungsgemäß ist zu sa­gen, dass Kinder von Fördermaßnah­men in der Regel unterfordert sind. dass Kinder in Unterrichtsklassen, de­ren Inhalte sie nicht mehr verstehen, schnell erkennen, dass sie nur noch Schlusslichter sind. – Zum Glück er­möglicht der Teilhabeanspruch im in­klusiven Unterricht, dass die Lern­inhalte für die Klassengemeinschaft nach unterschiedlichsten Gesichtspunk­ten verständlich gemacht werden. dass Kinder ohne Unterrichtsverständ­nis keine Erfolgserlebnisse haben, auf ihre Arbeit nicht stolz sein können und manchmal Mobbing durch Mitschü­ler erleben. – Hier ist anzumerken, dass durch Gruppen­ und Einzelarbeiten am gemeinsamen Gegenstand Unterrichts­verständnis für alle erreicht werden kann und das soziale Klima konstruk­tiv bleibt.

Inklusion in der Schule, das provoziert Zweifel, Fragen und Antworten. Kreati­ve Pädagogen/­innen und Schulleiter/­in­nen werden gebraucht, die die Vielfalt in ihren Klassen willkommen heißen und als Chance für gemeinsames Lernen begreifen. Sie schlüpfen nicht selten in die Rolle von Mediatoren/­innen, die inklusives Lernen als Gruppenprozess steuern. „Wer nicht mit­kommt, fliegt“ hat dabei ebenso wenig Platz wie exklusive Nachhilfe.

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Inklusion – nicht zu Ende gedacht, kann bedeuten, dass in Gedanken oder in der Wirklichkeit nur Teilaspekte von Inklusi­on akzeptiert und umgesetzt werden, wobei das Schul­ und das Gesellschaftssystem un­verändert bleiben. Inklusion ist aber nicht teilbar und Paradigmenwechsel sind immer radikal.

SchlussbemerkungInklusion – zu Ende gedacht: Hier werden von Visionen angestoßene Prozesse, die zu geltendem Recht wurden, wirklich um­gesetzt. Ich wünsche mir, dass meine For­schung dazu beitragen wird. „Mit ein biss­chen Förderung ist alles möglich“ und „Jedes Kind mit Down­Syndrom zum Hochschulstudium!“ – diese überspitzt for­mulierten Sätze am Ende Ihres Beitrags ent­

halten ebenso falsche wie alberne Botschaf­ten. Ich meine, wir sollten im Interesse der uns anvertrauten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen auf solche diskursiven Karika­turen verzichten und gemeinsam über ihre Zukunft nachdenken. Es gilt, die Ursachen ihrer Behinderungen neu zu verstehen, da­bei redlich miteinander zu kommunizieren und schließlich handelnd die notwendigen Veränderungen herbeizuführen.

Sehr geehrter Herr Dr. Brüstle,ich danke Ihnen, dass Sie mit Ihrem Beitrag Anstoß für diese Erörterungen gegeben ha­ben, und verbleibe mit freundlichen Grü­ßen

Prof. Dr. med. Sabine Stengel-Rutkowski Humangenetikerin

Anmerkungen:

1 UN-BRK, Präambel e

2 Interview mit Wolfgang Jantzen (2000): „Behinderung als soziale Konstruktion.“ Forum

InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF), 13/2

3 Vgl. Wolfgang Jantzen (2008): „Zur politischen Philosophie der Behinderung“.

Vortrag Hamburg, leicht modifiziert. http://www.zedis.uni-hamburg.de/wp-content/uploads/

2008/07/jantzen_politische_philosophie.pdf.

4 Naturalisierung bezeichnet das Erklären der von Menschen geschaffenen und gesellschaftlichen

Ordnungen aus der „Natur“ der Dinge heraus.

5 „Gemeinsam lernen, Inklusion leben“, 2010

6 Art. 24, Abs. 1c. – Die gleiche Argumentations-linie gilt auch für das zweite Beispiel „Inklusion –

Behinderte Kinder lernen an Regelschule besser“ in SPIEGEL Online vom 8. Mai 2014

Weitere Reaktionen auf den Artikel: Inklusion – nicht zu ende gedacht?

I ch habe mit großem Interesse diesen Ar­tikel gelesen. In vielen Punkten gebe ich

dem Verfasser recht, wenn er vor zu gro­ßen Erwartungen warnt. Des Weiteren fin­de ich gut, dass Inklusion nicht verordnet oder aufoktroyiert werden kann. Inklusion ist ein Prozess, der gemeinsam mit allen Be­teiligten vonstatten geht. Daher ist Inklusi­on im bestehenden Schulsystem nur in be­grenzter Form möglich. Das bestehende Schulsystem, vor allem in Bayern, ist ganz stark auf Auslese hin orientiert. Hier Inklu­sion zu verordnen bedeutet von Anfang an, das Scheitern der Inklusion zu planen. Erst im letzten Teil des Artikels geht der Verfas­ser auf dieses Dilemma ein. Wenn Inklusi­on auch nur halbwegs erfolgreich sein will, muss viel grundsätzlicher danach gefragt werden, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen Kinder inklusiv zu be­schulen sind. Schule nur unter dem Leis­tungsaspekt zu definieren, führt dazu, dass Inklusion nicht stattfinden kann. Wenn Schule aber im umfassenden Sinn Lebens­kompetenz vermittelt, wenn Individualisie­rung beim Erwerb von Lebenskompetenz konsequent im Blick behalten wird, eröff­nen sich neue und auch buntere Möglich­keiten.

Mir sei auch eine kritische Anmerkung erlaubt zur Bemerkung über Intelligenz: Der Verfasser vermittelt den Eindruck, In­telligenz sei alles. Etwas überspitzt: Ein Mensch mit Down­Syndrom verhält sich zum Durchschnittsintelligenten wie dieser zu Albert Einstein. Es ist nicht ungewöhn­lich, dass Durchschnittsbegabte höhere Ab­schlüsse erreichen. Ebenso passiert es, dass Hochbegabte im bestehenden Schulsystem versagen. Und jemand, der den dreifachen IQ hat, ist nicht dreimal so intelligent. Legt man diese Kategorien so an, nähert man sich sehr schnell der Leistungsschule, die durch Auslese sortiert. Und diese Denkwei­se ist kontraproduktiv zum inklusiven Ge­danken. Es reduziert sehr schnell das The­ma Inklusion auf Leistung und Behinderte.Ich gebe allerdings dem Verfasser recht, dass Inklusion oft vorschnell sowohl von Eltern als auch von Seiten der Politik ver­ordnet wird, ohne die Betroffenen und de­ren Würde im Blick zu haben. Langfristig bin ich davon überzeugt, dass Sonderbe­

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7 Leben mit Down-Syndrom, Nr. 77/2014, S. 28–41

8 Davon mehr als 500 Kinder mit Trisomie 21

9 Qualitatives Denken ist eine anerkannte Me-thode in Theologie, Rechtswissenschaften, Sozio-logie, Pädagogik und anderen wissenschaftlichen

Disziplinen.

10 Siehe: Sabine Stengel-Rutkowski (2002): „Vom Defekt zur Vielfalt. Ein Beitrag der Humange-netik zu gesellschaftlichen Wandlungsprozessen“.

Zeitschrift für Heilpädagogik, 53, S. 46–55.

11 Shore Rima (1997): What have we learned? In: Rethinking the brain, Families and Work Inst.,

New York

12 Haydar TF and Reeves RH (2012): Trisomy 21 and early brain development. Trends Neurosci.

35, 81–91

13 UN-BRK, Art. 24, Abs. 2a

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Willkommen sein, eben auch, wenn man nicht irgendwelchen Normen entspricht. Willkommen sein, auch wenn die Sonder­schule genau die richtige Schule für das Kind ist. Willkommen sein und nicht stän­dig hinterfragt zu werden, wenn man als El­tern aus vielen guten Gründen genau diese Sonderschule mit ihren liebevollen, erfah­renen und einsatzbereiten Lehrern für sein Kind ausgewählt hat.

Genaugenommen würde ich mir für JE­DES Schulkind in Deutschland diesen Be­treuungsschlüssel, der solche individuelle Förderung und Lernen mit Freude ermög­licht, wünschen!

Auch ich sorge mich, dass im allgemei­nen Inklusionswahn gute, bewährte und verlässliche Strukturen niedergemacht wer­den! Wir müssen mit vielen Augen und Verstand darauf achten, dass unser gutes System nicht letzten Endes ein großer Rück­schritt an Teilhabe und selbstverständlicher Annahme unserer Kinder wird.

Meiner Meinung nach fängt Inklusion in Familien, Vereinen, Kirchengemeinden, ... also eher im privaten Bereich an. Für ei­nen Großteil unserer Kinder ist der behüte­te Rahmen einer Sonderschule oder später Werkstatt nach wie vor berechtigt und ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft.

Claudia Altdörfer

Der Artikel „Inklusion – nicht zu Ende gedacht?“ von Herrn Michael Brüst­

le beschreibt meines Erachtens sehr präzise und umfassend die Problematik der Inklu­sion in der Bundesrepublik.

Vor 19 Jahren wurde unsere Tochter Jo­hanna mit Down­Syndrom geboren; sie hat sich zu einer selbstbewussten, fröhlichen, gesunden jungen Frau entwickelt. Sie nimmt aktiv am „gesellschaftlichen Leben“ teil – in­soweit sie gelassen wird. Sie ist Mitglied in der Jugendfeuerwehr, ebenso in einer The­aterwerkstatt (Teilnehmende mit und ohne Behinderungen) und vor allem gehört sie als gute Trompeterin schon seit Jahren zu einem Orchester der Musikschule.

Ich behaupte, dass sie diese selbstbe­stimmte Teilhabe nicht so unvoreingenom­men und mit ungeteilter Freude ausführen könnte, wenn sie während ihrer Schulzeit in einer Regelschule mit minimalster För­derung all die Jahre als Behinderte in der Leistungsspirale als Allerletzte und eben „anders“ nur wohlwollend geduldet wor­den wäre.

Sie besucht seit fast zwölf Jahren die ört­liche Förderschule – dort ist sie weder weg­ noch ausgeschlossen – und wird gemäß ih­

schulungen verschwinden werden. Ich bin aber auch überzeugt, dass Lehrerinnen und Lehrer viel umfassender und differenzierter ausgebildet sein werden, um der Notwen­digkeit von Anforderungen durch die Kin­der gerecht werden zu können. Um es poin­tiert zu formulieren: Erst wenn jedes Kind in seiner Individualität gesehen und unter­richtet wird, wenn für jedes Kind je indivi­duelle Entwicklungspläne, nicht sonderpä­dagogische Fördermaßnahmen, entwickelt werden, dann werden wir damit anfangen, dass sich die Bedingungen an unseren Kin­dern ausrichten und nicht die Bedingungen die Entwicklung unserer Kinder fest legen. Dies wird ein langer Weg sein und ist si­cherlich nicht in kurzer Zeit zu erreichen.

Bernard Roth

H erzlichen Dank für den Artikel „In­klusion – nicht zu Ende gedacht?“ von

Michael Brüstle in der Ausgabe Nr. 78 / Ja­nuar 2015.Herr Brüstle spricht uns aus dem Herzen! „Es geht um die Würde der behinderten Menschen ...“ – der Artikel bringt es unse­rer Meinung nach auf den Punkt.

Ich lese die Zeitschrift Leben mit Down-Syndrom immer gerne und bin dankbar für manche Anregungen und vor allem auch die geleistete Öffentlichkeitsarbeit. Trotz­dem bleibt bei uns Eltern oft ein fahler Bei­geschmack, wenn sich Artikel über bestens und vor allem „erfolgreich“ geförderte Kin­der und Jugendliche aneinanderreihen. Es ist ja verständlich, dass man der Öffentlich­keit ein möglichst positives Bild unserer Kinder präsentieren möchte.

Ich bin inzwischen definitiv der Mei­nung, dass es unsere Kinder mit in die Wie­ge gelegt bekommen, ob und auf welchem Gebiet sie sich gut fördern lassen und wo nicht. Auch ein gesundes Kind „verküm­mert“ wenn die alters­ und entwicklungs­gerechte Ansprache nicht geleistet wird. Dass wir oft mehr Mühe haben, die mo­mentan richtige Förderung für unsere Kin­der zu erspüren, versteht sich von selbst.

Mit Spaß und Freude das aufzugreifen, was unsere Kinder gerade anspricht, ist von großer Bedeutung. Jedes Kind lernt das am leichtesten, was ihm mit Freude und vor al­lem auch mit Erfolgserlebnissen vermittelt wird.

Bei aller Inklusionsfreude von uns El­tern und Zuständigen dürfen unsere Kin­der und ihre Lebensfreude, einfach Spaß am Leben zu haben, und ihr spürbares Ge­fühl, überall willkommen zu sein, nicht auf der Strecke bleiben.

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rer Fähigkeiten gefördert und eben auch gefordert. Sie hat ohne Druck die gesell­schaftlichen Kulturtechniken erlernt und wird in der Oberstufe auf ein möglichst selbstständiges Leben (auch) außerhalb ei­ner zukünftigen Werkstattarbeit vorberei­tet.

Aufgrund meiner persönlichen Erfah­rungen plädiere ich dafür, dass behinder­te Menschen weiterhin auch das Recht haben sollen – weil unsere Gesellschaft aus­schließlich auf Leistungsorientierung und Gewinnmaximierung basiert –, in Förder­schulen und anderen „beschützenden“ Ein­richtungen lernen und leben zu können. Die „Inklusionseuphorie“ könnte in realis­tischere Bahnen gelenkt werden, wenn die schulischen, die Arbeits­ und Wohneinrich­tungen je nach den individuellen Bedürf­nissen der behinderten Menschen nicht nur erhalten, sondern auch für alle (auch Nicht­behinderte) offenstehen müssten.

Statt Auflösung dieser hart erkämpf­ten, wertvollen Einrichtungen könnte eine „umgekehrte“ Inklusion mit „inkludierten“ Nichtbehinderten die staatlich reglemen­tierte Inklusion wesentlich verbessern und eine Zukunft mit mehr Toleranz und Soli­darität möglich machen.

Ich danke Ihnen für eine mögliche Ver­öffentlichung und verbleibe als langjährige Abonnentinmit herzlichen Grüßen

Ursula Eggerking

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einleitungDie Idee zu diesem inklusiven Ansatz ba­siert auf zwei Äußerungen von akademi­schen Kollegen an Fakultäten, an denen eine erste Gruppe ILI­Studenten studiert hat. Bei beiden Aussagen ist es äußerst auf­schlussreich, dass ihr Schwerpunkt nicht darauf liegt, was die Universität für die Stu­denten getan hat, sondern tatsächlich dar­auf, was die Studenten zur Universität bei­getragen haben.

Professor Palmer für die Musik­Fakul­tät: In Anbetracht der Verwandlung und Ent-wicklung, die P. durchlaufen hat und dass er durch sein Studium viel Selbstbewusstsein gewonnen hat, bestätigt die Universität als Lernumfeld und erinnert alle Menschen an die eigentliche Aufgabe einer universitären Ausbildung.

Dr. Mark Maguire, Anthropologische Fakultät: Für mich ist eine Universität ein Teil der Gesellschaft, und als solches muss sie die Diversität einer Gesellschaft wider-spiegeln. Ich sehe nicht, wie man sich eine Universität vorstellen kann, die keine An-strengungen unternimmt, alle Formen von Verschiedenheit in der Gesellschaft aufzu-nehmen. Wenn Studenten an die Universi-tät kommen und keine Menschen mit un-terschiedlichem Hintergrund, aus anderen Kulturen, mit verschiedenen Fähigkeiten so-wie Menschen treffen, die unterschiedliche Herausforderungen bewältigt haben, dann befassen sie sich nur miteinander, wie in ei-nem verspiegelten Zimmer, und ich glaube nicht, dass wir so die Bürger hervorbringen, die wir uns wünschen.

Der nationale und internationale bildungspolitische KontextUm an den Punkt zu gelangen, an dem die Rechte und Ansprüche dieser Gruppe von Mitbürgern anerkannt und ihnen zuge­billigt wurden, mussten einige maßgebli­

che gesellschaftliche und bildungspolitische Fortschritte erzielt werden. Von Regie­rungsseite aus werden konzertierte Anstren­gungen unternommen, um die Einrichtung eines individualisierten und Gemeinde­ basierten Modells zu erleichtern, im Rah­men dessen Menschen mit Beeinträchtigun­gen Bildung erfahren, wohnen und in ihrer Umgebung arbeiten können, und dies unter Inanspruchnahme derselben Rechte wie je­der andere auch.

Ein Projekt, das Studenten mit intellek­tuellen Beeinträchtigungen eine universitä­re Ausbildung anbietet, ist der nächste lo­gische Schritt hierbei. Dies ist eine direkte Antwort auf bedeutende aktuelle Verän­derungen der politischen Rahmenbedin­gungen der Rechte und Möglichkeiten von Menschen mit intellektuellen Beeinträchti­gungen, sowohl in Irland als auch weltweit.

Vor allem wird die Verpflichtung Irlands in Bezug auf die UN­Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen mit diesen Maßnahmen umgesetzt. Maß­geblich sind hierbei Artikel 19 und 24: Es müssen „wirksame und geeignete Maß­nahmen getroffen werden, um Menschen mit Behinderungen den vollen Genuss die­ses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Ge­meinschaft zu erleichtern, indem die Ver­tragsstaaten unter anderem ein integrati­ves Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslanges Lernen gewährleisten“. Dazu gehört natürlich auch das Recht auf Inklu­sion für Menschen mit intellektuellen Be­einträchtigungen.

Auch wenn diese Rechtsvorschriften noch keine Gesetzeskraft haben, so hat sich Irland diesem Ansatz doch schon verpflich­tet, und die Inklusive Lerninitiative ist ein Schritt hin zur Einhaltung dieser Verpflich­tung. Der Schritt hin zu Individualisierung und vollständiger Integration in die Gesell­

schaft, wie in den New Directions (neue Wege) (2012) des HSE, der Verwaltung des irischen Gesundheitsdiensts, ausgeführt, geben den Weg vor.

Internationale PerspektivenIn Irland und weltweit gibt es mehrere An­sätze zur Umsetzung von inklusivem Ler­nen an Universitäten. Das von NUI May­nooth übernommene Modell basiert auf den Erfahrungen des kanadischen Staats Alberta, in dem das vollständig integrier­te Modell seit 1987 an Universitäten umge­setzt wird. Dies bedeutet, dass Studierende mit intellektuellen Beeinträchtigungen bei der Integration im universitären Bildungs­angebot so umfassend wie möglich unter­stützt werden. Die Unterstützung bezieht sich hierbei auf den Besuch von universitä­ren Bildungsveranstaltungen und die damit verbundenen Seminararbeiten, die Beteili­gung an sozialen Aktivitäten und auf stu­dentische Erwerbstätigkeiten, so wie dies auch bei den Kommilitonen der Fall ist.

Der Ansatz aus Alberta ist aus zwei wichtigen Gründen sehr vorteilhaft: Er basiert auf dem sozialen Modell der Beeinträchtigung, das das menschliche Potenzial von Menschen mit Behinde­rung anerkennt und ihre Unabhängig­keit und Inklusion als Bürger befür­wortet. In Anbetracht der über 25­jährigen Er­fahrungen mit diesem Ansatz ließ sich belegen, dass die akademischen Stan­dards der teilnehmenden Universitäten nicht abnehmen und dass diesem An­satz sowohl von den Studenten als auch den Dozenten zahlreiche Vorteile be­scheinigt werden.

Zurzeit gibt es bedeutende Entwicklungen im US­amerikanischen Bildungssystem: Mehrere 100 inklusive Bildungsprogramme wurden in den letzten Jahren entwickelt.

Inklusives Lernen an der Universität – der integrative Ansatz T E x T : S A r A N N e M AG e N N I S , L AU r A B U r K e U N D J O S e P H I N e F I N N Ü B E R S E T Z U N G : PAT r I C I A M A r T I N e Z

Die Inklusive Lerninitiative (Inclusive Learning Initiative (ILI)) der Nationalen Universität von Irland, Maynooth ist ein spezifischer Zugangsweg, der es Menschen mit geistigen Be-einträchtigungen ermöglicht, genau wie ihre Kommilitonen eine universitäre Ausbildung zu erfahren und an Campusaktivitäten teilzunehmen. Nach einer erfolgreichen Pilot phase von 2011 bis 2014 fing eine zweite Gruppe von Studenten im September 2014 an.

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Das Think College Centre (http://www.thinkcollege.net) in Boston, Massachusetts, steht an der Spitze dieser Entwicklungen und fördert das vollständig integrative Mo­dell als den besten Ansatz. Die US­Regie­rung unterstützt diesen Ansatz nun eben­falls.

Michael Yudin, amtierender stellvertre­tender Leiter des Amts für Sonderpädago­gik und Rehabilitationsleistungen, fasste die Gründe dafür zusammen, weshalb Pro­gramme wie die Inklusive Lerninitiative im höheren Sekundarbereich, einschließlich der Universitäten, in den USA unterstützt und finanziell gefördert werden. In seiner Grundsatzrede bei der Think­College­Kon­ferenz 2014 sagte er:… 30 Jahre Forschung zeigen, dass Studie-rende mit Beeinträchtigungen bessere Leis-tungen bringen, wenn sie ebenfalls hohe Standards erfüllen müssen und Zugang zu allgemeinen Bildungsinhalten erhalten. … Dies beginnt mit Erwartungen. Es beginnt mit der Änderung unserer Erwartungen. Mit der Erzeugung einer Erwartungshaltung. Junge Erwachsene mit geistigen Beeinträch-tigungen, die postsekundäre Abschlüsse er-reichen, werden mit größerer Wahrschein-lichkeit ein unabhängigeres Leben führen, Sparkonten, Girokonten, Kreditkarten ha-ben, Freundschaften pflegen, sie werden sich mit größerer Wahrscheinlichkeit als Ehren-amtliche in ihrem Umfeld engagieren und auch mit größerer Wahrscheinlichkeit den Führerschein machen und wählen können.

NUI Maynooth ist in Irland dafür einzigar­tig aufgestellt und hat sich zum Ziel gesetzt, die Erwartungen für diese zuvor von diesen Angeboten ausgeschlossene Gruppe zu ver­ändern und Unterstützung zu leisten, da­mit diese Vorteile für diese Personengrup­pe und damit für die Gesellschaft verfügbar werden.

Der nationale rahmenDas von Maynooth angenommene Modell ist nicht das einzig umgesetzte Inklusions­modell in Irland. Für Erwachsene mit in­tellektuellen Beeinträchtigungen stehen im ganzen Land verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung, die von vielen Einrichtun­gen in Form von Bildungsprogrammen an­geboten werden, häufig in Zusammenarbeit mit wohltätigen Fachverbänden, die das umsetzen, was in ihrem Kontext und für die jeweiligen Studierenden in ihrer Umgebung funktioniert.

Umstellung und die Auswirkung der FinanzierungsstrukturenDie Finanzierungsstruktur in der Erwach­senen­ und höheren Bildung für Personen mit intellektuellen Beeinträchtigungen ist sehr komplex. Die Zuständigkeiten für die Verantwortung und die finanziellen Mit­tel für Bildungsaktivitäten sowie wesentli­che Unterstützungsmaßnahmen, die eine Teilnahme an diesen Angeboten ermögli­chen, sind zwischen Gesundheits­ und Bil­dungsministerium aufgeteilt. Die aktuel­le Erwartungshaltung geht davon aus, dass Personen mit intellektuellen Beeinträchti­gungen Kurse in Werkstätten anstelle in Re­gelbildungseinrichtungen besuchen. Ihre Bildung ist häufig als paralleler Weg in ge­trennten Einrichtungen oder getrennten Klassen in Regeleinrichtungen konzipiert. Wechsel aus der Regelumgebung heraus in das Parallelangebot sind einfacher möglich als ein Wechsel in eine Regeleinrichtung. Im Allgemeinen werden die Unterschiede noch größer, je weiter der Studierende auf seinem Bildungsweg voranschreitet.

Der strategische Plan der Maynooth- Universität und sein KontextDie Maynooth­Universität kann auf eine ausgezeichnete Erfolgsbilanz bei höheren Bildungsangeboten für Studierende bli­cken, die am Rand der Gesellschaft ste­hen und im Bildungsbereich benachteiligt sind. Der strategische Plan (2014–2017) ba­

siert auf diesem anhaltenden Engagement. Zu unseren Werten gehören das Anerken­nen von „Gleichheit, Inklusivität und sozi­aler Gerechtigkeit“ sowie „Würde, Respekt und Wertschätzung jedes Einzelnen“. Wir erkennen an, dass Wachsamkeit notwendig ist, um sicherzustellen, dass wir uns „für eine facettenreichere Studentenschaft en­gagieren und diese auch fordern müssen, sodass wir Studierende mit verschiedenen Hintergründen, Fähigkeiten, Interessen, Zielen und Bestrebungen bekommen und diesen bei dem Erreichen ihrer Ziele hel­fen bzw. sie darin unterstützen können, ihr vollständiges Potential zu entfalten“.

Wir als Einrichtung haben uns mithil­fe dieses strategischen Plans öffentlich zu diesen Zielen verpflichtet und sind der An­sicht, dass dieses Angebot vor allem im Kontext unserer Werte und Ziele auch auf Studierende mit intellektuellen Beeinträch­tigungen ausgeweitet werden sollte, die ebenfalls Bürger sind, die sich in einer zu­nehmend komplexeren, mannigfaltigen, sich ständig verändernden Welt zurecht­finden müssen: „Wir bieten Studierenden eine herausragende, die beste in Irland ver­fügbare universitäre Ausbildung an, ein Bil­dungsangebot, das für alle Studierenden Herausforderungen darstellt, sie gleichzei­tig aber bei der Entfaltung ihres vollstän­digen Potenzials unterstützt und sie auf Le­ben, Arbeit und Staatsbürgerschaft sowie auch auf eine komplexe, sehr unterschied­

Saranne Magennis and Josephine Finn, 4 February, 2014

NUI Maynooth is uniquely placed in Ireland to change expectations for this previously excluded group and assist bringing these benefits to the individuals and to society.

The National Landscape

This is not the only model in operation and there is a range of opportunities available across the country with numerous institutions providing programmes, often in collaboration with agencies, according to what works in their context and for the particular students in their area. Figure 1 gives an indication of the spread:

Figure 1: Fintan Sheerin and Saranne Magennis Transitions and the impact of funding structures There is a complex funding environment in further and higher education for persons with intellectual disabilities. The responsibilities and the funds for educational activities and the essential support that would enable participation are split between health and education. There is a culture of expectation that persons with intellectual disabilities will attend courses in day services rather than in mainstream educational institutions. Their education is often conceptualized as a parallel path in separate institutions or in separate classes in mainstream institutions. Transitions out of mainstream into the parallel track are more available than transitions into the mainstream. Typically, the differences become more marked as the student progresses. See Figure 2 below.

Inklusives Lernen an der Universität in Irland

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liche und sich ständig verändernde Gesell­schaft vorbereitet“.

Dabei erfüllen wir auch unser Ziel, un­ser Engagement mit allen Beteiligten durch nachhaltige Partnerschaften mit Unterneh­men, Gemeinden, der Bürgergesellschaft und öffentlichen Einrichtungen zu stärken, die für die Inklusive Lerninitiative wesent­lich sind.

Verwirklichung des inklusiven Lernens an der Maynooth-Universität – das Pilot-projekt

2009 haben die National University of Ire­land Maynooth (NUIM) und vier weitere Fachverbände und Organisationen – KARE, St. John of Gods Community Services, Ste­warts Hospital und Camphill – eine Koope­rationsvereinbarung beschlossen, in deren Rahmen Möglichkeiten geschaffen werden sollen, höhere Bildungsangebote für Studie­rende mit intellektuellen Beeinträchtigun­gen inklusiver zu gestalten. Das Ergebnis dieser gemeinsamen Anstrengungen war die Inklusive Lerninitiative (ILI).

Unser Ansatz wurde für eine Dauer von drei Jahren entwickelt, was gleichzei­tig der Zeitdauer der Regelstudiengänge an der Universität entspricht, und begleitend als Studie durchgeführt. Es wurde die be­wusste Entscheidung getroffen, die Initiati­ve in allen Bereichen so nah wie möglich an den Erfahrungen der Studierenden bis zum niedrigsten Abschluss zu orientieren, unab­hängig davon, ob es sich hierbei um Schul­abgänger oder ältere Studierende über 23 handelte. Damit sollte sichergestellt wer­den, dass alle studentischen Erfahrungen unter Einhaltung der Parole „Wie jeder an­dere auch“ geteilt wurden. Gleichzeitig soll­ten die zusätzlichen finanziellen Aufwen­dungen so niedrig wie möglich gehalten werden, indem innerhalb der bestehenden Rahmen und unter Zuhilfenahme der be­stehenden Angebote agiert wurde. Bei der Rekrutierung von Studenten wurden dieje­nigen Studenten ausgewählt, die reif genug waren, um sich im höheren Bildungsumfeld zurechtzufinden. Diese Studenten sind nun alle über 23 Jahre alt.

Obwohl sie als Gasthörer aufgenommen wurden, wurden so weit wie möglich die üblichen Aufnahmeverfahren für die Auf­nahme von Studenten über 23 zugrunde gelegt. Dies funktionierte gut, und derselbe Ansatz wird für weitere Aufnahmerunden vorgeschlagen. Das Umsetzungsschema ist in Tabelle 1 dargestellt.

Von Beginn an war klar, dass der voll­ständig inklusive Ansatz beibehalten wer­den sollte, weshalb die Einrichtung von getrennten Kursen nicht vorgesehen war,

sondern jeder Student sollte mithilfe sei­nes Assistenten (des Facilitator) Kurse und Seminare aus dem Regelangebot von NUI Maynooth auswählen, für die er oder sie sich interessierte. Dies ist ein wesentliches Element der Initiative, sowohl von dem Standpunkt des einzelnen Studenten, der zur Teilnahme an echten Aktivitäten befä­higt wird, als auch in Bezug auf das Regel­werk der Universität, weil der inklusive An­satz natürlich nicht bedeuten darf, dass die Universität von ihrer Ausbildungsqualität gemäß der National Qualifications Frame­work (irisches Bildungssystem) abweichen darf. Zugeständnisse in speziellen Umstän­den dürfen die Qualität der angebotenen Programme nicht beeinträchtigen – welche Leistungen der Einzelne hierbei erbringen muss, ist ein separater Aspekt. In allen Fäl­len lautet die Anweisung bei der Initiative die Einhaltung von bestehenden Regelwer­ken und Protokollen. Lediglich in bestimm­ten Einzelfällen wird eine entsprechende Anpassung erlaubt.

Bei diesen speziellen Umständen wird das Zeugnis basierend auf der Stufe der vom Studenten produzierten Arbeit erstellt und auf der jeweiligen erreichten Stufe des iri­schen Bildungssystem eingruppiert. Diese

Flexibilität stellt einen wesentlichen Vorteil dar, da wir nicht die Erfahrung hatten, vor­ aussagen zu können, an welcher Stelle die Arbeit des Studenten angesiedelt werden kann. In der nächsten Phase wird es basie­rend auf den Erfahrungen aus dem Pilot­projekt möglich sein, einen angemessenen Bereich im irischen Bildungssystem dafür zu bestimmen, obwohl natürlich die Flexi­bilität denjenigen Studenten zugute kommt, die die Erwartungen übertreffen.

Mitgliedschaften für Clubs, Studenten­vereinigungen und Freizeiteinrichtungen stehen allen Studenten zur Verfügung. Für die spezifische Anleitung von Ehrenamtli­chen wurde ein Programm eingerichtet, mit dem die Studenten in allen Aspekten ihres Lebens auf dem Campus unterstützt wer­den sollen. Ein Vollzeit­Assistent (Facilita­tor) arbeitet mit den ehrenamtlichen Kom­militonen und Kollegen und schafft die entsprechenden Bedingungen für eine In­tegration. Das ILI­Projekt wird intern und extern von einem kleinen Managementko­mitee und einem Implementierungs ko­mitee geleitet, an dem auch Mitglieder der Universität und der Partner­Fachverbände und ­Einrichtungen beteiligt sind. k

Verfahrensstufe Wer war beteiligt?

Bewerbung der Initiative und Schulbesuche sowie Besuche in Einrichtungen

Implementationsgruppe und Zulassungs-amt

Bewerbungsprozess (Formulare in leichter Sprache verfügbar)

Implementationsgruppe

Gespräche basierend auf dem Verfahren für Studierende über 23

Zulassungsamt, Implementationsgruppe und kooperierender Fachverband bzw. Einrichtung

Angebot und Annahme (mit Unterstützung bei der Auswahl der Module)

Implementationsgruppe

Aufnahme als Gaststudent – Aussetzung der Studiengebühren

Studentensekretariat und Gebührenamt

Studenten werden in ihren Studiengängen einzeln unterstützt

Assistent (Facilitator) und Fakultäten

Der Assistent koordiniert die ehrenamtliche Unterstützung durch Kommilitonen und Familie

Implementationsgruppe und Assistent

Bewertung und Feedback innerhalb der akademischen Fakultäten

Akademische Fakultäten und Assistent

Benotete Scheine mit Feedback unter Anga-be der erreichten Stufe

Akademische Fakultäten und Assistent

Abschlusszeugnis nach drei Jahren ba-sierend auf benoteten Scheinen und der erreichten Stufe

Akademische Fakultäten, Studentensekreta-riat, Implementationsgruppe

Tabelle 1: Verfahren zur Umsetzung des ILI-Pilotprojekts

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Die StudieDie Mitglieder des Inklusiven Lernteams führten während der Pilotphase eine Stu­die durch, damit Erkenntnisse aus diesem Prozess gewonnen und anderen Bildungs­einrichtungen zur Verfügung gestellt wer­den können. Dies beinhaltete eine Unter­suchung der studentischen Erfahrungen, die Auswirkung des Projekts auf die Uni­versitätskultur und eine Bewertung der auf verschiedenen Stufen des irischen Bil­dungssystems arbeitenden Studenten, die an denselben Bildungsveranstaltungen teil­nahmen. Die akademischen und sozialen Vorteile sowie die Vorteile für die Karrie­re des einzelnen Studenten und die Auswir­kungen auf die universitäre Gemeinde und die Gesellschaft als solche werden zurzeit noch untersucht.

VorteileDie Umsetzung des inklusiven Bildungsan­gebots an der NUI Maynooth bietet Vortei­le, die weit über die Erfahrungen von ein­zelnen Studenten mit Beeinträchtigungen hinausgehen, obwohl diese natürlich auch von großer Bedeutung sind. Die wichtigs­ten Vorteile für die Studenten, die Univer­sität und die Gesellschaft werden nachfol­gend erläutert:

Vorteile für die StudentenDie Studenten werden mit großer Wahr­scheinlichkeit deutlich bessere Karriere­möglichkeiten, gesellschaftliche Auswir­kungen und damit eine deutlich bessere Lebensqualität erreichen. Auf lange Sicht gesehen werden Kosten eingespart, weil Stu­denten mit intellektuellen Beeinträchtigun­gen, die eine höhere Bildung erfahren, mit größerer Wahrscheinlichkeit unabhängi­ger und selbstständiger leben können als die Menschen, die diesen Zugang nicht hatten.

Vorteile für NUI MaynoothDer Beitrag dieser Studenten zum Campus­leben und zum universitären Umfeld darf nicht unterschätzt werden, weil sie eine zu­sätzliche Dimension zu unserer Wertschät­zung von Vielfalt hinzufügen. Dies spiegelt sich auch in den Worten der zwei Fakultäts­leiter zu Beginn dieses Artikels wider. Die Tatsache, dass jeder dieser fünf Studenten jedes Jahr erneut in seiner Fakultät zurück­willkommen geheißen wurde, ist ein Beleg dafür, dass auch Studenten mit einer intel­lektuellen Beeinträchtigung in eine Fakultät passen und ihren eigenen Beitrag dazu leis­ten können.

Das Programm hat zahlreiche Gelegen­heiten für ehrenamtliche Aktivitäten für Studenten von Maynooth geschaffen, die

unsere Mission unterstützen und sich bür­gerschaftlich engagieren wollen. Es bietet zudem eine Lösung für einige Schwierigkei­ten, denen NUI Maynooth gegenübersteht, nämlich der begrenzten Anzahl an leicht verfügbaren ehrenamtlichen Stellen. Durch die Bereitstellung von Ehrenämtern auf dem Campus können die Studenten ihre Zeit für die eigentliche ehrenamtliche Ak­tivität aufwenden, anstatt sie auf dem Weg zu der Stelle und zurück zu verschwenden.

Vorteile für Lehre und LernenDie Hochschullehrer stellten sich den He­rausforderungen, ihre Lehr­ und Bewer­tungsmethoden an den jeweiligen Lernstil und die Fähigkeiten ihrer Studenten anzu­passen. Sie begrüßten diese Herausforde­rung und gingen sehr professionell vor, um ihre Kurse anzupassen und neue und krea­tive Bewertungsmaßstäbe anzusetzen. Ihre Arbeit in diesem Bereich muss entspre­chend gewürdigt werden, weil dies ein wei­terer Beleg für den eigentlichen Fokus auf den Studenten ist, der die Lehrkräfte von NUI Maynooth auszeichnet. Anstatt diese Arbeit als eine Belastung anzusehen, gaben viele Kollegen an, dass sie von dieser Erfah­rung profitiert haben und es ihren Lehr­ und Bewertungsstil in anderen Kontexten bereichert hat.

Vorteile für die GesellschaftVon jeher wurden Menschen mit intellek­tuellen Beeinträchtigungen von der gesell­schaftlichen Teilhabe ausgeschlossen und in parallel stattfindenden Bildungs­ und gesellschaftlichen Kontexten zurückgelas­sen. Das ILI erkennt die Rechte dieser Bür­ger auf Selbstbestimmung ungeachtet ihrer Beeinträchtigung an und würdigt die durch die Unabhängigkeit und Selbstbestim­mung aller Bürger entstehenden Vorteile für die Gesellschaft. In Alberta übersteigen diese Vorteile die messbaren wirtschaftli­chen Auswirkungen. Um es nach Michael Yudin zu sagen: Sie umfassen die persön­lichen Vorteile, die Studenten, ihre Fami­lien und Unterstützer anhand des gestiege­nen Selbstwertgefühls und der Stärkung des Studenten aufgrund seiner Erfahrung und der Chance feststellen, ein Bildungsangebot wie die Geschwister und Freunde durchlau­fen zu können.

Wenn wir akzeptieren, dass die Vortei­le für die Studenten, ihr Umfeld, die Uni­versität, die Wirtschaft und die Gesellschaft für uns ausreichen, um diese Arbeit fort­zusetzen, dann besteht unsere größte He­rausforderung im Erhalt eines Zugangs zu einer nachhaltigen Finanzierung dieses Programms. Für Menschen mit intellektu­

Mark, Teresa und Michael, drei der Studierenden,

die am Pilotprojekt teilnahmen, bei der Graduation

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ellen Beeinträchtigungen stehen finanzielle Mittel für eine sekundäre Ausbildung, eine Tätigkeit in einer Werkstatt und persönli­che Assistenz zur Verfügung, jedoch stehen diese Mittel zurzeit nicht der Universität zur Verfügung, es sei denn, es erfolgt eine Zusammenarbeit mit den Fachverbänden und ­einrichtungen. Die Partnerverbän­de unterstützen das NUI­Maynooth­Pro­gramm ebenfalls großzügig und sind bereit, die Finanzierung hierfür zu unterstützen. Wahrscheinlich führt der Weg hin zu einer Individualisierung unter dem New Direc­tions Programm (neue Wege im Bildungs­system), was die Dinge in der Zukunft ein­facher machen wird.

FinanzierungDer finanzielle Kontext der Inklusiven Lerninitiative ist schwierig, weil die Bereit­stellung von finanziellen Mitteln für intel­lektuelle Beeinträchtigungen in Irland sehr komplex ist. Der Kontext variiert je nach ins­ titutioneller oder nationaler Zuständigkeit. Im Falle des ILI verfolgen wir den Ansatz, dass die Kosten auf einem für uns nach­haltigen Niveau bleiben sollen, anstatt das Projekt auf große, aber zeitlich begrenzte Mittel zu stützen. Unsere Mittel beinhal­ten Beiträge von KARE, St. John of Gods Kildare Services und der Maynooth­Uni­versität selbst, zusammen mit Zuschüssen von der Genio Foundation und dem Callan Institut (St. John of Gods). Ein Teil unse­rer weiteren Arbeit ist die Entwicklung ei­nes Finanzierungsmodells, das Studenten ermöglichen soll, auf derselben Basis wie Regelstudenten an höheren Bildungsange­boten teilzunehmen.

Zusätzlich zu den finanziellen Mitteln haben unsere Partner weitere Beiträge ge­leistet, um die Initiative zu erleichtern. Die­se Beiträge während der Pilotphase be­

inhalteten Zeit der Teammitglieder für unterschiedliche Aktivitäten, was ebenfalls von großer Bedeutung war. Diese Aktivitä­ten waren unter anderem: Entwicklung der Partnerschaft Erforschung des Modells Rekrutierung und Auswahl von Team­mitgliedern und Studenten Entwicklung der Systeme Einführung und Anleitung der studenti­schen Mentoren Beschaffung von finanziellen Mitteln (Bids to Genio, SJoG, Lotterieeinnah­men, Diskussion: NDA, HSE und NCSE) Forschung und Evaluierung des Projekts Veranstaltungen

Die Universität hat zeitliche Beiträge direkt geleistet, indem ihre Lehrkräfte und Ange­hörigen an der Einrichtung und dem Ma­nagement der Entwicklung dieser Initiati­ve während der Pilotphase beteiligt waren. Lehrkräfte in den Fakultäten haben die Stu­denten aufgenommen und die administra­tiven Stellen haben ebenfalls ihre Zeit bei­getragen, indem sie das Lernen und die Teilnahme dieser Studenten unterstützt ha­ben. Durch den Einsatz von bestehenden Protokollen und Mechanismen blieben die Kosten in etwa im Rahmen des Kostenauf­wands für Regelstudenten. Kollegen von KARE und St. John of God Services haben uns ebenfalls mit Schulungen unterstützt und die Initiative mit ihrer spezifischen professionellen Erfahrung mitgetragen.

Der zeitliche Aufwand für unser Pro­jekt war sehr hoch, vor allem zu Beginn der Initiative. Diese Kosten sanken, je wei­ter das Projekt fortschritt. Zum Beispiel mussten die Sitzungen des Management­komitees zu Beginn des Projekts wöchent­lich stattfinden, später konnten sie einmal im Monat anberaumt werden, da die Studi­

enassistentin (Facilitator) ihre Rolle einge­nommen hat und nun selbstständig tätig ist. Gleichermaßen ist der Zeitaufwand des Im­plementierungskomitees zurückgegangen, weil das Modell nun allen Beteiligten ver­traut ist und gut eingeführt wurde.

SchlusswortZum Abschluss dieses Artikel erscheint es angemessen, einige Aussagen von den wichtigsten Menschen bei dem gesamten Projekt einfließen zu lassen – den Studen­ten. Folgendes haben zwei unserer Studen­ten gesagt:

Ich habe mich stark verändert, als ich an-gefangen habe, in Maynooth zu studieren. Ich wurde nicht ausgeschlossen, ich wollte alle Helfer kennenlernen, ich wollte mit Lau-ra arbeiten, ich wollte mit den Dozenten ar-beiten, um meine Ziele zu erreichen, und ich freue mich auf mein weiteres Leben. Es geht darum, nach vorne zu blicken ... und andere Dinge hinter mir zu lassen. Ich lerne andere Menschen kennen, und alle hier im College, und das ist wichtig. Das ist ein völlig anderes Leben für mich.

Ich dachte zuerst, dass ich hierher kom-men würde und mit den anderen in einen separaten Kurs gesteckt würde, nur wir fünf Studenten, und dass wir dort bleiben müss-ten. Ich dachte, das wären einfach solche Kurse, Gruppenkurse, aber ich bin froh, dass es so nicht war, weil ich sonst nicht so herum-gekommen wäre, das College nicht gesehen hätte und keine neuen Leute kennengelernt hätte. Ich wäre ansonsten immer nur mit denselben Leuten zusammengewesen. So hat man mehr Freiheit, man wird mehr wie ein Erwachsener behandelt, und man darf sa-gen, was man in der Schule nicht sagen durf-te. In der Schule war es ganz anders, hier hat man viel mehr Freiheiten. <

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Die drei Referentinnen, die an der Tagung Bildung in Nürnberg das Konzept des inklusiven Studierens an der Maynooth University vorstellten (von links): Josephine W. Finn, Head of Department of Adult and Community EducationLaura Burke, Facilitator in the Inclusive Learning Initiative, und Saranne Magennis, Director of the Higher Education Policy Unit

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Lebensgeschichten – Ein schwieriges wie auch spannendes Terrain zugleichT E x T: D I e T e r F I S C H e r

Wer es verstehen kann, der verstehe es.Wer aber nicht, der lasse es ungelästertUnd ungetadelt.Dem habe ich nichts geschrieben.Ich habe für mich geschrieben.

Jakob BÖHME

„Biografiearbeit“ gehört inzwischen zu den Standardverfahren nahezu jeder sozial ori­entierten Arbeit – unabhängig von Behin­derung, Krankheit oder Alter. Doch bei al­lem, was einem schier selbstverständlich erscheint, lohnt es sich, wieder einmal ge­nauer hinzusehen, manchmal sogar von vorne zu beginnen, um nicht in Routine zu versinken und dabei dann am Ende das Wesentliche zu verfehlen. Das erneut zu be­leuchten, versucht der sich anschließende Beitrag in aller Bescheidenheit.

Zum Begriff „Lebens-Geschichte“

„Lebensgeschichte“ ist ein Sammelbegriff. Um den Erzählenden gerecht zu werden, gilt es zwischen Lerngeschichten, Liebes­geschichten, Glaubens­ oder auch Kran­kengeschichten zu unterscheiden. Immer geht es um Bedeutungen und keineswegs nur um diagnostische Auskünfte oder Hin­weise.

„Leben“ als Inhalt hat relativ spät in die (Heil)Pädagogik Eingang gefunden. Wir sprechen heute mit großer Selbstverständ­lichkeit von Lebenskunst wie auch von Le­bensphilosophie, ohne sich an den Weg zu erinnern, den der Begriff „Leben“ in der Pädagogik genommen hat. Für sie war es nicht einfach, sich von einem übergeord­neten Wertekanon wie auch von idealen Positionen als Zielsetzung pädagogischen Handelns zu verabschieden, wie noch bei Eduard Spranger in den zwanziger Jahren zu finden. Hans Thomae sprach in seinem Grundlagenwerk „Persönlichkeit – eine dy­namische Interpretation“ (1955) vom „Wer­den der Person“ und lenkte den Blick auf die Person als eigenständige, unverwech­selbare und dynamische Instanz. Doch bald folgte sein zweites Werk mit dem Titel „Das Individuum und seine Welt“ (1968). Dar­in nahm er die Welt als Partner des Men­schen in den Blick. Mit ihr hat sich der

Mensch auseinanderzusetzen, sodass er dieser gegenüber als Person auch bestehen kann. Die Welt ist zwar für jeden gleich, aber nicht jedem in gleicher Weise verfüg­bar oder zugänglich. Viele Jahre später war Manfred Breitinger und mir wichtig, Ab­stand vom einseitigen Begriff der Förde­rung vor allem (geistig schwer) behinder­ter Menschen zu nehmen. Daher betitelten wir unser Buch „Intensivbehinderte ler­nen leben“ (1981). Leben ist nie nur etwas, was man getan, erlebt oder was sich ereig­net hat. Immer sucht es nach Fortsetzung über die Gegenwart hinaus. Leben als Er­eignis steht in seiner Komplexität für Fülle und Herbheit zugleich. Das Leben selbst ist einer schier unendlichen Entwicklung un­terworfen, nicht nur der Mensch auf seiner Lebensreise.

Das „Verstehen von Lebensgeschichten“ bzw. die Biografiearbeit aus heilpädagogi­scher Sicht ist ohne aufmerksame Wahr­nehmung und Würdigung beider Partner nicht denkbar – jenen also, die Verstehen wagen wollen, aber auch jenen, die aus ei­genem Antrieb erzählen. Der gleiche Re­ spekt ist dem gelebten Leben zu zollen.

Lebens-Lauf, Lebens-Weg, Lebens-Geschichte

Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen Lebensweg, den eine Person nimmt, und der eigentlichen Lebensgeschichte. Lebens­wege entstehen wie nahezu alle Wege durch Gehen. Er beginnt mit der Geburt und fährt mit jenen bekannten Stationen fort, die für die meisten Menschen gelten: bei behin­derten Kindern die Frühförderung, dann der Eintritt in den Kindergarten, der Über­tritt in die Schule, der Beginn des Arbeits­lebens, das Ausscheiden aus dem Beruf und schließlich die letzte Lebensphase. Oft mi­schen sich noch Krankenhausaufenthalte oder begleitende therapeutische Maßnah­men darunter. Sicher gibt es bereits hier in­dividuell bedingte Ausformungen, die dann schon den Übergang zur eigentlichen Le­bensgeschichte signalisieren.

Maßgeblich bleibt das soziale Umfeld, in dem ein Kind aufwächst. Entscheidend ist, wie man dort mit Behinderung oder Krank­heit umgeht, welche Anregungen ihm sei­

tens der Familie zuteil werden, aber auch welche Anlagen diesem Kind von Geburt an mitgegeben sind und wie sich seine Ent­wicklung im Laufe seines Lebens vollzieht. Solche Rahmenbedingungen sind im Kon­text einer Anamnese aufzulisten, aber auch vom Erzählenden selbst zu deuten und zu bewerten.

Lebensgeschichten sind jedoch etwas anderes. Sie gelten grundsätzlich als nicht von außen her abfragbar; vielmehr sind sie „narrative Erzeugnisse“ des einzelnen Men­schen. Lebensgeschichten entstehen erst durch das individuelle Erzählen. Zudem unterscheidet H.G. Petzold „narrative, his­torische und ästhetische Wahrheiten“.

Das erzählen

„Narrative Wahrheiten“ zu erzählen je­doch vermag nur jener, der etwas erlebt hat, sich zu erinnern versteht und über die da­für notwendigen Wörter verfügt. Ob und inwieweit ein Mensch von sich, seinem Er­leben und seinen Erfahrungen, seinen Ein­schätzungen und seinem Befinden, seinen Bedürfnissen und Sehnsüchten zu erzählen bereit ist, hängt zum großen Teil von den Erwartungen seines Gegenübers ab. „Wo kein Hören ist, da ist auch kein Sagen“ (Pe­ter Handke). Die hier gemeinte Haltung ist von Empathie und vertieftem Interesse ge­prägt. Leistungsdruck dagegen lässt den an­deren eher verstummen, als dass ihm Wör­ter und Sätze quasi wie von selbst aus dem Munde fallen.

Die „historischen Wahrheiten“ konzen­trieren sich vor allem auf das, was war, und weniger darauf, wie man die Dinge sieht. Wiederum spielt das Erinnern die entschei­dende Rolle. Bei begrenzter Sprachfähig­keit stellen Malen, Gestalten oder Spielen wichtige Alternativen dar. Doch auch Er­innern ist nicht nur an Sprache gebunden. Oft bleiben Gerüche, Farben, Klänge, Me­lodien oder Rhythmen viel mehr haften als die Sachverhalte selbst und rufen ihrerseits selbst scheinbar vergessene Ereignisse wie­der „ans Licht“.

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Die dem Schicksalhaften innewohnen­den Geheimnisse stellen sich einem zu neu­gierigen Er­ und Befragen entgegen; sie be­wahren aber auch den Erzählenden davor, sich in seinem Erzählen selbst und seiner Geschichte zu verlieren. Wer von sich in ei­nem reflektierten Sinne zu erzählen gelernt hat, reproduziert oder konstruiert nie nur erinnerbare Erlebnisse und fantasierte Ge­danken. Er stellt auch Fragen, äußert Zwei­fel, vermittelt aktuelles Befinden, kommen­tiert das Gewesene und verweist auf ihm bedeutsame Werte. Damit aber steigen die Ansprüche an den Hörenden wie auch an das gewollte oder erhoffte Verstehen.

Das Hören

Man dringt in einen Menschen nicht ein, man setzt sich ihm aus. Elazar BENYOETZ

Verstehen ist ans Hören, aber auch ans Schauen und Miterleben gebunden. Die da­bei entstehende Intensität hängt von der Be­reitschaft ab, inwieweit man sich von dem Wahrgenommenen beeindrucken und auch in Anspruch nehmen lässt. Gleichermaßen kommt es aufs Vertrauen an, das man sich gegenseitig schenkt. Selbst wenn spontane Antworten ausbleiben, entwickelt sich zwi­schen dem Erzählenden und dem Hören­den ein Dialog. Wer gefragt wird, antwor­tet, wer erzählt, spricht zu jemandem. Der Hörende fühlt sich als Person gemeint. Er teilt mit dem Erzählenden dessen Botschaft und nimmt nicht nur Informationen zur Kenntnis. Die sich daraus ergebende Ver­pflichtung zielt weniger auf eine Antwort als auf ein Miteinander­Teilen. In diesem Augenblick wandelt sich die erzählte wie auch gehörte Geschichte in Gegenwart, die ihrerseits in die Zukunft drängt. Wer zu hö­ren begonnen hat, kann das Gehörte viel­leicht vergessen und trotzdem nicht mehr dahinter zurück. Der Vorhang zum ande­ren hat sich einen Spalt geöffnet. Man ist durch Hören ein anderer geworden. Darin ein Geschenk zu sehen, mag die eine Alter­native zu sein, eine Last zu spüren die ande­re. Hier sind sich Menschen nahe gekom­men, wie es durch Befragen kaum möglich gewesen wäre.

erzählen und geistige Behinderung

Zu erzählen vermag nur jener, der et­was erlebt hat und der sich etwas denkt. Selbst eine reduzierte Erlebnispalette be­

„Ästhetische Wahrheiten“ sind nach H.G. Petzold der Versuch, sogenann­te „schöne“ Geschichten zu erzählen. Man möchte erlebte Dinge oder Situationen „schönen“, das heißt ihnen einen gewissen Glanz verleihen – auch um einem tatsäch­lichen oder vermeintlich eigenen oder auch fremden Erwartungsdruck zu entsprechen. Hierbei vor allem das kreative Vermögen des „Erzählers“ zu entdecken, bewahrt vor zu rascher moralischer Bewertung.

Bedrückend wird es, wenn statt dem „Schönen“ das Gegenteil die Oberhand ge­winnt: nämlich das Erlebte durch drama­tisiertes Erzählen einzudunkeln oder auch zu übertreiben. Auch hier sollte man sich vor einer vorschnellen Verurteilung hüten. Der Erzähler könnte tatsächlich alles so er­lebt haben und deshalb Situationen so „er­innern“. Vielleicht schwingt aber auch die Hoffnung auf mehr Mitfühlen oder gar Mitleid mit. Auch das ist absolut mensch­lich und verzeihlich.

Erzählen ist also weniger nur mit kon­kret Erlebtem verknüpft, sondern weitaus mehr mit der eigenen Person, deren Befind­lichkeit und Selbsteinschätzung. Erzählen unterscheidet sich vom sachlichen Bericht­erstatten als primär gestalterische Leistung. Insofern ist der erzählende Mensch Kons­trukteur seiner Lebenswirklichkeit und in der Folge immer auch seiner Person.

Die Geschichten

Geschichten haben mit Geschehnissen zu tun. Diese sind entweder selbst erzeugt oder einem schicksalhaft zugefallen. In­sofern hat D. Bonhoeffer recht, Menschen nicht primär auf ihr Können oder Nicht­Können hin anzusehen, sondern auf das, was sie erleben und erleiden.

Solche Geschehnisse reihen sich – im Vergleich zu Lebensläufen oder Lebenswe­gen – selten wie Glieder einer Kette nach­einander auf. Vielmehr sind sie als sich ab­lagernde Schichtungen dem rein rationalen Zugriff meist entzogen. Sie können sich ge­genseitig bedingen, sich im Wege stehen oder auch verstärken. Die sich daraus ent­wickelnde Dynamik färbt nicht nur das Er­zählen, sondern kanalisiert auch das ge­genwärtige Erleben wie zukünftige Planen. Dynamik meint hier nicht nur ein energe­tisches, sondern gleichermaßen ein emo­tionales Potenzial – das also, was den ein­zelnen Menschen im Kern bewegt. So wechseln sich nicht selten freudige Gefüh­le mit niederdrückender Schwere und kla­gendes Wiederholen mit sprunghaftem He­raussprudeln des Erlebten ab.

deutet keinesfalls eine ebenso reduzier­te Lebensgeschichte. Es ist richtig – nur wenige behinderte Menschen haben viel von der großen weiten Welt gesehen. Rei­sen konkret wie auch Lesen als Reisen im Kopf bleibt vielen versagt. Ihre Lebens­geschichte ist trotzdem reich – z.B. reich an Erfahrungen, die mit der Behinderung zusammenhängen: viele Arztbesuche, oft endlose therapeutische Termine, das be­sondere Know­how in Form von Frühför­derung, Kindergarten und Sonderschu­le, die Arbeit in einer WfB oder am Ersten Arbeitsmarkt oder in einer Förderstätte. Hinzu kommen die Sorgen der Eltern, das Tuscheln der Nachbarn oder das Raten der Freunde und nicht zuletzt die unerfüllten Hoffnungen und Wünsche – seien es die Freundin, der Freund, der eigene Führer­schein oder auch der verwehrte Beruf und das selbstständige Wohnen betreffend. Und dennoch gibt es sehr viel Interessan­tes und Schönes, etwas, was sie erfüllt und prägt: die Geschwister, die Großeltern, ein Haustier, das eigene Zimmer oder auch ein zufriedenstellender Arbeitsplatz. Die Pa­lette ihres Erlebens wird reicher und rei­cher – eben ganz auf ihre Art und gemäß der vermittelten Anregungen und Mög­lichkeiten.

Fast immer sind es Personen, oft auch Szenen, die eine entscheidende Rolle spie­len – z.B. der Papa, mit dem man den Baum fürs Weihnachtsfest aussucht, der Opa, der Hasen im Garten hat, oder die Mama, die einen guten Kuchen backt. Auch viele Fan­tasien und Träume haben hier ihren Platz. Erwin, 16 und geistig behindert, erzählte mir immer wieder davon. Der Liebe Gott habe ihm gesagt, es würde bald schnei­en oder seine Kanarienvögel legten in den nächsten Tagen Eier. So sehr also wünschte sich Erwin endlich Schnee oder auch junge kleine gelbe Vögel!

Doch sollten wir keineswegs nur den Worten folgen. „Wenn du die Menschen ver-stehen willst, darfst du nicht auf ihre Reden hören.“ (Antoine de Saint­Exupéry) Das ei­gene Zimmer oder die Spielecke ähnlich wie die CD­ oder Bücher­Sammlung er­zählen oft mehr von diesem ihrem Leben als sie selbst. Und immer wieder schwingen Hoffnung und Sehnsucht nach Erfüllung mit. Die Dramatik des eigenen Lebens, das Nicht­geachtet­Werden oder auch der Ver­lust eines lieben Menschen bleiben dabei oft ungenannt, selten aber verborgen. Dem wahrhaft Hörenden entgehen solche Mo­mente nicht. Schweres wie Freudvolles lie­gen nahe beisammen. Beides hat seine ganz eigene Sprache – und wenn es eine Sprache ohne Worte ist. k

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Irritierend sind auf den ersten Blick selbstbezogene Monologe. Sie dienen meist der Selbstvergewisserung wie auch der Be­stätigung erlebter Ereignisse. H.G. Petzold spricht von „eingefrorenem“ Dialog. Die­ser ist auch dann zu beobachten, wenn sich Menschen in ihre Lebensgeschichte mit je­dem Erzählen mehr „einmauern“. Umso dringender erscheint es, vor allem mit be­hinderten Menschen eine „narrative Kultur“ zu entwickeln und mit dem Erzählenden ge­meinsam an dessen Lebensgeschichten zu „stricken“ (ebd.) und sie aus ihrem Lebens­geschichten­Gefängnis immer wieder auch zu befreien.

Monologe sind Verengungen und füh­ren oft in große Einsamkeit – vor allem bei traumatisch Erlebtem. Insofern darf sich „Biografiearbeit“, will sie sich heilpädago­gisch bewähren, nie nur auf das Vorhan­dene konzentrieren. Das Leben gilt es an­zureichern und zu vertiefen, will man die Identität des Erzählenden garantieren, sta­bilisieren und sichern.

erzählt und wahrgenommen – aber was dann?

Sich in einen Monolog einzuklinken, geht über das Verstehen von Lebensgeschich­ten hinaus. Man will eine Fixierung auf be­stimmte Erzählinhalte unterbrechen und das Leben im Hier und Jetzt wieder in Fluss bringen. Und so misstraue ich dem häu­fig empfohlenen Verstehen. „Bitte verstehe mich nicht so schnell!“, formulierte Mari­anne Grönemeyer. Es ist eine seltsame, un­gewohnte, ja überraschende und doch so wichtige Bitte. Aber auch R.M. Rilke über­rascht mit einem Gedicht: „Du musst das Leben nicht verstehen ...“, und setzt einen weiteren wichtigen Akzent.

Solch rasches, meist oberflächliches Ver­stehen verdient eigentlich den Namen Ver­stehen nicht. Es nimmt mehr weg, als dass es gibt. Man erinnere sich an Menschen, denen man etwas erzählt und die dann antworten: Das kenne ich, das habe ich auch schon er­lebt … Solche dahingesagten Sätze sind sel­ten hilfreich. Sie löschen für den anderen eher die Bedeutsamkeit seines Erlebens aus, als dass sie Respekt und Achtung erkennen lassen. Verstehen dient auf diese Weise eher der Verflachung und Enteignung statt der Wertschätzung und Ermächtigung.

Will man erzählten Lebensgeschichten heil­pädagogisch begegnen, tun sich unter an­deren folgende Zielaspekte auf: Fixierung auf Gewesenes abbauen und vermeiden helfen

jegliches plumpe Befragen vermeiden für Erlebtes Wörter wie auch andere Formen des Ausdrucks finden die Gegenwart im Licht der Lebens­geschichten sehen Kraft und Ideen für die Zukunft erar­beiten brüchige Lebensbiografien ebnen und versöhnen helfen dank Lebensgeschichten das Leben als Schatzgrube schätzen Wünsche, Hoffnungen und Erwartun­gen abwägen helfen Nähe wie auch Fremdheit ertragen Unverstandensein und Einsamkeit aus­halten lernen und für ein anregungsreiches Leben im Hier und Jetzt sorgen

Zusammengefasst sind erzählte Lebensge­schichten nie nur gemeinsam erlebte, son­dern auch gemeinsam bedachte Geschich­ten. Die hierzu notwendige „narrative Reflexion“ (H.G. Petzold) schließt den Blick auf die Gegenwart wie auch Perspektiven für die Zukunft mit ein.

eine Bringschuld

Gemeinhin werden Lebensgeschichten als Basis für weiteres pädagogisches Handeln angesehen. Dank ihrer kann man tatsäch­lich um vieles besser Begabungen erkennen und an Bedeutungen anknüpfen, aber auch Bedarfe und Erwartungen sensibler aufspü­ren. Man will dem anderen nahe sein, ihm gerecht werden und möglichst Verfrem­dungen vermeiden. Und behinderte Men­schen wollen eben nicht nur mitbestim­men, sondern sich auch zu Wort melden, weil sie etwas zu sagen haben. Manchmal wird die Absicht, ihnen vorurteilsfrei Ge­hör zu schenken, auf eine harte Probe ge­stellt. Doch hier helfen Tugenden wie Ge­duld oder Achtsamkeit nicht viel weiter. Vielmehr ist eine völlig andere Sicht auf be­hinderte oder schwierige Menschen gefragt, und jenen eine Stimme zu verleihen, über die sonst vorwiegend professionelle Helfer, Gremien, Teams oder auch die Öffentlich­keit verfügen.

Allem voran geht es um eine Veranke­rung des bislang gelebten Lebens und Er­lebens in der Person des Erzählenden. Die Gefahr, nur den Augenblick zu leben, ist gerade bei geistig behinderten Menschen groß. Damit verlieren sie leicht ihr Verbun­densein sowohl mit der Vergangenheit als auch mit der Zukunft aus den Augen. Wür­den wir Biografiearbeit nur funktional be­treiben, nicht aber um der Persönlichkeit

selbst willen, hätten wir die in ihr liegende Chance versäumt.

Wichtiger ist mir noch ein völlig anderer Aspekt. Vor allem geistig behinderte Men­schen haben eine Zeitstrecke hinter sich, wo sie bestenfalls als Adressat wohlmeinender Fürsorge, Förderung und Pflege, aber auch einer Vielzahl von noch so gut gemeinten Paradigmen galten.

Als Persönlichkeit gefragt zu sein, meint noch etwas anderes, als „selbstbestimmt zu leben“. Hier gilt es, behinderten Menschen gegenüber endlich eine Bringschuld ein­zulösen. Es mag ja sein, dass es nur kleine Geschichten sind, die sie zu erzählen ha­ben, für sie aber sind es große. Es gilt, sie aus ihrer unfreiwilligen Sprachlosigkeit he­rauszuführen. Und könnten sie die letz­ten Jahrzehnte jener schier rasanten Fahrt durch ihre Lebenslandschaft und deren Veränderung überblicken, würden sie ne­ben ihrem Ausgegrenztsein sicher auch von liebevoller Fürsorge und großem Engage­ment einzelner, von abgeschlossenen Ein­richtungen und falsch verstandener Beson­derung, vom Schämen der Eltern und vom Versteckt­Werden, aber auch – Gott sei Dank – von einer Fülle neuer Lebensmög­lichkeiten berichten – bedingt durch Erzie­hung, Bildung und Förderung, dank spezi­eller Arbeitsplätze und neuer Wohn­ und Lebensformen und nicht zuletzt auf Grund von Normalisierung, Integration und Em­powerment. Vielleicht erzählten sie auch davon, dass im Zuge der Inklusion ihre Be­hinderung, die sie bislang durchs Leben trug, auf Grund neuer Begrifflichkeit wie der „Verschiedenheit“ zukünftig keine Rolle mehr spielen soll – für manche ein Moment des Aufatmens und für andere eher ein Fak­tum verlorener Würde. So gesehen sind Le­bensgeschichten nie zur Befriedigung von Neugier da, auch nicht, um das Bescheid­Wissen der Hörenden anzureichern – und selbst das Verstehen­Wollen schöpft ihre Bedeutung nicht wirklich aus – denn wer verstanden hat, hat noch wenig verändert. Vielmehr gilt es, Lebensgeschichten für und mit den Erzählenden in Fragen zu verwan­deln – im Wissen um Fragen als die Initi­ativkraft für nächste Schritte in deren Le­ben. Lebensgeschichten haben eben nicht nur etwas mit „früher“ zu tun, sondern in gleicher Weise mit dem Heute wie auch mit dem Morgen.

Literatur:

BAACKE, Dieter/SCHULZE, Theodor (1993): Aus Geschichten lernen. Weinheim

BREITINGER, Manfred/FISCHER, Dieter (1982): Intensivbehinderte lernen leben. Würzburg

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Was ist Biografiearbeit? Impulse für die Arbeit mit kognitiv beeinträchtigten Menschen T E x T: C H r I S T I A N L I N D M e I e r

Mit dem Thema „Biografiearbeit“ ver-binde ich viel mehr als nur eine neue Arbeitsmethode, die wir in das Metho-den-repertoire der Arbeit mit kogni-tiv beeinträchtigten Menschen auf-nehmen sollten. Biografiearbeit ist vielmehr Ausdruck eines grundlegen-den Wandels in der professionellen Arbeit mit diesen Menschen. Diesen Wandel sehe ich im Wesentlichen da-rin, dass wir uns seit einigen Jahren in viel höherem Maße als in früheren Zei-ten für die persönlichen Lebens- und Sinnerfahrungen dieser Menschen in-teressieren und das Wissen um diese er-fahrungen in unserem Handeln zuneh-mend berücksichtigen. Biografie arbeit ist für mich also Ausdruck dessen, dass die Geistigbehindertenpädagogik end-lich damit angefangen hat, Menschen mit geistigen Behinderungen in ihrer einmaligkeit und Unverwechselbarkeit als Personen – und eben gerade nicht als Fälle von geistiger Behinderung – wahrzunehmen.

Die biografisch orientierte Bildungsarbeit entwickelte sich seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts kontinuierlich zu ei­nem ausgereiften didaktisch­methodischen Ansatz der allgemeinen Erwachsenen­ und Altenbildung. Dabei musste sie sich an­fangs durchaus gegen Kritiker durchset­zen, die in ihr nur wenig „Bildungswert“ er­kennen konnten. In den letzten zehn Jahren ist sie aber – immer häufiger unter der Be­zeichnung „Biografiearbeit“ – regelrecht in Mode gekommen. Eine ähnliche Konjunk­tur erlebte im gleichen Zeitraum die biogra­

fiegestützte Arbeit (Erinnerungsarbeit, Re­miniszenz­Arbeit) mit alten Menschen; in der letzten Zeit auch verstärkt mit alten und dementen Menschen. Die Altenhilfe und ­pflege bedient sich dabei vielfach derselben Methoden wie die biografisch orientierte Bildungsarbeit. Wie das Beispiel der Biogra­fiearbeit mit Kindern und Jugendlichen, die von ihren Herkunftsfamilien getrennt wur­den, zeigt, eignet sie sich keineswegs nur für erwachsene und alte Menschen (vgl. Ryan/Walker 2003).

Obwohl die Erwachsenen­ und Alten­bildung und die Altenhilfe und ­pflege überwiegend dieselben Methoden der Bio­grafiearbeit anwenden, gibt es durchaus Unterschiede hinsichtlich ihrer Zielsetzun­gen (vgl. Lindmeier 2014).

Da die Erwachsenen­ und Altenbildung in ihrer Theorie des Lehrens und Lernens weiter ausgearbeitet ist als die Altenhil­fe und ­pflege, haben wir uns bei der Bio­grafiearbeit mit kognitiv beeinträchtigten Menschen stärker an dieser orientiert. Ein zentrales Prinzip der Biografiearbeit in der Erwachsenen­ und Altenbildung ist die „of­fene Didaktik“. Aus diesem Prinzip leiten sich alle weiteren didaktischen Prinzipien und methodischen Erwägungen biografi­scher Arbeit ab (vgl. Behrens­Cobet/Reich­ling 1997). Bei der Umsetzung des Prinzips der offenen Didaktik sollten folgende Ge­sichtspunkte berücksichtigt werden:

Das didaktische Konzept in biografi­schen Lernarrangements setzt auf die All­tagsexpertenschaft der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Diese Alltagsexperten­schaft ist allerdings nur begrenzt voraus­sehbar. Das Prinzip einer offenen Didaktik

DORNER, Maximilian (2009): Mein Dämon ist ein Stubenhocker. München

FISCHER, Dieter (2009): Heilpädagogik – ein Versprechen. Würzburg

PETZOLD, G. Hilarion (o.J.): Lebensgeschichten verstehen lernen heißt, sich selbst und andere verstehen lernen. (Internet)

GADAMER, Hans-Georg (1993): Von der Verborgenheit der Gesundheit. F.a.M.

Biografiearbeit mit geistig behinderten Menschen

Ein Praxisbuch für Einzel- und Gruppenarbeit

Autor: Christian Lindmeier Verlag: Beltz/Juventa, 4. Auflage 2013

Taschenbuch, 168 Seiten ISBN 978-3-7799-2096-0

Preis 16,95 Euro

bedeutet also, dass bei der Planung der ein­zelnen Sitzungen eine gewisse Unberechen­barkeit in Kauf genommen werden muss. Die didaktische Planung ist daher ledig­lich eine Grundlage, von der aus die in der Gruppe selbst entstandenen thematischen Veränderungen und Umgestaltungen auf­gegriffen werden können und sollen.

Es empfiehlt sich, vor Beginn der Arbeit mit Gesprächsgruppen Themenbereiche ab­zustecken. Hierzu eignen sich sowohl die üblichen Stationen der sogenannten „Nor­malbiografie“ (also beispielsweise Geburt, Kindsein, Einschulung, Ausbildung, Prü­fungen, Partnerschaft, Berufskarriere usw.) als auch „kritische Lebensereignisse“ (z.B. Heimeinweisung), in denen oft ein Detail eine Rolle spielt. k

GEIGER, Arno (2010): Der alte König in seinem Paradies. München

GEUTER, Ulfried (2012): (Denken und) Fühlen mit dem Körper – Was ist Embodiment? (SWR2 – 26.2.2012)

SCHLINGENSIEF, Christoph (2009): So schön wie auf Erden kann es im Himmel gar nicht sein. F.a.M.

THEUNISSEN, Georg (1999): Von der Etikettierung zum Verstehen behinderter Menschen. In Z Behinderte. Graz – Heft 2

WALSER, Martin (2010): Mein Jenseits. Berlin

THOMAE, Hans (1986): Das Individuum und seine Welt. Göttingen

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Didaktisch Planende können zum the­matischen Schwerpunkt passende autobio­grafische Literatur oder Filme einbeziehen, sich also mit bereits veröffentlichten sub­jektiven Sichtweisen auf Geschichte und Gesellschaft, sei es aus der Sicht des Erlei­dens oder des Mitgestaltens, deutend aus­einandersetzen und didaktische Fantasien entwickeln. Es ist allerdings anzumerken, dass man bei der Biografiearbeit mit kog­nitiv beeinträchtigten Menschen kaum auf solches Material zurückgreifen kann. Wie die Bücher und Filme über Helen Keller, Christy Brown und andere zeigen, sieht die Lage bei körperbehinderten oder sinnesge­schädigten Menschen deutlich anders aus. Georg Paulmichl ist da eine rühmliche Aus­nahme.

Biografiearbeit ist nicht auf das Erzäh­len angewiesen. Lebensgeschichtliches Er­zählen lässt sich auch mit szenischen Dar­stellungen kombinieren. Diese Form der Auseinandersetzung arbeitet assoziativ und nutzt stärker, als reine Gesprächsgrup­pen dies vermögen, Momente der Vertie­fung und Verlangsamung. Vertiefung und Verlangsamung durch aktivitätsorientier­te Formen der Biografiearbeit können bei Menschen mit geistiger Behinderung eine beträchtliche Rolle spielen.

Im Falle der Biografiearbeit mit Men­schen, die lebenslang in Institutionen der Behindertenhilfe leben mussten und eine sogenannte „Institutionenbiografie“ auf­weisen (vgl. Wieland 1995, 1996; Herriger 1997; Theunissen 2002), bedeutet „offene Didaktik“ zunächst einmal, dass man sich vor Beginn einer Veranstaltungsreihe ein möglichst realitätsgerechtes Bild von der Lebenswelt dieser Menschen verschafft.

Biografiearbeit sieht sich grundsätzlich mit dem Problem konfrontiert, den „roten Faden“ in den lebensgeschichtlichen Erzäh­lungen nicht aus den Augen zu verlieren und gleichzeitig – um im Bild zu bleiben – Schleifen zuzulassen und deren Bedeutung für eine Veränderung oder Umgestaltung von Themen zu erkennen (vgl. Behrens­Cobet/Reichling 1997). Der „rote Faden“ wäre nämlich verloren, wenn als Arbeits­ergebnis lediglich eine Ansammlung zu­sammenhangloser Erzählungen und Er­innerungsspuren entstünde, die keinen Sinnzusammenhang ergibt. Andererseits muss sich Biografiearbeit möglichst krea­tiv und „erfahrungsoffen“ zeigen, damit in­dividuelle Selbstvergewisserungen über le­bensgeschichtliche Erfahrungen überhaupt zustande kommen können. Mit dieser Aus­sage bin ich aber bereits bei den methodi­schen Aspekten der Biografiearbeit ange­langt.

Die methodische Umsetzung biografisch orientierter Bildungsarbeit kann auf sehr unterschiedliche Art und Weise geschehen. Die einzelnen didaktisch­methodischen Elemente lassen sich dabei den drei Haupt­formen der gesprächsorientierten, aktivi­tätsorientierten und dokumentationsorien­tierten Biografiearbeit zuordnen.

Die gesprächsorientierten Methoden umfassen dabei insbesondere das Sprechen über Erinnerungen und Erinnertes, die An­regung von Erinnerungen durch Assozia­tions­Impulse und das Verbalisieren von Lebensgeschichte. Aktivitätsorientierte Me­thoden beinhalten demgegenüber vor al­lem ein Erinnern durch Handeln und ein „sensobiografisches“ Erspüren körperlicher Empfindungen des Wohlbefindens. Und bei den dokumentationsorientierten Methoden geht es um die „Konservierung“ bzw. Ar­chivierung von Erinnerungen und die Ge­staltung von konkreten „Andenken“.

Die Biografiearbeit setzt also metho­disch keineswegs ausschließlich auf das Ge­spräch und die Erzählung. Dementspre­chend sind die didaktisch­methodischen Elemente der biografischen Kommunika­tion über „erlebte Geschichte“ vielfältig und „multimedial“ wie die Lebensgeschich­te selbst (vgl. z.B. Behrens­Cobet/Reich­ling 1997; Gudjons/Pieper/Wagener 1999). Während aber in der allgemeinen Erwach­senen­ und Altenbildung die gesprächs­ orientierte Biografiearbeit überwiegt, muss man in der Biografiearbeit mit kognitiv be­einträchtigten Menschen die Aktivitätsori­entierung stärker gewichten. In der Praxis wird es allerdings vor allem darauf ankom­men, dass beide Ausrichtungen der Biogra­fiearbeit sinnvoll miteinander verschränkt werden. Die dokumentationsorientierte Biografiearbeit haben wir in der Biografie­arbeit mit kognitiv beeinträchtigten Men­schen zu einer methodischen Hauptform entwickelt, weil kognitiv beeinträchtigte Menschen aus der Biografiearbeit auch ein konkret­anschauliches Ergebnis für die Al­leinarbeit oder die Zusammenarbeit mit ih­rem Bezugsbetreuer mitnehmen können sollten. Dies kann zum Beispiel ein Lebens­buch sein, in dem in Wort und Bild aufge­zeichnet wurde, was die betreffende Person für lebensgeschichtlich bedeutsam erachtet.

Die Frage nach der angemessenen So­zialform ist vor allem deshalb wichtig, weil Biografiearbeit nicht mit jeder Person im Rahmen einer Gruppenarbeit durchführ­bar ist. Bei einer Thematik, die so sehr auf das subjektive Erleben ausgerichtet ist, ist daher in jedem einzelnen Fall genau zu prüfen, ob nicht eine Einzelarbeit günstiger ist. Wir haben daher in unseren bisherigen

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Projekten sowohl die Gruppen­ als auch die Einzelarbeit erprobt. Mit der Prüfung der Teilnehmervoraussetzungen und der Ent­scheidung über die Sozialform der Biogra­fiearbeit ist auch die Auswahl der einzelnen Methoden und Materialien eng verknüpft. Dabei ist es hilfreich, dass inzwischen ein umfangreicher Fundus an bewährten Me­thoden für die Einzel­ oder Gruppenar­beit vorliegt (vgl. z.B. Blimlinger et al. 1996; Ruhe 1998; Gereben/Kopinitsch­Berger 1998; Opitz 1998; Gudjons/Pieper/Wagener 1999). Dieses Methodeninventar wurde von uns gesichtet und der besonderen Lebens­ und Lernsituation von Erwachsenen mit geistiger Behinderung angepasst. Hierfür mussten die vorliegenden Methoden und Materialien teilweise erheblich modifiziert werden. So haben wir beispielsweise bei Er­innerungsspielen die Anzahl der Spielkar­ten reduziert und die Fragen auf den Spiel­ und Ereigniskarten vereinfacht. In anderen Fällen wurden Farbwürfel anstelle der Wür­fel mit Punkten eingesetzt. Darüber hinaus mussten für den Personenkreis der Men­schen mit geistiger Behinderung neue Me­thoden und Materialien entwickelt und er­probt werden.1

1 Das Ergebnis dieser Arbeit kann man in dem Buch mit dem Titel „Biografiearbeit mit geistig behinderten Menschen“ (vgl. Lind-meier 2013) nachlesen, das 2013 in vierter Auflage erschienen ist. In diesem Buch ha-ben wir einen mit didaktisch-methodischen Kommentaren versehenen „Werkzeugkas-ten“ der Biografiearbeit mit kognitiv beein-trächtigten Menschen für die Nachahmung in der Praxis zusammengestellt.

Das Prinzip der offenen Didaktik hat selbst­verständlich auch Auswirkungen auf die Rolle der professionellen Unterstützer und Begleiter biografischer Lernprozesse. Ein wesentlicher Teil des professionellen Han­delns ist dabei zweifellos die Moderation des biografischen Lernprozesses. Diese Aufgabe der Moderation besteht im Wesentlichen darin, diesen biografischen Lernprozess in Gang zu bringen und in Gang zu halten. Die Moderatoren müssen also vor allem wissen, wie man Anfangssituationen in der Bio­grafiearbeit gestaltet, wie Lebensgeschichte thematisierbar ge­macht werden kann und wie Lebensgeschichte thematisierungs­fähig gehalten wird.

Biografiearbeit erfordert also seitens der Professionellen häufig einen fragend­entwi­ckelnden Umgang mit aktiv und passiv Er­lebtem. Aus dieser Hauptaufgabe leiten sich vielfältige Einzelaufgaben ab, die die organi­

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satorische Vorbereitung und Durchführung betreffen und eine hohe methodische Kom­petenz erfordern (vgl. z.B. Buschmeyer/Behrens­Cobet 1990; Behrens­Cobet Reich­ling 1997; Gudjons/Pieper/Wagener 1999).

Die Rolle der Erwachsenenbildnerin er­hält damit – verglichen mit unterrichtlichen Lernsettings – insgesamt einen bescheide­neren Zuschnitt, denn die Teilnehmer treten als Experten ihrer Biografie und ihres All­tags auf und gehen mit dieser Haltung meist auch selbstbewusst in die „Lehr­Lern­Situa­tion“. Im Setting des biografischen Lernens werden sie mit ihrer Expertenschaft nicht nur akzeptiert, sondern als unverzichtba­re didaktische Mitträger des biografischen Ansatzes angesehen, sodass von zwei un­terschiedlichen, aufeinander bezogenen Ex­pertenschaften gesprochen werden kann. Konkret bedeutet dies:

Biografische Kommunikation ist vor al­lem Interpretationsarbeit. Dabei fällt den Moderatoren häufig die Aufgabe der „stell­vertretenden Deutung“ zu. Dies sollte aber nicht mit der Deutungsmacht in Lehr­Lern­Situationen gleichgesetzt werden, sondern als „Probedeutung“ in den jeweils thema­tisch kreisenden Verstehens­ und Verstän­digungsprozessen aufgefasst werden. Die erste Interpretation ist zumeist willkom­mener Anlass für Korrekturen am entwor­fenen Bild, für erweiterte oder auch für konkurrierende Deutungen, über die dann ausführlich diskutiert oder auch gestritten werden kann. „Suchbewegungen“ dieser Art sind keine Beschränkung professionel­len Handelns, sondern gewissermaßen das methodische „i­Tüpfelchen“ in der Biogra­fiearbeit.

Das Verstehen fremder Lebensgeschich­ten scheint umso eher zu gelingen, je mehr es auf der lebensgeschichtlichen Selbstre­flexion der Moderatoren aufbauen kann. Hierzu gehören auch das Aufdecken eige­ner Verstehensblockaden und das Abrücken von überkommenen Normalitätsvorstellun­gen im aktuellen Verstehens­ und Verständi­gungsprozess. Ein souveräner Umgang mit sozialer und biografischer Vielfalt als Lern­anlass bedeutet zugleich, technokratisch­ lineare Lernkonzepte zu verwerfen, was durch das Bereithalten eines flexiblen Me­thodenrepertoires leichter gewährleistet werden kann.

Moderatoren biografischer Lernprozesse sollten noch mehr als andere Erwachsenen­bildner über die in der Erwachsenen­ und Altenbildung selbstverständlichen Tugen­den des Takts und der Diskretion beim Aus­tarieren der Diskussionsbeiträge und der Abgrenzung latent­politischer wie brisant­therapeutischer Erzählmomente verfügen.

Ohne die generelle soziale Kompetenz, Ge­sprächssituationen mit anderen gemein­sam zu gestalten, wird auch in der Biogra­fiearbeit keine dialogisch­offene und freie Atmosphäre entstehen können. Die Mo­deratoren sollten deshalb auch bereit sein, aus ihrem eigenen Leben zu erzählen, weil sich ansonsten eine voyeuristische Kom­ponente in die Biografiearbeit einschlei­chen kann. Bei Menschen, die in Instituti­onen leben müssen, ergibt sich zudem die Gefahr, dass die Biografiearbeit beschäfti­gungstherapeutisch „funktionalisiert“ wird. Dies aber widerspräche ihrer identitätsstif­tenden Qualität und Absicht, denn die Per­sönlichkeitsentwicklung als zentrales An­liegen biografischen Lernens entsteht eben gerade nicht im einseitigen Ausforschen ei­ner Lebensgeschichte, sondern in wechsel­seitigen Identitätszuschreibungen (vgl. Pet­zold 1999).

Außerdem müssen sich die Moderatoren vergegenwärtigen, dass wir es bei biografi­schen Sachverhalten nur in Ausnahmefäl­len mit „realer Historie“ oder „historischer Wahrheit“ zu tun haben. Wenn wir biogra­fisch arbeiten, haben wir es also weniger mit einer Rehistorisierung (vgl. Jantzen/Lan­wer­Koeppelin 1996), sondern eher mit ei­ner beständigen Reinterpretation der indi­viduellen Lebensgeschichte zu tun. Neben der erzählten, subjektiven Wahrheit gibt es zwar auch einige objektive Tatbestände; diese spielen aber beim biografischen Er­zählen eindeutig eine untergeordnete Rolle. Dies ist auch der Grund, warum die Biogra­fiearbeit nicht nur eine historisch­rekons­truktive, sondern auch eine auf die Gegen­wart und Zukunft gerichtete konstruktive Komponente (vgl. Opitz 1998) aufweist.

Biografiearbeit verlangt also von den Moderatoren Informiertheit, Aufmerksam­keit und Takt. Außerdem müssen sie sich auf das wechselseitige Spannungsgefüge von zurückschauender und vorausschauen­der Biografiearbeit einlassen können. Da­bei ist entscheidend, dass Erzählende und Zuhörende eine Art Arbeitsbündnis schlie­ßen. Dieses Arbeitsbündnis beschreibt Hans Georg Ruhe in seinem Buch „Me­thoden der Biografiearbeit“ sehr treffend mit den folgenden Worten: „Der Hörende muss sich dem Erzählenden mit Fragen nä­hern, die Interesse an dessen Lebenswirk­lichkeit ausdrücken. Der Erzählende wie­derum ist auch ein Fragender. Seine Fragen machen deutlich, welche Erfahrungen er in seinem Leben gemacht hat, welches Erfah­rungswissen er besitzt. Biografisches Arbei­ten braucht Neugierhaltungen, mit denen versucht wird, vorsichtig akzeptierend vor­zudringen in die unterschiedlichen Lebens­

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felder und Erfahrungsschichten von Men­schen. Sie nimmt zur Kenntnis, dass das Individuum eingebettet ist in unterschied­liche Lebensgeschichten. Sie will aus der Perspektive des Erzählenden wahrnehmen und gleichzeitig neue Perspektiven dadurch eröffnen, dass der je eigene Blickwinkel der Hörenden eingebracht wird“ (1998, 12).

Literatur

Behrens-Cobet, H.; Reichling, N.: Biografische Kommunikation. Lebensgeschichten

im Repertoire der Erwachsenenbildung. Neuwied, Kriftel, Berlin 1997.

Behrens-Cobet, H.: Biografisches Lernen. In: Becker, S.; Veelken, L.; Wallraven K. P. (Hrsg.).

Handbuch Altenbildung. Theorien und Konzepte für Gegenwart und Zukunft.

Opladen, 2000, 299-304.

Blimlinger, E. u. a.: Lebensgeschichten. Biografiearbeit mit alten Menschen.

Hannover 1996.

Buschmeyer, H.; Behrens-Cobet, H.: Biografisches Lernen.

Erfahrungen und Reflexionen. Hrsg. v. Landesinstitut für Schule und Weiterbil-

dung. Soest 1990

Gereben, C./Kopinitsch-Berger, S.: Auf den Spuren der Vergangenheit. Anleitung zur

Biografiearbeit mit älteren Menschen. Wien, München, Bern 1998.

Gudjons, H.; Pieper, M.; Wagener, B.: Auf meinen Spuren. Das Entdecken der eigenen

Lebensgeschichte. Hamburg 1999.

Herriger, N.: Empowerment in der sozialen Arbeit.

Stuttgart 1997.

Jantzen, W.; Lanwer-Koeppelin (Hrsg.): Diagnostik als Rehistorisierung. Berlin 1996

Lindmeier, C. (2013): Biografiearbeit mit geistig behinderten Menschen. Ein Praxisbuch für die Einzel- und Gruppenarbeit.

4. Aufl. Weinheim und Basel

Opitz, H.: Biografie-Arbeit im Alter. Würzburg 1998.

Petzold, H. G.: Lebensgeschichten verstehen lernen heißt, sich

selbst und andere verstehen lernen. Über Biografiearbeit, traumatische Belastungen und Neuorientierung. In: Behinderte in Familie,

Schule und Gesellschaft (1999), 41-55.

Ruhe, H. G.: Methoden der Biografiearbeit. Lebensgeschichte und Lebensbilanz in Therapie,

Altenhilfe und Erwachsenenbildung. Weinheim, Basel 2003.

Ryan, T./Walker, R.: Wo gehöre ich hin? Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen.

Weinheim und München 2004

Theunissen, G.: Altenbildung und Behinderung. Impulse für die Arbeit mit Menschen, die als lern- und kognitiv

beeinträchtigt gelten. Bad Heilbrunn 2002.

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Ich habe P., einen jetzt 35­jährigen Mann mit Down­Syndrom, vor 20 Jahren ken­nengelernt. Damals war er ein aktiver Teenager mit vollem Programm. Er mach­te Sport und fuhr mit seinem Vater große Strecken auf dem Fahrrad. Ausflüge mit Museumsbesuchen, Konzerte mit Volks­musik und Urlaubsreisen standen auf dem Programm. Er sammelte Briefmarken, die Alben waren sein größter Stolz, mit Fuß­ball kannte er sich gut aus, er schrieb ak­ribisch nach jedem wichtigen Fußballspiel die Ergebnisse in selbst gemachte Listen. Er hörte seine Lieblingsmusik und hatte ge­nau den Überblick über seine CD­Samm­lung. Er liebte es, mit seiner Mutter regel­mäßig zum Großeinkauf zu gehen, das gemeinsame Kaffeetrinken anschließend gehörte dazu, ein Ritual, für ihn ein klei­nes Highlight.

Es war kein spektakuläres Leben, doch ein Leben voller Erlebnisse und Ereignisse. Er hat nie sehr viel gesprochen, aber klei­ne Gespräche waren gut möglich, vor allem wenn es um seine Briefmarkensammlung oder seine Volksmusik ging.

Als er Mitte zwanzig war, zog er in ein Wohnheim. Seine Eltern haben ihn noch viele Jahre begleitet, an manchen Wochen­enden war er zu Hause und es wurde gemein­sam etwas unternommen. Am wichtigsten war und blieb die Briefmarkensammlung. Sie wurde gehegt und gepflegt. Es ging nicht nur bloß um Briefmarken, sondern auch um die Geschichten dazu, Herkunftsland, Wert, Währung …

Relativ schnell sind beide Eltern nachei­nander gestorben, Geschwister oder nähe­re Verwandte gab es keine. Aber die Eltern hatten es „richtig gemacht“, ihn nämlich rechtzeitig losgelassen, und als sie starben, war das Wohnheim schon ein wenig zu sei­ner Heimat geworden. Er lebt dort gemein­sam mit anderen Menschen mit Behinde­rung, gemeinsam gehen sie zur Arbeit in eine Werkstatt. Also läuft alles gut?

Vor kurzem war ich in seiner Gegend und habe ihn besucht. „Schauen wir uns mal wieder die Briefmarkenalben an?“ Er zuckt die Achseln: „Weg, nicht mehr da!“ „Und deine Fußballlisten, schreibst du noch al­les auf?“ „Nein.“ „Geht ihr mal auf Fahrrad­tour?“ Auch nicht ... „Was machst du denn jetzt in deiner Freizeit?“ „Kaffeetrinken“, meint er, „und Fernsehen.“

Mich beschleicht ein trauriges Gefühl. Von seinen früheren Hobbys und den Din­gen, die ihm zu Hause so wichtig waren, scheint kaum mehr etwas präsent zu sein. Ich frage das Personal nach den Briefmar­kenalben. Auch hier Schulterzucken. „Kei­ne Ahnung, bin noch nicht so lange hier“, meint ein Betreuer, „und viel Platz ist in den Zimmern nicht, da kann man eben nicht al­les aufbewahren. Und unsere Bewohner ha­ben kaum die Zeit, sich damit zu beschäfti­gen. Wir haben genug Programm!“

Sehr schnell weiß also niemand mehr, was mit P. früher war, was in seinem Leben vor dem Heim passiert ist. Was er in der Freizeit gemacht hat, wohin er in Urlaub fuhr, welche Musik er gehört hat. Niemand ahnt mehr, dass er sogar ein Briefmarken­Experte war. Es gäbe Themen genug, über die man sich mit ihm unterhalten könnte, die bei ihm schöne Erinnerungen wecken würden und die man im Hier und Jetzt wei­terpflegen könnte. Nur wissen muss man es. Und sich die Zeit dafür nehmen.

Jemand, dem man seine Hobbys nimmt, dessen besondere Vorlieben und Gewohn­heiten in Vergessenheit geraten und der sich stattdessen anpassen soll an die für alle in einer Wohneinrichtung geltenden Ab­läufe, muss so jemand nicht rebellieren, den Mund aufmachen, aufschreien: „Lass mir noch ein Stück von mir! Vergiss nicht, ich bin auch noch wer!“ Wenn man seine Ge­fühle aber nicht gut artikulieren kann, wie kann man dann seiner Umgebung die Trau­rigkeit, die Wut und die Ohnmacht, die man verspürt, vermitteln?

Wir hören viel von erwachsenen Men­schen mit Down­Syndrom, die depressiv oder verhaltensauffällig werden. Die sich zu­rückziehen, „unwillig“ oder desinteressiert. Ein solches Verhalten kann verschiede­ne Ursachen haben, aber ein Grund könn­te vielleicht dieses Abhandenkommen der Vergangenheit sein, dieses Abgeschnitten­werden von der eigenen Lebensgeschichte und die Trauer darüber, dass nichts mehr ist, wie es war.

Fotoalben, Lebensbücher und erinnerungskistenWie kann man vorbeugend etwas tun, da­mit dies nicht passiert? Was kann man den erwachsenen Kindern mit auf den Weg ge­ben, wenn sie das Elternhaus verlassen, da­

mit ihre Geschichte, ihre Erinnerungen, ihre Erlebnisse greifbar, sichtbar, auch spür­bar bleiben. Denn dann wird es ihnen leich­ter fallen, anderen zu erzählen, was war und wie es war. Und die anderen können geziel­ter nachfragen.

Bücher mit Fotos, Texten, Postkarten, und Briefen wären beispielsweise eine Mög­lichkeit oder eine Erinnerungskiste mit Ge­genständen, die der Person etwas bedeuten, die Erinnerungen wecken, sie erzählen las­sen.

Hätte mein Bekannter P. ein solches Buch gehabt, und die Bedeutung seiner Briefmar­kensammlung wäre dort beschrieben, viel­leicht wären sie dann nicht aus Platzgrün­den verschwunden und in Vergessenheit geraten, vielleicht wären die Fußballlisten auch wieder als Hobby eingeführt worden?

Erinnerungsbücher und Erinnerungskis­ten können Familien gemeinsam mit ihrem Sohn oder ihrer Tochter laufend, von Kind­heit an, zusammenstellen.

Meine Tochter besitzt beispielsweise zwei ganz wichtige schöne „Goldschachteln“, in der sie ihre liebsten Opern­Utensilien sam­melt – die Eintrittskarten des Staatstheaters und die Programmhefte jeder Oper, die sie besucht hat. Zusätzlich hat sie die Handlung aller dieser ihr bekannten Opern in „Gold­büchern“ aufgeschrieben.Ich hoffe, diese Schätze bleiben ihr lange erhalten, sie sind eine Quelle guter Erinnerungen und bilden eine wertvolle Fundgrube an Gesprächs­stoff.

HilfsmittelErinnerungsbücher können später gemein­sam mit Fachkräften in Wohngruppen oder Werkstätten weitergeführt oder dort z.B. im Rahmen eines Kurses auch erst angefan­gen werden. Dazu ist nun im LoeperVerlag „Mein Lebensbuch“ erschienen, das wir auf der nächsten Seite vorstellen möchten.

Auch „Mein Gesundheitsbuch“, das von klein auf gefüllt wird mit allen Informati­onen über die eigene Gesundheit, gehört zur Lebensgeschichte und kann später für wechselnde Fachkräfte hilfreich sein. Für die Person selbst bedeutet das Gesundheits­buch eine wertvolle Dokumentation über ihre Vergangenheit.

Auf Besuch bei P. – Sammelst du denn keine Briefmarken mehr? T E x T: CO r A H A L D e r

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Mein Lebensbuch ist ein individuelles Buch für alle Menschen mit Beeinträchtigungen. Ob sie allein, in der Familie oder in einer Wohneinrichtung leben: Mein Lebensbuch ist ein verlässlicher und hilfreicher Beglei­ter. Es ermöglicht ihnen, alles festzuhalten, was für sie und für andere wichtig ist.

Auf rund 160 Seiten werden die unter­schiedlichsten Dinge des Lebens notiert:

Wo bin ich aufgewachsen? Hatte ich schon mal eine schwere Krankheit? Wo sitze ich zu Hause am liebsten? Wie heißt mein Haustier? Was hilft mir, mich mit anderen Men­schen zu verständigen? Woran erkennt man, dass ich wütend bin? Mit wem gehe ich am liebsten tanzen? Kann ich alleine meine Brote schmie­ren? Wobei brauche ich im Alltag Hilfe?

Sorgfältig mit Hilfe eines Vertrauten ausge­füllt und immer auf dem aktuellen Stand ist es viel mehr als eine Dokumentation: Es ist die Basis für Selbstbestimmung und Teil­habe.

Neben Namen und Kontaktdaten von Angehörigen und Freunden, Ärzten und Therapeuten enthält Mein Lebensbuch einen Notfallplan, der verwendet werden kann, wenn eine Krise eintritt. Außerdem stehen Tages­ und Wochenpläne zur Verfügung, die Aufschluss über die alltäglichen Abläufe ge­ben.

Mein Lebensbuch Was für mich und andere wichtig ist Hrsg.: Bettina Lindmeier und Lisa Oermann Verlag: Von Loeper Literaturverlag

Ringband, 160 Seiten, 4-farbig mit ausführlichem Begleitheft, 32 Seiten 1. Auflage, 2014 ISBN 978-3-86059-241-0 Preis 29,90 Euro

Material zum Themag B I O G R A F I E A R B E I T

In einem umfassenden Begleitheft wer­den die Grundgedanken und die wichtigsten Schritte zum Führen des Lebensbuches an­schaulich erläutert. Hier liest man unter an­derem, an wen sich Mein Lebensbuch richtet:„Das Lebensbuch ist mit einem besonderen Fokus auf erwachsene Menschen mit Behin­derung entstanden, die mit ihren Eltern, ei­nem Elternteil oder ihren Geschwistern zu­sammen­ oder in direkter Nachbarschaft leben. Wir sprechen mitunter von ‚älteren Familien‘ und meinen vor allem solche Fa­milien, in denen die Eltern älter sind als 65 Jahre oder in denen schon ein Elternteil ver­storben ist. Während viele Menschen mit Behinderung im Wohnheim durch Fach­kräfte begleitet werden oder mit ambulan­ter Assistenz leben, wird die notwendige Be­gleitung hier in aller Regel unbürokratisch durch Familienmitglieder organisiert.

Darin liegt auch der besondere Bedarf an Biografiearbeit begründet: Die Unter­stützungsleistungen sind nicht dokumen­tiert, sodass das, was wichtig ist, nur im Gedächtnis der Familienmitglieder gespei­chert ist. Wenn sie ausfallen, was bei zu­nehmendem Alter immer wahrscheinlicher wird, kann dieses Wissen verloren gehen.“

Ulla Schmidt, Vorsitzende der Bundes­vereinigung Lebenshilfe e.V., schreibt in ih­rem Vorwort über Mein Lebensbuch: Eine solche Kommunikation auf Augenhöhe gibt Menschen mit Lernschwierigkeiten Gestal­tungsmöglichkeiten. Sie ist ein Schritt zur Entwicklung von Selbstbewusstsein im ur­sprünglichen Sinne, zu mehr Selbstbestim­mung und zu mehr eigenständiger Lebens­führung.

Mein Gesundheitsbuch Hrsg.: Deutsches Down- Syndrom InfoCenter Ringband mit Informationsheft, 30 Seiten Dokumentation, 55 Seiten Preis 15,00 Euro

Mein Gesundheitsbuch Bin ich eigentlich gegen Tetanus geimpft? Wie hieß denn gleich die Salbe, die mir beim letzten Mal geholfen hat? Wann muss ich zur nächsten Vorsorgeuntersuchung?

Mein Gesundheitsbuch kann Antworten auf diese und ähnliche Fragen geben. Und es kann helfen, alle für die Gesundheit wichtigen Unterlagen übersichtlich und im-mer griffbereit zu haben.Im Informationsheft (Teil 1) stehen Wissenswertes zu gesundheitlichen Besonderheiten bei Menschen mit Down-Syndrom sowie viele praktische Tipps für eine ge-sunde Lebensführung und für Besuche bei Ärzten und Therapeuten. Alles erklärt in verständlicher Sprache. Die Dokumentation (Teil 2) hält viele vorbereitete Blät-ter bereit, auf denen alle wichtigen Dinge, Adressen, Ter-mine, Medikamente eingetragen werden können sowie Gewichtstabellen, Periodenkalender, Impfübersicht usw.Format 26,5 x 31,5 cm, ca. 100 Seiten Inhalt

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Die Werkstätten feiern in diesem Jahr (2014) einen runden Geburtstag. 1974 wurden sie mit ihrer gesetzlichen Veran-kerung im Schwerbehindertengesetz zu dem, was sie heute sind. Der Gesetz geber schuf etwas in europa einzigartiges: ei-nen rechtsanspruch auf berufliche Teil-habe für Menschen mit Behinderung. Seitdem hat sich viel getan:

• Gegenüber den ursprünglichen Pla-nungen hat sich die Zahl der Werk-stattplätze verfünffacht.

• Die pädagogische Leitvorstellung hat sich von Fürsorge zu Autonomie und Selbstbestimmung verlagert. Statt der Defizite stehen heute die Fähigkeiten im Mittelpunkt.

• Das SGB IX brachte neue Leitvorstel-lungen ein.

• Die UN-Behindertenrechtskonven-tion stellte Sondereinrichtungen auf den Prüfstand.

Die vielfältigen entwicklungen erfor-dern eine kritische Betrachtung der in vier Jahrzehnten nahezu unveränder-ten Werkstattgesetzgebung. Welche regelungen sind nicht mehr zeitgemäß, welche Änderungen nötig? Wie soll eine zeitgemäße Gesetzgebung zur beruf-lichen Teilhabe aussehen und welche rolle sollen die Werkstätten darin spie-len? Diese Beitragsreihe benennt die Probleme und Fehlentwicklungen und macht Vorschläge für eine Gesetzes-novellierung.

Vorschlag 1: Gerechter Lohn

Der Gesetzgeber legte bei der Entstehung des Werkstättenrechts sein Augenmerk vor allem auf die Erstattung von behinde­rungsbedingten Personal‐, Produktions‐ und Fahrtkosten. Dem Thema Entlohnung maß er – vielleicht im Hinblick auf den an­gedachten Personenkreis – wenig Bedeu­tung zu. Zwar machte er das Kriterium der „wirtschaftlich verwertbaren Arbeitsleis­tung“ zur Voraussetzung einer Werkstatt­aufnahme. Er legte zudem ein Mindestent­gelt fest, aber durch die im Sozialhilferecht verankerten Freibeträge zur Sozialhilfe, auf die die meisten Werkstattbeschäftigten an­gewiesen sind, ergibt sich auch eine Ver­dienstobergrenze.

Ungerechtigkeit und StigmaDie Anrechnung auf die Sozialhilfe führt immer dann zu Unmut, wenn Gratifikatio­nen wie das Weihnachtsgeld gegengerech­net und Leistungen gekürzt werden. Ih­ren Stundenlohn von durchschnittlich 1,20 Euro empfinden die Beschäftigten als gro­be Ungerechtigkeit und für die Umwelt ist er der Beleg für ihr Negativurteil über de­ren geringes Leistungsvermögen. Ande­re Werkstattsysteme, etwa das französische oder das belgische, haben die Entgelte sub­ventioniert und zahlen 700 bzw. 1400 Euro an durchschnittlichem Entgelt. In Frank­reich sind dies etwa 70 % des gesetzlichen Mindestlohns, in Belgien bildet der dortige Mindestlohn die Lohnuntergrenze.

eU‐rente als Versuch der KompensationDer deutsche Gesetzgeber baute in sein System eine Rentenregelung mit zeitlichem Verzögerungseffekt ein. Er verpflichtete die Kostenträger zur Zahlung von Rentenbei­trägen in Höhe von 80 % des Standardren­tenniveaus und verfügte, dass den Werk­stattbeschäftigten daraus nach 20 Jahren ein Anspruch auf Erwerbsunfähigkeits­rente (EU) erwuchs. Der aktuelle Aufwand an monatlichen Beitragszahlungen beträgt etwa 420 Euro, die sich die Kostenträger in den Ländern/Kommunen und der Bund teilen. Damit wird – nach 20­jähriger War­tezeit – ein Leben ohne Sozialhilfeleistun­gen möglich. Der Empfänger kann zudem weiterhin in der Werkstatt tätig sein und die Rente mit dem Werkstattentgelt aufstocken.

Die Transferleistung zum Lebensunter­halt über die Rentenkasse hat Nachteile:

• Die EU‐Rente bleibt eine externe Leis­tung und wird von den Leistungsemp­fängern nicht als gerechter Lohn für ihre Arbeit erlebt.

• Die Regelung geht zu Lasten der Ge­meinschaft der Rentenberechtigten.

• Sie wirkt integrationshemmend, weil Werkstattbeschäftigte eine Vermittlung auf den Arbeitsmarkt ablehnen, um ihre Rentenansprüche nicht zu verlieren.

Mögliche Lösung: Subvention über das BundesteilhabegeldIn 40 Jahren Werkstättenrecht sind die Aus­gaben für Werkstattleistungen so ange­stiegen, dass eine größere Zusatzbelastung

40 Jahre WerkstattgesetzgebungÄnderungsbedarf in Werkstätten für behinderte Menschen – Vorschläge für eine GesetzesnovellierungT E x T: D I e T e r B A S e N e r

Die Europa Akademie – Institut für Teilhabe und Inklusion – ist ein Geschäftszweig der Werraland Werk-stätten e.V. in Eschwege. Sie gibt regelmäßig einen Online-Newsletter heraus. Im letzten Jahr startete sie eine Beitragsreihe, in der Dieter Basener sich kritisch mit der Situation in den Werkstätten auseinander-setzt und in zwölf Beiträgen Probleme benennt und Vorschläge für Verbesserungen macht. In dieser Ausgabe von Leben mit Down-Syndrom möchten wir Folge 1 zum Thema „Gerechter Lohn“, Folge 2 über gleiche Wahlmöglichkeiten in der beruflichen Teilhabe und Folge 6, die sich mit der pädagogisch- therapeutischen Ausrichtung der Werkstätten befasst, vorstellen.

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nicht denkbar erscheint. Die Forderungen nach Zahlung eines gesetzlichen Mindest­lohns ergeben bei circa 255000 Personen ei­nen Einstockungsbedarf zum gesetzlichen Mindestlohn von 3,5 Milliarden Euro, zu­sätzlich zu den Werkstattkosten der über­örtlichen Sozialhilfeträger von derzeit 4,5 Milliarden.

Denkbar erscheint aber eine Subvention des Entgelts über das Bundesteilhabegeld. Dies soll zwar Werkstattbeschäftigten nicht zu Gute kommen, da sich die Werkstattleis­tungen ebenfalls aus der Eingliederungshilfe speisen und deshalb eine Anrechnung vor­gesehen ist (im Gespräch ist lediglich ein Freibetrag von 120 Euro). Eine Zahlung in Form eines Lohnsockelbetrages wäre aber vertretbar, wenn der Bund als Kompensa­tion seine Zuschüsse zu den Rentenbeiträ­gen streicht.

Die Regelung der Anwartschaft auf eine EU‐Rente nach 20 Jahren könnte entfallen, weil die Lohnsubvention plus Werkstattent­gelt der Höhe der EU‐Rente entspräche.

Die vom Gesetz bisher geforderte Min­destzahlung beim Werkstattentgelt könnte ebenfalls entfallen und damit die Regelung eines geforderten „Mindestmaßes verwert­barer Arbeitsleistung“. Dadurch könnten Personen, die nach dieser Regelung bisher nicht als „werkstattfähig“ gelten, den Werk­stattstatus erhalten, analog dem NRW‐Prinzip „Keine Einrichtung unterhalb der WfbM“.

Die Nachteile dieses Verfahrens:

• Für den Bund würde es trotz der Kom­pensation teurer, als bisher vorgesehen.

• Die Ansprüche auf Altersrente würden sinken, auch wenn die Beschäftigten aus ihrem Lohn selbst Rentenversiche­rungsbeiträge aufbrächten.

Die Vorteile:

• Die Beschäftigten würden die Lohnleis­tungen als angemessen erleben.

• Besserstellungen gegenüber einer beruf­lichen Teilhabe im Arbeitsmarkt wür­den beseitigt.

• Die zweifache Aussonderung schwerst­behinderter Menschen als „erwerbsun­fähig“ und „nichtwerkstattfähig“ würde entfallen.

Vorschlag 2: Gleiche Wahlmöglichkeiten in der beruflichen Teilhabe

„Bei der Entscheidung über Leistungen und bei der Ausführung der Leistungen zur Teil­habe wird berechtigten Wünschen der Leis­tungsberechtigten entsprochen.“ So steht es in § 9, Absatz 1 des SGB IX. Der Para­graf garantiert das Wunsch­ und Wahlrecht. Und in Absatz 3 heißt es ergänzend: „Leis­tungen, Dienste und Einrichtungen las­sen den Leistungsberechtigten möglichst viel Raum zu eigenverantwortlicher Gestal­tung ihrer Lebensumstände und fördern die Selbstbestimmung.“

Das Recht auf Wahlfreiheit, Eigenver­antwortung und Selbstbestimmung kann aber nur dann eingelöst werden, wenn es Wahlmöglichkeiten, also Alternativen in den Angeboten gibt. Und die sind in der beruflichen Teilhabe häufig nicht oder nur unzureichend vorhanden. Für die meis­ten Regionen gilt: Teilhabeleistungen für Werkstattberechtigte gibt es nur in einer, nämlich in der regional zuständigen Werk­statt. Die Auswahl an Arbeitsfeldern ist be­schränkt und ob die Werkstatt einen Zu­gang zum Arbeitsmarkt über „ausgelagerte“ oder „betriebsintegrierte“ Einzelarbeitsplät­ze bzw. Arbeitsgruppen bietet, ist dem Zu­fall oder besser: den Werkstattverantwort­lichen überlassen. Im günstigsten Fall hat ein Mensch mit Behinderung die Wahl zwi­schen dem klassischen Werkstattangebot, betriebsintegrierten BBB­ und Arbeitsan­geboten unter dem Dach der Werkstatt und einer Festanstellung im Betrieb, vermittelt über einen spezialisierten Fachdienst. Diese Wahlmöglichkeit sollte aber nicht die Aus­nahme, sondern die Regel sein.

Diese Ungleichheit an Teilhabechancen ist mehr als ein Jahrzehnt nach Inkrafttreten des SGB IX mit seinem verbrieften Wunsch­ und Wahlrecht nicht länger hinnehmbar. Der Gesetzgeber muss in der Gesetzesno­vellierung dafür sorgen, dass alle Werkstät­ten neben ihren bisherigen Angeboten auch betriebsintegrierte Qualifizierungs­ und Arbeitsplätze schaffen. Die Werkstatt darf nicht mehr, wie das von Dr. Cramer konzi­pierte Werkstättenrecht dies vorsah, als Ge­bäude, als ein Ort der Leistungserbringung, sondern sie muss als Form der Unterstüt­zung verstanden werden, die auch in Betrie­ben des ersten Arbeitsmarktes, in Kinder­gärten, Altenheimen, Krankenhäusern oder Einzelhandelsgeschäften, stattfinden kann.

Die Werkstätten stellt dies vor neue He­rausforderungen: Sie müssen ihr teilstatio­näres Betreuungskonzept ergänzen um ein

ambulantes Begleitungskonzept, und zwar für den Berufsbildungs­ und den Arbeits­bereich. An Integrationsbegleiter stellen sich andere Anforderungen als an Grup­penleiter in der Werkstatt: Sie sind nicht mehr ständige Bezugspersonen und Anlei­ter, sondern Türöffner, Vermittler, Informa­tionsgeber, Moderatoren und Problemlöser. Der Gesetzgeber muss diesen veränderten Anforderungen Rechnung tragen.

Und er muss die Frage der angemesse­nen Leistungsentgelte in fairer Weise lösen. Hier stellt sich die Praxis in den Bundes­ländern zurzeit als ein Vergütungsdschun­gel dar, von 20 bis 100 Prozent Werk­stattkosten sind alle Varianten vertreten. Die Auffassung mancher Leistungsträger, Außenarbeitsplätze seien vor allem ein Einspar potenzial, wirkt sich integrations­feindlich aus. 80 Prozent des regulären Kostensatzes erscheinen als angemessen. Allerdings sollten die Werkstätten für diese Vergütung auch ihren Betreuungsschlüssel senken.

Mit der Schaffung von tariflich entlohn­ten und sozialversicherungspflichtigen Ar­beitsverhältnissen für werkstattberechtigte Personen, also mit dem arbeitsrechtli­chen Übergang in Betriebe des ersten Ar­beitsmarktes, sind die Werkstätten dagegen überfordert. Die Zahlen sprechen eine kla­re Sprache: Seit Jahren hat sich die Vermitt­lungsquote von circa 0,1 Prozent pro Jahr nicht wesentlich verändert, auch nicht in integrationsfreundlichen Ländern wie Hes­sen, Rheinland­Pfalz, Niedersachsen oder Hamburg. Was real an Vermittlungen mög­lich ist, zeigt der Erfolg der Hamburger Ar­beitsassistenz, die mit über 1000 dauer­haften Vermittlungen etwa ein Drittel der leistungsberechtigten Menschen mit einer geistigen Behinderung in Hamburg in Ar­beit gebracht hat.

Dass Werkstätten von solchen Vermitt­lungszahlen weit entfernt sind, hat wirt­schaftliche und psychologische Gründe. Wirtschaftlich bedrohen hohe Vermitt­lungszahlen die Auslastung und die Auf­rechterhaltung der Produktion. Psycholo­gisch stellen vermehrte Übergänge in den Arbeitsmarkt für das Personal den Sinn und die Bedeutung der eigenen Tätigkeit inFrage, sie schwächen die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes und widersprechen ihrer eher pessimistischen Erwartungshaltung bezüglich des erreichbaren Integrations­erfolgs. Und auch die Beschäftigten selber tragen ihren Anteil zu den relativ niedrigen Vermittlungszahlen bei. Viele Werkstattbe­schäftigte sind aus ihrer Lebensgeschichte heraus von Versagensängsten und Misser­folgserwartungen geprägt. Sie trennen sich

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ungern von ihrem Netzwerk sozialer Bin­dungen, die Leistungsträger und Werkstatt­räte genießen ihre herausgehobenen Positi­onen. Eine integrationsfeindliche Wirkung hat zudem das Anrecht auf eine EU­Ren­te nach 20 Jahren Werkstattzugehörigkeit. Der beste Zeitpunkt für einen erfolgrei­chen Übergang in einen Betrieb ist deshalb der Wechsel von der Schule ins Berufsleben, noch bevor die „Werkstattsozialisation“ ein­gesetzt hat.

Wer in dieser Beschreibung der Vermitt­lungsbarrieren Stoff für das negative Werk­stattimage sieht, sei daran erinnert, dass Werkstätten sich ihren Auftrag nicht selber gegeben haben, sondern nur das ausführen, was der Gesetzgeber ihnen bis ins letzte De­tail vorgegeben hat und bis zum heutigen Tag vorgibt. Es war von Beginn an über­fordernd, fast schizophren, die Werkstätten gleichermaßen mit der Schaffung von Ar­beitsplätzen und der Vermittlung in Betrie­be zu betrauen, wobei die zu Vermitteln­den gerade die Leistungsträger sein sollten. Der Vermittlungsauftrag ist bei Fachdiens­ten außerhalb der Werkstattträgerschaft bei weitem besser aufgehoben.

Aber auch hier gilt: Dieses Angebot muss überall verfügbar und verlässlich sein, damit es für alle Leistungsberechtig­ten ein Wahlrecht ermöglicht. Die Aufnah­me „anderer Anbieter“ ins Gesetz mit einer diffusen Auftragsbeschreibung reicht dazu nicht aus. Der Gesetzgeber muss analog zum Werkstattnetz für ein flächendecken­des Netz von Anbietern sorgen, die klar be­schriebene Leistungen erbringen und dafür die notwendigen Mittel zur Verfügung ha­ben. Das Budget für Arbeit, also die dau­erhafte Finanzierung von Personalleis­tungen und Lohnkostensubventionen aus Teilhabe mitteln, darf dabei nicht an eine Werkstattzugehörigkeit gebunden sein, sondern muss gerade für eine Vermittlung durch einen unabhängigen Fachdienst ver­fügbar sein.

FazitWahlmöglichkeiten in der beruflichen Teil­habe dürfen künftig nicht mehr vom Wohn­ort und von der Angebotsgestaltung der lo­kalen Werkstatt abhängig sein, sondern müssen gesetzlich sichergestellt werden. Drei Typen von Leistungen sollten dabei für jeden Leistungsberechtigten verfüg­bar sei: die klassische Werkstattleistung mit BBB und Arbeitsbereich, betriebsintegrier­te Qualifizierungs­ und Arbeitsmöglichkei­ten unter dem Dach der WfbM und die Ver­mittlung in eine Festanstellung im Betrieb durch einen Fachdienst, der außerhalb der WfbM bzw. von dessen Träger agiert.

Vorschlag 6: Verzicht auf den Förderauftrag der WfbM

Dieser Beitrag befasst sich mit der päda­gogisch­therapeutischen Ausrichtung der Werkstätten und fordert die Abschaffung des Förderauftrags der WfbM.

Wer Werkstätten für behinderte Men­schen verstehen will, muss auf die Zeit ihrer Entstehung zurückgehen. In den frühen 70er Jahren des letzten Jahrhun­derts herrschte Aufbruchstimmung: Der Schwung der 68er war mit der Regierung Willy Brandts in der Politik angekommen. Sie wollte alte Zöpfe abschneiden und neue Wege beschreiten. Die wirtschaftliche Situ­ation war günstig für Reformvorhaben, die neue Leistungen schufen.

In der Eingliederungshilfe gab es nach den Euthanasieprogrammen des Dritten Reichs und den auch nach dem Krieg in der Bevölkerung noch tief verwurzelten Vorstel­lungen vom „lebensunwerten Leben“ einen besonderen Bedarf an neuer Orientierung. Die bot der Normalisierungsgedanke von Niels Erik Bank­Mikkelsen, den der Schwe­de Bengt Nirje und der Deutsch­Amerika­ner Wolf Wolfensberger zum Normalisie­rungsprinzip weiterentwickelten. Danach sollten die in der Gesellschaft üblichen Standards für jeden Bürger gelten, auch für Menschen mit geistiger Behinderung. Dazu gehörten unter anderem der Respekt vor dem Individuum, das Recht auf Selbst­bestimmung, ein normaler Ablauf des Le­benszyklus sowie im Erwachsenenleben ein Recht auf Arbeit und die Trennung der Be­reiche Arbeit, Freizeit und Wohnen.

Aus diesem modern anmutenden Ansatz entwickelten sich, angestoßen von Eltern­initiativen, die ersten Beschützenden Werk­stätten. Arbeit in Betrieben war zu dieser Zeit für die meisten noch undenkbar und von den Eltern aufgrund ihrer erst wenige Jahre zurückliegenden Erfahrungen auch nicht gewünscht. Die Pädagogik hatte eben erst angefangen, die Medizin als Leitdiszip­lin in der Behindertenhilfe zu verdrängen. Wurde Behinderung zuvor als Krankheit betrachtet, die eine geringe Chance auf Hei­lung hatte, sah man sie nun als Gegenstand der Sonderpädagogik. Die postulierte die Möglichkeit einer lebenslangen Entwick­lung und schrieb eine immer größer wer­dende Verselbstständigung auf ihre Fahnen.

Der sonderpädagogische Anspruch fand mit dem Begriff einer dauerhaft ange­legten „Persönlichkeitsentwicklung“ Ein­gang in die Werkstatt­Gesetzgebung, al­lerdings mit Verzögerung. Als im Jahre 1974 die „Werkstatt für Behinderte“ erst­

mals ins Schwerbehindertengesetz aufge­nommen wurde, sucht man den Auftrag zur Persönlichkeitsentwicklung noch ver­geblich. Er wurde erst in der Werkstätten­verordnung von 1980 festgeschrieben und ging dann auch in das SGB IX ein, das bis heute in § 39 die Leistungen in anerkann­ten Werkstätten für behinderte Menschen so definiert: „(Sie) werden erbracht, um die Leistungs­ oder Erwerbsfähigkeit der be­hinderten Menschen zu erhalten, zu ent­wickeln, zu verbessern oder wiederherzu­stellen, die Persönlichkeit dieser Menschen weiterzuentwickeln und ihre Beschäftigung zu ermöglichen oder zu sichern.“ In ande­ren europäischen Werkstattsystemen gibt es den Doppelauftrag von Arbeit und Pädago­gik so dezidiert nicht, was beim Vergleich häufig zu Verwirrung führt.

Mit der doppelten Zielsetzung „Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung“ erhielt die Werkstatt ihre bis heute prägende Note. Sie ist nicht einfach ein Betrieb für behin­derte und nichtbehinderte Menschen, son­dern als „Zweckbetrieb“ organisiert und dieser Zweck besteht in der Verminderung von Behinderung bzw. von deren Auswir­kungen. Die pädagogisch­therapeutische Ausrichtung ist, bei aller guten Absicht, de­fizitorientiert. Sie spricht Werkstattbeschäf­tigten eine ausgereifte Persönlichkeit ab, hält sie in einer Abhängigkeit von lebens­langer pädagogischer Fürsorge, nimmt ih­nen die Chance zum Erwachsenwerden und verhindert eine gleiche Augenhöhe mit dem Personal.

Für die Werkstätten ist ihre pädagogi­sche Ausrichtung bis heute von zentraler Bedeutung. Sie bildet ein Alleinstellungs­merkmal gegenüber inklusiven Formen be­ruflicher Teilhabe und entlastet von der For­derung nach auskömmlichem Entgelt. („Wir haben doch einen anderen Auftrag.“) Ihre Ausprägung hat sich aber in den vergan­genen Jahren geändert. „Moderne“ Werk­stattpädagogik versteht sich nicht mehr als Förderpädagogik, sondern als Form der Erwachsenenbildung. Als Ausgangspunkt wird nicht mehr das Defizit der Beschäftig­ten benannt, sondern die Idee des lebens­langen Lernens. Regelmäßige Förder­ oder Entwicklungsplanung für alle bleibt aber gesetzlich vorgeschrieben, sie wird vom Kostenträger eingefordert und überprüft. Werkstätten müssen bis heute für jeden Be­schäftigten in vorgegebenen Zeitabständen Entwicklungsziele benennen und Maßnah­men zu ihrer Umsetzung dokumentieren. Oft liegen diese Ziele in der Vorbereitung auf einen Übergang in den Arbeitsmarkt, der dann doch Utopie bleibt. Der defizit­ orientierte Gedanke lebenslanger (Zwangs­)

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Förderung lebt weiter, wenn auch als alter Wein in neuen Schläuchen.

Die Grundausrichtung der Werkstatt auf Persönlichkeitsförderung wirkt anti­quiert und widerspricht den Prinzipien der Selbstbestimmung und Normalisierung. Verstärkt wird der Charakter des „wohl­meinenden Zwangs“ durch das Postulat der Einheitlichkeit der Werkstatt, das für jeden Leistungsempfänger die gleiche Behand­lung vorsieht. Lebenslange Pädagogik als verordnete Leistung entspricht nicht dem Willen der Beschäftigten und zwingt sie in eine Rolle, die andere erwachsene Men­schen – insbesondere als Arbeitnehmer – aufbegehren ließe.

Der Doppelauftrag der Werkstätten muss also fallen. Auch in Zeiten der Inklusion be­steht ihre Aufgabe weiterhin darin, Arbeit für ihre Beschäftigten zu organisieren, aber als gemeinsame Tätigkeit ohne eine päda­gogische Zwei­Klassen­Gesellschaft. Qua­lifizierungs­ und Weiterbildungsangebote sind weiter sinnvoll, allerdings ohne flä­chendeckende Förderplanung und in einem Umfang, wie sie gewünscht oder produkti­onstechnisch erforderlich und in anderen Betrieben üblich sind. Die Kompetenz des

Alle Beiträge in der Serie „40 Jahre Werk-stattgesetzgebung – Vorschläge für eine Gesetzesnovellierung“ finden Sie unter:http://www.europa-akademie.info/

Sie können sich dort auch eintragen, wenn Sie regelmäßig den Newsletter er-halten möchten. Bis jetzt sind folgende Beiträge erschienen:

1. Gerechter Lohn

2. Gleiche Wahlmöglichkeiten in der be-ruflichen Teilhabe

3. Deregulierung des Werkstättenrechts, Aufgabe des Gebietsschutzes und die Einheitlichkeit der Werkstatt

4. Schaffung eines flächendeckenden Netzes eigenständiger Vermittlungs-dienste in den ersten Arbeitsmarkt

5. Gesetzliche Festschreibung des In te grationsauftrags der WfbM

6. Förderauftrag der WfbM

7. Erweiterung und Flexibilisierung des Begriffs „Teilhabe am Arbeitsleben“

pädagogischen Fachpersonals wird weiter gebraucht, wenn auch in veränderter Form: Im Zugang zum Arbeitsmarkt sollten die Pädagogen vermehrt Erprobungs­ und Be­gleitungsmöglichkeiten bieten, werkstattin­tern sollten sie sich als Betriebs­Sozialarbei­ter begreifen, die sich um gesundheitliche und soziale Problemlagen aller Beschäftig­ten kümmern. <

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21.3. – Weltweit ein Tag für Menschen mit Down-Syndrom

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I m Januar wurde seine neunte Foto­ Ausstellung eröffnet. Sechzehn Groß­fotos im Format 60x40 hängen im Atri­

um eines großen Seniorenheims in Meppel – eine Kleinstadt im Osten der Niederlande. Es sind Landschaftsbilder aus der direkten Umgebung von Meppel, sodass Bewohner die Orte wieder erkennen und Erinnerungen wach werden. Fotograf ist David de Graaf, ein 30­jähriger Mann mit Down­Syndrom.

Mit 17 Jahren hat er mit dem Fotografie­ren angefangen, als er zu seinem Geburts­tag von seinen Eltern eine einfache Kamera geschenkt bekam. Damals schon eine Digi­talkamera, sodass er, wenn er nach Hause kam, die Fotos gleich auf seinen Computer laden konnte. Das war wichtig, denn die Fo­tos dienten damals in erster Linie dazu zu kommunizieren.

Denn David hat syndrombedingt schon immer Schwierigkeiten damit, sich sprach­lich auszudrücken. Er war schon früh sehr selbstständig und oft unterwegs, aber es fiel ihm schwer, zu Hause zu erzählen, was er alles erlebt hatte. Dies war der Grund, dass seine Eltern ihm eine Kamera gaben als „Hilfsmittel“ bei der Kommunikation. Mit der Unterstützung von Bildern gelang dies nämlich ein ganzes Stück besser. Die Eltern

konnten jetzt auch gezielter Fragen stellen: „… Ach, du warst heute noch beim Natur­kostladen.“ „Was gab es denn Neues in der Stadt?“ oder „Da waren aber viele Segel­schiffe auf dem See heute! Waren die Brü­cken alle geöffnet?“ etcetera.

David fotografierte Menschen, denen er am Arbeitsplatz, beim Einkaufen, bei Stadt­festen begegnete, aber auch die Landschaft, wenn er auf dem Rad unterwegs war (und das ist er viel. Auf seinem Tacho sind insge­samt schon 55000 km!). Zunächst für seine Berichterstattung zu Hause. Nicht nur kam es dort so zu mehr Kommunikation. Auch beim Fotografieren selbst kam David ins Gespräch, denn er musste mit Menschen Kontakt aufnehmen, fragen, ob er fotogra­fieren dürfe, und zeigte ihnen danach das Bild, das er gerade geschossen hatte. Na­türlich genoss er die Anerkennung, die er bekam. Kleine Momente der Kommunika­tion, die es ohne Kamera nicht so gegeben hätte.

Welche Kamera passt zu David?Er bekam immer mehr Spaß an der Foto­grafiererei, seine Bilder wurden besser, in­teressanter. Seine Eltern zeigten ihm nach und nach, was man beim Fotografieren be­

achten sollte. Allmählich machte David nicht bloß 08/15­Bilder mit dem Zweck, da­rüber zu erzählen, sondern strengte sich zu­nehmend an, richtig gute Bilder zu machen. Bald war eine bessere Kamera fällig, später folgten noch weitere.

Bedingt durch eine nicht optimale Fein­motorik kommt David besser mit einer so­genannten Bridge­Kamera zurecht, die ein fest eingebautes Zoomobjektiv hat, als mit einer motorisch viel komplexer zu bedie­nenden Spiegelreflexkamera mit mehreren Wechselobjektiven. Heute fotografiert Da­vid schon wieder seit einigen Jahren mit ei­ner Fujifilm­Finepix HS20.

Wind und Wolken ... David fotografiert das WetterDavid ist tagtäglich auf seinem Fahrrad durch eine richtige holländische Polder­ und Seenlandschaft unterwegs und dort je­dem Wetter ausgesetzt, Regen, Wind, Sturm, Sonne, Wolken, Schnee. Kein Wunder, dass er anfing, das Wetter zu fotografieren.

So kam 2003 ein Durchbruch. Unter­stützt von seinem Vater schickte er eines sei­ner Wetterbilder an den RTL­Wetterdienst und tatsächlich wurde sein Foto im Fernse­hen während der Wetternachrichten gezeigt. Das war natürlich eine Freude und moti­vierte David stark, weiterzumachen. Seitdem schickt er regelmäßig Regen­Sturm­Schnee­ oder Sonnenfotos an RTL 4 (Niederlande) und schon viele seiner Bilder wurden in den Wetterbericht aufgenommen.

Als Nächstes wurde die Lokalzeitung auf ihn aufmerksam: Seit 2010 liefert David als Freelance­Mitarbeiter der „Meppeler Cou­rant“ regelmäßig dreimal wöchentlich Fo­tos für den Wetterbericht. Außerdem lie­fert er seit fünf Jahren seine fotografischen Impressionen der sechsmal im Jahr statt­findenden Meppeler Stadtfeste an die Zei­tung. Schon zweimal wurden Davids Fo­tos in einem Kalender, der von einer Bank herausge geben wird, aufgenommen.

David, der Fotograf Bilder sagen mehr als Worte David, ein Mann von wenig Worten, zu seinem Hobby: „Fotografieren macht einfach Spaß!“

Mehr als nur eine FreizeitbeschäftigungWar das Foto­Projekt eigentlich aus der Not ge­boren – nämlich als eine Möglichkeit, besser kommunizieren zu können –, ist es ausgewach­sen zu einer erfüllenden Freizeitbeschäftigung oder gar mehr geworden. David gehört heute zur Crew des Kinderzirkus Okidoki unter an­derem als Fotograf. Er liefert für verschiedene Zeitungen Bilder als freier Fotograf. Man kann ihn sogar engagieren, Fotos bei Events zu ma­chen. Als rasender Reporter ist David nicht ge­eignet, denn wie andere Menschen mit Down­Syndrom hat er eher eine bedächtige Art. In bekannten Settings und nach einer genauen Terminabsprache funktioniert das Fotografie­ren jedoch bestens.

Seine Fotos werden immer häufiger in Aus­stellungen gezeigt. Beim Auswählen von Fotos und bei der Bildbearbeitung braucht er noch Unterstützung, aber auch das lernt David immer besser. Natürlich kann man seine Bilder auch käuflich erwerben. David spendet übrigens das so verdiente Geld für einen guten Zweck – für die Stichting Down­Syndroom, die von seinen Eltern gegründet und aufgebaut wurde und in Meppel ihren Sitz hat.

In den letzten Jahren wird David eingeladen, kleine Vorträge zum Thema Down­Syndrom zu halten, z.B. zum Thema DS und Frühförderung (mit Videobildern aus seiner Baby­ und Kind­zeit). Wie das geht, wenn er doch nicht so flie­ßend und deutlich frei spricht? Auch hier helfen Bilder. Er bereitet mit seinen Eltern eine Power­point­Präsentation vor mit vielen seiner Fotos und mit kurzen Texten, die er vorliest, denn le­sen kann David prima! Und wenn David laut liest, bedeutet das gleichzeitig, dass er viel besser artikuliert. Außerdem genießt er es sehr, vor ei­nem großen Publikum zu stehen.

Das Fotografieren ist für David nicht nur ein nettes Hobby, sondern hat ihm neue Kontakte beschert, ihm zu mehr Teilhabe an der Gesell­schaft und zu mehr Lebensqualität verholfen. <

Cora Halder

www.daviddefotograaf.nl

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Wer hätte das gedacht, als Vivi vor 14 Jahren geboren wurde?

• Dass sie, nachdem sie Blockflöte gelernt hat, jetzt auch zweihändig am Keyboard spielen kann? 

So hat sie bereits in der örtlichen Musik­schule an zwei Konzerten teilgenommen. Vergessen waren all die Mühen, als sie sich vor allen bedankte, und dabei nicht vergaß zu sagen, dass „der Papi mit ihr geübt hat“.  • Dass sie im örtlichen Kinder­ und Ju­

gendchor Feusisberg mitsingen darf?Auch wenn nicht immer jeder Ton per­fekt sitzt, ihre Ausstrahlung bei Konzer­ten ist einfach einzigartig – Lebensfreude pur. Und ein positiver Nebeneffekt des Sin­gens ist, dass sich nicht nur ihr Gesang, son­dern auch ihre Aussprache deutlich verbes­sert hat.

Wie kommt es zu solchen Hobbys?Man braucht: • ein Kind, das selber gern ein Hobby aus­

üben möchte und bereit ist, dafür etwas zu tun.

• Eltern, die sich auf die Suche machen, einfach anfragen und nicht so schnell aufgeben, aber auch mit einem „Nein“ leben können.

• Lehrer, die offen und experimentier­freudig sind – und viel Geduld haben. 

Wer hätte das gedacht? Probieren Sie es ein-fach einmal aus. In unseren Kindern steckt so viel drin.

Britta Rath, Mutter von Vivian

Und das sagt Vivi dazu: „Wir sind halt eine musikalische Familie.“

Gedanken der Keyboardlehrerin edith Holdener:Als ich hörte, dass Vivi zu mir in den Key­board­Unterricht kommt, war mir bewusst, dass dies eine besondere Herausforderung für uns beide sein würde. Aber ich machte mir unnötig Sorgen, denn Vivi bringt ganz viel Begeisterung und Willen mit.

Vivi bestimmt das Lerntempo selber! Ich passe die Unterrichtsstunden an ihre „Tages­form“ an. Meistens läuft alles ganz glatt und prima. Wenn sie aber beispielsweise unru­hig ist, weil eine OP ansteht oder ihr die Pu­bertät in die Quere kommt, nehme ich da­rauf Rücksicht. Inzwischen glaube ich, dass ich mich recht gut in sie hineinfühlen kann, und es gelingt mir, Vivi mit einem flotten Spruch immer wieder zu ermuntern.

Vivi lässt sich immer wieder motivie­ren und es ist erfreulich, wie sie – zwar mit einem lauten Seufzer – ein Lied trotzdem noch einmal beginnt, obschon es ihr selbst schon längst genügen würde.

Was ich ganz toll finde, ist die Unter­stützung, die sie von ihrem Daddy be­kommt! Man merkt sehr gut, wenn die bei­den zusammen viel geübt haben. Für mich ist das eine echte Erleichterung. So werden Ziele besser und schneller erreicht, was für Vivi natürlich mehr Spaß am Musizieren bedeutet.

Ich kann jedem Musiklehrer sagen: Seid froh, ein Mädchen wie Vivi unterrichten zu dürfen, denn es erfüllt einen mit so viel Stolz, wenn sie auf der Bühne steht und über das ganze Gesicht strahlt! Danke Vivi, dass es dich gibt!

Gedanken der Chorleiterin Adeline Marty:Ein süßes Mädchen hat bei mir einen nach­haltigen Eindruck hinterlassen: Stets hat sie mich auf der Straße mit einem fröhli­chen „Hallo, Adeline Marty“ begrüßt. Auf­geschlossenheit und Freundlichkeit schätze ich sehr an einem Menschen.

Als mich ihre Mutter gefragt hat, ob sie dem Kinderchor Feusisberg beitreten dür­fe, musste ich mich deshalb nicht lange bit­ten lassen. Ich ahnte, dass es nicht ganz ein­fach werden würde, aber ich wollte ihr eine Chance geben.

Vivi singt bei uns nun schon seit vier Jahren mit voller Hingabe auch bei Kon­zerten und Gottesdiensten mit und hat sich sehr gut eingefügt.

Mittlerweile hat sie gelernt, meinen An­weisungen zu folgen; auch wenn sie von meinen Entscheidungen (z.B. ihr keinen Solopart aufzubürden) nicht immer begeis­tert ist, schmollt oder trotzt sie nicht mehr wie früher.

Die anderen Kinder haben erfahren, dass auch ein Mädchen wie Vivi in der Lage ist, so wie sie zu singen, wenn man ihr dazu nur die Gelegenheit gibt und sie unterstützt. So­mit haben sie Werte wie Toleranz und Wert­schätzung mit auf den Weg bekommen.

Persönlich habe ich einen Weg gefun­den, durchaus ansprechende Gesangsquali­tät zu erreichen – trotz eines Chormitglieds mit besonderen Bedürfnissen.

Am allermeisten jedoch erfreut uns alle das Lächeln und die Herzenswärme, die Vivi ausstrahlt. Ich bin so stolz und dank­bar, ein Teil ihres Lebens sein zu dürfen.

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E r war einfach ganz selbstverständlich immer dabei: in der Familie, in der drei Generationen zusammenleben

(seit zwei Jahren sogar unter einem Dach), in der Integrativen Kindereinrichtung, in der Reformschule „Maria Montessori“, ei­ner evangelischen Schule mit Integration, und augenblicklich in der Saaleschule für (H)alle, einer staatlich anerkannten inte­ grativen Gesamtschule, die sich auf den Weg zur inklusiven Schule begeben hat.

Konrad wurde 1997 geboren, als Früh­chen mit einem Herzklappenfehler, der 1998 in der Charité mit körpereigenem Ma­terial erfolgreich korrigiert wurde.

Seine Entwicklung wurde von Anfang an in der Familie und ambulant gefördert. Namentlich sollen hier die Vojta­, Bobath­ und Tomatis­Therapie erwähnt werden. Mit dem Erreichen der nahezu uneinge­schränkten körperlichen Leistungsfähig­keit wird in seiner Entwicklung nichts vor­dergründig forciert. Konrad muss sich nur noch einmal pro Jahr zu einer Routineun­tersuchung beim Kardiologen vorstellen. Alles soll sich in einer anregenden Atmo­sphäre möglichst von selbst ergeben!

Rückblickend haben wohl die Tatsache des Angenommenwerdens und der Teilha­

be an allen familiären Aktivitäten und das gemeinsame Aufwachsen mit anderen Kin­dern und Jugendlichen in den durchlaufe­nen Bildungseinrichtungen den entschei­denden Anteil an der erfreulich vielseitigen Entwicklung.

Konrad nimmt ganz selbstverständlich mit seinen Altersgenossen, seinen Eltern, seiner zwölfjährigen Schwester oder seinen Großeltern die vielfältigen kulturellen und sportlichen Angebote der Universitätsstadt Halle (Saale) in Anspruch.

Eine doch nennenswerte Anzahl von Vereinen und Einrichtungen hat in der Stadt den Grundgedanken der Inklusion in

ihrem Leitbild und bietet so recht gute Vo­raussetzungen für ein inspirierendes und förderndes gesellschaftliches Umfeld.

Die meisten Anregungen kommen aus der sportlich­touristisch geprägten Familie, in der es aber auch musikalische Ambitio­nen gibt.

Konrad nimmt schnell nahezu alle ihn interessierenden visuellen Anregungen auf. Mit einer erstaunlichen Nachahmungsfähig­keit und mit Ehrgeiz versucht er, sich das Er­lebte anzueignen. Selbst nur im Fernsehen wahrgenommene Bewegungsabläufe kann er ziemlich schnell für sich erschließen.

Fernab von allen sonst dominierenden Leistungszwängen in der Schule konnten sich seine Freizeitbeschäftigungen so zum Lebensmittelpunkt entwickeln, eigentlich beneidenswert!

Vom Schwimmen, Paddeln, Skifahren und vielem mehrKonrad lernte schon im Vorschulalter das Schwimmen, er ist seitdem eine richtige „Wasserratte“. Einmal pro Woche kann er in einer Behindertenschwimmgruppe des Uni­versitätssportvereins Halle in der Schwimm­halle des SV Halle trainieren, in der er auch schon dem Weltklasseschwimmer Paul Bie­dermann begegnete und diesen auch sofort erkannte. In einer Stunde legt er über einen Kilometer in verschiedenen Stilarten, teil­weise auch nur mit Arm­ oder Beintechnik, zurück.

2014 nahm Konrad an den ersten Special Olympics Sachsen­Anhalts teil und maß in der Altersklasse 17 bis 21 mit älteren und wesentlich höher gewachsenen Sportlern seine Kräfte. Bei den Special Olympics, für die es keine Qualifikationsnormen gibt, ge­winnt aber im ursprünglichen olympischen Sinne jeder! Hier erfahren alle ohne Aus­nahme Anerkennung und Erfolg.

Seit 2005 nimmt Konrad mit einer Grup­pe des Vereins Down­Kind Halle (Saale) e.V. am Down­Syndrom­Sportler­Festival in Magdeburg teil. Neben den sportlichen Aktivitäten beteiligt er sich seit zwei Jahren auch am angebotenen Tanzkurs, dessen Er­gebnisse am Ende des Festivals allen Teil­nehmern präsentiert werden. In Magdeburg verblüffte Konrad vor Jahren einen Tisch­tennisübungsleiter damit, dass er je nach Si­tuation mit der rechten oder linken Hand den Schläger fasste. Im Sommer wird aus­giebig an der Platte im Garten gespielt.

einfach Konrad! Vielfach aktiv und interessiertDas diesjährige Motto der Do-it-yourself-POSTER-Aktion eignet sich auch vorzüglich, um über die Hobbys von unserem Konrad zu be-richten. Nicht nur ist er einfach ganz selbstverständlich immer dabei, er macht auch immer begeistert mit: Schwimmen und Tischtennis spielen, paddeln oder Inliner fahren, fotografieren oder musizieren … Seine Freizeitbeschäftigungen entwickelten sich zum Lebensmittel-punkt. Beneidenswert!

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g F R E I Z E I T

Tanzen bereitet Konrad sehr viel Freu­de, er zeigt sich gern in der Öffentlichkeit, auch völlig unangekündigt mal während der Hofpause auf dem Schulhof oder wäh­rend des Familienurlaubs unter dem Eif­felturm! Einmal im Monat organisiert der Verein Lebens(t)raum e.V. in Zusammenar­beit mit der halleschen Kultkneipe Objekt 5 eine Disco, die Konrad mit seiner Freundin Sophie ab und zu besucht.

Derselbe Verein bietet auch in den Som­merferien ein Feriencamp in wechselnden Freizeiteinrichtungen an, zuletzt 2014 im KiEZ Bollmannsruh in Brandenburg. Die sehr vielfältigen Angebote, so auch das Tan­zen, kommen so gut an, dass Konrad auch 2015 mit Schulkameraden der Saaleschule daran teilnehmen wird.

Der rührige Verein Lebens(t)raum initi­iert auch Theaterprojekte. So konnten drei Jugendliche der Saaleschule mit Down­Syndrom gemeinsam mit anderen behin­derten Jugendlichen und Erwachsenen im „Schaufenster“ des halleschen „neuen the­ater“ nach wochenlangen Proben 2012 ihr

Stück „Raxli Faxli“ vor Mitschülern, Leh­rern, Eltern, Verwandten und Freunden zur Aufführung bringen.

Unter Regie des halleschen freien Radios corax gestalten momentan Jugendliche un­ter anderem mit dem Down­Syndrom eine Sendung. Hier werden Recherchen und In­terviews zu verschiedenen Themen durch­geführt. Hierbei entstanden zum Thema Graffiti auch die beiden Fotos von Konrad, der schon seit einigen Jahren gern fotogra­fiert. Mit Konrads zum Teil besonderem Blick auf die festzuhaltenden Objekte ent­standen schon mehrere interessante Fotos.

In der Schule ist Konrad mit seiner Klas­se überall mit dabei, so auch in diesem Jahr bei einer recht anspruchsvollen Radtour oder beim Volleyballturnier.

Das Radfahren hat er über Dreiradfah­ren und das Laufrad im Vorschulalter ge­

lernt. Konrad nimmt in Begleitung sicher am Straßenverkehr teil. Das Radfahren steht auch im Mittelpunkt des gemeinsamen Ur­laubs mit den Großeltern. Dort geht es auch auf das Pferd. Den Zugang zu Pferden hat er über therapeutisches Reiten in der Nähe von Halle gewonnen. Sehr gern und aus­dauernd arbeitet er auch im Stall, der Opa hat sich dabei schon helfender Weise einige Schwielen an den Händen geholt!

Mit seiner Familie geht es auch nahe­zu regelmäßig mit dem Faltboot über die mecklenburgischen Seen. So gab es auch keine Probleme bei Kanutouren mit der Klasse. Auch Urlaubsaufenthalte in den Bergen mit Wandertouren bewältigt Kon­rad mit Freude.

Seine körperlich bedingte verbesserungs­würdige Ausdauer wird in der schönen Jah­reszeit einmal wöchentlich mit Hilfe seines Laufpaten Mario, den Konrad durch den Verein Down­Kind Halle (Saale) e.V. ken­nengelernt hat, trainiert. So war unter ande­rem die Teilnahme am 6. Lions­Benefizlauf 2013 möglich.

Da der Vater Volleyball und der Opa so­wie die Schwester Basketball spielen, wur­de sein Interesse für diese Sportarten sehr zeitig erweckt. Erstaunlich sind hier sei­ne Auffassungsgabe und die feinmotori­schen Fähigkeiten. Teilweise beherrscht er anspruchsvolle Techniken nahezu per­fekt. Beim Basketball kommt ihm zudem noch seine Beidhändigkeit entgegen. Lei­der gibt es außerhalb des Sportunterrich­tes keine Betätigungsmöglichkeit in einer Mannschaft. So beschränken sich die Spiel­möglichkeiten ganz auf die Familie und Gastrollen bei deren Mannschaften. Mit der Mannschaft seiner Schwester, USV Hal­le Rhinos, kann er an verschiedenen Akti­vitäten teilnehmen, so auch an der Kinder Basketball Academy 2014.

Konrad ist bekennender Fan der Damen der 1. Bundesligamannschaft des SV Halle

Lions. Kein Heimspiel wird mit der Familie verpasst, wie kaum ein anderer durchlebt er alle Höhen und Tiefen mit den Spielerin­nen! Er hat eine Lieblingsspielerin und zollt durchaus auch der Trainerin Anerkennung. Konrad spielt selbst auch sehr gern Fußball. Auch hierbei sind seine Aktivitäten auf die Schule und die Familie beschränkt. Beson­ders die „Übersteiger“ von Ronaldo forder­ten seinen Nachahmungstrieb heraus. Ein noch nicht erfüllter Wunsch: als Fan des FC Bayern München ein Spiel in der Allianz­Arena erleben zu können!

Schon seit einigen Jahren wird auf Kon­rads Wunsch zu seinem Geburtstag einem Bowling­ und Freizeitcenter ein Besuch ab­gestattet. Auch beim Bowling und Billard gibt Konrad keine schlechte Figur ab, zu­mal seit diesem Schuljahr auch im Schul­club der Saaleschule ein Billardtisch zum Üben steht.

Da die Familie sehr wintersportbegeis­tert ist, geht es regelmäßig in die Berge. Von klein auf stand Konrad auch auf dem Ski und tummelt sich mit Freude in der Loipe und auf der Piste. Am Hang hat alles mit Skifahren an der Longe angefangen, seit zwei Jahren geht es auch ohne. Im vergan­genen Winter war auch eine schwarze Piste nicht mehr unüberwindbar!

Durch eine Eissporthalle in Halle be­günstigt, lernte Konrad in der Grundschu­le das Schlittschuhlaufen. Mit den Inlinern kann man aber auch in der eisfreien Zeit üben!

Neuerdings hat neben dem Musikhören die Beschäftigung mit einer Spielkonsole an Bedeutung gewonnen. Das Lieblingsspiel? Natürlich Fußball – FIFA 15, in der Familie ist er dabei unerreicht. Die Handhabung der umfangreichen Bedieneroberfläche bewäl­tigt er traumwandlerisch. Dabei, wie auch bei der Benutzung des Notebooks, kann Konrad sich sogar zum Lesen und Schreiben überwinden, was so sonst nicht vordergrün­dig in seinem Interesse steht. So sind auch mit Hilfe des Opas einige Powerpoint­Prä­sentationen entstanden, die er mit großem Eifer und mit Freude zum Vortrag brachte. Das Inbetriebnehmen des Notebooks und das Surfen im Internet nach ihn interessie­renden Inhalten kann er völlig eigenständig bewältigen. Gelegentliches Musizieren mit der Omi rundet seine Freizeitbeschäftigun­gen ab. Konrad hatte eine musikalische Früh­ erziehung und über zwei Jahre Musikthera­pie mit vielfältigen Instrumenten.

Dietrich Strech

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g F R E I Z E I T

Selbstdisziplin durch JudoMein Sohn Danilo ist heute ein 25­jähriger junger Mann. Schon als kleiner Bub hatte er einen großen Bewegungsdrang. Sein zwei Jahre jüngerer Bruder Enrico war für ihn ein Vorbild. Danilo war z.B. ganz eifrig be­müht, ohne Stützräder Fahrrad zu fahren. Denn klar, wenn sein jüngerer Bruder das konnte, wollte er es genauso schaffen. Mo­tiviert und hartnäckig übte er, ganz allei­ne. Da habe ich viele Stürze miterlebt. Doch sein Wille hat sich ausbezahlt – heute fährt er selbstständig und sogar freihändig.

Als Kind begann Danilo zu reiten. Er nahm seine Stunden auf einem Reiterhof mit nicht beeinträchtigten Menschen. Es war eine reine Mädchendomäne, in der er sich jedoch sehr wohl und gut aufgehoben gefühlt hat. Durch diesen Sport durfte er seine Selbstdisziplin erweitern.

Aber ich bemerkte bald, dass nur das Reiten und der Turnverein, in dem er mit seinem Bruder tätig war, nicht ausreichten, um seine Energie zu stillen.

Durch meinen jüngeren Sohn erkannte ich, dass Judo eine sehr gute Lebensschu­le bezüglich Disziplin und Selbstbeherr­schung ist. Also habe ich seinen Judoleh­rer gefragt, ob er Danilo die Chance geben würde, diese Sportart zu erlernen. Die Ak­zeptanz seines Trainers M. Lanz ist bemer­kenswert, denn eine solche Integration wird nicht überall bejaht. Er durfte mittrainie­ren und das Judo wurde zu einem wichti­gen sportlichen Ausgleich in seinem Leben.

Danilo wurde wie alle anderen behan­delt. Kam er verspätet ins Training, muss­te er beispielsweise Liegestützen machen. Ihm wurden auch keine Gurte geschenkt. Wie es im Judo üblich ist, müssen Prüfun­gen bestanden werden, um in die nächsthö­here Stufe zu gelangen. Also auch, um einen neuen Gurt mit der dazugehörigen Farbe zu erwerben. Auch Danilo nahm an den Prü­fungen teil und er schaffte es bis zum oran­gen Gürtel. Den nächsten Gurt zu verdie­nen spornte meinen Sohn an und er blieb voll motiviert dabei und übte fleißig. Er nahm auch an Wettkämpfen teil und ich war immer wieder überrascht, wie aktiv er dort und im Training mitmachte.

Danilo ist von Natur aus ein eigenwilli­ger Junge und setzt seine eigenen Vorstel­lungen durch. Sturheit und Trotz können dabei ein wichtiges Thema sein. Ich darf je­doch miterleben, dass sein Verhalten in in­tegrativen Situationen viel positiver ist, als wenn er mit Menschen mit Behinderung zusammen ist.

Hiermit möchte ich alle Eltern animie­ren, unsere besonderen Kids so gut es geht in die Gesellschaft zu integrieren. So kann gegenseitig sehr viel voneinander gelernt und können die verschiedenen Kompeten­zen gestärkt werden.

Dorotea Zanutta

Das Stricken ist für mich ein schönes Hob­by, weil es gemütlich ist und man kann es auch überall machen. Wenn ich auf meinen Zug warten muss oder wenn ich eine lan­ge Reise machen kann oder wenn ich allei­ne zu Hause bin, oder wenn ich mit meinen Strick­Freunden zusammen bin, dann ist Stricken sehr gemütlich.

Das Stricken habe ich in einer Schule ge­lernt. Ich habe immer gestrickt, wenn es mir langweilig geworden ist. Ich habe gewartet bis meine Lehrerin mir neue Aufgaben ge­ben konnte. So habe ich immer schöner ge­strickt.

Als ich als Abwart (Hausmeister) in der Schule gearbeitet habe, bin ich mit meiner Chefin in einer Strickgruppe stricken ge­gangen. Es sind viele Frauen, die gerne Stri­cken und noch mehr lernen wollen. Ich bin der einzige Mann und die Frauen ha­ben auch Freude, wenn ich komme. Dort ist eine Frau, wo eine Wollladen hat, die Ober­chefin. Ich kann auswählen, welche Wol­le mir gefällt. Dann kann ich schauen in einem Mode­Heft, welches Muster mir ge­fällt.

Ich stricke am liebsten Pullover für klei­ne Kinder, wo auf die Welt kommen. Ich habe auch einen Schal gemacht für mei­ne Mutter. Ich mache auch eine Decke, Ka­puzenjacke und Käppchen. Wenn ich nicht weiter weiß, hilft mir die Oberchefin und jeder zahlt 10 Franken für einen Abend und das ist ihr Lohn.

Simon Federer FO

TO: B

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Ich bin Svea. Ich bin 13 Jahre alt und wohne im Vogtland. Mein Hobby ist Cheerleading.

In der ersten Klasse habe ich in der Schu­le damit angefangen. Das hat mir so gut ge­fallen, dass ich Cheerleading auch noch in meiner Freizeit machen wollte.

Bei CVV CheerMANIA Auerbach e.V. konnte ich zum Training gehen. Mein Team heißt Red Lions. Wir trainieren jeden Don­nerstag von 16.30 bis 18.00 Uhr, auch in den Ferien. Wir haben vier bis fünf Auf­tritte im Jahr, meistens bei Festen und Fei­ern. Dieses Jahr sind wir in ein Cheer­ und ein Dance­Team aufgeteilt worden. Ich bin beim Cheer­Team.

Es gibt beim Cheerleading auch Leis­tungsteams. Die nehmen an deutschen, Eu­ropa­ oder Weltmeisterschaften teil. Vorher haben sie öffentliche Generalproben. Dort treten wir auch auf.

An diesen Wettbewerben habe ich schon teilgenommen: XMAS CUP CHEERLEADING SACH­SENPOKAL 2012 und 2013 Vogtlandspiele 2012 und 2014 Trainingslager 2012 und 2014 Nikolaus­Fußballpokal 2014 in Treuen

Svea Glaß

Noch ein paar Fakten zum Thema Das kleine 1x1 des CheerleadingsCheerleading (von englisch „cheer“ – Bei­fall und „to lead“ – führen, also sinngemäß: das Publikum zum Beifall führen) war ur­sprünglich eine Männersportart. Erst 1920 traten in Amerika die ersten Frauen den Cheermannschaften bei. Heute ist Cheer­leading viel mehr als nur ein kurzer Rock und ein paar Puschel. Es ist eine anspruchs­volle und vielseitige Sportart. Eine Kombi­nation aus Tanz, Akrobatik, turnerischen Elementen und Show, mit hohen Schwierig­keitsgraden, atemberaubender Geschwin­digkeit und Präzision. Wenn man den Trai­ningsaufwand und den Fleiß kennt, die Mühen und die Anstrengungen, die Cheer­leader auf sich nehmen, um eine glänzen­de und eindrucksvolle Kür auf die Beine zu stellen, dann weiß man: Cheerleading ist Leistungssport. Aber es ist nicht nur eine Sportart, sondern ein Lebensgefühl. Cheer­leader sind Sportler mit Showtalent, unter­wegs in der Mission, ihre Mitmenschen mit ihren Darbietungen zu unterhalten.

Mein Hobby ist CheerleadingSvea: „Cheerleading gefällt mir so gut, weil ich gern tanze und mich bewege. Ich mag es, wenn viele Leute dabei sind.“

Die zwei Stilrichtungen im Cheerlea­ding sind Dance und Cheer. Im Dance stehen das Tanzen und die Show im Mittel­punkt. Die Dance­Teams widmen sich aus­schließlich dem Tanzen. Im Cheer zeigen die Teams neben Tänzen auch Bodentur­nen und Pyramiden.

Cornelia Beierlein

Text übernommen aus Cheerleading Verein Vogtland

CVV Teufelinos e.V., Vereinsinformationen Stand 31.3.2009

Die Homepage des Vereins: www.cheer-mania.com

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Klettern – hoch hinauf!Hier wird keiner hochgezogen, das muss schon jeder alleine schaffen!

Bis auf 15 Meter hoch geht’s im „Pfalz­Rock“, der Kletterhalle des Alpenvereins, Sektion Frankenthal. Lukas (17) hat gera­de den höchsten Punkt der Westwand mit einer Route mit dem Schwierigkeitsgrad UIAA 4+ erklommen, blickt nach unten und winkt Annika (16) zu, die sich gerade in einer 4 die Zähne ausbeißt. Aber auch sie schafft es mit ihrem Ehrgeiz bis zum Gip­fel. Gekonnt, sich immer wieder mit den Füßen abstützend, werden Lukas und An­nika wieder abgelassen. Die beiden Siche­rer Tobias und Helen klopfen den Teenies auf die Schulter: „Klasse gemacht!“ Im Lau­fe der Zeit entwickeln die jungen Kletterer zu jeweils einem Betreuer eine besonders enge Beziehung. Auch Annika freut sich, umarmt ihre Lieblingsbetreuerin, ruht sich aus, bevor sie dann noch andere Routen hochklettert.

In den leichteren Routen der Südwand konzentriert sich Peter Pludra, Chef der von der Lebenshilfe Mannheim engagier­ten Kletterschule „GECKO­KLETTERN“, auf Fabian (12), der sich am Anfang immer ein wenig schwerfällig nach oben bewegt und sich viele Ruhepausen gönnt. Aber die Anfeuerung von Peter hilft: „Die Füße tra­gen dich durchs Leben, die Füße tragen dich auch die Wand hoch“, und tatsächlich – auch Fabian kommt bis ganz nach oben und wieder heil und vor allem stolz am Bo­den an.

Seit fünf Jahren schon besteht die Klet­tergruppe der Offenen Hilfen, der Lebens­hilfe Mannheim. 16 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen acht und 27 Jahren treffen sich 20 Mal im Jahr im „Pfalz­Rock“ auf der anderen Rheinseite im pfälzischen Frankenthal, um für zwei Stunden auf Klettertour zu gehen. Fast die Hälfte der Teilnehmer lebt mit dem Down­Syndrom.

„Es ist schön zu erleben, wie sich die Jungs und Mädels weiterentwickeln“, freu­en sich Peter Pludra und seine Frau Karin, die mit erfahrenen Helferinnen und Hel­fern die Klettergruppe betreuen und wis­sen, dass neben allem Ansporn „Hey, du schaffst es!“ auch eine schier nicht enden­de Portion Geduld und Zuwendung not­wendig ist.

Die Klettergruppe der Lebenshilfe Mann­heim hat in die Frankenthaler Kletterhalle eine nicht alltägliche Normalität gebracht. Dass nämlich auch junge Menschen mit Be­hinderungen diese eher als „extrem“ einge­stufte Sportart ausüben und sich dafür mehr als begeistern können.

Für die jungen Kletterer bedeutet das Er­klimmen der bis zu 15 Meter hohen Wän­de eine enorme Stärkung des Selbstwert­gefühls. Alle Sinne sind im Einsatz und werden geschult. Es wird getastet, die Au­gen suchen den nächsten und besten Griff, die Füße müssen richtig gestellt werden und der Gleichgewichtssinn muss dabei Schwerstarbeit leisten. Die Jugendlichen nehmen sich selbst wahr, egal ob jetzt ei­ner drei Meter schafft oder ganz oben an der Decke abschlägt. Es zählt die persön­liche individuell mögliche Leistung. Auch wenn da noch jeweils eine(r) unten steht und das Sicherungsseil hält, für Peter Plu­dra und seine Helfertruppe ist klar: „Hoch­gezogen wird keiner, das muss schon jeder alleine schaffen!“ Das ist Willensschulung für das Leben.

Bemerkenswert ist, dass zwei der Jugend­lichen, die von Anfang an dabei sind, sich so gut entwickelt haben, dass sie den Vorstieg beim Klettern beherrschen und auch Ver­antwortung übernehmen, indem sie zuver­lässig im Top­Rope andere Teilnehmer si­chern.

Diese Veranstaltung ist gelebte Inklusion in unserer Gesellschaft.

Norbert Hauck

Kontakt und Info:

Offene Hilfe der Lebenshilfe Mannheim, Ansprechpartner: Alexander Baues

E-Mail: [email protected]

Peter Pludra Kletterschule GECKO-KLETTERN E-Mail:

[email protected]

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An einem Sandstrand in Oslo hören wir das erste Mal von der Peder Morset Schu­le, der einzigen Volkshochschule Norwe­gens, in der die Hälfte der 65 Studierenden behinderte Menschen sind. Zwei Jahre spä­ter, nach einem umfangreichen Aufnahme­prozedere und der Teilnahme an einem ob­ligatorischen Vorkurs verabschieden wir uns Ende August 2014 von unserer Tochter Pas­cale (DS, 26 Jahre) auf dem Schulcampus in Selbustrand. Mit dabei hat sie 40 kg Gepäck plus Ski und Skischuhe. Nach ein paar Ab­schiedstränen ist sich Pascale selber überlas­sen. Wie würde sie sich wohl durchschlagen?

Pascales Alltag an der Peder Morset SchuleDer Schulcampus liegt 45 Autominuten vom Flughafen Trondheim entfernt, im Landesinneren, an einem dünn besiedelten See. Je acht Studierende wohnen als Gruppe zusammen in einem der acht Blockhäuser. Die Gebäude sind über den ganzen Cam­pus verstreut. Im zentral gelegenen Mehr­zweckhaus wird gegessen, gewerkelt und gefeiert.

Pascale spricht Deutsch und ein we­nig Englisch. Norwegisch konnte sie zum Schulbeginn kein Wort. Einige Leiter spre­chen etwas Deutsch und Anika, eine der Praktikantinnen, kommt aus Deutschland. Dies vereinfachte Pascale den Start. Bereits in der ersten Woche verbrachten die Schü­

ler mit ihrer Gruppe ein paar Tage in einer Berghütte, wo sie sich beim Kochen, Wan­dern, Singen und Spielen etwas näher ken­nenlernten. Zurück auf dem Campus be­gann der Schulalltag. Jede Woche hat den gleichen Rhythmus:■ Montag: Schulunterricht (Pascale

lernt Norwegisch), Besprechung des Wochen programms, Nebenfächer

■ Dienstag und Mittwoch: Schwerpunkt­fach. Pascale hat Reiten ausgewählt. Sie reitet, seit sie ein kleines Mädchen ist.

■ Donnerstag: Haus reinigen, Waschtag, abends Disco

■ Freitag: Nebenfächer■ Samstag: Schulausflug in der weiteren

Umgebung (Ausstellungen, Seilpark, Museen, Festanlässe, …)

■ Sonntag Ruhetag

Das Schwerpunktfach ändert sich wäh­rend des ganzen Schuljahres nicht. Die Ne­benfächer können von Zeit zu Zeit neu ge­wählt werden. Das Angebot ist sehr breit. Es reicht von Voltigieren über Schneesport­arten, Klettern, Wandern, Nähen, Filzen oder Töpfern bis zum Singen und Thea­terspielen. Ziel ist, möglichst viel Neues zu entdecken und sich selber, seine Neigun­gen und Fähigkeiten besser kennenzuler­nen. Kameradschaft wird groß geschrieben. Behinderte und Nichtbehinderte unterneh­men alle Aktivitäten gemeinsam.

Pascale hat sich schnell eingelebt. Ihre große Selbstständigkeit – sie hatte zuvor während vier Jahren mit zehn Behinder­ten in der Nähe unserer Kleinstadt auf ei­nem Bauernhof gelebt und war nur alle 14 Tage nach Hause gekommen – kam ihr da­bei zugute. Sehnt sie sich nach ihrer Fami­lie, so setzt sie sich in der Freizeit mit ihrem iPad in den Aufenthaltsraum und skyped mit uns Eltern, ihrem Bruder, ihrem Freund oder mit ihrer 90­jährigen Großmutter. Die Authentizität des Bildschirmtelefons und die damit verbundene Nähe helfen nicht nur Pascale, sondern der ganzen Familie, die Distanz zwischen der Schweiz und Nor­wegen zu überwinden.

Im Herbst, an Weihnachten, im Febru­ar und an Ostern sind Ferien. Pascale fliegt selbstständig hin und her. Eine Assistentin begleitet sie in Oslo zu ihrem Anschluss­flug. Pascale ist stolz darauf, dass sie ganz alleine fliegen kann. Sie genießt die Unab­hängigkeit und Freiheit. Vor dem letzten Flug lernte sie beim Warten am Flughafen Oslo eine junge Schweizerin kennen. Im Flugzeug schafften es die beiden dann, ne­beneinander zu sitzen.

Bei der Abendgestaltung sind die Studie­renden frei. Einmal wöchentlich ist Disco, an den anderen Abenden wird in der Turn­halle Fußball oder Unihockey gespielt, lädt das Schwimmbad zum Baden und die Sau­na zum Schwitzen ein. Das Angebot ist frei­willig, wer nicht mittun will, kann auch im Gruppenhaus lesen, Musik hören, einen Film anschauen, surfen …

Fazit nach den ersten vier MonatenBereits ist Halbzeit. Das Schuljahr dauert bis Ende Mai 2015. Zeit für ein erstes Fazit. Pascale geht gerne in die Peder Morset Schule. Sie genießt die vielfältigen Aktivitä­ten und die Gemeinschaft. Die norwegische Sprache bildet eine gewisse Barriere. Zum

T E x T: K AT r I N U N D C A S PA r S T r ÄU L I

In Norwegen bestehen rund 70 staatlich unterstützte Volkshochschulen. Sie haben die Förderung und die Stärkung der Persönlichkeit Jugendlicher vor allem in sozialer, aber auch in fachlicher Hinsicht zum Ziel. Das fakultative Bildungsangebot dauert neun Monate. Der Unterricht ist in Haupt- und Neben- fächer aufgeteilt. Sie decken eine große Bandbreite an Fach- und Themengebieten ab. Es gibt keine Prüfungen und keinen offiziellen Abschluss.

Hallo und guten Tag liebe Leserinnen und Leser der Zeitschrift „Down-Syndrom“.

Mein Name ist Inga Lowitzki, ich bin 27 Jahre und wohne in Kassel. Mit diesem Bericht möchte ich von meinem ersten Urlaub mit meinem Freund René erzählen.Wir waren eine Woche in Holland. Dort wohnten wir in einem kleinen Ort Brouwershaven in einem Hotel.Ich und mein Freund René waren einen ganzen Tag in Rotterdam. Dort haben wir viele Tiere gesehen wie zum Beispiel Elefanten, Giraffen, Schmetterlinge, Eisbären, Erdmännchen und Co. Dort sind wir mit einer kleinen Bahn gefahren und haben zum Abschluss jeder einen Kaffee und Kuchen getrunken und gegessen. Spät am Abend waren wir sehr müde und gin-gen früh ins Bett. An einem Tag sind wir von Brouwershaven bis in ein kleines Nachbarsdorf gelaufen und besuchten dort meine Eltern auf einem Campingplatz. Dort haben wir gegrillt und Fuß-ball WM geschaut. Dort haben wir auch ein Bier getrunken und meine Mutter hat uns dann zurück zum Hotel gefahren. Es hatte dort ziemlich viel geregnet. Abends tran-ken wir im Bett noch einen Prosecco und schliefen.Am nächsten Morgen haben wir unten gefrühstückt und sind mit dem Bus in eine schö-ne Stadt gefahren. Dort haben wir geshopt und zwischendurch tranken wir Kaffee und aßen unsere Baguettes. Abends saßen wir in einer Pizzeria. Nebenbei lief Fußball.

Mir hat es richtig gut gefallen und meinem Freund gefiel es auch. Ich bin froh, dass meine Mutter das Hotel bezahlt hat und dass wir so selbstständig sein konnten.

Vielen Dank fürs Lesen. Inga Lowitzki

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Glück sprechen einige Leiter Deutsch. Das erleichtert Pascale das Leben an der Schule. Heute, nach einem halben Jahr, versteht sie etwas Norwegisch. Dies ist der Integration in die Schulgemeinschaft förderlich. Die re­gelmäßigen Ferien helfen, auch einmal auf­kommendes Heimweh auszuhalten, weil die verbleibende Zeit bis zum nächsten Besuch in der Schweiz absehbar ist. Nach ein bis zwei Wochen zu Hause zieht sie dann das verlockende Norwegenabenteuer wieder in die Ferne. Wenn Pascale ihren Freunden und Bekannten in der Schweiz von Nor­wegen erzählt, dann realisiert sie so richtig, wie viele tolle Dinge sie in Selbustrand lernt und erlebt. Ihrem gesunden Selbstbewusst­sein konnte die Schule bisher nichts anha­ben – im Gegenteil.

Wir Eltern stehen im regelmäßigen Mail­kontakt mit der für sie zuständigen Leite­rin. Kleinere Probleme lassen sich so umge­hend klären. Der zweite Teil des Schuljahrs hat am 8. Januar 2015 spannend begonnen. Endlich liegt Schnee in Selbustrand, end­lich ist der See gefroren, sodass die Studie­renden am Freitag zum Langlaufen, Alpin­

skifahren oder Schlittschuhlaufen ausflie­gen können. Im Frühjahr findet ein ein­wöchiger Schulausflug nach Edinburgh in Großbritannien statt. Zuerst jedoch wird Pascale auf dem Heimweg in die Sportferi­en zusammen mit den Jugendlichen in ih­rem Schwerpunktfach ein Reitturnier in Oslo besuchen. Darauf freut sie sich sehr.

Bei diesem tollen Schulangebot taucht unweigerlich die Frage nach den Kosten der Schule auf. Norwegen unterstützt die Schu­le finanziell. Davon profitieren auch die ausländischen Jugendlichen an der Schule. Wir finden das sehr großzügig. Wir rech­nen mit Schulkosten von rund 15000 CHF. Dazu kommen die Flüge. Pascale erhält vom Schweizer Staat eine Invalidenrente und zusätzlich einige Franken Ergänzungs­leistungen von unserer Kleinstadt. Zusam­men reichen diese Einkünfte zur Bezahlung sämtlicher anfallender Kosten.

Wir sind zuversichtlich, dass das zweite Halbjahr das erste an Intensität und Kame­radschaft noch übertreffen wird, weil Pas­cale die norwegische Sprache von Tag zu Tag besser versteht.

InformationenMehr über die Schule findet sich auf der Website: www.pedermorset.no. Am unte­ren Rand der Einstiegsseite unter der Ru­brik „Kunngjøringer“ steht „Pedern – vår skoleavis“. Über diesen Link gelangt man zur Schulzeitung. Sie wird von den Schü­lern produziert, erscheint wöchentlich und ist reich bebildert. <

Aus meinem Reisetagebuch, 14.–21. Juni 2014

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A ls am 16. Oktober 1994 unser Sohn Yves mit dem Down­Syndrom ge­boren wurde, brach für uns eine

Welt zusammen. In unseren Köpfen waren Bilder von hilflosen Kindern, die ein Leben lang von uns betreut und versorgt werden müssen, doch dieser Sonnenschein brach­te uns sehr schnell bei, dass es sich lohnt, für ihn zu kämpfen und ihm die Liebe und Unterstützung zu geben, die er braucht, um als Erwachsener möglichst selbstbewusst zu sein und selbstständig zu leben.

Was sich so einfach anhört, war mit vie­len Widrigkeiten verbunden. Ärztliche Fehl­diagnosen, acht Lungenentzündungen, Hör­ und Sprachprobleme, Kämpfe mit Behörden und Ämtern, um die Inklusion durchzuset­zen, und vieles andere mehr.

Yves war als Baby in einer Kindertages­stätte in Luxemburg, die ihn nur aufgenom­men hat, weil wir unterschrieben haben, dass wir bei einem plötzlichen Kindstod keine Regressansprüche stellen würden. Zur damaligen Zeit blieb uns nichts anderes üb­rig, als dies zu unterschreiben.

Später hat Yves den integrativen Kinder­garten in Luxemburg besucht, dort war sei­ne Behinderung kein Thema, er war „Yves“ und damit gut. Es war eine Freude, ihn dort gut aufgehoben zu wissen, da ich zu der Zeit wieder voll berufstätig sein musste. Dort blieb er, bis wir 1999 wieder nach Deutsch­land zurückzogen. Im letzten Sommer ha­ben wir diesen Kindergarten besucht, um Yves die Orte seiner Kleinkinderzeit zu zeigen. „Das ist doch Yves!“, begrüßte ihn die Leiterin nach all den Jahren freudig und zeigte uns ein Foto von Yves, das im­mer noch an der Wand hing. All meine Ge­danken, ob wir willkommen wären, waren überflüssig, es war für alle ein sehr bewe­gender Moment und gab uns das Gefühl, es damals richtig gemacht zu haben ihn dort­hin zu geben.

In Deutschland zurück, verfolgten wir den Gedanken der Integration weiter. Hier erst dank persönlicher Initiative der Be­such eines Regelkindergartens, dann die Einschulung in eine Förderschule. Der Schulleiter erstellte auch das Gutachten und sprach die Empfehlung aus, Yves an

einer/seiner Förderschule für ganzheitli­che Erziehung zu unterrichten. Nach sechs Monaten waren mein Mann und ich so un­glücklich über die Situation dort, dass wir die Umschulung in eine Regelgrundschu­le (in RLP Schwerpunktschule, in der Kin­der mit und ohne zusätzlichen Förder­bedarf zusammen unterrichtet werden) beantragten. Auch dies ging nicht prob­lemlos, da Yves ja schon Schulkind war, doch im Sommer 2002 gelang der Wechsel und 2006 ging es weiter in eine Realschu­le­Plus mit einem Jahr Wiederholung, um die zwölf Jahre Schulpflicht zu erfüllen. Für beide Schulen war es der erste Inklusions­Jahrgang und so manches hat Jahre gedau­ert, bis es sich eingespielt hatte und „nor­mal“ geworden ist.

Doch nicht nur im schulischen Bereich, sondern auch im privaten Umfeld blieb die Inklusion unser Ziel.

Fragen wie: „Was soll nach der Schule werden?“ oder „Was wird, wenn wir nicht mehr da sind?“, führten dazu, dass wir be­reits als Yves 14 oder 15 Jahre alt war mit dem Geschäftsführer der Kreisvereinigung der Lebenshilfe in Bad Kreuznach die ers­ten Gespräche führten. Den Herrn kannten wir seit der Grundschulzeit, da die Integra­tionshilfe für Yves von der Lebenshilfe kam.

Unser Wunsch lautete: „Wenn Yves mit der Schule fertig ist, ist er knapp 19 Jahre alt und soll dann, so war unser Traum, in eine betreute Wohngemeinschaft der Lebenshil­fe ziehen.“

Da Yves als Einzelkind aufgewachsen ist, wir keine Angehörigen in unserem Dorf haben, musste schon sehr früh über einen Auszug von zu Hause und die weitere Zu­kunft nachgedacht werden. Wir diskutier­ten immer wieder über die Möglichkeiten Wohnheim oder eine betreute Wohnge­meinschaft und kamen zu dem Schluss, da Yves immer mit Menschen ohne Beein­trächtigung zusammen war, den Weg einer WG zu verfolgen.

Regelmäßig fragten wir nach und wiesen immer wieder darauf hin, dass Yves jetzt 17, bald 18 Jahre alt war und es immer noch keine konkreten Pläne gab. Dies zerrte an unseren Nerven.

Die Lebenshilfe plante dann eine be­treute WG in Bad Kreuznach. Hierzu soll­te ein altes Haus gekauft und renoviert wer­den. Unsere Freude kannte kaum Grenzen. Eine WG mit jungen Leuten, die zusammen neu anfangen, das wäre fast zu schön, um wahr zu sein. Nur, es gab keine konkreten Termine. Immer wieder die Frage: „Wann?“ Im Februar 2012 erkrankte ich an Brust­krebs, die Zeit danach mit OP, Bestrahlun­gen, Antikörperinfusionen ging nicht spur­los an meiner Familie vorbei. Für mich wurde es immer dringender zu klären: „Was ist wenn? Ich will doch Yves’ Schritt in die Selbstständigkeit begleiten!“ Also blieben wir am Ball.

Dann hieß es plötzlich, im August 2013 sollte es soweit sein. Wir konnten es kaum glauben. Schon Anfang 2013 kam dann die Anfrage, ob Yves schon im Mai einziehen konnte? „Ja, er soll, er darf, er kann“, war da­rauf unsere Antwort. Mit Yves führten wir schon seit Jahren Gespräche, dass er wenn er die Schule fertig hat, wie andere junge Leute ausziehen würde. Der Gedanke, von zu Hause auszuziehen, war ihm nicht fremd, im Gegenteil, es war der normale Weg, den er auch gehen wollte.

Aber ein Kommentar von Menschen im Umfeld: „Ach, du armer Junge, warum musst du denn ausziehen?“, hatte Yves in tiefe Zweifel gestürzt. Danach beschlossen wir, unser Umfeld zu impfen, zu informie­ren. Bitte, reagiere positiv. Sage: „Super, du ziehst aus“, oder: „Das wird ja toll, in einer WG!“ Allmählich verschwand diese Skepsis bei Yves wieder.

Zunächst wurde aus dem Umzug nichts, der Umbau des alten Gebäudes dauerte. Da der Termin immer weiter nach hinten rück­te, wollten wir doch wenigstens die anderen jungen Menschen, die in die WG einziehen würden, und ihre Familien kennenlernen. Im Frühsommer 2013 trafen wir uns dann alle bei Kaffee und Kuchen. Viele neue Ge­sichter. Drei junge Männer und zwei Frau­en lernten wir mit ihren Familien kennen.

Wir alle hatten Ängste. Ob die jungen Menschen sich vertragen, sich mögen wür­den? Werden wir Erwachsenen miteinan­der klarkommen? Es gab viele Fragen. Wir

yves’ Weg in die WG„Lassen Sie Ihr Kind ziehen und alle werden davon profitieren!“ T E x T: H e I K e Z e N S e N

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tauschten die Adressen und E­Mails aus und beschlossen, in regelmäßigem Kontakt zu bleiben.

An diesem ersten Kennenlern­Nachmit­tag war ein Formel­1­Rennen im Fernsehen. Die jungen Leute schauten sich das gemein­sam an. Die erste Hürde war genommen, Yves war nicht der einzige Formel­1­Fan. Später sollte sich herausstellen, dass auch Fußball eine große Gemeinsamkeit ist.

Wir Erwachsenen beschlossen, bis zum Einzug regelmäßig mit den Kids was zu un­ternehmen. Minigolf, Bowlingfrühstück, Eisessen gehen, mal nach Mainz zum Fuß­ballspiel. Das alles half uns, Ängste allmäh­lich abzubauen. Auch nach dem Einzug wurden solche Treffen, zur Freude aller, wei­ter organisiert.

Die Kids lernten sich kennen und auch wir Erwachsenen hatten die Chance, uns über Ängste, Fragen zu Behörden, Anträge, Einsprüche bei Ablehnung zu besprechen, und begannen, uns gegenseitig zu helfen. Es war und ist eine enorme Erleichterung, dass auch wir Erwachsenen uns gut verstehen.

Im Sommer 2013 waren wir alle einge­laden, uns das Haus anzusehen, das noch komplett renoviert werden musste. Wir Er­

wachsenen konnten uns gut vorstellen, wie es mal werden sollte, und waren begeistert, doch Yves stand auf einmal ganz traurig da. Als ich ihn fragte: „Gefällt dir das Haus?“, antwortete er: „Das ist mir zu schmutzig!“ Gemeinsam erklärten wir allen Kids, dass das noch ganz schön gemacht wird und dass, wenn sie einziehen, alles ganz sauber sein wird. Diese Situation hat unsere Auf­merksamkeit geschärft, kann doch so eine Kleinigkeit dazu führen, dass Yves sagt: „Ich will nicht.“

So gingen das Jahr 2013 und auch das Frühjahr 2014 ohne Umzug dahin. In der Zwischenzeit hatte Yves, nachdem sein be­ruflicher Wunschtraum, in einer Tages­betreuung für Senioren zu arbeiten, leider nicht in Erfüllung gegangen war, im Sep­tember 2013 in der Werkstatt für behin­derte Menschen (WfbM) zu arbeiten be­gonnen. Dort traf er mehrere zukünftige Mitbewohner wieder. Gemeinsam fuhren sie auch öfter in das Haus, sodass sie den Fortschritt sehen konnten.

Für uns eine große Beruhigung, denn je besser die Kids sich kennenlernten, je bes­ser wird die Eingewöhnung funktionieren, so unsere Hoffnung. Wie wir heute wissen,

waren wir mit dieser Hoffnung nicht allei­ne, den anderen ging es auch so.

Im Frühjahr 2014 fand ein Grillfest statt, wo wir die leitende Betreuerin der WG ken­nenlernen und die ersten Gespräche füh­ren konnten. Wer sonst noch als Personal in der WG sein würde, war zu dem Zeit­punkt noch nicht klar. Es waren sich jedoch alle einig, dass auch ein männlicher Betreu­er bei den vier Jungs dabei sein müsse.

Im April 2014 hieß es endlich Einzug zum 1. Juni 2014, das Haus wird innen be­zugsfertig! Jetzt ging es auf einmal schnell. Wir mussten mit Yves Möbel kaufen für sein Zimmer, Versicherungen abschließen und die Grundsicherung beantragen für den Lebensunterhalt und die Miete – denn von den 63 Euro monatlich als Lohn im ers­ten Jahr vom Arbeitsamt war und ist dies al­les nicht zu bezahlen.

Wir hatten verabredet, dass wir uns alle am 1. Juni mit den Betreuern (drei Perso­nen mit 2,5 Stellen) zum Grillen in der WG treffen, wir Erwachsenen würden dann spä­ter gehen und die Kids konnten die erste Nacht im Haus verbringen.

Die Betreuer (wovon eine zu Yves’ großer Freude unsere ehemalige Integrationshelfe­rin ist), sind morgens vor und abends nach der Arbeit und am Wochenende tagsüber in der WG. Nachts sind die jungen Menschen alleine. In den ersten Nächten habe ich fast nicht geschlafen, hatte das Handy und das Telefon am Bett. „Was ist wenn ...?“ Doch al­les ging gut und geht weiterhin gut. Die Kids finden, trotz ihrer Beeinträchtigungen, auch bei z.B. Gewitter oder wenn sie Angst ha­ben, selbst Lösungen, ohne dauernd daheim anzurufen. Ich, als Mutter von Yves, weiß, es ist für ihn der richtige Weg, insbesondere da Yves nicht alleine in unserem Haus in einem kleinen Dorf leben könnte. k

Gisela20. Februar 1942 – 11. Dezember 2014

Unser Wunsch war und ist es, Yves auf seinem Weg weiter zu begleiten, ihm Wege zu ebnen und für ihn da zu sein. Unse­re Ängste, dass er Heimweh haben könn­te, erwiesen sich auf schöne Weise als un­begründet. Als Yves Anfang August, zwei Monate nach dem Auszug, ein Wochen­ende bei uns war, sollte er wie immer den Frühstückstisch abräumen. Kommentar: „Gleich!“, und er verschwand nach oben in sein Zimmer. Wir fragten uns: „Was wird das jetzt?“ Dann stand zehn Minuten später Yves mit gepackten Sachen vor uns und sagte: „Ich will nach Hause!“ Wir sind sehr froh, dass es so gut begonnen hat und die Stimmung untereinander in der WG so gut ist.

Zur WM haben wir Erwachsenen ein großes Fernsehgerät für das Wohnzimmer spendiert. Obwohl die Jungs unterschied­liche Vereine mögen, waren sie sich doch in einem einig: „Deutschland wird Welt­meister!“, und sie sollten recht behalten.

Vieles muss sich nach vier Monaten noch einspielen, muss noch geübt werden. Auch dass das Betreuerteam noch nicht seine endgültige Zusammensetzung hat, ist nicht so schön. Eine junge Frau, die mit einziehen sollte, konnte dies leider doch nicht tun. Wir hoffen, dass sich schnell ein weibliches Wesen findet, das zu den ande­ren passt.

Es ist und war die richtige Entschei­dung, Yves in die Selbstständigkeit zu ent­lassen. Er ist alt genug, seinen Weg zu ge­hen, und wir können ihn noch begleiten, ohne immer und überall allein verant­wortlich sein zu müssen. Dies bedeutet aber unter anderem, dass wir uns regel­mäßig zu „Eltern“­Nachmittagen mit al­len (Kids, Betreuer, Eltern und die beiden inzwischen eingezogenen Wellensittiche) treffen, um Anliegendes zu besprechen. Wir Eltern treffen uns zusätzlich zum „Stammtisch“, um eventuelle Probleme zu lösen und um weiterhin miteinander im Gespräch zu bleiben.

Wir können nur allen Eltern sagen: „Lassen Sie Ihr Kind ziehen und es wer­den alle davon profitieren!“

PS: Wenn Sie Yves und seine WG sehen wollen, schauen Sie mal in die Mediathek vom ZDF, die Sendung 37´Grad vom 7. Oktober 2014, Titel: Unser ziemlich bestes Leben“, hierin wurde unter anderem über Yves’ Weg in die WG berichtet.

„Mit 65 Jahren, da fängt das Leben an!“ So lautete der Titel eines Beitrags über die Rentnerin Gisela Großer, den wir in Le-ben mit Down-Syndrom, Nr. 56, Septem­ber 2007 veröffentlichten. Ihr Bruder er­zählte dort Giselas Lebensgeschichte, wie es kam, dass Gisela, geboren 1942, über­haupt überlebte, wie sie in der Groß­familie aufwuchs, wie sie 65­jährig im­mer noch in einer Werkstatt arbeitete und wie sie nach einigen Jahren in einem Wohnheim von ihrem Bruder Ulrich wie­

der nach Hause geholt wurde – denn „ein Wohnheim ist kein Zuhause“.

Liebevoll und mit Humor schildert Ul­rich Großer den Alltag mit Gisela. Ein All­tag, der nicht immer so einfach war, aber auch nie langweilig und auf jeden Fall vol­ler Überraschungen. So lernte Gisela mit 65 Jahren tatsächlich noch das Rolltreppen­fahren, etwas wogegen sie sich bis dahin ab­solut gewehrt hatte. Auch lässt sie sich in hohem Alter dazu überreden, aufs Motor­rad zu steigen, mit Helm und Lederjacke,

um mit ihrem Bruder kleine Ausflüge zu machen.

2010 wurde ein Foto von Gisela in den Flyer „Heute ist mein Tag“ aufgenommen, den wir zum Welt­Down­Syn­drom­Tag einsetzten, um die Öffentlichkeit auf Menschen mit Down­Syndrom aufmerk­sam zu machen.

Da hieß es: „Heute ist mein Tag, weil ich immer noch selbst-ständig meine Brötchen ein-kaufen gehen kann. Zugege-ben, den Gehwagen brauche ich dazu schon. Aber das ist für eine Dame mit Down-Syndrom in meinem Alter durchaus legi-tim. Als ich vor 67 Jahren ge-boren wurde, hat übrigens nie-mand geahnt, dass ich so lange durchhalte ...“

Gisela – „ein grauer Star“ Auch in den letzten Jahren be­richtete Ulrich Großer regel­mäßig über Giselas Wohl und Weh. Zum Beispiel als Gise­la sich irgendwann über Nebel beklagte.

„Bei einer Untersuchung wurde bei beiden Augen der graue Star diagnostiziert. Und ziemlich kurz danach war die

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liebe Gisela nahezu völlig blind. Sie konn­te nachts den Weg von der Toilette in ihr Bett nicht mehr finden und auch ihre Lau­ne tagsüber schwand zusehends.

Blind zu sein macht ängstlich und mür­risch, vieles, was Spaß gemacht hatte, ging nicht mehr. Aber dann kam die OP in Tutt­lingen. Die Ärzte und Schwestern waren su­per einfühlsam und nett und wir bekamen auch relativ schnell einen Termin für das erste Auge. Kurz danach wurde auch das zweite Auge operiert. Ich hab von beiden Terminen in Tuttlingen Bilder gemacht. Es sind rührende Bilder, die Gisela zeigen, wie sie ungläubig kurz nach der OP sehend nach ihrer Brezel greift.

Jetzt hat Gisela alles überstanden und sie freut sich auf den nächsten Termin bei der Augenärztin. Gisela findet immer wie­der Gründe, um sich zu freuen und mit zu­rückgekehrter Sehkraft ist sie wieder oben­auf und frech wie zu ihren besten Zeiten.“

Der 70. Geburtstag Jede Feier war Gisela willkommen. So ge­noss sie sichtlich, als sie an ihrem 70. Ge­burtstag ganz im Mittelpunkt stand und die Freundin Carola ihr zu Ehren eine Lauda­tio hielt und unter anderem darauf hinwies, wie Gisela immer wieder die Dinge beim Namen nennt:

„Ich nenne dich oft Gisi, meiner Mei­nung nach ist das eine liebevolle Abkür­zung.Weißt du noch, als du mir ruppig sag­test: Meine Mutter hat mich Gisela getauft! Ich erkläre dir, dass ich das nur sage, weil ich dich gern habe. Du darauf prompt: Dann sag halt wieder Gisi, aber nur wenn ich bei dir baden darf und wenn du mir ei-nen blauen ‚Pollover‘ schenkst.

Wenn Uli dich zum Bäcker schicken will, kannst du auch mal sagen: Hab kein Bock, hab Schnupfen, geh doch selber.

Und als dir kürzlich die Filmaufnahmen mit dem ZDF zu anstrengend wurden, sag­test du dem Filmteam klipp und klar: Hör jetzt auf mit der blöden Filmerei, so schee bin i au wieder net!

Weiter erzählte Carola: Früher gingst du gerne zur Kirche, in letzter Zeit wird es dir auch schon mal zu viel. Jetzt höre ich schon am Freitag: Ich bin soooo krank, ich habe Schnupfen. Kaum ist der Termin zum Kirchgang vorbei, dann bist du wieder kerngesund. Die Kommunion in der St.-Ge-orgs-Kirche ist ja soo langweilig, die in der ZDF-Kirche können das alles viel besser. Ich kann ja dann nächsten Sonntag wieder in die Stadtpfarrkirche gehen. Aber nur wenn der Schnupfen weg ist ... und am nächsten Sonn­tag das gleiche Spiel.“

ein würdervoller AbschiedDezember 2014 erreichte uns folgende Nachricht, die uns sehr betroffen und trau­rig machte, hatten wir uns einfach an Gise­la gewöhnt: „Gisela ist gestern für immer eingeschlafen. Nach drei Wochen Krankenhaus, zwei da­von auf einer Intensivstation, ging ihr Weg zu Ende.

Ich habe wundervolle Menschen, be­geisternde Technik und Anteilnahme er­fahren, die weit über das berufliche Enga­gement hinausging. Einen Oberarzt, der mir von Anfang an erlaubt hat, rund um die Uhr bei Gisela zu sein. Ich habe Schwestern und Pfleger erlebt, die neben aller Tech­nik, die sie beherrschen, Respekt vor dem Leben zeigen, egal um welchen Patienten es sich handelt. Gisela bekam jegliche Be­handlung, die sie zum selbstständigen At­men hätte zurückführen können, nur war sie am Ende einfach zu schwach dazu. Wir haben ihr in Absprache ein Weiterleben mit Luftröhrenschnitt, künstlicher Beatmung und künstlicher Ernährung nicht zumuten wollen. Nach mehreren Tagen, während de­nen sie nur mit maschineller Unterstützung und Tubus atmen konnte, Ernährung über die Vene bekam, wurde sie schwächer, an­statt sich zu erholen.

In dieser Zeit konnte man auf dem Mo­nitor sehen, dass es ihr gut tat, wenn ich bei ihr war, das war eine neue Erfahrung. Der Monitor zeigte dann ein ruhiger schlagen­des Herz und bessere Sauerstoffsättigungs­werte, sie sah mich oft mit offenen Augen an.

Am Ende starb Gisela nach einer zu­vor noch erhaltenen Bluttransfusion, die sie zum Selbst­Atmen kräftigen sollte, nach dem Entfernen des Tubus unter der Sauer­stoffmaske. Sie war nicht alleine, außer mir waren meine Freundin, der Oberarzt und zwei Schwestern bei ihr. Wir haben mitei­nander über Gisela und mit ihr geredet, bis ihre Atemzüge ruhig wurden und das Herz aufgehört hat zu schlagen.

Es war ein würdevoller Abschied nach all den zuvor ausgestandenen Strapazen, die Gisela über sich hat ergehen lassen müssen.

Ich sah immer noch den Silberstreif am Horizont und hoffte, dass es wieder werden könnte, Gisela wieder selbstständig atmen würde. Und ... sie würde sich doch nicht einfach von einer Lungenentzündung um­werfen lassen. Zumal sie neben einem ho­hen Alter und ausgeprägter Persönlichkeit auch ein kleines medizinisches Wunder war! Aber das wurde erst kurz vor ihrem Lebensende entdeckt. Sie hatte ihr Leben lang einen nie diagnostizierten Zwerchfell­

hochstand sowie innere Organe an Stellen, an der sie kein Arzt vermutet hätte.

Ich bin jetzt sehr traurig, aber auch dankbar dafür, dass es Gisela gab. Sie hat mich als Säugling beruhigt, wenn ich un­ruhig war, und es war ergreifend, bei ihr zu sein, als sie selbst ihre Ruhe fand. Gise­la war mit Sicherheit der Mensch, der mich am aufrichtigsten geliebt hat und sie hat das nicht deshalb getan, weil sie nicht anders gekonnt hätte.

Gisela wäre am 20. Februar 73 Jahre alt geworden.“ <

w i c h t i g i n t e r e s s a n tn e u . . .

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Klappentext: Für einen Moment öffnet sich die Tür und der Leser erhält einen Einblick in das Familienleben mit einem Down­Kind. Die vierfache Mutter Carola Seifert schreibt über ihren anfänglichen Schock und die Trauer darüber, ein behindertes Kind zu haben. Doch mit der Liebe zu ih­rem Sohn Felix dem Glücklichen wuchs auch ihre Zuversicht, diese schwere Aufga­be bewältigen zu können.

Sie beschreibt die Sorgen und Freuden des alltäglichen Lebens, und die Schwie­rigkeiten bei der Integration. Darüber hi­naus möchte sie auch Informationen über das Down­Syndrom allgemein geben sowie Begrifflichkeiten klären, die einem im Le­ben mit einem behinderten Kind begegnen können.

Das Buch soll anderen betroffenen El­tern und Angehörigen Mut machen, ihr be­hindertes Kind mit Liebe anzunehmen und ihm die nötige Förderung zukommen zu­lassen.

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ISBN: 978-3-88069-771-3

Goedela sitzt am Küchentisch und malt. Ganz plötzlich stampft sie mit dem Fuß auf und sagt: „Ich will aber lesen lernen!“

Sie lernt es auch, und noch manches mehr.In kurzen, locker aneinandergereihten Erzählungen wird den

kleinen Lesern die Geschichte eines Mädchens mit Down-Syndrom nahegebracht, das gerne lernt.

Die Spiele und Bastelanleitungen, die Lieder und Rezepte, die Goedela Freude gemacht haben, gefallen euch sicherlich auch.

Mit enthalten sind auch einfache Lieder zum Erlernen der Kin-dergartenflöte.

Barbara Schilling

Ein Mädchen mit Down-Syndrom will lernenMit Illustrationen von Tamás Bognár

Geschichten von Goedela

erscheint dritteljährlich in derEdition Dreieck

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Themen und Projekte für die Arbeit mit Kindern

Geschichten von Goedela erscheint in der Kreisel­Reihe, die dreimal im Jahr ein neues Buch zu einem bestimmten Thema mit Vor­lesegeschichten, Bastelanregungen, Spie­len und Liedern für etwa vier bis achtjähri­ge Kinder herausbringt, ein Teil der Lieder ist gedacht als Einstieg für die Kindergar­tenflöte.

Außerdem finden sich im Buch kleine Texte, die an die Erwachsenen (Eltern, Er­zieher) gerichtet sind. Die Erfahrungen der Autorin mit unterschiedlichen inklusiven Kindergruppen fließen mit ein.

Nicht zuletzt möchte Barbara Schilling Eltern von Kindern mit Down­Syndrom Mut machen. Sie sollen Vertrauen in ihre Kinder haben und die Freude an lebenslan­ger Bildbarkeit schon in der Kindheit anle­gen. Dies gehört ihrer Meinung nach ein­fach zur menschlichen Erziehung.

Anmerkung der Red.: Das Buch erscheint im Sommer 2015 und wird in der nächsten Ausgabe dieser Zeitschrift ausführlicher vor-gestellt.

Der siebenundvierzigste Puzzlestein Aus dem Familienleben mit unserem Down-Kind

Autorin: Carola Seifert Verlag: Lumpacius Verlag, 2014 ISBN: 978-3-941268-01-2 Preis: 14,95 Euro

HeNrI ein kleiner Junge verändert die Welt

Autorin: Kirsten Ehrhardt Verlag: Heyne Verlag, 2015 Taschenbuch, 272 Seiten ISBN: 978-3-453-64538-7 Preis: 8,99 Euro

„Spätestens seit bei Günther Jauch über ihn diskutiert wurde, gilt er als Paradebeispiel für den Streit um die Inklusion.“ Die Zeit

Der elfjährige Henri hat Down­Syndrom. Trotzdem möchte er nicht in einer Sonder­welt, sondern mittendrin leben. Und aufs Gymnasium gehen. Das sollte eigentlich kein Problem sein. Immerhin gilt seit 2009 in Deutschland die UN­Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderun­gen. Inklusion ist Gesetz.

Oder etwa nicht? Das fragt Henris Fa­milie, die für Henri neue Wege beschrei­ten möchte. Doch das ist in Deutschland schwierig. Kirsten Ehrhardt und ihr Mann wollen ihren Sohn von vorneherein nicht einschränken. Das Konzept geht auf. Auf einer regulären Grundschule lernt Hen­ri mehr, als man jemals für möglich hielt. Dann will er mit seinen Freunden aufs Gymnasium wechseln.

 Die Geschichte von Henri ist nicht nur die einer liebenden Mutter, sondern auch eine Geschichte über unsere Gesellschaft und die Frage: Wie wollen wir miteinander umgehen? Berührend, einfühlsam und klug erzählt.

Geschichten von Goedela ein Mädchen mit Down-Syndrom will lernen

Autorin: Barbara Schilling Illustrator: Tamás Bognár Verlag: Mellinger Verlag, Edition Dreieck Ausgabe Kreisel, Sommer 2015 96 Seiten mit Zeichnungen und Abbildungen ISBN: 978-3-88069-771-3 Preis: 14,50 Euro

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Zukunftsplanung eröffnet neue Perspekti­ven für Personen, Projekte und Systeme im Sozialraum, die in Zeiten von Inklusion zu mehr Selbstbestimmung und sozialer Ein­bindung beitragen. Damit gelingt es, dis­kriminierende Kulturen, Strukturen und Praktiken abzubauen und entsprechende Barrieren zu überwinden. Dieser Band enthält Erfahrungen, Projek­te, Geschichten, Erlebnisse, Forschungsbei­träge, Evaluationsberichte, kritische Rück­blicke sowie Überlegungen zu Vernetzung und Qualifizierung und bietet so erstmals einen Überblick über die lebendige Szene der Zukunftsplanung im deutschsprachi­gen Raum.

Zukunftsplanung als Schlüssel-element von Inklusion Praxis und Theorie personen-zentrierter Planung

Autoren: Robert Kruschel / Andreas Hinz (Hg.) Verlag: Klinkhardt, 2015 328 Seiten, kartoniert ISBN: 978-3-7815-2019-6 Preis: 19,90 EUR

Trisomie 21 aus neuropsychologischer Sicht Was wir von Menschen mit Down-Syndrom lernen können

Autor: André Frank Zimpel (Hg.) Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht Erscheint Herbst 2015, ca. 208 Seiten gebunden ISBN 978-3-525-70175-1 Preis: ca. 19,99 Euro

Menschen mit Trisomie 21 erschließen sich Dinge anders als Menschen ohne die­se genetische Abweichung. Sie neigen ver­stärkt dazu, von Einzelheiten abzusehen. Sie sind deshalb auf geeignete Abstrakti­onen (Buchstaben, Gebärden, mathema­tische Symbole usw.) mehr angewiesen als andere Personen. Der anschauungs­gebundene, kleinschrittige und Abstrak­tionen vermeidende Unterricht an För­derschulen trägt diesen neuropsycholo­gischen Besonderheiten nur wenig Rech­nung und wirkt eher kontraproduktiv. Gleiches gilt für die vorhandenen Lehr­ und Lernmethoden, die solche Aufmerk­samkeitsbesonderheiten bislang nur un­zureichend berücksichtigen und über­dacht werden müssen.

Hier gilt es anzusetzen: André Frank Zimpel fasst auf Basis einer groß ange­legten Studie mit 1294 Teilnehmern zu­sammen, was heute als gesicherter Befund gelten kann und welche Konsequenzen unser Bildungssystem daraus zu ziehen hat.

Ob PEKiP, Englischkurs oder Ballett­unterricht: Viele Eltern sind verunsichert, was sie ihrem Kind bieten müssen, um es fit für die Zukunft zu machen. Denn be­kannt ist: Nie wieder lernt ein Mensch so viel wie in seinen ersten Lebensjahren. Die Befürchtung: Bleibt das kindliche Su­pergehirn ungenutzt, verstreicht wertvol­le Zeit für die geistige Entwicklung. Doch die moderne Gehirnforschung zeigt: Frühförderprogramme werden maßlos überschätzt. Das Kind spielen zu lassen ist die beste Förderung überhaupt. Der Ratgeber SPIELEN MACHT SCHLAU! zeigt, wie man sein Kind mit einfachen Mitteln in seiner Spiel­ und damit sei­ner geistigen Entwicklung unterstützen kann. Welches Spielzeug ist das richtige? Noch mehr Spielzeug fürs Kinderzim­mer? Muss man mitspielen und Spielide­en vorgeben? Spielen mit Lebensmitteln? Ist Langeweile schlimm? Nützen Fernse­hen und Computer? Antworten auf all­tägliche Fragen wie diese helfen Eltern, das Spielen besser zu verstehen und in der Erziehung gelassener zu bleiben.

Spielen macht schlau! Warum Fördern gut ist, Vertrauen in die Stärken Ihres Kindes aber besser

Autor: André Frank Zimpel Verlag: GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH, 2014 Taschenbuch,176 Seiten ISBN-10: 3833835680 Preis: 14,99 Euro

Und wir freuen uns auf das neue Buch von Jonas und Doro Zachmann, das demnächst bei SCM erscheint.

Neues von Prof. Dr. André Zimpel

Das Buch zur Studie

erscheint Herbst 2015

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SpendeGut Ding will Weile haben ...

Hallo liebes Team vom Down­Syndrom InfoCenter,

im April 2014 feierte unser Sohnemann Fe­lix seine erste heilige Kommunion, bei der es natürlich viele Geschenke auch in Form von Geld gab. Von diesem „Geldsegen“ bat er uns, einen Betrag in Höhe von 50 Euro an das Down­Syndrom InfoCenter zu spen­den, denn seine kleine Schwester Nina (bald fünf Jahre alt) ist auch mit einem „kleinen Extra“ in unsere Familie gekommen. Und nun haben wir Erwachsenen es endlich ein­mal geschafft

Frau Detlefsen nimmt Bezug auf den Bericht „Das Messen und Behandeln von Schmerz bei Kindern mit einer intellek-tuellen Beeinträchtigung“ in Leben mit Down-Syndrom, Nr. 78 Januar 2015:

Mein Sohn Aladdin war bis zu seinem neun­ten Lebensjahr völlig unproblematisch beim Blutabnehmen. Ungerührt ließ er die Pro­zeduren, auch wenn sie häufig waren, über sich ergehen.

Dann musste ein offener Ductus Botal­li verschlossen werden, eine eigentlich pro­blemlose Herz­OP. Die OP selbst verlief auch ohne Komplikationen, Aladdin be­gegnete dem medizinischen Personal offen und freundlich, bis die fatale Blutentnah­me kam. Es mussten tägliche Kontrollen ge­macht werden und so wurden die Proben von unterschiedlichen Ärzten gezogen. Ein­mal erwischten wir einen jungen Assistenz­arzt, der wenig Erfahrung zu haben schien mit kleinen Kindervenen und mehrfach da­nebenstach. Beim circa fünften Mal wurde Aladdin ungemütlich und die Aktion muss­te abgebrochen werden.

Während des Aufenthaltes im Kranken­haus waren keine weiteren Blutentnahmen mehr möglich, trotz Sedierung. Seitdem lässt Aladdin keine Blutentnahme mehr zu. Auch keine Impfungen!

Erst ein aufwändiges Desensibilisierungs­training in den letzten Jahren (Aladdin ist jetzt 29 Jahre) hat ein bis zwei Kontrollen pro Jahr ermöglicht, die dringend notwendig waren, um die Schilddrüsenwerte abzulesen.

Mein Fazit: Wird ein Schmerz erstmal deut­lich gespürt, kann das Schmerzgedächtnis offenbar umso nachdrücklicher aktiviert werden, sodass eine Phobie entsteht. Inger Detlefsen

Zirkus RegenbogenSonntag, 28. Juni 2015, 11.00 Uhr, im Zirkuszelt, Schanzenpark, Hamburg

Hereinspaziert! Die Artistinnen und Artisten des Zirkus Regenbogen zeigen zum dritten Mal ihr Können auf der Bühne des Bajazzo-Zeltes. Wer mitfiebern will, wie Menschen in bunt schillernden Kostümen über sich selbst hinauswachsen, der ist bei uns genau richtig. Knisternde Spannung im Schein-werferlicht bei mitreißender Begleitmusik ist garantiert!

Das Projekt des Fördervereins ASK e.V. in Hamburg startete Anfang 2013 als ehren-amtliches Pilotprojekt in Kooperation mit der Universität Hamburg. Seit 2013 stellt der Zirkus Regenbogen sein Können im Bajazzo- Zelt unter Beweis. Dank tatkräftiger Unterstützung von Aktion Mensch kann das Projekt auch in diesem Jahr fortbestehen.

Wann? Sonntag, 28. Juni um 11:00 Uhr

Wo? im Zirkuszelt, Schanzenpark, Hamburg

Eintritt frei!

1. das Geld zu überweisen2. diese E­Mail zu schreiben und3. noch ein paar nette Bilder von den bei­den herauszusuchen und mitzusenden.

Vielen Dank für euer großes Engage­ment und gutes Gelingen für all die Pro­jekte, die 2015 wieder anstehen und die wir von Herzen gerne mit unserer kleinen Spen­de unterstützen. Viele Grüße sendenBrigitte, Karsten, Felix und Nina Dotzauer

Und wir im DS-InfoCenter sagen: Toll Felix, herzlichen Dank!

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Gießen/Wetteraukreis: Vierte Informa-tionsveranstaltung der „Familiengrup-pe Down-Syndrom in der Wetterau“ an der Hebammenschule der Universität Gießen. Noch immer ist es in der Öffentlichkeit wenig bekannt, dass werdende Mütter angesichts der vorgeburtlichen Diagnose „Down­Syn­drom“ sich in mehr als 90 % der Fälle ent­scheiden, das Kind nicht auszutragen. Dies ist in der Regel mit schweren inneren Kon­flikten verbunden, bedingt durch das, was möglicherweise an Belastungen mit ei­nem behinderten Kind auf einen zukom­men könnte, und löst starke, oft irrationel­le Ängste aus.

Auch kommt es vor, dass eine junge Mutter erst kurz nach der Geburt erfährt, dass sie ein Kind mit Down­Syndrom ge­boren hat. So stehen die Eltern plötzlich vor einer Situation, die sie verwirrt, er­schreckt und zum Teil völlig überfordert. Auch das umstehende Klinikpersonal – Ärzte, Schwestern, Hebammen – verhält sich oft ratlos und ungeschickt. Soll man einer Mutter mit einem behinderten Kind zu dessen Geburt gratulieren? Da schaut man lieber verlegen in eine andere Rich­tung. Und eine hilfreiche Unterstützung, die in diesem Moment nötig wäre, fällt aus. Obwohl sich in den letzten Jahren viel getan hat, z.B. durch aufklärende Filme im Fernse­

hen, erleben Eltern von Kindern mit Down­Syndrom, dass es noch viel Unkenntnis und falsche Vorstellungen über diese liebens­werten Menschen gibt. Das liegt vor allem daran, dass vorwiegend über ihre gesund­heitlichen und vermeintlich intellektuellen Einschränkungen gesprochen wird. Weni­ger aber darüber, wie kreativ, musikalisch und sozial kompetent viele Menschen mit Down­Syndrom sind, ja dass viele Eltern darüber berichten, dass das Leben mit ih­

Julia und Moritz im Gespräch mit Hebammenschülerinnen

ren Kindern eine große, eine einmalige Be­reicherung ist.

Die Familiengruppe Down­Syndrom möchte hier eine Hilfestellung geben. Aus diesem Grund besucht die Familiengruppe seit nunmehr vier Jahren Schülerinnen der Hebammenschule in Gießen. Eine wichti­ge Idee war es vor allen Dingen, dabei nicht nur theoretisches Wissen an die Hebammen zu vermitteln, sondern durch eine wirkliche Begegnung mit zwei jungen Menschen mit Down­Syndrom den Schülerinnen eine le­bendige Vorstellung zu geben, wie es sein kann, mit dem Down­Syndrom zu leben. Es entstand ein lebhaftes Zwiegespräch zwi­schen den Schülerinnen und Julia (13) und Moritz (21), beide haben das Down­Syn­drom, über ihre Wünsche, Erfahrungen, ih­ren Alltag und vieles mehr. Ergänzt wurde das Gespräch durch die Beiträge der Eltern, die auch mitgekommen waren.

Aus den überaus positiven Reaktionen der Schülerinnen darf man entnehmen, dass diese Art der Weiterbildung auch für ande­re Berufsgruppen wie Ärzte oder Kranken­schwestern oder Fachleute aus dem sozialen Bereich eine willkommene Ergänzung ihres Wissens sein könnte. Es entstand die Idee, in ähnlicher Form eine solche Informations­veranstaltung anzubieten.

Interessenten können sich gerne an die Familiengruppe Down­Syndrom wenden (www.down­syndrom­info.de) oder Erich Scheurmann, [email protected]

Erich Scheurman

Am 12. September 2015 findet wieder in der Magdeburger Herrmann-Gieseler-Halle das Down-Sport-in-Magdeburg statt. Neben den sportlichen Disziplinen (Rundenlauf, Weit-sprung, Weitwerfen, Hindernisstaffel) wird es ein umfangrei-ches Rahmenprogramm geben. Hierzu zählen unter anderem die begehrten Workshops (Tanz, Musik, Modenschau), Klein-feldfußball, Alpaka-Streichelgehege und vieles mehr!

Anmeldung: Stadtsportbund Magdeburg E-Mail: [email protected]/2013/o.red.c/downsport.php

Sportfest in Magdeburg!

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Mehr von mir! DS-Tagung in Österreich

Die österreichische DS­Tagung, die alle drei Jahre stattfindet, wird in diesem Jahr zum fünften Mal in Salzburg organisiert.Es gibt Vorträge und Workshops für El­tern, Pädagogen, Betreuer usw. zu Themen jede Altersgruppe betreffend. Von Sprach­entwicklung über Ernährung und Medizin bis zu Zukunftsplanung, Pubertät und Ar­beitsbeginn.

Besonderheit: Pablo Pineda wird am Samstag einen Vortrag halten!

Termin: 25.–27. September 2015

Ort: Salzburg, Bildungshaus St. Virgil

Veranstalter: Down­Syndrom Österreich

Anmeldung: www.down­syndrom.at/tagung office@down­syndrom.at

Kosten: Erwachsene ab 18 Jahren Tagungsgebühr Euro 90; einzelner Tag oder halber Tag Euro 50Jugendprogramm ab 14 Jahre: Euro 20 Kinderbetreuung: Euro 20 für das erste Kind, Euro 10 für jedes weitere Kind

Perspektiven für Menschen mit Down-Syndrom DS-Fachtagung in Augsburg

Unter der Schirmherrschaft von Frau Vere­na Bentele, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen

Programm: Fachvorträge und Workshops zu vielen DS­relevanten Themen. Es wird ein Programm für junge Menschen mit Down­Syndrom (ab ca. 16 Jahre) in Leichter Sprache angeboten mit Themen, wie Arbeiten, Wohnen, Partnerschaft und Freizeitaktivitäten.

Termin: 9.–11. Oktober 2015

Ort: Universität Augsburg, Hörsaalzen trum, Universitätsstraße 10, 86159 Augsburg

Veranstalter: DS­Netzwerk Deutschland e.V. und die Universität Augsburg

Anmeldung/Informationen: Tel. 03212/3763273 www.Down­Syndrom­Netzwerk.de

Kosten: Bei Anmeldung bis 15.7.2015:Erwachsene Euro 115Menschen mit Down­Syndrom Euro 60 Kinder­/Jugendprogramm Euro 60

Veranstaltungen des Deutschen Down-Syndrom InfoCenters

DS-Seminare im Herbst 2015Kleine Schritte und Frühes LesenSeminar mit Cora Halder für Eltern und Fachkräfte Samstag, 24. Oktober 2015

GuK – Gebärden-unterstützte Kommunikation Seminar mit Prof. em. Etta Wilken für Eltern und Fachkräfte Samstag, 21. November 2015

Die beiden Seminare finden im Caritas­Pirckheimer­Haus in Nürnberg statt.

Schülerinnen und Schüler mit Down-Syndrom im gemeinsamen Unterricht Seminar mit Michaela Hilgner für Fachkräfte an Schulen Montag, 9. November 2015

Genaue Infos zu diesen Seminaren: www.ds­infocenter.de

Interessante Tagungen und Seminare

Die letzten Welt-DS-Kongresse fanden in Kanada (2006), Irland (2009) und Südafrika (2012) statt. In diesem Jahr treffen sich Men-schen mit DS, ihre Familien und Fachleute aus aller Welt in Indien. Vom 18. bis 21. August 2015 orga-nisiert die DS Federation of India gemeinsam mit DSi den DS-Welt-kongress – jedes Mal ein einzig-artiges Erlebnis! Info: www.wdsc2015.com

12. DS-Weltkongress in IndienDie DS-Gemeinschaft trifft sich 2015 in Chennai

DS-Familienseminare bei der Lebenshilfe in Marburg

In den ersten Jahren Informationen und Austausch für Eltern von Säuglingen und Kleinkindern mit DS Termin: 3.–5. September 2015 Leitung: Prof. em. Dr. Etta Wilken, Rolf Flathmann Ort: 35037 Marburg Veranstalter: Institut inForm, Bundesvereinigung Lebenshilfe Info: Frau Fleck, Tel. 06421/491­172 [email protected] www.inform­lebenshilfe.de

Und die Termine für 2016:In den späteren Jahren 7.–9. Januar 2016Nach den ersten Jahren 31. März – 2. April 2016In den ersten Jahren 20.–22. Oktober 2016 www.inform­lebenshilfe.de

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g V O R S C H A U

I M P R E S S U M

Herausgeber: Deutsches Down-Syndrom-InfoCenter

Redaktion: Deutsches Down-Syndrom-InfoCenter Hammerhöhe 3 91207 Lauf Tel.: 09123 / 98 21 21 Fax: 09123 / 98 21 22 E-Mail: [email protected] www.ds-infocenter.de

Wissenschaftlicher Redaktionsrat: Ines Boban, Prof. Dr. Wolfram Henn, Prof. em. Dr. Etta Wilken Prof. Dr. André Frank Zimpel

Druck: Osterchrist Druck und Medien, Nürnberg

Erscheinungsweise: Dreimal jährlich, zum 30. Januar, 30. Mai und 30. September. Fördermitglieder erhalten die Zeitschrift automatisch.

Bestelladresse: Deutsches Down-Syndrom-InfoCenter Hammerhöhe 3 91207 Lauf Tel.: 09123 / 98 21 21 Fax: 09123 / 98 21 22

Die Beiträge sind urheberrechtlich ge-schützt. Alle Rechte vorbehalten. Nach-druck oder Übernahme von Texten für Internetseiten nur nach Einholung schrift-licher Genehmigung der Redaktion. Mei-nungen, die in Artikeln und Zuschriften geäußert werden, stimmen nicht immer mit der Meinung der Redaktion überein.

Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe gekürzt zu veröffentlichen und Manuskrip-te redaktionell zu bearbeiten.

ISSN 140 - 0427

Für die nächste Ausgabe von Leben mit Down-Syndrom (September 2015) sind u.a. geplant:

< Mit Freude Lernen – zu Hause und in der Schule

< Neues aus der Praxis für Entwicklungspsychologie (PEp)

< Down­Syndrom, Verhalten und Ergotherapie

< Beratung für Menschen mit Down­Syndrom

< Bericht vom Welt­Down­Syndrom­Kongress in Indien

Wer Artikel zu wichtigen und interessanten Themen beitragen kann, wird von der Redaktion dazu ermutigt, diese einzuschicken. Eine Garantie zur Veröffentlichung kann nicht gegeben werden. Einsendeschluss für die nächste Ausgabe von Leben mit Down-Syndrom ist der 30. Juni 2015.

PEN E LO P E

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Xdown-syndrom i n f o c e n t e r

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21.3. – Weltweit ein Tag für Menschen mit Down-Syndrom

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Xdown-syndrom i n f o c e n t e r

d e u t s c h e s21.3. – Weltweit ein Tag für Menschen mit Down-Syndrom

Xdown-syndrom i n f o c e n t e r

d e u t s c h e s

21.3. – Weltweit ein Tag für Menschen mit Down-Syndrom

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EINFACH 21-3-2015

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FördermitgliedschaftIch möchte die Arbeit des Deutschen Down-Syndrom InfoCenters mit einem jährlichen Beitrag von .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Euro unterstützen.Der Mindestbeitrag beträgt Euro 30,–. Fördermitglieder erhalten regelmäßig die Zeitschrift Leben mit Down-Syndrom.

Name (bitte in Druckschrift) .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Unser Kind mit DS ist am ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . geboren und heißt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Straße .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . PLZ/Ort/Land ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Tel./Fax .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E-Mail-Adresse .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

qIch bin damit einverstanden, dass mein Förderbeitrag jährlich von meinem Konto abgebucht wird. (Diese Abbuchungsermächtigung kann ich jederzeit schriftlich widerrufen.)

Meine Bankverbindung:

IBAN: BIC:

Konto-Inhaber: .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Datum ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterschrift .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

qMeinen Förderbeitrag überweise ich jährlich selbst auf das Konto des Deutschen Down-Syndrom InfoCenters e.V.. IBAN: DE 2676 3500 0000 5000 6425, BIC: BYLADEM1ERH. Neben dem Verwendungszweck „Fördermitgliedschaft“ geben Sie bitte Ihren Namen und Ihre Anschrift an.

Für Fördermitglieder im Ausland beträgt der Mindestbeitrag euro 45,–.

Ihren Beitrag überweisen Sie bitte auf das Konto des Deutschen Down-Syndrom InfoCenters e.V., IBAN: DE 2676 3500 0000 5000 6425, BIC: BYLADEM1ERH. Neben dem Verwendungszweck „Fördermitgliedschaft“ geben Sie bitte Ihren Namen und Ihre Anschrift an.

Ihr Förderbeitrag ist selbstverständlich abzugsfähig. Das Deutsche Down-Syndrom InfoCenter e.V. ist als steuerbefreite Körperschaft nach § 5 Abs.1 Nr. 9 des Körperschaftssteuergesetzes beim FA Nürnberg anerkannt. Bei Beträgen über Euro 50,– erhalten Sie automa-tisch eine Spendenbescheinigung.

Bitte das ausgefüllte Formular, auch bei Überweisung, unbedingt zurücksenden an: Deutsches Down-Syndrom InfoCenter, Hammerhöhe 3, 91207 Lauf (Tel. 09123/98 21 21, Fax 09123/98 21 22)

Leben mit Down-Syndrom – die größte deutschsprachige Zeitschrift zum Thema Down-Syndrom – bietet Ihnen dreimal jährlich auf jeweils ca. 70 Seiten die neuesten Be-richte aus der internationalen DS-Forschung: Therapie- und Förderungs-möglichkeiten, Sprachentwicklung, medizinische Probleme, Integration, ethik und vieles mehr. Außerdem finden Sie Buchbesprechungen von Neuerscheinungen, Berichte über Kongresse und Tagun- gen sowie erfahrungsberichte von eltern.

Leben mit Down-Syndrom wird im In- und Ausland von vielen eltern und Fachleuten gelesen. Bitte fordern Sie ein Probeexemplar an. eine ausführ- liche Vorstellung sowie ein Archiv von Leben mit Down-Syndrom finden Sie auch im Internet unter www.ds-infocenter.de.

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X d e u t s c h e sdown-syndrom i n f o c e n t e r

www.ds-infocenter.de

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Dazu einige Statements aus der weltweiten DS-Community:

„Ratgeber von unschätzbarem Wert“

„Standardwerke, die sich mit physischen und psy chischen Gesundheits-problemen bei Erwachsenen mit DS befassen …“

„ … aus der DS-Literatur nicht mehr wegzudenken.“

„ … weltweit die fundiertesten und gleichzeitig praxisbezogensten Fach-bücher, die es über das Down-Syndrom gibt.“

Die beiden Autoren sind seit über 20 Jahren in der DS-Erwachsenen-Ambulanz in Chicago tätig und können auf einen Erfahrungsschatz mit über 3000 Menschen mit DS zurückgreifen.

Für alle, die mit erwachsenen Menschen mit DS im familiären Umfeld zusammenleben sowie für Fachleute in Wohneinrichtungen und Werkstätten sind beide Bücher einfach unverzichtbar.

Zwei Bestseller

Ein Must-have

für Eltern und

Fachleute!