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MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT HALLE-WITTENBERG HALLISCHE BEITRÄGE ZUR ZEITGESCHICHTE 2007/1

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Page 1: HALLISCHE BEITRÄGE ZUR ZEITGESCHICHTE · Historischen Zeitschrift, N.F., Bd. 20), München 1995. Sascha Möbius: Friedrich Engels und der Bauernkrieg in der Historiographie der DDR,

MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT HALLE-WITTENBERG

HALLISCHE BEITRÄGE ZUR ZEITGESCHICHTE 2007/1

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Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte 2007/1 (Heft 17)

mit Beiträgen von

Hans Goldenbaum, Dietmar Schulze,

Sven Langhammer und Sascha Möbius

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Inhalt Vorwort ................................................................................................. 5 Aufsätze Hans Goldenbaum Nicht Täter, sondern Opfer? Ilja Ehrenburg und der Fall Nemmersdorf im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ................................................. 7 Dietmar Schulze „Sonderzug nach Lichtenburg“ – Häftlingstransporte ins Konzentrationslager ............................................................................. 39 Sven Langhammer Die reichsweite Verhaftungsaktion vom 9. März 1937 – eine Maßnahme zur „Säuberung des Volkskörpers“ ...................................... 55 Sascha Möbius Magdeburg und der Ungarnaufstand 1956 – die Kultur der Lüge .......... 78 Resumees / Abstracts ...........................................................................107

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Magdeburg und der Ungarnaufstand 1956 – die Kultur der Lüge von Sascha Möbius „Faschistischer Terror in Ungarn”1 – so titelte die Magdeburger „Volks-stimme” (im folgenden MV) am 2. November 1956 einen Bericht über an-gebliche Gräueltaten der Aufständischen während der Kämpfe in Budapest. Der Berichterstattung der „Prawda” folgend2 stellte die Propaganda der SED den Ungarnaufstand als den vom Westen geplanten Versuch von „Horthyfa-schisten”3, Großgrundbesitzern und Kapitalisten hin, die alten Machtverhält-nisse wiederherzustellen und das Land mit Terror gegen Kommunisten und Arbeiter zu überziehen.4 Die Parallelen zur Verleumdung der Aufständischen des 17. Juni 1953 in der DDR sind unverkennbar. Das Vorgehen der SED spiegelte auch 1956 ihr starres Freund-Feind Denken wider5 und stand ganz in der Tradition der Stalinschen Kultur der Lüge.6 1 MV, Nr. 257 vom 2.11.1956, S. 1. An dieser Stelle möchte ich mich bei Birgit Wedekind und Irene Hoffmann für die Durchsicht der MV bedanken. Mein Dank gilt auch Edda Ahrberg, der ehemaligen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen Sachsen-Anhalt, sowie Jörg Stoye und Birgit Krueger von der Außenstelle der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR (BStU) in Magdeburg, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt in Magdeburg (LHASA MD) sowie Herrn Oberstleutnant Dr. Matthias Rogg vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr und dem Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen Sachsen-Anhalt Gerhard Ruden, die mich bei den Recherchen freundlich unterstützt haben. Eine längere Fassung des Aufsatzes kann über folgende Emailadresse bestellt werden: [email protected]. 2 MV, Nr. 253 vom 29.10.1956, S. 1. 3 Admiral Horthy war 1920-1944 „Reichsverweser” Ungarns. Er beteiligte sich auf Seiten Hitlerdeutschlands am zweiten Weltkrieg. Vgl. Thomas von Bogyay: Grundzüge der Geschichte Ungarns, 4. Aufl. Darmstadt 1990, S. 129-140. 4 Armin Mitter, Stefan Wolle: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S. 248. 5 Vgl. Bernward Baule: Die politische Freund-Feind-Differenz als ideologische Grundlage des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), in: Deutschland Archiv (DA), 26 (1993), Heft 2, S. 170-184. Zum allgemeinen Geschichtsverständnis der SED: Bodo von Borries: Geschichtsbewusstsein und deutsche Einheit, in: Robert Bosch Stiftung und Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Geschichtsbewusstsein und Geschichtsvermittlung in den neuen Bundesländern, Bonn 2002, S. 32. Vgl. demgegenüber Michael Borgolte (Hg.): Mittelalterforschung nach der Wende 1989 (Beiheft der Historischen Zeitschrift, N.F., Bd. 20), München 1995. Sascha Möbius: Friedrich Engels und der Bauernkrieg in der Historiographie der DDR, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, 7 (2003), S. 168-186. 6 Zum Begriff: Leo Trotzki: Stalins Verbrechen, Berlin 1990 (Erstdruck in deutscher Sprache: Zürich 1937), S. 5-10 und Laetitia Cavaignals: Vorrede, in: Alexander Simin: Sozialismus und Neostalinismus. Eine Stimme aus dem sowjetischen Untergrund,

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Während der Volksaufstand von 1953 und seine Verankerung (auch als Insze-nierung der SED-Medien) im „kollektiven Gedächtnis“ der DDR-Bevölke-rung als gut erforscht gelten können,7 fehlen vergleichbare Lokalstudien zum Aufstand in Ungarn 1956 und seiner Rezeption in der DDR weitgehend.

Die ungarischen Ereignisse vom Oktober/November 1956 weckten bei vielen DDR-Bürgern, die dem SED-Regime gegenüber kritisch eingestellt wa-ren, Hoffnungen auf einen „neuen 17. Juni”. Noch stärker scheinen die Äng-ste auf Seiten der SED-Führung gewesen zu sein, dass sich die Ereignisse des Jahres 1953 wiederholen könnten. Tatsächlich gab es in der DDR vor dem Hintergrund der Verunsicherung der sowjetischen Führungskreise, der „Ge-heimrede” Chrustschows auf dem XX. Parteitag der KPdSU und der schlech-ten Versorgungslage 1956 Streiks in DDR-Betrieben und Diskussionen inner-halb der SED.8

Die Forschung zur Opposition in der DDR betont für das Jahr 1956 vor allem letztere, die ihren Ausdruck in dem Positionspapier von Wolfgang Harich und verschiedenen kritischen Äußerungen aus den Reihen der Redak-teure der Parteipresse und der sozialistischen Intelligenz fanden.9

Einen anderen Schwerpunkt der Forschung bildet die Frage nach den Ur-sachen für das Ausbleiben einer erneuten Erhebung in der DDR. Hier werden vor allem die unnachgiebige Haltung der SED-Führung, ihre weitgehende Einheit gegen eine mehr als kosmetische Entstalinisierung und die verstärkte Frankfurt/Main 1985, 21-26. Zur Recht kritisiert die neuere Forschung die Überbetonung des Bruches zwischen Leninismus und Stalinismus, die Trotzki und Cavaignals verfechten. Ihre Analyse der Notwendigkeit der Lüge im Stalinismus bleibt aber erhellend. Hierzu: Jörg Baberowski: Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl. München 2004, S. 52f.; Zusammenfassung der Forschungspositionen und differenzierende Bewertung: Nicolas Werth: Ein Staat gegen sein Volk. Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion, in: Stéphane Courtois u.a. (Hg.): Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, 3. Aufl. München u.a. 1998, S. 51-54. Zum Wort: Sascha Möbius: Kultur der Lüge. Ungarn-Aufstand und Magdeburg, in: MV vom 23.10.2006, S. 4. 7 Stefan Wolle: „Erfahrungen des Junitags…” Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 im kollektiven Gedächtnis der DDR-Gesellschaft, in: Annegret Stephan (Hg.): Der Aufstand im Juni 1953. Erkenntnisse nach 50 Jahren, Magdeburg 2003, S. 41ff. 8 Viele Streiks hingen nicht mit dem Ungarnaufstand direkt zusammen, sind aber im Kontext der allgemeinen Krisenstimmung zu sehen. Zum grundsätzlich politischen Charakter dieser Streiks vgl. Ehrhard Neubert: Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Berlin 1997, S. 127f. 9 Ilko-Sascha Kowalczuk: Frost nach dem kurzen Tauwetter: Opposition, Repressalien und Verfolgungen 1956-57 in der DDR. Eine Dokumentation des Ministeriums für Staatssicherheit, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, 1997, S. 167- 215; Notizen über die am Donnerstag, dem 13.12.1956 in Berlin durchgeführte Pressekonferenz, Referat von Albert Norden, LHASA MD, Rep. P 13, SED-Bezirksleitung Magdeburg, IV/2/9.01/28: Auswertung zentraler Beratungen über Propagandaarbeit, Bl. 4f.

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Repression als Gründe für das Ausbleiben eines erneuten 17. Juni ange-sehen.10 Hinzuzufügen ist der Umstand, dass der 17. Juni 1953 in weiten Teilen der gegenüber dem SED-Regime kritischen Bevölkerung der DDR eine zwiespältige Bilanz hinterlassen hatte. Einerseits war man sich bewusst, dass gegen die sowjetische Militärmacht keine durchgreifenden Verände-rungen in der DDR durchgesetzt werden konnten. Andererseits hatten die anderthalb Tage des Juni-Aufstandes 1953 gezeigt, dass die SED auf sich allein gestellt keine Basis in der Bevölkerung hatte. Der Verlauf des Ungarn-Aufstandes bestätigte diese Erfahrung und verstärkte sie noch: selbst in einem Land des Warschauer Paktes, in dem weite Teile der kommunistischen Regie-rungspartei einen demokratischen Wandel wollten, konnte dieser nicht statt-finden, wenn die Sowjetarmee intervenierte.

Die folgende Studie untersucht die Berichterstattung der Magdeburger Volksstimme über den Volksaufstand in Ungarn von 1956. Nach einer kurzen Dar-stellung der ungarischen Ereignisse stehen im Mittelpunkt der Analyse die Reaktionen der Bevölkerung des Bezirks Magdeburg auf die Pressebericht-erstattung sowie die Wahrnehmungen des Ungarnaufstandes wie sie sich in Berichten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) widerspiegeln.

Die Auswertung dieser Stimmungsberichte stellt ein methodisches Problem dar, welches eine kurze Darstellung der Quellen und ihrer Aussagekraft er-fordert. Die Informationen aus der Zentrale des MfS umfassen sowohl nach Regionen aufgeteilte Berichte als auch im Anhang verschiedene Zusammen-fassungen der „Stimmung zu den Ereignissen in Polen und Ungarn.”11 Letz-tere geben zunächst einen Überblick über die Tendenzen der Diskussionen in der Bevölkerung und die vorherrschenden Argumentationsstränge. Dann folgen mehr oder weniger aneinander gereihte Berichte über einzelne Vorfälle.

Die Berichte aus Zerbst enthalten – abgesehen von einer Kurzeinschätzung der in der Bevölkerung diskutierten Themenfelder – Aufzählungen von ein-zelnen Äußerungen, die dem Leiter der Kreisdienststelle mitteilenswert er-schienen. Wichtige Informationen wie Schwerpunkte von Kritik und Oppo-sition oder über den politischen und sozialen Hintergrund der aufgefallenen Personen finden sich nur bruchstückhaft oder gar nicht.12 Damit sind sie nur

10 Ilko-Sascha Kowalczuk: Zwischen Hoffnungen und Krisen: Das Jahr 1956 und seine Rückwirkungen auf die DDR, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, 2006, S. 28-30. 11 Information Nr. 279/56 vom 26.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: BStU, MfS, ZA, MfS-AS 83/59, Bd. 1 b, Bl. 177ff.; Information Nr. 284/56 vom 29.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: ebd., Bl. 203ff.; Information Nr. 289/56 vom 29.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: ebd., Bl. 228; Information Nr. 296/56 vom 31.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: Ebd., Bl. 275f. 12 Die gelegentlich auftauchenden Aussagen über die Stimmung in bestimmten sozialen Schichten oder politischen Parteien (z.B. „Großbauern”, LDPD) sind nicht das Ergebnis

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begrenzt als verlässliche Quellen zu den real vorhandenen Stimmungen in der gesamten Bevölkerung des Kreises zu werten. Auf diese Mängel und ihre Ur-sachen geht ein interner Überprüfungsbericht des MfS vom 14. März 1957 ein: „Die aufgezeigten Beispiele zeigen, dass die Informationsberichte nicht charakteristisch sind, sondern die Auffassungen einzelner Personen verallge-meinern.”13 Hintergrund ist wahrscheinlich nicht nur die Überlastung der In-formationsgruppe14, sondern auch das als vollständig unzureichend beurteilte Netz aus Informellen Mitarbeitern.15

Sinnvoll erscheint daher eine Auswertung der in den Berichten angespro-chenen Themenfelder.16 Zeigen sich bestimmte Aussagen oder Topoi ver-mehrt, kann vorsichtig geschlossen werden, dass entsprechende Vorstellungen und Kritiken über den Kreis der direkt dargestellten Fälle hinaus in der Bevöl-kerung vorhanden waren. Diese Befunde können mit den allgemeinen Aussa-gen über den Verbreitungsgrad von „geruechten oder stimmungen” in den Berichten17 und Befunden aus der Sekundärliteratur verglichen werden. Für weitergehende Untersuchungen ist zu hoffen, dass über die BStU weitere Akten zugänglich werden und ausgedehntere Recherchen im SAPMO und den sachsen-anhaltischen Archiven durchgeführt werden können. Erschwert wird die Arbeit durch die desolate Forschungslage zum Bezirk Magdeburg in der DDR.18 So möchte die vorliegende Arbeit erste Befunde vorlegen und

umfassender Spitzel- und Analysetätigkeit. Siehe z.B. den Bericht vom 11.12.1956, in: BStU, Ast. Magdeburg, BV Magdeburg, KD Zerbst, Nr. 1432, Bl. 39-40; vgl. Bericht über die Überprüfung einiger Gebiete der operativen Arbeit in den Bezirken Potsdam und Magdeburg, Berlin, den 14. März 1957, in: BStU, MfS, ZA, MfS-BdL, Dok. Nr. 006658, Bl. 13. 13 Bericht über die Überprüfung einiger Gebiete der operativen Arbeit in den Bezirken Potsdam und Magdeburg, Berlin, den 14. März 1957, in: ebd., Bl. 3. 14 In Magdeburg arbeiteten in ihr 1956 nur zwei jüngere weibliche Angehörige des MfS, die insgesamt 63 Analysen erarbeiten mussten. Bericht über die Überprüfung einiger Gebiete der operativen Arbeit in den Bezirken Potsdam und Magdeburg, Berlin, den 14. März 1957, in: ebd., Bl. 4. 15 Bericht über die Überprüfung einiger Gebiete der operativen Arbeit in den Bezirken Potsdam und Magdeburg, Berlin, den 14. März 1957, in: ebd., Bl. 18. 16 Die entsprechenden Richtlinien für die Berichterstattung kommen der vorliegenden Fragestellung entgegen. Am 25.10.1956 ordnet die Leitung der BV an, dass „in besonderen (sic!) stimmungen, die auf die ereignisse in polen, ungarn und auf westliche rundfunk- und pressemeldungen bezug nehmen” [im Original klein geschrieben] mitzuteilen sind. BStU, Ast. Magdeburg, BV Magdeburg, KD Zerbst, Nr. 1432, Bl. 24. 17 In der Regel wird bei Zitaten die ursprüngliche Rechtschreibung beibehalten. Entsprechende Beurteilungen forderte der Leiter der BV Magdeburg von den Kreisdienststellen ein. Ebd., Bl. 22. 18 Detlef Schmiechen-Ackermann: Magdeburg als Stadt des Schwermaschinenbaus 1945-1990: Politische Geschichte und Gesellschaft unter der SED-Diktatur, in: Matthias Puhle und Peter Petsch (Hg.): Magdeburg. Die Geschichte der Stadt 805-2005, Dössel 2005, S. 811.

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methodische Ansätze zur Diskussion stellen, um weitergehende Forschungen zur Wahrnehmung internationaler Ereignisse in der DDR-Gesellschaft auf lokaler Ebene und der Medienpolitik der SED anzuregen. 1. Der Weg in die Revolution Für die Ereignisse des Oktober/November 1956 in Ungarn waren vor allem drei Faktoren der Entwicklung seit 194419 verantwortlich: die problematische wirtschaftliche Lage, die politische Unterdrückung und die sowjetische Fremdherrschaft.20

Im Januar/Februar 1945 war es der sowjetischen Armee gelungen, die in Ungarn stehenden deutschen und ungarischen Truppen entscheidend zu schlagen. Am 13. April waren die Kämpfe in Ungarn beendet. Aus den ersten – und bis 1990 einzigen – freien Wahlen am 4. November 1945 ging die Partei der Kleinlandwirte mit 57% als Sieger hervor. Die Kommunistische Partei (KP) erhielt lediglich 17% der Stimmen.21

Geführt von dem Stalinisten Mátyás Rákosi schaltete die KP jedoch unter dem Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht ihre politischen Konkurrenten bis 1948 aus. Dies betraf nicht nur die bürgerliche und demokratische Oppo-sition, sondern auch zahlreiche Kommunisten und Sozialisten, die den stali-nistischen Kurs nicht mit trugen oder Intrigen im Apparat zum Opfer fielen, bzw. auf Grund der Unberechenbarkeit des stalinistischen Terrors Leben, Freiheit oder Gesundheit verloren. Auf dem Höhepunkt des Terrors im Jahre 1953 waren ca. 750.000 Menschen auf verschiedene Weise von der Unterdrüc-kung betroffen.22

Ähnlich wie in anderen „volksdemokratischen”23 Staaten wurde 1945 eine Bodenreform durchgeführt, die vor allem den Kleinbauern zugute kam. Im

19 Zusammenfassung des Forschungsstandes mit ausführlichen Literaturangaben: János M. Rainer: Ungarn im Schatten der Sowjetunion 1944 bis 1990: Determinanten und Spielräume, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, 2006, S. 68ff. 20 Ausführlicher Literaturüberblick in: Ilko-Sascha Kowalczuk: Zwischen Hoffnungen und Krisen: Das Jahr 1956 und seine Rückwirkungen auf die DDR, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, 2006, S. 27, Anm. 48. 21 Alföldy, Ungarn 1956, S. 16. 22 von Klimo, Ungarn seit 1945, S. 35. 23 Im theoretischen Verständnis des „Marxismus-Leninismus” der stalinistischen und post-stalinistischen Parteien bedeutete „Volksdemokratie” eine Koalition aller „fortschrittlichen” Klassen und Schichten (von wohlhabenden liberalen Mittelständlern bis hin zu den ärmsten Bauern), die sich gegen die „konservativen” und „reaktionären” Teile des Großkapitals zusammenschließen und Reformen im Sinne der breiten Masse der Bevölkerung durchführen (Bodenreform, Verstaatlichung der Großindustrie, Einführung eines parlamentarischen Systems). Unter sowjetischer Besatzungsrealität bedeutete es die

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Rahmen des Versuches einer forcierten Industrialisierung folgte dieser eine Kollektivierung der Landwirtschaft. Diese ging in Ungarn allerdings nie so weit wie in der UdSSR.24 Die Industrialisierung sollte vor allem eine Stärkung des militärisch-industriellen Komplexes bewirken und war letztlich – ähnlich wie in der DDR – auf die militärische Stärkung der Sowjetunion aus-gerichtet.25

Am schwersten wog für das ungarische Selbstverständnis der Versuch der Russifizierung der ungarischen Kultur. In den 1940er und 1950er Jahren em-pfanden viele Ungarinnen und Ungarn die Übernahme des stalinistischen Personenkultes in Form der Verehrung von Rakosi, den Götzendienst um Stalin26 und die gewaltsamen Versuche der „Russifizierung” des kulturellen Lebens als permanente Demütigung. Drastisch beschreibt der Historiker und Zeitzeuge Géza Alföldi seine Gefühle: „Je öfter ich in der Schule solche Texte rezitieren und solche Lieder singen mußte, desto mehr hatte ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen. Die meisten meiner Landsleute dachten nicht anders.”27 2. Der Aufstand Verunsichert durch die Erfahrung des Arbeiter- und Volksaufstandes des 17. Juni 1953 in der DDR28 und den Tod Stalins war die Führung der kommu- Einbindung bürgerlicher und sozialdemokratischer Parteien in das neue Herrschaftssystem, meist eine Bodenreform und Verstaatlichungen im industriellen Sektor, die von massiver Repression gegen jede Form der Opposition begleitet wurden. Im Sinne einer „Salamitaktik” schalteten die Besatzungsmacht und die jeweiligen von der UdSSR abhängigen Kommunisten dann einen „Verbündeten” nach dem anderen aus. Darauf folgten in der Regel Maßnahmen zur Angleichung des Systems an den „real existierenden Sozialismus” in der UdSSR, die als „Übergang zum Sozialismus” theoretisiert wurden. Sie waren in der Regel mit verschärftem Terror und härterer Unterdrückung verbunden. Vgl. zu allgemeinen theoretischen Verständnis der SED: Wörterbuch der Geschichte, Berlin (Ost) 1984, Bd. 1, S. 367 zum Stichwort „Geschichte” und Wörterbuch der Geschichte, Berlin (Ost) 1984, Bd. 2, S. 911 zum Begriff der „bürgerlichen Revolution”. 24 Rainer, Ungarn im Schatten der Sowjetunion, S. 80. 25 Für die DDR hat Diedrich nachgewiesen, dass die forcierte Industrialisierung in engstem Zusammenhang mit der Aufrüstung stand und einen der maßgeblichen Faktoren für den Juniaufstand 1953 darstellte: Torsten Diedrich, Waffen gegen das Volk? Der 17. Juni 1953 in der DDR, München 2003, S. 8-10. Für den Hinweis danke ich Dr. Matthais Rogg. 26 Wenn beispielsweise international anerkannte ungarische Wissenschaftler Stalin als größten Linguisten feiern mussten. 27 Alföldy, Ungarn 1956, S. 19. 28 Allgemein: Ilko-Sascha Kowalczuk: 17. Juni 1953 – Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003; Regionales in zusammenfassenden Werken: Volker Koop: Der 17. Juni 1953 – Legende und Wirklichkeit, Berlin 2003, S. 71ff.; Hubertus Knabe: 17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand, München 2003, S. 151ff.; speziell zur

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nistischen Partei um Rákosi nicht mehr in der Lage, sich mit dem üblichen Terror gegen kritische Strömungen in der Partei durchzusetzen. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Unzufriedenheit im Land und des drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs musste Rákosi am 4. Juli 1953 sein Amt als Ministerpräsident an Imre Nagy abtreten. Er blieb jedoch Erster Sekretär der Partei. Nagy orientierte die Wirtschaftpolitik weg von der militärisch relevan-ten Schwerindustrie hin zur Konsumgüterproduktion, lockerte die Repression entscheidend und verband dadurch im Bewusstsein vieler Ungarinnen und Ungarn mit seinem Namen die Hoffnung auf eine sozial gerechte Gesellschaft ohne Terror und kulturelle Unterdrückung. Nagy verlor jedoch im April 1955 den Machtkampf gegen die stalinistische Fraktion um Rákosi. Dieser ver-suchte, auf die alten stalinistischen Mittel zurückzugreifen, destabilisierte damit die Lage aber weiter und konnte seine Macht nicht wieder festigen. Die Opposition sammelte sich um den im März 1955 gegründeten „Petöfi-Kreis” und fand sich zunächst vor allem im Milieu der kommunistischen Intelligenz. Das Zusammenspiel von XX. Parteitag der KPdSU und dem polnischen Arbeiteraufstand in Poznan (Posen) führte zur Absetzung Rákosis. Sein Nach-folger Ernö Gerö versuchte einige Lockerungen, wollte aber den politischen Terror nicht abschaffen und konnte die desolate Wirtschaftslage nicht in den Griff bekommen.29

Direkter Auslöser für den ungarischen Aufstand waren die Ereignisse in Polen, wo am 19. Oktober 1956 das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei mehrere Moskau-kritische Dissidenten kooptierte, allen voran Wladys-law Gomulka. Am 23. Oktober veranstalteten unter Anführung des Petöfi-Klubs Studenten und Intellektuelle in Budapest eine Demonstration, die sich schnell zur politischen Großkundgebung gegen das Regime wandelte. Forde-rungen nach nationaler Unabhängigkeit, Abzug der sowjetischen Truppen, freien Wahlen und Wiedereinsetzung Imre Nagys wurden verlesen, die Teil-nehmenden sangen ungarische Volkslieder, die Marseillaise und gelegentlich die Internationale.30 In der Nacht riefen Gerö und seine Anhänger die sowje- Region: Anne Haertel: Die Ereignisse um den 17. Juni 1953 im Bezirk Magdeburg. Schlaglichter, hrsg. LStU Sachsen-Anhalt (= Sachbeiträge, T. 28), Magdeburg 2003; Detlef Schmiechen-Ackermann: Magdeburg als Stadt des Schwermaschinenbaus 1945-1990: Politische Geschichte und Gesellschaft unter der SED-Diktatur, in: Puhle/Petsch, Magdeburg, S. 822-831; Hermann-Josef Rupieper in Verbindung mit Daniel Bohse und Inga Grebe (Hg.): „… und das Wichtigste ist doch die Einheit.” Der 17. Juni 1953 in den Bezirken Halle und Magdeburg, (= Forschungen zur Neuesten Geschichte, Bd. 1), Münster u.a. 2003 [hier insbesondere der Beitrag von Wilfried Lübeck, S. 106-139.]; Annegret Stephan (Hg.): Der Aufstand im Juni 1953. Erkenntnisse nach 50 Jahren, Magdeburg 2003; Karin Grünwald: Magdeburg, 17. Juni 1953, in: Matthias Puhle (Hg.): Magdeburg 17. Juni 1953 (= Magdeburger Museumshefte, Bd. 2), Magdeburg 1993. 29 Molnár, Geschichte Ungarns, S. 428ff. 30 Ebd., S. 432f.

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tische Armee zur Hilfe, die mit zwei Divisionen nach Budapest einrückte, allerdings in den folgenden Tagen von den Aufständischen geschlagen wurde. Am nächsten Tag, dem 24. Oktober wurde Imre Nagy zum Minister-präsidenten ernannt. Es kam zu Streiks in den meisten Budapester Betrieben und Arbeiterinnen und Arbeiter begannen, erste Räte in der Hauptstadt zu bilden.31 Am 25. Oktober fraternisierten einige Einheiten der sowjetischen Ar-mee mit den Aufständischen und demonstrierten gemeinsam vor dem Parlament. Angehörige der Geheimpolizei ÀVH beschossen die friedliche Demonstration, worauf es zu schweren Kämpfen kam.

Der 29. Oktober 1956 bildete einen doppelten Einschnitt. Einerseits begann der Angriff englischer, französischer und israelischer Truppen auf den Suez-Kanal. Andererseits ließen die USA die UdSSR wissen, dass sie das neue Ungarn nicht als Verbün-deten ansahen.32 Nach Scheinverhandlungen mit der ungarischen Regierung begann am 4. November der Angriff der Sowjetarmee auf Budapest. Weit über 3.000 Menschen fanden den Tod. Der Aufstand war damit nieder-geschlagen.33

Die oben dargestellten Ursachen und der Ablauf der ungarischen Erhebung von 1956 stehen im Widerspruch zur offiziellen Darstellung in der DDR, die sich auch in der Lokalpresse niederschlug. Während des Aufstands zeigten sich deutlich starke demokratische, nationale und soziale Impulse. Von einer allgemein „westlichen” oder gar „reaktionären” Ausrichtung, wie sie in der SED-Propaganda erschien, konnte keine Rede sein. Hoffnungen auf ein Eingreifen der USA oder der NATO waren durchaus vorhanden, sollten aber in der offenen Situation der Oktober- und Novembertage des Jahres 1956 nicht mit dem Wunsch verwechselt werden, zum wirtschaftlichen Privatei-gentum zurückzukehren. Die neueste Forschung hat zudem gezeigt, dass zwar die westlichen Rundfunksender durch doppeldeutige Aussagen Hoffnungen geweckt haben, ein militärisches Eingreifen aber nie erwogen wurde.34 Von einer planmäßig durchgeführten Intervention westlicher „Agenten” konnte gar keine Rede sein. Parallel zum 17. Juni 1953 in der DDR erwiesen sich die vorhandenen Strukturen westlicher Geheimdienste als vollständig unfähig, auf

31 Vgl. zur Forschungsgeschichte über die Arbeiterräte: Márkus Keller: Hoffnung und Ignoranz. Die ungarischen Arbeiterräte in den wissenschaftlichen Diskursen, in: DA, 39 (2006), H. 6, S. 1048-1052. 32 Alföldy, Ungarn 1956, S. 106ff. 33 Details zu den Opfern des Aufstands in Molnár, Geschichte Ungarns, S. 440. Alföldy, Ungarn 1956, S. 93. Von Klimo: Ungarn seit 1945, S. 33. András Hegedüs, Die Niederschlagung der ungarischen Revolution – Die restaurative Vergeltung, in: ders. Manfred Wilke: Satelliten nach Stalins Tod. Der „Neue Kurs”, 17. Juni 1953 in der DDR, Ungarische Revolution 1956, Berlin 2000, S. 260-289. 34 Molnár, Geschichte Ungarns, S. 442; Alföldy, Ungarn 1956, S. 122f.

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die Krise zu reagieren.35 Im Gegensatz zur kommunistischen Propaganda muss dieser Umstand im Kontext einer westlichen Politik gesehen werden, die gerade nicht auf den revolutionären Umsturz der Verhältnisse in den Staaten des Warschauer Paktes ausgerichtet war.

Der auch in einigen neueren Publikationen erhobene Vorwurf des Anti-semitismus gegenüber den Aufständischen bildet ein methodisch schwer zu fassendes Problem. Problematisch erscheint, dass so kurz nach den infamen Judengesetzen Ungarns, der Beteiligung auf deutscher Seite am Zweiten Welt-krieg und der Mithilfe vieler Ungarn am Holocaust sicher antisemitische Stim-mungen vorhanden waren, die tief in der ungarischen Geschichte und Gesell-schaft wurzelten.36 Zugleich gibt es fast keine Anhaltspunkte für antisemi-tische Pogrome in der Revolution von 1956 oder antisemitische Forderungen, wie die Wiedereinführung der Rassegesetze der 30er Jahre.37

Als besonders dreiste Lüge der SED-Propaganda, die der sowjetischen Presse folgte, erwiesen sich die Berichte über den „Weißen Terror”. Die meis-ten Morde an Angehörigen der ungarischen Staatssicherheit (ÀVH) resultier-ten aus den Kampfhandlungen und dem Verhalten der ÀVH. Die wenigen Lynchmorde stießen auf den Widerstand der organisierten Strömungen unter den Aufständischen, insbesondere der Arbeiterräte. Auf Seiten der Aufständi-schen war die ungarische Revolution einer der am wenigsten blutigen Auf-stände der europäischen Geschichte.38 Ebenso gehört die offizielle Darstel-

35 Vgl. zum 17. Juni 1953: Falco Werkentin: Politische Strafjustiz, S. 130f. 36 Dass die prominente Rolle von Juden in der Räterepublik von 1919 oder gar die Beteiligung von Juden an der stalinistischen Herrschaft von 1944-1956 ein Grund für den Antisemitismus in der ungarischen Gesellschaft war, scheint ausgeschlossen, bedingt doch die Haftbarmachung aller ungarischen Juden für die Taten einiger ungarischer Juden schon ein antisemitisches Weltbild. Grundlegend für den methodischen Umgang mit dem Engagement von Juden und Jüdinnen in der sozialistischen Bewegung: Peter Pulzer: Die jüdische Beteiligung an der Politik, in: Werner Mosse und Arnold Paucker (Hg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Institute 33), Tübingen 1976, S. 198-203. Methodisch immer noch von Interesse zum Antisemtismus im Stalinismus: Leo Trotzki: Thermidor und Antisemitismus, in: Helmut Dahmer u.a. (Hg.): Leo Trotzki. Schriften, Bd. 1.2, Hamburg 1988), S. 1040-1052. 37 Für ein Gegenbeispiel siehe Alföldy, Ungarn 1956, S. 106. Höchstwahrscheinlich geht die These vom antisemitischen Charakter des ungarischen Aufstandes auf David Irving, Aufstand in Ungarn. Die Tragödie eines Volkes, Hamburg 1981 zurück. Die Forschung weist die Auffassung des verurteilten Holocaust-Leugners heute einhellig zurück. Alföldy, Ungarn 1956, S. 105. Hier sei die These gewagt, dass es gerade der demokratische Aufstand war, der den latent vorhandenen Antisemitismus zurückgedrängt hatte, ihn zumindest von der Ebene konkreter politischer Forderungen oder auch der politischen Instrumentalisierung, wie sie die ungarischen Stalinisten betrieben hatten, verdrängt hatte. 38 Ebd., S. 103f.

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lung des Ungarnaufstandes durch die SED als „faschistischer Putsch” in das Reich der Legende.39 3. 1956 und der Ungarnaufstand im Bezirk Magdeburg Im Folgenden sollen zunächst die Berichterstattung der MV über den Un-garnaufstand und in einem weiteren Schritt die Reaktionen in der Bevölkerung des Bezirks Magdeburg auf die Erhebung untersucht werden. 3.1. Berichterstattung der Magdeburger Volksstimme Ähnlich wie die gesamte Führungsschicht im Ostblock war auch die Redak-tion der MV von den Ereignissen in Ungarn überrascht worden. 40 Nach den ersten Erfolgen der Aufständischen und dem beginnenden Rückzug der sowjetischen Truppen erklärte die MV den Sieg der ungarischen Arbeiter-macht über die Anschläge konterrevolutionärer Gruppen.41 Dies bedeutete allerdings nicht eine korrekte Charakterisierung der Vorgänge in Budapest, da mit den „Konterrevolutionären” die militanten Gruppen unter den ungari-schen Aufständischen gemeint waren. Vielmehr präsentierten die Redakteure der MV ihren Lesern42 folgendes Bild: faschistische und vom Westen gedun-gene Elemente hatten einen Putsch geplant, waren aber auf den Widerstand der ungarischen Arbeiter gestoßen. Um eine weitere Eskalation zu vermeiden, hätten sich die sowjetischen Truppen zurückgezogen und die Führung der kommunistischen Partei sei wieder Herrin der Lage geworden.

39 Insgesamt hat, so eine These, die allerdings hier nicht weiter verfolgt werden kann, die SED-Analyse von Aufständen gegen die kommunistische Herrschaft mehr mit dem frühneuzeitlichen Rebellionsdiskurs gemein als mit sozialwissenschaftlichen oder marxistischen Analysen. 40 Aussagen über die Anleitung der MV-Redaktion durch die Bezirksleitung der SED können auf der Grundlage der hier benutzten Archivalien nicht getroffen werden. Akten der SED im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt in Magdeburg (LHASA MD) sind gerade für das Jahre 1956 nur bruchstückhaft vorhanden. Dies betrifft insbesondere die Überlieferung zur MV, welche für 1956 vollständig fehlt. Erhalten sind dagegen statistische Angaben zur Mitgliederentwicklung und Kandidatenwerbung. LHASA MD, Rep. P 13, SED-Bezirksleitung Magdeburg, IV/2/9.01/7 und IV/2/9.01/8. 41 MV, Nr. 250 vom 25.10.1956, S. 1; ebd., Nr. 253 vom 29.10.1956, S. 1. 42 Theoretischer Hintergrund ist der „vorgestellte Leser”. Vgl. die Zusammenfassung mit weiterführender Literatur zu der entsprechenden Theorie Umberto Ecos in: Sabine Todt: Äußeres und inneres Wort in den frühen Flugschriften des Andreas Bodenstein von Karlstadt – Das Bild vom Laien, in: Querdenker der Reformation – Andreas Bodenstein von Karlstadt und seine frühe Wirkung, hrsg. von Ulrich Bubenheimer und Stefan Oehmig, Würzburg 2001, S. 112-119.

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Die wirre und schon in sich widersprüchliche Interpretation der Vorgänge deutet darauf hin, dass in den Reihen der SED-Führung zu dieser Zeit große Unklarheit in der Bewertung der Lage herrschte. Letztere kann wahrscheinlich auf drei Faktoren zurückgeführt werden: 1. Detaillierte Informationen aus Ungarn waren in den ersten Tagen nur schwer zu erlangen und eine unabhängige journalistische Arbeit der MV in einer politisch so entscheidenden Frage war ausgeschlossen.43 „Unsere Presse ist ein Instrument des Sozialismus. Das schließt die Verbreitung solcher Nachrichten aus, die den Imperialisten dienen. Die Parteiführung hat nicht nur das Recht, die Information zu lenken, sondern sie hat die Pflicht dazu”.44 2. Auch in den Reihen des entscheidenden Politbüros der KPdSU war noch keine Klarheit über die Einschätzung der Lage in Ungarn getroffen worden, die über die sattsam bekannten Diffamierungen jedes Widerstandes gegen das kommunistische System hinausgingen.45 3. Damit zeigte sich das grundlegende Problem der politischen „Einschät-zungen” der SED – in erster Linie an den außenpolitischen Interessen der sowjetischen Politbürokratie orientiert, war sie ohne Anleitung aus Moskau zu einer eigenständigen Position nicht in der Lage. Daraus resultierte eine Analy-se, die wenig mehr beinhaltete als die „geheimpolizeiliche” Sicht auf die Din-ge: die Kommunisten sind gut und die Aufständischen sind böse Elemente im Solde des Weltimperialismus. Dass sich die ungarischen Kommunisten zu einem großen Teil auf Seiten der Aufständischen befanden, musste dieser schwarz-weißen Sicht der Welt entgehen.46

Die MV behielt diese Interpretation der Vorgänge bis zum 1. November 1956 bei. Noch am 29. Oktober druckte das Magdeburger Blatt einen Artikel aus der „Prawda” vom Vortag ab, der den Sieg der Arbeiter über die von „Horthy-Offizieren” befehligten und vom Westen gesteuerten „Putschisten” konstatierte.47 In einem Bericht aus Ungarn in der Ausgabe vom 1. November griff dann Maria Reichmann deutlich die Führung der ungarischen Kommu- 43 1955 waren zwei Redakteure schwer gemaßregelt worden, weil sie eine offizielle Verlautbarung gekürzt abgedruckt hatten. LHASA MD, Rep. P 13, SED-Bezirksleitung Magdeburg, IV/2/9.01/7: Berichte und Einschätzungen zur Arbeit der Grundorganisation der „Volksstimme” (1957-1962), Bl. 1ff. 44 Notizen über die am Donnerstag, dem 13.12.1956 in Berlin durchgeführte Pressekonferenz, Referat von Albert Norden, in: ebd., IV/2/9.01/28: Auswertung zentraler Beratungen über Propagandaarbeit, Bl. 5. 45 Vgl. Alföldy: Ungarn 1956, S.93-101. 46 Methodisch wichtig, wenn auch nicht die neue Geschichte betreffend: Hartmut Boockmann: Das fünfzehnte Jahrhundert in der deutschen Geschichte, in: Michael Borgolte (Hg.): Mittelalterforschung nach der Wende 1989 (HZ, Beiheft 20, N.F.), München 1995, S. 485-511. Zur SED-Analyse des 17. Juni 1953 in der DDR: Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Abriß, Berlin 1978, S. 288-298. 47 MV, Nr. 253 vom 29.10.1956, S. 1.

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nisten an: „Die fehlende Einmütigkeit in der Spitze machte die Partei führer-los und hinderte den festen Zusammenschluss von Partei und Arbeiterklasse”. Reichmann wiederholt auch die Vorwürfe westlicher Einflussnahme und sieht insbesondere in der Parteinahme des „spanischen Faschistenführers Franco für die ungarische Konterrevolution” ein Indiz für den reaktionären Charakter des Aufstandes.48 In der Ausgabe vom folgenden Tag berichten die Redakteu-re der SED-Zeitung dann vom „faschistischen Terror” in Ungarn: „Zahlrei-che Kommunisten sind ermordet worden. Ihre Leichen wurden von den entmenschten Reaktionären auf offener Straße mit Benzin übergossen und verbrannt.”49 In einem Kommentar in derselben Nummer verknüpfte Hans Lorbeer die Ereignisse in Ungarn und den Suez-Krieg. Die einleitende Passage seiner Ausführungen sei hier vollständig zitiert, weil sie sowohl die Leitthemen der folgenden Berichterstattung als auch antisemitische Argumentations-muster enthält: „In Ungarn wiegeln Agenten und Terroristen die Gedanken-losen und Leichtgläubigen zur Rebellion auf, Häuser gehen in Flammen auf. Unersetzliche Werte werden vernichtet. Das Blut ungarischer Patrioten fließt über den Asphalt, über prachtvolle Terrassen, in Arbeiterwohnungen. Frauen und Kinder werden ermordet. Tagelang wogen die Kämpfe. Wer hat die Verschwörer nach Ungarn geschickt? In Aegypten marschieren die Streitkräfte Israels ein. Sie richten die Geschütze der Panzer auf den Suezkanal. Mit unbe-schreiblicher Frechheit bedrohen Männer, deren Familien von den Hitlerfa-schisten ausgerottet, verbrannt, vergast und niedergetreten wurden, auf fa-schistische Art friedliche aegyptische Bauern und Handwerker, zünden ein Feuer an, das die ganze Welt erfassen kann. Wer hat diese Raubarmee nach Aegypten geschickt?”50 Für den Autor war die Antwort selbstverständlich: die westlichen Imperialisten.

In der Ausgabe vom 3. November erklärte die MV ihren Leserinnen und Lesern die Ereignisse in Ungarn in einem fast ganzseitigen Artikel. Fehler der Partei und allgemeine Schwierigkeiten hätten eine Lage entstehen lassen, die die „Konterrevolution” ausnutzen konnte, da die Partei bei ihrer Abstellung in eine „hemmungslose Selbstzerfleischung” verfallen sei. Erneut verwiesen die Redakteure der Zeitung auf den „blutigen Terror” der Konterrevolution, dem endlich ein Ende gesetzt werden müsse. Demgegenüber seien die Regierung und die sowjetischen Einheiten stets bemüht gewesen, Blutvergießen zu ver-meiden. Zugleich versuchte die MV zwischen den vom „Imperialismus” gedungenen „eingefleischten Horthy-Faschisten” und den gutgläubigen unga-rischen „Werktätigen” zu differenzieren.51 Am folgenden Tag konnte die MV 48 MV, Nr. 256 vom 1.11.1956, S. 3. 49 MV, Nr. 257 vom 2.10.1956, S. 1. 50 MV, Nr. 257 vom 2.10.1956, S. 1. 51 MV, Nr. 258 vom 3.10.1956, S. 4.

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dann nach dem Angriff auf Budapest auf der ersten Seite titeln: „Konter-revolution in Ungarn zerschlagen”.52 In der Ausgabe vom 5. November kontrastierte der Redakteur mit dem Kürzel „We” Chaos und Terror durch „Horthy-Anhänger und SS-Bestien” in Ungarn mit der Geschlossenheit der SED und der Wachsamkeit der „Sicherheitsorgane” in der DDR. Die darin enthaltene Drohung findet sich auch in einem auf derselben Seite abgedruck-ten Beitrag, in dem Walter Ulbricht zitiert wird: „Ungarn lehrt, dass das Volk auf der Wacht sein muß. Wer der Reaktion den kleinen Finger gibt, dem wird es am Ende das Leben kosten.”53 Den Topos der guten DDR-Regierung, die weder die verheerenden Fehler Rákosis noch den nachgiebigen Kurs Nagys gesteuert habe, verbreiteten die Redakteure der MV in der Ausgabe vom 6. November 1956.54

Durchgehend berichtete die MV in diesen Tagen positiv über die Hilfs-bereitschaft unter DDR-Bürgern, die die offiziellen Lieferungen für Ungarn unterstützen. Die SED versuchte, ihre Kampagne zur Mitgliederwerbung mit den Ereignissen in Ungarn zu verbinden. So fand sich auf der Titelseite der Ausgabe vom 8. November ein Bericht über den Eintritt von sieben Arbeitern aus dem VEB Ernst-Thälmann in die SED unter der Überschrift: „Eintritt in die Partei – Antwort auf Arbeitermord in Ungarn”.55 Im Einklang mit dieser Kampagne war eine Großveranstaltung in der Hermann-Gieseler-Halle vom 7. Dezember 1956, an der neu aufgenommene Mitglieder und (noch) partei-lose Arbeiter zusammen mit Parteimitgliedern teilnehmen sollten. Der Aufruf richtete sich dezidiert gegen die „Konterrevolution in Ungarn” und die „Lü-gen über Arbeitsniederlegungen”.56 Zwar konnte die SED im Bezirk Magde-burg nicht das Ziel von 6.000 neuen Arbeitermitgliedern erreichen, doch zeigt die Statistik einen deutlichen Zuwachs von Kandidatenmitgliedern im letzten Quartal 1956.57 Die Gründe für diesen Zuwachs bedürfen einer Auswertung der Akten zur Mitgliedergewinnung. Ein möglicher Hintergrund mag die Stär-kung Ulbrichts nach der Niederschlagung des Ungarnaufstandes gewesen sein.

Die MV verwies weiterhin auf die schweren Fehler der USAP.58 Ganz im Sinne einer Verhinderung des Übergreifens der Revolution auf die DDR konnten letztere gegen die Politik der SED abgegrenzt werden. Das Schüren

52 MV, Nr. 259 vom 5.10.1956, S. 1. 53 Ebd., S. 2. 54 MV, Nr. 260 vom 6.10.1956, S. 1f. 55 MV, Nr. 262 vom 8.10.1956, S. 1. 56 LHASA MD, Rep. P 13, SED-Bezirksleitung Magdeburg, IV/2/5/160: Analysen der Bezirksleitung zu statistischen Quartalsberichten und Bericht über die Kandidatengewinnung, Bl. 245-250. 57 Ebd., IV/2/5/161: Analysen der Bezirksleitung zu statistischen Quartalsberichten und Bericht über die Kandidatengewinnung, Bl. 1. 58 MV, Nr. 258 vom 3.10.1956, S. 4.

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von Befürchtungen vor einem Dritten Weltkrieg konnte neben der eigenen Anhängerschaft59 potentiell auch Teile der Bevölkerung ansprechen, die dem SED-Regime kritisch gegenüberstanden.60 Drittens bot die positive Bericht-erstattung über die offiziellen Spendensammlungen für Ungarn eine Möglich-keit, auch jene Menschen einzubinden, die eventuell mit dem Aufstand sym-pathisierten oder aus Mitleid mit den geschundenen Ungarn helfen wollten.

So verband die MV die Lüge vom „Weißen Terror” mit einer Darstellung der ungarischen Kommunisten, die die SED positiv von ihnen abhob mit dem als massenwirksam erachteten Schüren der Angst vor dem Dritten Weltkrieg und einer positiven Darstellung der Hilfsbereitschaft mit den Not leidenden Ungarn. Im Folgenden wird zu untersuchen sein, wie diese Berichterstattung in der Bevölkerung aufgenommen wurde. 3.2. Streiks und „Magdeburger Lügen” Am 18. Oktober 1956 hatte die Westberliner Zeitung „Der Tag” berichtet, dass im Magdeburger Karl-Marx-Werk gestreikt werde, Volkspolizei und Staatssicherheitsdienst den Betrieb besetzt hätten und 2.000 Mann Kasernierte Volkspolizei zum Eingreifen bereitstünden.61 Vor dem Hintergrund der ange-spannten Lage in der DDR und verbreiteten Erwartungen, es werde zu einem zweiten 17. Juni kommen62, inszenierte die SED eine Kampagne gegen die Meldungen des „Tag”. Am 18. Oktober 1956 „weilten Vertreter des ADN, des ND und des demokratischen Rundfunks63 in Magdeburg, um sich über die Lage zu informieren und die „Lüge“ des „Tag” vom 18. Oktober 1956 zu dementieren.” Am 19. Oktober waren dann aus der Bundesrepublik Vertreter des „Spiegel” und der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung”, sowie der Zeitung der Kommunistischen Partei Finnlands eingeladen, um das Karl-Marx-Werk in Magdeburg zu besuchen. Der Besuch war offenbar gut vorbereitet, denn anwesende Arbeiter äußerten sich gegenüber den westlichen Pressevertretern empört „und erklärten, dass jetzt bewiesen wäre, dass die westdeutschen

59 Z.B. noch Jahre später in den Aufzeichnungen für die Fachschulung eines Mitarbeiters der Abt. XIV der BV Magdeburg des MfS vom 10.2.1981: BStU, Ast. Magdeburg, BV Magdeburg, Abt. XIV, Nr. 575, Bl. 91. 60 Im Westen lehnten viele Menschen ein Eingreifen in Ungarn ab, weil sie einen Dritten Weltkrieg befürchteten. Vgl. Kolwalczuk, Zwischen Hoffnungen und Krisen, S. 30. Die Angst vor einem Dritten Weltkrieg durchzieht auch die Stimmungsberichte der KD Zerbst. Z.B. Bericht vom 2.11.1956, in: BStU, Ast. Magdeburg, BV Magdeburg, KD Zerbst, Nr. 1432, Bl. 139: „Die Furcht vor einem neuen Weltkrieg ist überall vorhanden.” 61 MV, Nr. 250 vom 25.10.1956, S. 1. Der Vorgang ist mit Akzentverschiebungen zur vorliegenden Darstellung behandelt in: Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 251-257. 62 Vgl. ebd., S. 251. 63 Selbstbezeichnung des DDR-Rundfunks.

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Zeitungen lügen.”64 Am gleichen Tag hatte die MV die Berichte der west-deutschen Zeitungen als Ablenkungsmanöver der Adenauer-Regierung be-zeichnet. Sechs Tage später fand sich auf der Titelseite der MV ein Artikel von Alois Pisnik, dem ersten Sekretär der Bezirksleitung Magdeburg der SED. Er wiederholte die Anwürfe vom 19. Oktober und berichtete dann über den Be-such der bundesdeutschen Pressevertreter, wobei er den Topos „Arbeiter weisen die Lügen der Westpresse zurück” aufgriff und fast die Hälfte seines Artikels darauf verwendete, seine Sicht der „Ziele der Imperialisten und ihrer Trabanten” darzulegen: „Volksdemokratische Staaten aus dem sozialistischen Lager herauszubrechen mit dem Ziel, die alten Ausbeutungszustände dort wieder einzuführen, die enge Verbindung der Staaten des Sozialismus mit der Sowjetunion zu stören, die Sowjetunion zu isolieren, um sie leichter überfallen zu können.”65

Die Kampagne gegen die Meldungen des „Tag” fand auch in über-regionalen Meldungen der SED-Medien ihren Widerhall. „Auch Karl-Eduard von Schnitzler nahm in einer Fernsehdiskussion am 27. Oktober 1956, die am nächsten Tag im Neuen Deutschland im Wortlaut abgedruckt wurde, auf die Ereignisse in Magdeburg Bezug und sprach von den ‚Lügen über Magde-burg’.”66

Auffällig ist, dass lediglich die Meldungen des „Tag” in der SED-Presse angesprochen wurden. Ein Bericht des „Telegraf” vom 17. Oktober 1956, der sich offenbar auf einen Artikel des FDGB-Organs „Tribüne” bezog, und über „Protestaktionen im Gebiet von Magdeburg” berichtet hatte, fand keine Erwähnung.67 Hier scheint auch der Schlüssel für die Aktivität der SED-Propaganda gegen den Artikel des „Tag” zu liegen.

Aus den Akten gehen eindeutig zwei kurzfristige Streiks im Ernst-Thälmann- und im Dimitroff-Werk hervor, die Diskussionen und Versamm-lungen nach sich zogen. Ebenfalls gab es Diskussionen und eine Versamm-lung im Karl-Marx Werk.

Am 1. Oktober 1956 kam es im Ernst-Thälmann-Werk zu einem ein-stündigen Ausstand von 60 Arbeitern in der Stahlgießerei.68 Laut Bericht des MfS hatten TAN [Technische Arbeitsnorm]-Sachbearbeiter eine penible

64 Information Nr. 263/56 vom 20.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: BStU, MfS, ZA, MfS – AS 83/59, Bd. 1 b, Bl. 62. 65 MV, Nr. 250 vom 25.10.1956, S. 1. 66 Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 252-253. 67 Information Nr. 263/56 vom 20.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: BStU, MfS, ZA, MfS – AS 83/59, Bd. 1 b, Bl. 65. 68 Information Nr. 274/56 vom 25.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: ebd., Bl. 110.

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Prüfung der Arbeitsschritte vorgenommen69 „Die Arbeiter sollten sich sogar zum Austreten gehen melden, damit es notiert werden kann. Über dieses Ver-halten waren die Arbeiter empört und legten die Arbeit nieder.”70 Dass das MfS diesem zunächst rein ökonomisch erscheinenden Streik politische Be-deutung beimaß, zeigt sich an der Bemerkung, dass die Arbeitsniederlegung von zwei Arbeitern ausgegangen sei, „welche am 17.6.53 negativ in Erscheinung getreten sind.”71 Nach Wiederaufnahme der Arbeit wurde auf Drängen der Mitarbeiter für den 4. Oktober 1956 eine Versammlung einbe-rufen. Auch dieser Umstand alarmierte die SED und das MfS: „Die Bezirks-leitung der Partei hat davon Kenntnis erhalten. Notwendige Maßnahmen sind eingeleitet.”72 Über die folgende Versammlung berichtet das MfS: „Die anwesenden Arbeiter zeigten Mißstände und Versäumnisse auf, ohne provo-katorische Forderungen zu stellen.”73

Im Dimitroff-Werk kam es am 3. Oktober 1956 nach Schichtende gegen 14.00 Uhr zu einer Diskussion zwischen Arbeitern, Werksleiter und Haupt-buchhalter über ausstehende Löhne, da die Arbeiter nicht gemäß ihrer Lohngruppe bezahlt worden waren. Bei Schichtbeginn am 4. Oktober setzten die Arbeiter die Diskussion fort und erreichten die Zusage, dass ein Teil der ausstehenden Löhne nachgezahlt wird. Daher kam es zu der Arbeitsnieder-legung für eine Stunde.74 Es folgten weitere „Aussprachen” zwischen Be-triebsleitung und Delegierten aus der Arbeiterschaft. Auch hier gab die Be-triebsleitung in der Sache den Mitarbeitern Recht und das MfS bilanzierte: „Die Aussprachen in der Reparaturwerkstatt sowie in einer Besprechung mit 10 Arbeitern ergab keine Hinweise, dass es eine organisierte Provokation gegen Staat, Regierung und Partei war.”75

Unruhig war die Lage dennoch. „Am 19.10.1956”, meldete die Staats-sicherheit, „wurde in der Verwaltung des Thälmann-Werkes in Magdeburg heftig über die Einberufung der Volkskammer diskutiert. Einige Angestellte brachten zum Ausdruck, dass diese Sitzung die Ablösung des Gen.[osse] W. Ulbricht verlangt, der an der Hinrichtung der 6 ung.[arischen] Offiziere

69 Selbst die „geringsten Handgriffe” waren mit der für sie benötigten Zeit notiert worden. Information Nr. 231/56 vom 4.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: ebd., Bd. 1 a, Bl. 111. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ebd. Vgl. zusammenfassend zur Haltung der SED zu Streiks und Kritik in der Bevölkerung 1956: Klaus Schroeder: Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990, München 1998, S. 135ff. 73 Information Nr. 234/56 vom 5.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: BStU, MfS, ZA, MfS – AS 83/59, Bd. 1 a, Bl. 122. 74 Ebd., Bl. 121. 75 Ebd., Bl. 122.

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mitschuldig sei. Desweiteren würde sich die Volkskammer mit der Umbenennung von Straßen beschäftigen, die die Namen Pieck, Ulbricht, Grotewohl tragen.”76

Im Karl-Marx Werk gab es am 4. und 5. Oktober Gespräche zwischen Arbeitern der Gussputzerei und der Betriebsleitung über Lohnkürzungen. Am Ende gab auch hier die Betriebsleitung nach und das MfS stellte fest: „Provokatorische Forderungen traten nicht in Erscheinung.”77

Festzuhalten bleibt, dass es in Magdeburg durchaus zu Arbeitsniederlegun-gen gekommen war, die von der Staatssicherheit zunächst als potentiell poli-tisch und regimekritisch eingestuft wurden. So schreibt die Abteilung Infor-mation des MfS in einem internen Informationsbericht vom 25. Oktober 1956: „Die Situation in der Industrie zeigt im Monat Oktober 1956 bis jetzt ein häufiges Auftreten von Arbeitsniederlegungen, bzw. deren Androhungen. Besonders nach den Veröffentlichungen der Westsender über Magdeburg nahmen die Diskussionen zu, in denen bei Unstimmigkeiten und Schwierig-keiten in den Betrieben von einem neuen 17. Juni gesprochen, bzw. mit Arbeitsniederlegungen gedroht wird.”78 Im Gegensatz dazu scheinen die Aussagen in den regionalen Berichten zu stehen, die den unpolitischen Cha-rakter der „Aussprachen” in den Betrieben nach den Arbeitsniederlegungen unterstreichen. Wahrscheinlich erkannte das MfS einerseits die Dynamik, die Streiks entfalten konnten und war andererseits darauf bedacht, die Arbeiter-schaft nicht erneut durch wahllose Verhaftungen unnötig zu provozieren.79 Indirekt gab die Staatssicherheit zu, dass die „Lügen über Magdeburg” keine freie Erfindung waren.80

Die SED konnte jedoch die wahrscheinlich deutlich übertriebenen Meldun-gen des „Tag” nutzen, um einen Generalangriff auf die Glaubwürdigkeit der westlichen Medien zu starten. Einen weiteren Hintergrund für die propagan-distischen Anstrengungen der SED bildete die Angst vor politisch wirksamen Gerüchten: Am 18. Oktober 1956, so berichtete das MfS, hatte ein Magdebur-ger Arbeiter aus dem Karl-Marx-Werk in der Straßenbahn geäußert, dass die

76 Information Nr. 274/56 vom 25.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: ebd., Bd. 1 b, Bl. 111. Genau so in der Information Nr. 263/56 vom 20.10.1956, in: ebd., Bl. 56. 77 Information Nr. 234/56 vom 05.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: ebd., Bd. 1 a, Bl. 122f. 78 Information Nr. 274/56 vom 25.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: ebd., Bd. 1 b, Bl. 107. 79 Vgl. die eindrucksvolle Analyse von Werkentin zur Strafpolitik nach dem 17. Juni 1953 Falco Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht (= Forschungen zur DDR Geschichte, Bd. 1), Berlin 1995, S. 121-122. Die Jahre 1956 und 57 zeigten seit Gründung der DDR einen Tiefstand an Strafgefangenen, gegenüber 1955 hatte sich die Zahl der Häftlinge fast halbiert. Ebd. S. 408. 80 Mitter/Wolle: Untergang auf Raten, S. 253.

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Volkspolizei (VP) schon in Bereitschaft liege, es auch in anderen Werken Ärger wegen der Herabsetzung des Lohnes gäbe und die Gewerkschaft ver-sucht hätte, in seinem eigenen Betrieb zu schlichten, „aber bloß mit Worten können sie bei uns nichts erreichen”.81 Wahrscheinlich war diese Aussage noch nicht von Informationen aus bundesdeutschen Medien beeinflusst. In engerem Zusammenhang mit den Berichten des „Tag” und des Nordwest-deutschen Rundfunks scheint eine Aussage vom 19. Oktober 1956 zu stehen, die ein ehemaliger Sozialdemokrat aus Stendal gemacht haben soll: „Haben Sie schon gehört, dass in Magdeburg im Thälmannwerk gestreikt wird? Dort haben ca. 2.000 Mann die Arbeit nieder gelegt”.82 Im Kalbe und Klötze kam es zu kleineren Solidaritätsaktionen und kritischen Äußerungen über die SED-Presse, der „man nicht vertrauen” könne.83 Andererseits versuchte die SED mit der Kampagne, das schlechte Image ihrer eigenen Berichterstattung zu verbessern und die von vielen DDR- Bürgern und Bürgerinnen gehörten westlichen Rundfunksender diskreditieren.84 Wahrscheinlich85 waren die Be-richte des „Tag” über Massenstreiks und Besetzungen von Betrieben durch KVP und MfS deutlich übertrieben, so dass sich der Propaganda der SED eine Möglichkeit bot, um von der unzureichenden und falschen Berichter-stattung in der eigenen Presse abzulenken.86

Die vorliegenden Quellen lassen eine vorsichtige Bilanz dieser Kampagne zu. Die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung in den DDR-Medien scheint angesichts der durchgängigen Kritik an letzteren in den Stimmungsberichten nicht zugenommen zu haben. Schwieriger sind die Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit der „westlichen” Radiosender zu beurteilen. Die rituellen Widerholungen der Berliner MfS-Informationsgruppe, dass „Rias-Losungen” in den Diskussionen vorgetragen würden, können nicht als Beleg für die Wirksamkeit westlicher Medien gewertet werden, da das MfS grundsätzlich

81 Information Nr. 263/56 vom 20.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: BStU, MfS, ZA, MfS – AS 83/59, Bd. 1 b, Bl. 55. 82 Ebd., Bl. 56. 83 Information Nr. 279/56 vom 26.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: ebd., Bl. 161. 84 Das MfS konstatiert in einem internen Bericht vom 26.10.1956: „Die negativen [SED-kritischen] Argumente sind auch zum grössten Teil Argumente des Rias [Rundfunk im amerikanischen Sektor] oder anderer westlicher Sender und überwiegen bei weitem die positiven.” Ebd., Bl. 177. 85 Hier wären Akten aus dem Bestand der Deutschen Volkspolizei (DVP) auszuwerten. 86 Vgl. Ulrich Kluge u.a.: Willfährige Propagandisten. MfS und SED-Bezirkszeitungen, Stuttgart 1997. Das Misstrauen gegenüber den „eigenen” Medien reichte bis weit in die SED. „Viele Mitglieder der SED erklären, dass sie in Diskussionen schlecht argumentieren können, weil die Presse nichts genaues bringt.” Information Nr. 279/56 vom 26.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: BStU, MfS, ZA, MfS – AS 83/59, Bd. 1 b, Bl. 177.

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geneigt war, Kritik als vom Westen gesteuerte Provokation zu sehen. Dies war auch in der Kreisdienststelle (KD) Zerbst des MfS der Fall, als ein Mitarbeiter am 25. Oktober 1956 an die Bezirksverwaltung (BV) berichtete, die Bauern beschäftigten sich „im stillen” mit den „riasenten” über Streiks in den Mag-deburger Großbetrieben und als Beleg eine Frau aus Güterglück anführte: „unsere maenner muessten auch streiken, denn so lange kinderstruempfe noch 5 dm kosten, koennen wir bei unserem lohn nur schlecht leben.”87 Angesichts der bereits erwähnten lückenhaften Quellenlage scheint es sinnvoll, die vorhandenen Einzelmel-dungen zur Rezeption der Ereignisse in Magdeburg mit der in den Berichten allgemein zu Tage tretenden Haltung gegenüber den „Westsendern” zu vergleichen.

Die Zerbster Kreisdienststelle des MfS meldet am 27. Oktober 1956 an die BV Magdeburg über einen im Kreis wohnenden Dreher88, der im Karl-Marx-Werk in Magdeburg arbeitet, er habe bestätigt, dass „im werk nichts los gewe-sen” sei.89 Der Dienststellenleiter, Oberleutnant Paschke, bilanziert im Folgen-den die von ihm festgestellte „grosse Zurückhaltung” in diesen Fragen: „es liegt die vermutung nahe, dass die glaubwuerdigkeit der westsender durch magdeburg eine starke einbusse erlitten hat, so dass die informationen ueber diese quellen nicht mehr als vollwertig betrachtet werde.”90 Es ist unklar, ob die Frau, welche die „RIAS-Enten” wiedergab, durch Bekannte von den tatsächlichen Streiks erfahren hatte, oder sogar durch den Artikel von Alois Pisnik in der MV auf das Thema Streik gekommen ist. Vor dem Hintergrund verschiedener Berichte über eine differenzierte Einstellung zu den verschie-denen Sendern kann angenommen werden, dass die Propaganda um die „Lügen über Magdeburg” zwar nicht die Glaubwürdigkeit der DDR-Medien steigerte, aber dazu beitrug, die kritische und abwägende Haltung von Bürgerinnen und Bürgern der DDR auch gegenüber den westlichen Medien zu verstärken. 3.3. Widerstand gegen die Politik der SED und die Berichterstattung der MV im Bezirk Magdeburg Widerstand zeigte sich an der Medizinischen Akademie in Magdeburg (MAM) und im Dimitroff-Werk. An der MAM sammelten Studierende selbständig

87 Kleinschreibung im Original. Bericht vom 25.10.1956, in: BStU, Ast. Magdeburg, BV Magdeburg, KD Zerbst, Nr. 1432, Bl. 160. 88 Der genaue Ort kann auf Grund der notwendigen Schwärzungen im BStU-Material nicht ausgemacht werden. 89 Kleinschreibung im Original. Bericht vom 27.10.1956, in: BStU, Ast. Magdeburg, BV Magdeburg, KD Zerbst, Nr. 1432, Bl. 150. 90 Kleinschreibung im Original. Ebd., Bl. 151.

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Spenden für die Aufständischen in Ungarn und hörten den Nordwestdeut-schen Rundfunk, um Informationen über die Ereignisse zu bekommen.91 Am Montag, dem 29. Oktober 1956 erschien in der MV im Zusammenhang mit einem Bericht über Hilfslieferungen des Deutschen Roten Kreuzes eine Solidaritätsadresse der „Jugend” aus dem Magdeburger Georgij-Dimitroff-Werk an die Jugendleitung der Waggonfabrik „Wilhelm Pieck” in Budapest. Darin wurde die Solidarität mit der „Partei” und den „revolutionären Kräf-ten” in Ungarn beschworen, welche sich – so auch weitere Artikel in dieser Ausgabe – gegen die Konterrevolution durchgesetzt hätten.92 Die Unterzeich-ner waren von der Solidaritätsadresse leider nicht unterrichtet worden, was dann zu erheblichem Unmut führte.93 Die „Abteilung Information” des MfS hielt zu den Vorgängen fest: „Am 30.10.1956 legten von 6.00 Uhr bis 11.30 Uhr im Georgi-Dimitroffwerk Magdeburg Werk B in der mechanischen Ab-teilung 30 Jugendliche die Arbeit nieder“.

Die Ursache dafür war ein Zeitungsartikel der MV vom 29. Oktober 1956, der besagte, dass das FDJ-Aktiv des Betriebes eine Grußadresse an die Jugendleitung der Waggonfabrik „Wilhelm Pieck” in Budapest gerichtet hatte. „Die Jugendlichen verlangten eine Klärung, wer diese Grußadresse abgefasst hat und außerdem seien sie mit dem Inhalt nicht einverstanden. Sie brachten zum Ausdruck, dass die FDJ-Funktionäre des Betriebes von ihnen nicht aner-kannt werden. Außerdem hätten die konterrevolutionären Elemente in Ungarn gesiegt.”94 Ein Jungarbeiter bezeichnete in diesem Zusammenhang die MV als „Käseblatt”. Nach zweistündiger Diskussion mit dem zuständigen FDJ-Sekretär nahmen die Jugendlichen die Arbeit wieder auf und „durch das

91 Ulrich Mielke und Klaus Kramer: Die Medizinische Akademie Magdeburg und das Ministerium für Staatssicherheit. Operativer Vorgang „Labor” (Forschungsheft Nr. 1 des Historischen Dokumentationszentrums des Bürgerkomitees Sachsen-Anhalt e. V.), Magdeburg 1997, S. 12f. 92 MV, Nr. 253 vom 29. Oktober 1956, S. 1. Hier nicht nur die Solidaritätsadresse, sondern auch der aus der „Prawda” übernommene Artikel: Ungarns Werktätige verteidigen ihre Volksmacht. 93 Siehe die Darstellung bei Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 249ff. 94 BStU, MfS, ZA, MfS – AS 83/59, Bd. 1 b, Bl. 252. Auch in einem SED-internen Bericht heißt es, dass die Jugendlichen sagten: „Es stimmt nicht, dass die Volksmacht gesiegt hat. In Wirklichkeit hat in Ungarn die Konterrevolution gesiegt.” Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 250. Wahrscheinlich geht der MfS-Bericht auf den SED-Bericht zurück, so dass es möglich ist, dass hier keine wörtliche Äußerung wiedergegeben wurde, sondern die jungen Arbeiter einfach den Sieg der Aufständischen angesprochen hatten und dieser Umstand dann im Parteijargon wiedergegeben wurde. Ein ähnliches Phänomen findet sich bei Verhörprotokollen des MfS. Vgl. Sascha Möbius: „Grundsätzlich kann von jedem Beschuldigten ein Geständnis erlangt werden”. Die MfS-Untersuchungshaftanstalt Magdeburg-Neustadt von 1957 bis 1970 (Gedenkstätten und Gedenkstättenarbeit im Land Sachsen-Anhalt, Heft 6), Magdeburg 2002, S. 107.

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Büro der Bezirksleitung wurden weitere Maßnahmen eingeleitet.”95 Welche dies waren, ist auf der Grundlage der vorliegenden Materialien nicht zu rekonstruieren.

Die Aktion der Jungarbeiter im Dimitroff-Werk führte die beiden Stränge der oppositionellen Entwicklungen im Bezirk zusammen. Kritik an der Infor-mationspolitik der SED führte zum Streik. 3.4. Stimmungsbilder und kritische Äußerungen in der Bevölkerung An der erst am 1. September 1956 eingeweihten Fachschule für Wasserwirt-schaft waren nach Aussage eines Spitzels 80-90% der Mitschüler seiner Klasse „mit dem Eingreifen der sowjetischen Truppen in Ungarn nicht ein-verstanden”.96 Besonders deutlich wurde die Berichterstattung in der Presse kritisiert – eine Kritik, der sich auch der Informant anschloss: „Es ist kein Grund vorhanden, daß […] die Nachrichtenübermittlungen so langsam von statten gehen.”97 Am 31. Oktober äußerte sich ein Dozent offen gegen die SED-Positionen zum Ungarnaufstand: „Na, was meinen Sie zu Ungarn? …es ist doch hohnsprechend in der Presse von Konterrevolution zu sprechen. Wo hat es so etwas gegeben schon einmal in der Geschichte, daß von einer Kon-terrevolution gesprochen wird, wo es sich um Aktionen des Volkes handelt. […] Jedes Land wird sich schon seinen eigenen Sozialismus schaffen.” „Zum Auftreten Hortys‘ u. faschistischer Gruppen u.s.w. sagte er” – so der GI98-Bericht – „’Aber meine Herren, diese Leute können doch machen was sie wollen, deshalb ist das, was das Volk will noch keine Konterrevolution. Niemand kann dem ungarischen Volk etwas aufzwingen, weder ein Land99, noch Hortlinggruppen.’”100

Gleichzeitig berichtet der Spitzel über die „Empörung” seiner Mitschüler über die Intervention Englands und Frankreichs am Suez-Kanal. Besonders spannend ist, dass er seine Klasse so charakterisiert, dass in ihr „an und für sich keine schlechte Meinungsbildung [Meinungsbildung, die sich gegen Positionen der SED wendet – S.M.] vorhanden ist.” Die Klasse sei in der (staatlichen Massenorganisation) Gesellschaft für Sport und Technik (GST)

95 Mitter/Wolle, Untergang auf Raten, S. 250. 96 Bericht des GI „Handschuh” vom 2. November 1956. BStU, Ast. Magdeburg, AOV 1849/67, Teil III, Bl. 82ff. 97 Ebd., Bl. 82. 98 Geheimer Informant, damalige Bezeichnung für einen IM (Inoffiziellen Mitarbeiter) 99 Gemeint ist wahrscheinlich die UdSSR. 100 Bericht des IM „Handschuh” vom 2. November 1956. BStU, Ast. Magdeburg, AOV 1849/67, Teil III, Bl. 83. Die merkwürdige Konstruktion „Hortlinggruppen” habe ich in dem vorliegenden Material sonst nicht gefunden. Der Dozent hat evtl. etwas eigenwillig den Begriff „Hortlinge” für Horthy-Anhänger geprägt.

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überdurchschnittlich aktiv. Letzteres klingt aus der heutigen Sicht eher merk-würdig, scheint aber zur Zeit der Abfassung in der SED als wichtiger Gradmesser für systemkonformes Verhalten gesehen worden zu sein.101

So zeigte sich hier Widerspruch in einer Einrichtung und Klasse, die wahr-scheinlich nicht als grundsätzlich oppositionell gesehen werden können. Sympathie mit dem ungarischen Aufstand im Sinne eines eigenständigen Weges zum Sozialismus koppelte sich mit Kritik an der Intervention westlicher Mächte am Suez. Die Kritik an der verspäteten und lückenhaften Berichterstattung in der SED-Presse wurde sogar von dem Informanten des MfS geteilt. 3.4.1. Zentrale Stimmungsberichte Nach Einschätzung des MfS waren bis zum 31. Oktober 1956 jene Stimmen in der Bevölkerung vorherrschend, die sich positiv auf die ungarischen Ereig-nisse bezogen und die Verhältnisse in der DDR kritisierten. Seit diesem Zeitpunkt hätten „positive Stimmen” zugenommen, „in welchen von den Konterrevolutionären Abstand genommen wird.” Der Beleg hierfür fällt allerdings eher zweifelhaft aus: „Begrüßt wird hauptsächlich von den Arbei-tern in den Betrieben, dass Vertreter der Regierung mit den Arbeitern sprechen.”102 Getreu seinem Freund-Feind-Denken und der Vorstellung, dass Kritik in der DDR westlichem Einfluss geschuldet ist, sah das MfS in den kritischen Äußerungen „Argumente des Rias oder anderer westlicher Sen-der”.103 Durchgehend wurde auch die Kritik an der Presse der SED wieder-gegeben. Sowohl in den zusammenfassenden Einschätzungen des MfS als auch in den wiedergegebenen Einzelmeinungen überwiegen Stimmen, die die Ereignisse in Ungarn mit der schlechten Versorgungslage der DDR in Zusammenhang bringen und davon ausgehen, dass ein neuer 17. Juni kurz bevorsteht, bzw. diesen wünschen: „Polterabend war der 17.6.53, die Hoch-zeit kommt erst.”104 Im Ernst-Thälmann-Werk in Magdeburg fand das MfS

101 Dabei ging es vor allem um die für die FDJ und SED zentrale Frage der Gewinnung von Freiwilligen für die NVA, bei der die GST eine zentrale Rolle spielen sollte. Vgl. Christian Sachse: Aktive Jugend – wohlerzogen und diszipliniert. Wehrerziehung in der DDR als Sozialisations- und Herrschaftsinstrument (1960-1973), Münster 2000, S. 126-135; Paul Heider, Die Gesellschaft für Sport und Technik. Vom Wehrsport zur „Schule der Soldaten von morgen”, Berlin 2002, S. 683. 102 Information Nr. 296/56 vom 31.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: BStU, MfS, ZA, MfS – AS 83/59, Bd. 1 b, Bl. 275. 103 Information Nr. 279/56 vom 26.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: ebd., Bl. 177. 104 Information Nr. 296/56 vom 31.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: ebd., Bl. 276.

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am 27. Oktober 1956 in einer Toilette die Losung: „Streiken, wie in Ungarn gestreikt wird.”105 Eine Vielzahl von Äußerungen bezieht sich positiv auf einen freien Sozialismus, bzw. einen eigenständigen Weg zum Sozialismus für die Länder im Machtbereich der UdSSR. Demgegenüber sind rechtsradikale oder revanchistische Argumente fast gar nicht vorhanden. Vereinzelt finden sich auch prostalinistische Äußerungen: „Unter Stalin wären solche Ereignisse nicht vorgekommen.”106

Die DDR-weiten Stimmungsberichte des MfS spiegeln eine weit verbreitete Sympathie mit dem Aufstand in Ungarn und den polnischen Ereignissen wider, eine ausgeprägte Kritik an den Medien der DDR und in den Tagen vor der Niederschlagung des Aufstandes vielfach die Hoffnung auf ein Übergrei-fen der Bewegungen auf die DDR. Deutlich wird, dass die regimekritischen Äußerungen weder eine Bewertung des ungarischen Aufstandes als „faschis-tisch” oder westlich orientiert beinhalten. Vielmehr schienen sie von dem Wunsch nach demokratischen, bzw. demokratisch-sozialistischen Verhältnis-sen geprägt zu sein, wenn sie politische Ziele enthielten. Überwiegend war allerdings die Kritik an den Verhältnissen in der DDR und dem sowjetischen Vorgehen. 3.4.2. Berichte der Kreisdienststelle Zerbst Diese unterscheiden sich von den landesweiten Berichten vor allem durch die weitgehend fehlenden Gesamteinschätzungen. Hier berichteten die MfS-Mit-arbeiter lediglich über die vorherrschenden Themen in den politischen Dis-kussionen und gingen dann zur Aufzählung von einzelnen Vorfällen und Mei-nungsäußerungen über. Diese waren in der Regel detaillierter und bezogen sich z.T. auf die Ereignisse in Magdeburg und die Berichterstattung darüber.

Die Berichte geben an, dass der Ungarnaufstand und die Suezkrise in den politischen Diskussionen vorherrschend seien.107 Nach der zweiten Inter-vention sowjetischer Truppen am 4. November 1956 sei jedoch die Suezkrise in den Vordergrund getreten, bzw. die Kritik aus Enttäuschung über die Niederlage108 der Aufständischen leiser geworden. Zum Teil würden aus Angst die eigentlichen Meinungen schlicht nicht offen geäußert.109 105 Information Nr. 286/56 vom 29.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: ebd., Bl. 212. 106 Information Nr. 279/56 vom 26.10.1956 der Abteilung Information aus Berlin, in: ebd., Bl. 177. 107 Durchgehend in allen vorliegenden Berichten aus dem Bestand BStU, Ast. Magdeburg, BV Magdeburg, KD Zerbst, Nr. 1432. 108 Bericht vom 5.11.1956, in: BStU, Ast. Magdeburg, BV Magdeburg, KD Zerbst, Nr. 1432, Bl. 130. 109 Bericht vom 1.11.1956, in: ebd., Bl. 145.

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In fast allen Berichten wurde die Sympathie mit dem ungarischen Aufstand herausgestrichen. Es handele sich für die meisten Bespitzelten nicht um einen Putsch oder eine Konterrevolution, sondern die Ungarn hätten sich zu Recht erhoben. Als Begründung führen sie in der Regel die schlechte Versorgungs-lage an.110 Auch die „Bevormundung durch die Russen” wurde als Grund für den Aufstand angeführt.111 Dabei wurden oft Parallelen zur eigenen Situation in der DDR gezogen und gelegentlich äußern die vom MfS beobachteten Menschen die Hoffnung, dass es auch in der DDR zu radikalen Verände-rungen kommen möge.112 Die deutlichste Sympathiebekundung war der „Freudentanz” eines Buchhalters des VEB Fassfabrik.113

Auf der anderen Seite finden sich deutlich an den Positionen der SED orientierte Meinungsäußerungen. Sie fordern ein hartes Vorgehen gegen die „Konterrevolution” und thematisieren vor allem die angeblichen Lynchmorde an „Arbeiterfunktionären”. Diese systemkonforme Haltung zeigte sich vor allem bei Funktionären und im VEB WMW [Werkzeugmaschinenwerk] Zerbst.114

Eine besondere Art der Rezeption der DDR-Presse findet sich in einem Stimmungsbericht vom 2. November 1956: „Einige Gemüsebauern in Zerbst diskutierten folgendes: Die spanischen Truppen stehen an der ungarischen Grenze. Wehe dem Russen, wenn sie einen Schuß abgeben. Im Übrigen geht es in acht Tagen auch in Russland los. Der Kommunismus hat abgefrüh-stückt.”115 Eventuell ging das eher skurrile Gerücht von den spanischen Truppen auf die Berichterstattung der MV über die Sympathiebekundungen Francos vom Vortag zurück.116

Einhellig war die Kritik an den Medien der SED, die auch hier bis weit hinein in die Partei geteilt wurde: „Aus vielen Diskussionen ist die westliche Orientierung herauszuhören. Kollegen und Genossen beim Rat des Kreises, aber auch an deren Stellen, sehen die Ursachen hierzu in der angeblich ungenügenden und teilweise wiedersprechenden (sic!) Berichterstattung unserer Sender und Zeitungen. Viel (sic!) Menschen erkennen noch nicht den Unterschied zwischen unserer objektiven Berichterstattung und den Meldungen der westlichen Sender, sondern sind völlig der Sensationsbericht-

110 Ebd.; Bericht vom 29.10.1956, in: ebd., Bl. 148; Bericht vom 27.10.1956, in: ebd., Bl. 150 111 Kleinschreibung im Original. Bericht vom 27.10.1956, in: ebd., Bl. 150. 112 Bericht vom 1.11.1956, in: ebd., Bl. 145; indirekt: Bericht vom 27.10.1956, in: ebd., Bl. 150. 113 Bericht vom 8.11.1956, in: ebd., Bl. 115. In der tabellarischen Auflistung der Vorfälle befindet sich hinter dem Datum 7.11.56 ein Kreuz. Ebd., Bl. 4. 114 Bericht vom 4.11.1956, in: ebd., Bl. 132. 115 Bericht vom 2.11.1956, in: ebd., Bl. 139. 116 MV vom 1.11.1956, Nr. 259, S. 3.

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erstattung verfallen.”117 Zugleich gab das MfS Stimmen wieder, die sich kritisch mit den westlichen Sendern auseinandersetzen. So heißt es in der eben zitierten Quelle weiter: „Vereinzelt, z.B. in der LPG Bias, wird erklärt, dass der Rias ein Instrument des amerikanischen Imperialismus118 ist, während der Nordwestdeutsche Rundfunk als neutral bezeichnet und gehört werden kann.”119 Ein Gemeindesekretär brachte laut MfS zum Ausdruck, „dass er den westsender (sic!) und auch unseren rundfunk nichts mehr glaube, das waere doch alles schwindel.”120

Insgesamt ist Kritik an der DDR und eine positive Bewertung des Ungarnaufstandes festzustellen. Letztere soll nach Auskunft der MfS-Berichte nach dem 4. November 1956 in offener Form abgenommen haben. Es scheint, dass dies vor allem an der Frustration über die Niederschlagung, der geschwundenen Hoffnung auf einen neuen 17. Juni und vor allem der Angst vor der Repression durch die gestärkte SED-Führung zurück zu führen ist.121 Eine Übernahme der Deutungsmuster aus der SED-Presse findet sich vor allem in Berichten über die Meinungsäußerungen von Parteifunktionären und Angehörigen des VEB MWM Zerbst.

Besonders interessant ist die differenzierte Wahrnehmung der Medien. So wenig die Berichte als Stimmungsbilder der gesamten Bevölkerung zu sehen sind, wird doch deutlich, dass gerade jene Menschen, die kritische Äuße-rungen wagten, nicht nur den Medien der DDR ablehnend gegenüberstanden, sondern auch die westdeutschen Sender kritisch hörten. Dass sie Infor-mationen abwogen und an einer wahrheitsgemäßen Berichterstattung interes-siert waren, zeigt sich an der unterschiedlichen Bewertung des Rias und des NWDR. Diese Haltung korrespondiert zu der „blockfreien” Position vieler Menschen, die in den Berichten zu Wort kommen, indem sie sich kritisch zur Intervention Englands und Frankreichs am Suez stellten und z.T. Titos Jugoslawien als Vorbild anführten. Rechtsradikale Äußerungen oder antisemi-tische Stimmen zur Beteiligung der israelischen Armee an der Besetzung des Suezkanals stellten eine Minderheit dar. Der einzige Hinweis auf eine Kritik am israelischen Eingreifen in den Suezkrieg taucht in einem Stimmungsbericht über die „Kollegen im VEB WMW Zerbst” auf: „Im allgemeinen wird auch der Angriff der „Juden” (Israel) auf Ägypten verurteilt. Sie vergleichen es mit 117 Bericht vom 10.11.1956, in: BStU, Ast. Magdeburg, BV Magdeburg, KD Zerbst, Nr. 1432, Bl. 98. 118 Ob tatsächlich vom „amerikanischen Imperialismus” die Rede war, muss dahingestellt bleiben, da in den Berichten SED-Jargon und wörtliche Wiedergabe ohne weitere Erklärung benutzt werden. 119 Bericht vom 10.11.1956, in: BStU, Ast. Magdeburg, BV Magdeburg, KD Zerbst, Nr. 1432, Bl. 98. 120 Kleinschreibung im Original. Bericht vom 1.11.1956, in: ebd., Bl. 144. 121 Vgl. Bericht vom 23.11.1956, in: ebd., Bl. 72.

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dem damaligen Vorgehen Hitlers gegen die Sowjetunion”.122 Während in allen anderen Berichten nur Meinungen zum Vorgehen Englands und Frankreichs wiedergegeben wurden, findet sich hier eine auffällige Parallele zu dem oben angeführten Artikel in der MV, der ebenfalls den Topos „Die Juden verhalten sich wie die Nazis” transportierte. Ob ein direkter Zusammenhang zwischen dem Artikel und den wiedergegebenen Meinungen aus dem WMW besteht, ist nicht zu klären. Auffällig ist aber, dass die allgemeine Stoßrichtung der vom MfS berichteten Meinungen aus dem Betrieb eher systemkonform war.123 Der hier festzustellende politisch instrumentalisierte sekundäre Antisemitismus124 findet sich also in beiden Fällen in einem ideologischen Umfeld, welches SED-geprägt war bzw. der Ideologie dieser Partei nahe stand.125 4. Fazit Die Propaganda der SED gegenüber dem Ungarnaufstand befand sich im Koordinatensystem des Kampfes von Gut und Böse, fortschrittlichen ungarischen „Patrioten” und sowjetischen „Freunden”, die vom Imperia-lismus gedungene „Horthy-Faschisten” bekämpften. Dazwischen stand die Masse einer beeinflussbaren und verführten Bevölkerung. Im Mittelpunkt der Polemik stehen mehr und mehr ausgemalte Berichte über den „Weißen Terror” in Ungarn und ein angebliches Blutbad unter „Arbeiterfunktionären”. Ein Bruch in der Berichterstattung entstand Anfang November, als die MV auch gegen die ungarische Regierung unter Imre Nagy zu polemisieren begann. Gegen das Chaos in Ungarn kontrastierte die Magdeburger Volks-stimme die geschlossene und zugleich um das Volk bemühte Haltung der SED-Führung. Über die Spendensammlungen für die notleidenden Ungarn berichtete die MV permanent.

Das Thema Kriegsgefahr sprach die MV vor allem im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Intervention französischer, britischer und israelischer Trup-pen am Suez an. Gerade letztere verarbeitete die MV zum Teil antisemitisch.

Die Haltungen in der Bevölkerung zu den Medien in DDR und Bundes-republik zeigten sich in der Frage der „Lügen über Magdeburg”. Die SED wollte wahrscheinlich übertriebene Berichte der westdeutschen Zeitung „Der 122 Bericht vom 3.11.1956, in: ebd., Bl. 135. 123 Vgl. auch: Bericht vom 14.11.1956, in: ebd., Bl. 87; Bericht vom 4.11.1956, in: ebd., Bl. 132; Bericht vom 1.11.1956, in: ebd., Bl. 142. 124 Antisemitismus, der aus der „Abwehr der Erinnerung” [an den Holocaust] entspringt. Vgl. Katrin Pieper: Die Musealisierung des Holocaust. Das Jüdische Museum Berlin und das U.S. Holocaust Memorial Museum in Washington D.C. (= Europäische Geschichtsdarstellungen, Bd. 9), Köln et al. 2006, S. 44. 125 Vgl. zu antisemitischen Kampagnen der SED und zum Umgang mit Jüdinnen und Juden in der DDR: Klaus Schroeder: Der SED-Staat, S. 550-553.

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Tag” über Massenstreiks in Magdeburg nutzen, um die westliche Presse zu diskreditieren, den Ruf der eigenen Medien zu verbessern und den Gerüchten über die real vorhandenen Streiks und Proteste entgegenzutreten. Auf Grund der lückenhaften Quellenlage kann die Reaktion der Bevölkerung nur mit großer Vorsicht rekonstruiert werden. Es scheint, dass die allgemeine Ab-lehnung der DDR-Medien durch die Kampagne nicht beeinträchtigt wurde. Die differenzierte Wahrnehmung der westlichen Medien kann durch die falsche Berichterstattung des „Tag” und ihre Ausnutzung durch die SED-Medien befördert worden sein.

Die angesprochene Kritik an der SED-Presse betraf insbesondere den Ungarnaufstand und wurde bis weit in das systemkonforme Milieu geteilt. Diese schien sich sowohl auf die Erfahrungen mit Meldungen zu stützen, die die DDR-Bürgerinnen und Bürger selbst nachprüfen konnten als auch auf die verbreitete Sympathie mit den demokratischen Bewegungen in Polen und Ungarn und die damit verbundene Ablehnung des SED-Staates. Dies ergibt sich auch daraus, dass Kritik an der Berichterstattung über die Suezkrise fast nicht auftauchte, da hier die Meinungen der SED und weiter Teile der Bevöl-kerung übereinstimmten. Im Kontext der Suezkrise ist auffallend, dass anti-semitische Töne auch in der Bevölkerung nur aus einem tendenziell system-konformen Bereich berichtet werden.

In den MfS-Berichten zur Stimmung in der Bevölkerung trat vor allem deren Sympathie mit den ungarischen Aufständischen zu Tage. Vorherrschend war die Ablehnung des Kommunismus sowjetischer Prägung. Die politischen Ziele des Aufstandes wurden weniger reflektiert. Wenn über sie – und die polnischen Ereignisse – gesprochen wurde, trat meist der Wunsch nach einem „eigenen” Sozialismus zu Tage, der sich vom „rus-sischen” unterscheide. Die vom MfS besonders gesuchten revanchistischen oder rechtsradikalen Positionen finden sich dagegen fast gar nicht. Als Er-klärung für den Aufstand kursierte in der Bevölkerung ein Argument, das auch im Zusammenhang mit dem 17. Juni 1953 auftrat, nämlich die schlechte Versorgungslage und eben nicht die von der SED-Propaganda verbreitete Polemik von einem durch ausländische Agenten und „Horthy-Faschisten” angezettelten Putsch. Zugleich zeigte sich eine Schnittmenge zur Darstellung in der MV, da auch diese die Verantwortlichkeit der Rákosi-Regierung für wirtschaftliche Mängel herausstrich. Im krassen Gegensatz zur offiziellen Propaganda stand dagegen die Wahrnehmung des Ungarnaufstandes in der DDR-Bevölkerung als einer gegen „die Russen” gerichteten Erhebung. Auf-fällig ist auch, dass die SED-Berichterstattung über den angeblichen „Weißen Terror” wahrscheinlich nur in systemnahen Kreisen verfangen hat. Die Ver-mutung liegt nahe, dass entsprechende Meldungen in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht geglaubt wurden.

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Die vielfach geäußerten Hoffnungen, dass die Krise in Ungarn auch zu einer neuen Erhebung in der DDR führen würde, schlugen nach der brutalen Niederschlagung des Aufstandes am 4. November 1956 in den systemkritisch eingestellten Kreisen der DDR-Bevölkerung aber offenbar in Resignation und Angst um. Insofern hatte die Propaganda der MV über den „faschistischen Putsch” und den „Weißen Terror” in Ungarn zwar den kritischen Lesern einmal mehr die Kultur der Lüge im „real existierenden Sozialismus” vor Augen geführt und auf diese Weise zur Destabilisierung des Systems beige-tragen. Stabilisierend für das SED-Regime wirkte aber letztlich die blanke Gewalt der sowjetischen Panzer in Budapest. 126

126 So auch Kowalczuk, Zwischen Hoffnungen und Krisen, S. 29.

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Resümees/ Abstracts∗∗∗∗ Hans Goldenbaum, Student, Martin-Luther-Universität Halle-Witten-berg, Institut für Geschichte Die Auseinandersetzung um die Vergangenheitsbewältigung der Deutschen hat in den letzten Jahren nicht zuletzt auch durch populistische Debatten das verstärkte Interesse der breiten Öffentlichkeit gefunden. Am Beispiel der in Deutschland auch heute noch kontrovers geführten Diskussion um Ilja Eh-renburg und die ab Herbst 1944 von sowjetischen Soldaten an deutschen Zi-vilisten verübten Verbrechen untersucht dieser Beitrag, inwieweit nationalso-zialistische Topoi im kollektiven Gedächtnis der Deutschen bis in die Gegen-wart verankert sind. Nicht der Kalte Krieg und die Pflege des antibolschewi-stischen Feindbildes – so die zentrale These des Autors – sondern die NS-Propaganda hat im Kollektivbewusstsein der Deutschen das Bild von der ei-genen Opferschaft geprägt. Dr. Dietmar Schulze, Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Medizin der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frank-furt am Main, Senckenbergisches Institut für Geschichte und Ethik der Medizin In der Literatur wird nur gelegentlich von marschierenden Häftlingskolonnen berichtet – dass ein reibungsloser Transport der Gefangenen nur durch eine Kooperation vieler Instanzen möglich war, bleibt aber meist unbeachtet. Die-ses Zusammenspiel von Regierungsbehörden, Deutscher Reichsbahn, Polizei und SS wird in diesem Beitrag am Beispiel des frühen Konzentrationslagers Lichtenburg aufgezeigt. Deutlich wird dabei, dass über den konkreten Einsatz der verschiedenen Transportmittel und -möglichkeiten situationsabhängig ent-schieden wurde, sich aber die Organisation der Transporte nicht wesentlich änderte. Sven Langhammer M.A., Historiker, Halle (Saale) Ab dem 9. März 1937 nahm die deutsche Kriminalpolizei in einer reichswei-ten Aktion ca. 2.000 als „Berufs- und Gewohnheitsverbrecher sowie gewohn-

∗ In der Reihenfolge der Beiträge.

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heitsmäßige Sittlichkeitsverbrecher“ klassifizierte Personen in polizeiliche Vorbeugehaft. Wie seit Dezember 1933 üblich, wurden die Vorbeugehäftlinge in Konzentrationslagern (KZ) interniert. Während die Entwicklung der Kri-minalprävention im Dritten Reich als gut erforscht gelten kann, trifft dies für die Haftwege der Vorbeugehäftlinge weniger zu. Dieser Beitrag untersucht, wie viele zur Internierung vorgesehene Betroffene in die KZ Dachau, Lich-tenburg, Moringen, Sachsenburg und Sachsenhausen verbracht wurden, wo-her sie kamen und wie sich deren weitere Haftwege gestalteten. Dr. Sascha Möbius, Historiker, Leiter der Gedenkstätte Moritzplatz, Magdeburg Die SED-Propaganda versuchte, der DDR-Bervölkerung den Volksaufstand in Ungarn 1956 als einen vom Westen geplanten Versuch von „Horthy-Faschisten“, Großgrundbesitzern und Kapitalisten darzustellen, die die vorso-zialistischen Machtverhältnisse in Ungarn wiederherstellen wollten und das Land mit Terror gegen Kommunisten und Arbeiter überzogen. Wie diese Fallstudie zum Bezirk Magdeburg zeigt, stießen die Darstellungen der SED-Presse, die bewusst Parallelen zu den Ereignissen um den 17. Juni 1953 zogen, bei weiten Bevölkerungskreisen auf taube Ohren und sogar auf Protest. Trotzdem hatte die Ungarnkrise für die DDR eine systemstabilisierende Wir-kung. Denn die in systemkritischen Kreisen zunächst aufkeimende Hoffnung auf eine erneute Erhebung gegen das SED-Regime wie im Juni 1953 schlug nach der brutalen Niederschlagung des Aufstands in Ungarn in Resignation und Angst um.

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Impressum: Hallische Beiträge zur Zeitgeschichte Herausgegeben von Jana Wüstenhagen und Daniel Bohse Die „Hallischen Beiträge zur Zeitgeschichte“ erscheinen mindestens einmal jährlich in loser Folge. Sie wurden 1996 von Hermann-J. Rupieper (†) be-gründet, um eine Plattform für NachwuchswissenschaftlerInnen und her-ausragende studentische Arbeiten zu schaffen. Aufgenommen werden vor-rangig Beiträge in deutscher und englischer Sprache, denen Quellen zugrunde liegen, die zuvor noch nicht publiziert wurden. Vorschläge für Veröffentlichungen nimmt die Redaktion entgegen. Manuskripte können postalisch oder per E-Mail eingesandt werden. Ein Recht auf Veröffentli-chung besteht nicht. Nach Rücksprache mit den Autoren können ange-nommende Beiträge auch im Internet veröffentlicht werden. Jeder – auch auszugsweise – Nachdruck und die Verbreitung über andere Medien be-dürfen der Genehmigung der HerausgeberInnen. Redaktion: Daniel Bohse (v. i. S. d. P.), Thomas Pruschwitz

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